Biographische Studien zum 20. Jahrhundert Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll Bd. 3
Marco Sennholz
Johann von Leers Ein Propagandist des Nationalsozialismus
Meinen Eltern in Dankbarkeit gewidmet
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2013 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebra-wissenschaft.de Lektorat: Matthias Zimmermann, Berlin Umschlag: typegerecht berlin Innengestaltung: Friedrich, Berlin Schrift: Minion Pro 10/13pt Printed in Germany ISBN 978-3-95410-012-5 www.bebra-wissenschaft.de
Inhaltsverzeichnis
Einleitung........................................................................................................................................................... 9 Wanderjahre Die Familie von Leers........................................................................................................................................16 Kindheit und Schule..........................................................................................................................................17 Vom Studenten zum Attaché........................................................................................................................28
Berlin Begegnungen...................................................................................................................................................... 35 Wendepunkte......................................................................................................................................................49 Die NSDAP – Eintritt in die Politik.............................................................................................................. 55 Der Weg zur Macht...........................................................................................................................................66 Konjunktur-Schriftsteller oder Schriftsteller-Konjunktur?............................................................... 107 Schwerpunkte...................................................................................................................................................120 Außenpolitik......................................................................................................................................................164
Jena Der Antritt..........................................................................................................................................................210 Die außerordentliche Professur..................................................................................................................217 Die ordentliche Professur – »ein außerordentlicher Gewinn …«...................................................229 Die Tochter.........................................................................................................................................................232 Völkische Zweifler...........................................................................................................................................233 Die Weißenburg...............................................................................................................................................236
»Reine Luft« – die Nichtraucherbewegung...........................................................................................238 Als Gastprofessor in Rom............................................................................................................................. 241 Die Führungskrise im Dozentenbund....................................................................................................... 251 Agrarische Wende...........................................................................................................................................253 Das seegeschichtliche Seminar..................................................................................................................259 Vor dem Ehrengericht.................................................................................................................................... 261 Apologet des Holocaust................................................................................................................................265 Der Zusammenbruch......................................................................................................................................272
Ziellos Im Lager............................................................................................................................................................. 280 Untergetaucht...................................................................................................................................................283
Buenos Aires Beim »Dürer-Verlag«...................................................................................................................................... 291 Nachkriegsperspektiven...............................................................................................................................293 Die Krise des Peronismus.............................................................................................................................310
Kairo Ägyptischer Frühling...................................................................................................................................... 314 Israel und die »Judenfrage«..........................................................................................................................315 Im Blickfeld der Presse.................................................................................................................................. 316 Die Konversion.................................................................................................................................................322 Der ODESSA-Mythos.......................................................................................................................................328 Der Reisepass................................................................................................................................................... 330 Im Visier des Mossad.....................................................................................................................................335 Versuchte Rückkehr........................................................................................................................................336 Kontinutät am politischen Rand – »Wille und Macht«, »Dritte Front« und »AUD«...............340 Die letzten Monate........................................................................................................................................ 346
Zusammenfassung Weltbild.............................................................................................................................................................. 349 Wahrnehmung und Wirken.......................................................................................................................... 353 Wertung..............................................................................................................................................................358
Bibliografie zu Johann von Leers Alleinverfasser.................................................................................................................................................. 361 Mitverfasser/Buchbeiträge......................................................................................................................... 366 Übersetzer......................................................................................................................................................... 369 Sonstiges........................................................................................................................................................... 369 Zeitschriftenbeiträge......................................................................................................................................370 Zeitungsartikel.................................................................................................................................................398 Universitäre Veranstaltungen.................................................................................................................... 422
Archivalien................................................................................................................................................... 427 Quellenverzeichnis................................................................................................................................430 Literaturverzeichnis.............................................................................................................................. 438 Abkürzungsverzeichnis.......................................................................................................................451 Personenregister......................................................................................................................................453 Danksagung................................................................................................................................................ 459 Abbildungsnachweis............................................................................................................................460
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Einleitung
Bislang hatte Johann von Leers zu jenen nationalsozialistischen Funktionären gehört, denen nur geringe Beachtung geschenkt worden ist. Für eine abschließende Bewertung schienen die wenigen bekannten biografischen Eckdaten zu genügen. Leers wurde 1902 als Sohn eines Gutsbesitzers in Mecklenburg geboren. Später studierte er Jura und trat Mitte der 1920er Jahre in den diplomatischen Dienst ein, aus dem er kurze Zeit später wieder ausschied. Bereits 1929 schloß er sich in Berlin der NSDAP an, wurde Bundesschulungsleiter des Nationalsozialistischen Studentenbundes und etablierte sich als einer der produktivsten Propagandisten des »Dritten Reiches«. Als bevorzugtes publizistisches Arbeitsgebiet hatte Leers die Behandlung der »Judenfrage« gewählt. Eine menschenverachtende Polemik und ein radikaler Antisemitismus, der sich bis 1945 zur offen geforderten Ausrottung der Juden steigerte, wurden zu seinen berüchtigten Markenzeichen. Nach Kriegsende flüchtete Leers zunächst nach Argentinien, wo er seine publizistische Tätigkeit wieder aufnahm und sich als unversöhnlicher Feind der weltweiten Nachkriegsordnung zeigte. Gefördert durch den Großmufti von Jerusalem, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband, ging Leers Mitte der 1950er Jahre nach Ägypten. Hier konvertierte er zum Islam und starb schließlich 1965. Darüber hinaus gelangten kaum Details aus seinem Leben, Denken und Wirken in die wissenschaftliche Forschung. Diese wenigen, weit verstreuten Hinweise ließen zwar vermuten, dass der politische und gesellschaftliche Stellenwert von Leers innerhalb des nationalsozialistischen Gesamtkomplexes bisher unterschätzt worden war, konkrete Versuche, diesem Mangel abzuhelfen, blieben aber aus. Stattdessen eignete sich sein weitgehend unerschlossener Lebenslauf mit seinen vielfältigen thematischen, räumlichen und personellen Verknüpfungen dazu, ihn immer dann in die Verantwortung zu nehmen, wenn sinnvollere Erklärungsmodelle fehlten. Unter diesen Vorzeichen wurde Leers etwa fälschlicherweise zum »geistige(n) Vater« des »Lebensborn« ernannt.1 An anderer Stelle vermutete man in ihm einen von der IG-Farben und der Deutschen Bank aufwendig installierten Spion, der in der NSDAP-Führung zuguns1 Baumann, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962), S. 185.
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ten der beiden Großkonzerne wirken sollte.2 Und in verschiedenen Variationen der gleichen Geschichte war Leers einmal der Drahtzieher einer internationalen Fluchthilfeorganisation für Kriegsverbrecher und dann wieder der Verbindungsmann für einen weltumspannenden Geheimbund, der sich die Aufrichtung eines »Vierten Reiches« zum Ziel gesetzt haben sollte.3 Trotz seiner weitreichenden Bedeutung für die Analyse der Politik- und Gesellschaftsgestaltung im »Dritten Reich« hat bislang lediglich der amerikanische Medienwissenschaftler Gregory Wegner den Versuch unternommen, Leers in den Mittelpunkt einer eigenständigen Betrachtung zu stellen. Wegner konzentrierte sich dabei ausschließlich auf die erziehungspolitischen Ansätze bei Leers. Von methodischen Schwächen des Autors durchzogen, blieb die Arbeit ohne tragbare Ergebnisse.4 Die aussichtsreichsten Versuche, sich mit Leers auseinanderzusetzen, kamen bisher von wissenschaftsgeschichtlicher Seite. Den Anlass dafür bot seine Lehrtätigkeit an der Universität Jena. Immer wieder waren einzelne Aspekte dieses Wirkens thematisiert worden.5 Doch auch dazu veröffentlichte Beiträge blieben unbefriedigend. Die einzelnen Fragmente konnten nicht zu einem stimmigen Gesamtbild zusammengesetzt werden. Darüber hinaus erfuhr Leers keine gesonderte Beachtung. Lediglich im Rahmen übergeordneter Fragestellungen fand er vereinzelte Erwähnung. Unter diesen Arbeiten sind die Darstellungen zur Deutschen Glaubensbewegung hervorzuheben. Hier wurde in nennenswertem Umfang versucht, die Rolle von Leers bei der organisatorischen Bündelung der völkisch-heidnischen Kräfte zu beleuchten.6 Auch im Rahmen 2 Gossweiler, Der Putsch der keiner war, S. 131. 3 Zuletzt: Fishman, The Big Lie and the Media War against Israel. From Inversion of the Truth to Inversion of Reality, in: Jewish Political Studies Review 19 (2007), S. 1f. 4 Wegner, »A propagandist of Extermination«. Johann von Leers and the Anti-Semitic Formation of Children in Nazi-Germany, in: Paedagogica Historica 43 (2007), H. 3, S. 298–325. Daneben ist lediglich noch eine unveröffentlicht gebliebene Diplomarbeit über Leers zu erwähnen: Jahn, Johann von Leers – Ein Beitrag zur Jenaer Geschichtswissenschaft in der NS-Zeit. Im Rahmen seiner Forschungen im Moskauer Sonderarchiv hat sich auch Martin Finkenberger mit Leers befasst. Sein Essay liefert einen kurzen biografischen Abriss, der mit zahlreichen Fundstellen aus dem in Moskau befindlichen Teil des Leers-Nachlasses unterlegt ist. Finkenberger, »Während meines ganzen Lebens habe ich die Juden erforscht, wie ein Bakteriologe einen gefährlichen Bazillus studiert« – Johann von Leers (1902–1965) als antisemitischer Propagandaexperte bis 1945, in: DHIM-Bulletin Nr. 2 (2008), S. 88–99. 5 Schilling, NS-Dozentenschaft und Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund an der Universität Jena; Hamann, »Männer der kämpfenden Wissenschaft«. Die 1945 geschlossenen NS-Institute der Universität Jena; Gottwald, Die Jenaer Geschichtswissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. 6 Bartsch, Die Wirklichkeitsmacht der Allgemeinen Deutschen Glaubensbewegung der Gegenwart; Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung; Baumann, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962). Aufgrund gravierender Schwächen ist die Arbeit von Baumann nur stark eingeschränkt nutzbar.
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Johann von Leers, 1935.
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der Bauernkriegsrezeption im »Dritten Reich« sind seine historischen Interpretationsansätze hinreichend thematisiert worden.7 Für die Nachkriegszeit hat Holger Meding wertvolle Hinweise zum publizistischen Wirken der nationalsozialistischen Emigrantenzeitschrift »Der Weg« zusammengetragen. Auch hier fand Leers einige Berücksichtigung.8 Ansonsten fristete er in Randbemerkungen und Fußnoten eine bescheidene Existenz. Die Nachlässigkeit, mit der Leers bislang von der Wissenschaft behandelt wurde, verwundert insofern, da er zu den Menschen gehört, die der Nachwelt unzählige Spuren ihres Lebens hinterlassen haben. Ein Teil dieser Spuren liegt offen. In Tageszeitungen, Zeitschriften, Sammelbänden und Monografien zeugen sie von einer schriftstellerischen Arbeit, die hinsichtlich ihres quantitativen Umfangs und ihrer inhaltlichen Bandbreite beachtlich ist. Aus diesen Hinterlassenschaften lässt sich das geistige Profil von Leers schlüssig ermitteln. Wer allerdings seine politische und wissenschaftliche Wirkung ermessen will, der muss auf die verdeckten Spuren achten. Erst diese lassen einen Blick auf die hintergründigen Abläufe der Meinungsbildung zu, von denen bisher nur die Ergebnisse bekannt waren. Spätestens mit Ulrich Herberts Biografie über den Verwaltungsspezialisten im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Werner Best9 ist die forschungsgeschichtliche Relevanz der Betrachtung von hintergründig tätigen Funktionären des »Dritten Reiches« eindrucksvoll belegt worden. Dass das kein generelles Erfolgsrezept sein kann, liegt auf der Hand. Der Wert einer solchen Betrachtung wird dabei regelmäßig von der historischen Konnektivität der beleuchteten Person – also der Zahl der Schnittstellen zwischen individueller und gesamtgesellschaftlicher Entwicklung – abhängig sein. Konkret heißt das, danach zu fragen, wo und in welchem Maße das persönliche Schicksal mit den öffentlichen Diskursen, Konflikten und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen verknüpft war. Nur in ganz wenigen Fällen, fast ausschließlich bei Vertretern des unmittelbaren Führungsumfelds, ist eine vergleichbare Fülle von Verknüpfungen vorhanden, wie sie bei Leers gegeben ist. Bei den wesentlichsten Diskussionen, die unsere Wahrnehmung vom Nationalsozialismus bis heute prägen, war Leers in führender Rolle involviert. Möglich wurde ihm das durch ein wechselndes Umfeld an einflussreichen Unterstützern. Seine Lebensdarstellung dokumentiert daIn seiner Arbeit wechseln sich unbelegte Aussagen und erfundene Quellenbelege ab. Baumann erlaubte sich sogar, das Erscheinungsdatum eines angeblichen Aufsatzes mit »31. (sic!) 6.34« anzugeben (ebd., S. 61, Fußnote 121). Der zitierte Artikel ist nie erschienen. 7 Müller, Diktatur und Revolution. Den Einschätzungen von Müller ist im Wesentlichen zuzustimmen. Leider stellt er seine Studie auf eine zu schmale Quellenbasis. Bei Leers verwertet er nur zwei agrarhistorische Abhandlungen. 8 Meding, »Der Weg«. Eine deutsche Emigrantenzeitschrift in Buenos Aires 1947–1957. 9 In Erstauflage: Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989.
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mit die gegenseitigen Anziehungs- und Abstoßungskräfte innerhalb der nationalsozialistischen Funktionseliten und ist ein Querschnitt durch die weltanschaulichen Formierungskämpfe dieser Zeit. Die vorliegende Arbeit will deshalb den persönlichen Werdegang von Leers in das politische Gesamtgeschehen seiner Tage einbetten, die jeweiligen Verbindungen aufzeigen und Einflussnahmen nachweisen. Sie ist damit zunächst die Biografie ihres Protagonisten, daneben aber auch Monografie der einzelnen Diskussionsschwerpunkte innerhalb der nationalsozialistischen Ideologiefindung. Bei diesen Kontroversen nahm Leers nicht selten eine Minderheitenposition ein. Daher können gerade an seiner Person die Möglichkeiten und Grenzen der gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozesse im »Dritten Reich« studiert werden. Die weltanschaulichen Auseinandersetzungen setzten sich auch nach 1945 in der inzwischen fragmentierten nationalsozialistischen Bewegung fort. Auch hier fungierte Leers wieder als ideologischer Meinungsmacher. Diese Kontinuität machte es notwendig, auch für die Nachkriegszeit biografische und politische Entwicklung im Kontext zu behandeln. Bisher hatte man die historische Bedeutung von Leers unterschätzt. Das war vor allem auf die Schweigsamkeit seiner früheren Wegbegleiter zurückzuführen. Der Ruf, einer »der fruchtbarsten und gehässigsten Judenhetzer« zu sein, der Leers später anhaftete,10 schien nicht dafür geeignet, die gemeinsame Bekanntschaft zu betonen. Dennoch schlichen sich in zahlreichen Lebenserinnerungen Hinweise auf die früheren Kontakte ein. Diese biografischen Aufzeichnungen stellen damit einen wichtigen Quellenbestand zur Entschlüsselung der personellen Netzwerke dar, innerhalb derer Leers Impulse setzte und empfing. Für tiefere Einblicke in sein Leben und Denken war aber eine eingehende Sichtung der zerstreuten Archivbestände unentbehrlich. Die meist noch unbearbeiteten Archivalien lieferten einen bedeutenden Teil des Materials, das zum Schließen der wichtigsten Erkenntnislücken notwendig war.11 Vorbildliche Organisation und bereitwillige Hilfe der Archive erleichterten die aufwendigen Recherchen.12 Unter den eingesehenen Beständen ragt an Umfang und Bedeutung der im Bundesarchiv eingelagerte Teilnachlass von Leers heraus. Dabei handelt es sich um 68 Archiveinheiten,13 vor allem Manuskripte, Vokabelsammlungen und Korrespondenzen, die 1945 von der Ro10 Wistrich, Wer ist wer im Dritten Reich, S. 171. 11 Eine Liste der benutzten Archive befindet sich im Anhang der Arbeit. Bis auf die Bestände, die im Sonderarchiv Moskau lagern, wurde eine vollständige Auswertung der verfügbaren Archivalien angestrebt. In Moskau befindet sich der zweiteTeil des persönlichen Nachlasses von Leers. 12 Eine Ausnahme stellt das Archiv des Schwarzwald-Baar-Kreises dar, das sich über Jahre hinweg nicht in der Lage sah, den Nachlass von Friedrich Hielscher zu ordnen und ein darin enthaltenes Schlüsseldokument bereitzustellen. Der Schwarzwald-Baar-Kreis ist stolz darauf, das bundesweit geringste Verwaltungsaufkommen zu haben. 13 Insgesamt 0,8 laufende Meter.
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ten Armee beschlagnahmt worden waren. Von besonderem Interesse war hier der ausführliche und intime Briefwechsel zwischen Leers und Herman Wirth aus den Jahren 1931/32. Insgesamt fanden sich in mehr als zwei Dutzend (!) unterschiedlichen Beständen des Bundesarchivs maßgebliche Bezüge zu Johann von Leers. Diese Fundbreite lässt die Vielschichtigkeit seines politischen und gesellschaftlichen Engagements erahnen. Den größten Zeitaufwand erforderte allerdings das Zusammentragen seiner pub lizistischen Beiträge. Gerade hier wirkte sich die Themenvielfalt seiner Artikel erschwerend aus. Sie zwang zu ausgedehnten Streifzügen durch die gesamte nationalsozialistische Publizistik. Am Ende belegen aber Hunderte von Fundstellen den Ausnahmecharakter ihres Verfassers. Leers muss nun als der wohl produktivste politische Publizist des »Dritten Reiches« angesprochen werden. Wertvolle Anregungen bei der Suche nach den einzelnen Mosaiksteinen kamen von seiner Tochter Gesine, »Geschi«, von Leers. Sie stand dem gesamten Projekt von Beginn an offen gegenüber und lieferte mehrmals ausschlaggebende Hinweise bei der Rekonstruktion der biografischen Zusammenhänge. Mit knapp 70 Jahren starb sie im Sommer 2007, ohne dass die Arbeit bis dahin in ihre entscheidende Phase getreten war. Ähnlich interessiert wie sie, haben auch andere, entferntere Familienangehörige die Arbeit begleitet und wichtige Anhaltspunkte geliefert. Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in einen biografischen und einen bibliografischen Teil. Der biografische Abschnitt folgt einem chronologischen Muster. Dabei wurde weniger Wert auf eine fortlaufende Lebensdarstellung als auf eine möglichst geschlos sene Behandlung der einzelnen Tätigkeitsschwerpunkte gelegt. Die betreffenden Kapitel haben daher zwangsläufig einen monografischen Charakter. Ein häufig wiederkehrender Mangel in der Forschungsliteratur zum »Dritten Reich« ist die unbefriedigende Quellenkenntnis und -verwertung. Methodisch wurde der Quellenauswertung deshalb ein besonders hoher Wert beigemessen. Die Argumentation orientiert sich bewusst eng an den historischen Texten. Um die Gedankengänge Leers’ und seiner Zeitgenossen authentisch widerzuspiegeln, wurden, wo es sich anbot, wörtliche Zitate eingefügt. Abgeschlossen wird die Arbeit durch einen ausführlichen bibliografischen Teil, der sich in vier Abschnitte untergliedert. Der erste Abschnitt ist eine Bibliografie im engeren Sinne, die alle nichtperiodischen Erzeugnisse, also Bücher und Schriften enthält. Erfasst sind auch die Werke, für die Leers lediglich einzelne Beiträge lieferte. Hier wurde Vollständigkeit angestrebt und erreicht. Der zweite Abschnitt enthält Leers’ Zeitschriftenbeiträge. Der weitaus größte Teil seiner Aufsätze dürfte hier erfasst sein. Im dritten Abschnitt sind seine Zeitungsartikel aufgeführt. Bei der Abgrenzung zwischen beiden Gruppen wurde auf die von dem Wirtschafts- und Medienwissenschaft-
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ler Hanno Beck ausgearbeiteten Kriterien zurückgegriffen.14 Trotz des Umfangs handelt es sich bei den genannten Zeitungsartikeln nur um eine beschränkte Auswahl seiner Beiträge. Ihre vollständige Zahl liegt um ein Vielfaches höher. Auf die Erfassung der von Leers betreuten Kolumnen, seiner Rezensionen und redaktionellen Mitteilungen wurde verzichtet. Der letzte Abschnitt enthält alle von Leers an der Hochschule für Politik und an der Universität Jena ausgerichteten Veranstaltungen. Die ausführliche Bibliografierung soll eine vertiefte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Publizistik ermöglichen. Auch dazu will diese Arbeit einen Beitrag leisten.
14 Dazu zählen insbesondere: Aktualität, Format, Verbreitung, Inhalt. Vgl. Beck, Medienökonomie, S. 105.
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Wanderjahre
Die Familie von Leers Als das Ratzeburger Domkapitel im Jahr 1642 den »Gevettern« Hinrich und Matthias Leers den Bau einer Messingmühle im Bäktal genehmigte, wurde damit der Grundstein für eine außergewöhnliche norddeutsche Erfolgsgeschichte gelegt. Matthias Leers hatte nur wenige Jahre zuvor den westfälischen Raum, in dem die Familie »Lers« ansässig war, verlassen. Der gelernte Beckenschläger ließ sich zuerst in Hamburg nieder, wo er bereits 1629 das Bürgerrecht verliehen bekam. Zur Ausübung seines Handwerks war er auf die ständige Verfügbarkeit von Kupfer angewiesen. Da sich die Stadt Lübeck inzwischen zum bedeutendsten Umschlagplatz dieses begehrten Rohstoffs entwickelt hatte, kam es zur ortsnahen Ansiedlung einer kupferverarbeitenden Industrie zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Im Bäktal, auf dem Gebiet des Bistums Ratzeburg, fanden die Lübecker Kupferhämmer ideale Arbeitsbedingungen vor. Im Laufe von 50 Jahren siedelten sich hier insgesamt sechs Kupfer- und Messingmühlen an. Von diesen Mühlen gelangten im Laufe der Zeit fünf in den Besitz der Familie Leers. Der Ankauf der sechsten scheiterte 1699 an einer herzoglichen Order. Ein absolutes Monopol der Familie sollte damit verhindert werden. Am Ende des 17. Jahrhunderts hatten sich die Leers’ im hamburgisch-lübeckischen Raum als erfolgreiche Wirtschaftsdynastie etabliert. Mit dem Aufkommen der Dampfkraft geriet das Mühlenwesen in eine wirtschaftliche Krise. Kurz vor seinem endgültigen Ende verkauften die Leers’ im Jahr 1802 ihre fünf Mühlen.1 Unter Johann Jacob Leers wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Familiengut Vietlübbe im damaligen Herzogtum Mecklenburg-Schwerin erworben. Dort avancierte er zum Geheimen Land- und Domänenrat. Am 18. Mai 1791 erfolgte in Mantua seine Erhebung in den Reichsadelsstand, die auch als Würdigung des wirtschaftlichen Erfolges zu verstehen ist. Von seinem Landesherrn wurde die Erhebung in den Adelsstand am 27. Januar 1792 in Schwerin anerkannt. Erst seinem gleichnamigen Sohn indes blieb 1821 die Aufnahme in den mecklenburgischen Adel vorbehalten. Als Oberst und Landrat, auf militärischem und politischem Sektor gleichermaßen erfolgreich, erweiterte er den Familienbesitz durch den Erwerb des Gutes Schönfeld. 1 Hoefer, Lübecker Kupferhämmer, in: »Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichts- u. Altertumskunde« 1938, S. 281–291.
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Unweit von Vietlübbe gelegen, zeugt noch heute das prunkvolle, im neoklassizistischen Stil erbaute Herrenhaus vom damaligen Wohlstand der Familie. Die Auswirkungen der Industriellen Revolution trafen das dünn besiedelte, landwirtschaftlich dominierte und streng konservativ geprägte Mecklenburg nicht mit derselben Wucht wie die übrigen Teile Deutschlands. Die gesellschaftliche Hegemonie des Mecklenburger Adels blieb auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unangetastet. Bürgerliche Parvenüs waren die Ausnahme. Die Familie von Leers bewahrte und konsolidierte ihre Stellung im überschaubaren Mecklenburger Landadel. Wilhelm von Leers diente dem Großherzog von Mecklenburg-Strelitz als Kammerjunker – ein Amt, das zu diesem Zeitpunkt kaum mehr funktionale, sondern vor allem repräsentative Bedeutung hatte. Er verband sich darüber hinaus durch seine Heirat mit Minette von Podewils im Jahr 1869 mit einem der einflussreichsten deutschen Adelshäuser. Der Zenit der Familiengeschichte war erreicht. Aus dieser Ehe ging Kurt von Leers, der spätere Vater von Johann von Leers hervor. Ihm wurde später das Gut Vietlübbe als Fideikommiss, als unveräußerbarer Besitz, überlassen. Die gesellschaftliche Situation hatte sich inzwischen entscheidend gewandelt. Die unternehmerische Initiative war auf den bürgerlich geprägten Industrialismus übergangen. Die Landwirtschaft befand sich in einer ernsten Krise. Auch die Familie von Leers war von dieser neuen Entwicklung betroffen. Kurt von Leers konnte über sein Gut kaum mehr Gewinne erwirtschaften. Wie viele seiner Standesgenossen sicherte er sich deshalb sein Auskommen durch den Eintritt in eine kaiserliche Beamtenlaufbahn. Am 15. März 1901 heiratete er in Meiningen Elisabeth von Buch, eine ausgebildete Schauspielerin. Mit Stolz konnte Johann von Leers später mitteilen, dass sich dieser Teil der Familie bis auf den Glossator des »Sachsenspiegels«, Johann von Buch, zurückverfolgen lässt.2
Kindheit und Schule Johann von Leers wurde am 25. Januar 1902 als erstes Kind der frisch verheirateten Eheleute Kurt und Elisabeth auf dem Familiengut Vietlübbe bei Gadebusch geboren. Das alte Herrenhaus, in dem Johann seine früheste Kindheit verbrachte, war für die junge Familie viel zu groß – drei Etagen, angedeutete Doppelturmfassade, lange Fensterfronten und ein Portikus, der die gesamte Vorderansicht des Hauses dominier2 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich des Ministeriums für Volksbildung, Nr. 18260, Bl. 10. Lebenslauf.
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te. Vor über 100 Jahren war damit der wirtschaftliche Wohlstand der Familie baulich dokumentiert worden. Nach dem Willen seines Erbauers sollte es für immer im Familienbesitz bleiben. Deswegen wurde Vietlübbe als Fideikommiss eingeschrieben. Dadurch räumte man den Erben nur den Nießbrauch, nicht aber die Eigentumsrechte ein. Vielleicht hätte Kurt von Leers Vietlübbe zu diesem Zeitpunkt längst verkauft, wenn er es gekonnt hätte. Inzwischen konnte er kaum mehr die Unterhaltskosten für Haus und Gut aufbringen. Als kaiserlicher Beamter war Kurt von Leers oft auf Dienstreisen, sodass er sich um die wirtschaftlichen Belange des Familiengutes nicht angemessen kümmern konnte. Im September 1904 vergrößerte sich die junge Familie durch die Geburt von Werner, dem zweiten Sohn. Trotz finanzieller Probleme versuchten die Eltern, ihren Kindern eine standesgemäße Erziehung zu ermöglichen. Mit sechs Jahren bekam Johann Hausunterricht. Damit sollte der Grundstein für eine angemessene schulische Ausbildung des erstgeborenen Sohnes gelegt werden. Aber die Geschäfte liefen schlecht. Um das Gut wirtschaftlich am Leben erhalten zu können, hatte der Vater bei einem befreundeten Kornhändler aus Gadebusch Schulden gemacht. Im Laufe der Zeit häuften sich die Verbindlichkeiten auf 150.000 Reichsmark an. Die Schulden drückten, aber Leers konnte nicht zahlen. Schließlich mussten 1909 beide, der Kornhändler und Leers, in den Konkurs gehen.3 Da das Gut der von Leers nicht veräußert werden konnte, wurde es verpachtet. Die von Leers’ mussten Vietlübbe verlassen. Die junge Familie gewöhnte sich bald daran, dem Vater an seine wechselnden Dienstorte zu folgen. Elsass-Lothringen, das nach dem Krieg 1870/71 wieder an das Deutsche Reich gefallen war, hatte einen besonderen Bedarf an kaiserlichen Beamten. In der Nähe der elsässischen Hauptstadt Straßburg, in der kleinen Gemeinde Geudertheim, bezog die Familie von Leers ihre neue Wohnung. Für Johann, der inzwischen zur Schule ging, bedeutete der Wegzug aus dem heimischen Mecklenburg eine große Umstellung. Die neue Umwelt war zu fremd. Besonders die Verständigung dürfte Probleme bereitet haben. In Mecklenburg hatte er bisher immer plattdeutsch gesprochen. Hier musste er sich an die stark französisch durchsetzte elsässische Mundart gewöhnen. Der Verständigungszwang in der neuen Umgebung förderte früh seine multilingualen Fähigkeiten. In Geudertheim wurde im Juli 1912 schließlich Kurt Mathias als dritter Sohn geboren.4 Bereits ein Jahr danach war die Familie wieder in Mecklenburg. Sie wohnten nun in der alten Hansestadt Stralsund. Hier ging Johann auf das Gymnasium. Nur kurze Zeit später – der Erste Weltkrieg war gerade ausgebrochen – zog die Familie 1915 von 3 BArch N 2168/5, Bl. 108. 4 Genealogisches Handbuch des Adels, Bd. 19, S. 273.
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Stralsund nach Waren, einem kleinen, damals knapp 10.000 Einwohner zählenden Städtchen an der Müritz. Dort mietete sie sich in einer Villa ein. Das örtliche Gymnasium hatte einen hervorragenden Ruf. Sein Rektor, Richard Wossidlo, war Mecklenburgs bekanntester Volkskundler. Für seine Verdienste um die mecklenburgische Volkskunde hatte er bereits 1906 die Ehrendoktorwürde der Universität Rostock erhalten. Von der Untertertia bis zur Untersekunda war er nun der Klassenlehrer von Leers. In ihm sollte der zugezogene Gymnasiast seinen frühen Mentor finden. Wossidlo, von dessen wissenschaftlichem Fleiß eine Sammlung von insgesamt 2,5 Millionen selbstverfasster Belegzettel über seine volkskundlichen Forschungen zeugt, stellte hohe Erwartungen an seine Schüler. Später schrieb Leers über ihn: »[…] er war alles andere als anspruchslos in seinen schulischen Anforderungen, vielmehr einer jener Lehrer, die erst einmal verlangten, dass man gründlich, sauber und tüchtig lernte, Faulheit, Oberflächlichkeit und Bequemlichkeit gar nicht leiden konnte.«5 Der Klassenlehrer, den die Schüler »Apollo« nannten, gab für Leers und dessen Klasse den Griechisch-Unterricht. Leers ließ sich schnell begeistern. Bald konnte er große Teile von Homers »Odyssee« auswendig.6 Aber Wossidlo weckte bei Leers nicht nur die Begeisterung für Fremdsprachen, sondern auch das Interesse für historische Zusammenhänge und deren teilweise recht eigenwillige Interpretation: »Irgend eine griechische Redensart, irgend eine Vokabel hatte ihn gepackt. Da nun zeigte er auf einmal, wie verwandt die Sprache Homers und unser Plattdeutsch ist, zog rasch die eine oder andere Parallele aus anderen Sprachen herbei. Was wir heute erst uns als Geschichtsbild erringen, was Bewußtsein vom gemeinsamen Ursprung aller indogermanischen, nordischen Völker in unseren Breiten, die Erkenntnis vom rasseseelischen Zusammenhang des Hellenentums mit uns, das Gefühl der grossen Einheit dieser nordischen Völkergruppe, das alles dämmerte mir damals als Junge auf.«7 Wenn auch aus diesen 1939 niedergeschriebenen Worten bereits der überzeugte Nationalsozialist spricht, zeigen sie doch auch, wie Leers durch die Bekanntschaft mit Richard Wossidlo entscheidend geprägt wurde. Hier liegen die Wurzeln sowohl des Historikers als auch des fremdspracheninteressierten Autors Johann von Leers. Dieser Prägung war er sich zeitlebens bewusst. Noch in den 1950er Jahren erinnerte er sich, wie er als Primaner an der Seite von Wossidlo und dem bekannten Vorgeschichtler Carl Schuchardt auf archäologischen Ausgrabungen nach Rethra, dem verschollenen slawischen Zentralheiligtum, gesucht hatte.8 Bis zum Tod von Wossidlo verband beide eine enge Freundschaft. Als Zeichen dieser Wertschätzung hatte Leers 1938 seinen 5 6 7 8
Leers, Professor Richard Wossidlo, in: Mecklenburg 34 (1939) 1, S. 13. Persönliches Gespräch mit Gesine »Geschi« von Leers, vom 25.9.2006. Leers, Professor Richard Wossidlo, in: Mecklenburg 34 (1939), 1, S. 12. UAJ V XL 54, Leers an Kummer, vom 8.8.1958.
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einstigen Griechisch-Lehrer zur Verleihung der Leibniz-Medaille vorgeschlagen.9 Zu seinem letzten Geburtstag schenkte er ihm eine »Apollo«-Statue.10 Ein gerahmtes Bild von Wossidlo überstand Krieg und Flucht und hing noch 1965 in Leers’ Kairoer Wohnzimmer. Die Zeit in Waren und die Begegnung mit Wossidlo führte bei Leers zu einem geistigen Reifungsprozess. Nachdem er anfangs eher mittelmäßige Leistungen erbrachte, wies ihn das Weihnachtszeugnis des Jahres 1915 bereits als Klassenzweiten auf. Ein halbes Jahr später war er der Primus. Besonders in Religion, Geschichte und Erdkunde konnte er sich auszeichnen.11 Hier kündigten sich bereits im Jugendalter seine späteren Tätigkeitsschwerpunkte an. Auf intellektuellem Terrain fand Leers nun erstmals die Gelegenheit, seine schwache körperliche Konstitution, bedingt durch einen Herzfehler, durch geistige Leistungen auszugleichen. Parallelen zum jungen Joseph Goebbels, der wie er körperlich benachteiligt war, drängen sich auf. Auch Leers gelang es in der Folgezeit, sich durch intellektuelle Fähigkeiten Anerkennung zu verschaffen. Noch Jahrzehnte später erinnerte er sich an die »schöne Kameradschaft«, die in der Klasse geherrscht habe.12 Das ist durchaus bemerkenswert für einen Schüler, der allein in den Monaten von Weihnachten 1915 bis Ostern 1916 insgesamt 69 Fehlstunden, die meisten wohl krankheitsbedingt, ansammelte.13 In dieser Zeit entschlossen sich die Eltern, seine geistigen Talente nicht ungenutzt zu lassen. Sie hatten für ihn eine Diplomaten-Laufbahn vorgesehen. Im April 1917 starb der Vater an einem Herzinfarkt. Die Herzschwäche war in der Familie weitverbreitet. Fast alle männlichen Familienmitglieder litten und starben an ihr.14 Durch den Tod des Vaters sah sich die Mutter gezwungen, mit ihren Kindern nach Neustrelitz umzuziehen. Ihr neues Heim bezog die nun vaterlose Familie in der Zierkerstraße 54, in unmittelbarer Nähe des zentral gelegenen Marktplatzes. Die Wohnung war standesgemäß. Zuvor hatten in dem dreistöckigen Gebäude mit schlichter Fassade eine gutbetuchte »Rentiere« und ein Major gewohnt. Der Major war inzwischen an der Westfront gefallen. Im Erdgeschoss des Hauses war ein Kolonialwarenladen unterbracht, der früher auch noch Zigarren, Wein und »Delikatessen« angeboten hatte.15 Im vierten Kriegsjahr wird das Angebot allerdings nicht mehr sehr üppig gewesen sein. Die wirtschaft9 10 11 12 13 14 15
BArch, N 2168/2, Bl. 10. BArch, N 2168/64. Archiv des Richard-Wossidlo-Gymnaisums Waren (Müritz), Zensurenbuch 1915/16. Leers, Professor Richard Wossidlo, in: Mecklenburg 34 (1939), 1, S. 13. Archiv des Richard-Wossidlo-Gymnaisums Waren (Müritz), Zensuren-Bücher. Wackerbarth, Die Letzten des Stamme von Leers, S. 7. Vgl. Adreßbuch für die Stadt Waren 1913/14.
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liche Lage Deutschlands hatte sich seit Kriegsbeginn dramatisch verschlechtert. Die englische Blockade im Verbund mit der Missernte von 1916 ließ die deutsche Nahrungsmittelversorgung kollabieren. Die wöchentlichen Fleischrationen erreichten mit 35 Gramm ihren absoluten Tiefpunkt. Kohlrüben wurden zum wichtigsten Nahrungsmittel. Jetzt rächte es sich, dass die Familie ihr Landgut verpachtet hatte. Es begann eine Zeit des Hungerns und der Armut. Diese existenzielle Not setzte sich auch nach dem Kriegsende im November 1918 fort. Noch Jahrzehnte später erinnerte sich die weitläufige Verwandtschaft an die Neustrelitzer Leidenszeit.16 Mit seinem jüngeren Bruder Werner besuchte Johann von Leers das örtliche Gymnasium »Carolinum«. In dieser Phase setzte bei ihm eine starke Intellektualisierung ein. Eine später erschienene und von ihm autorisierte Kurzbiografie fasst diesen Prozess knapp zusammen: »Wenn andere tanzten, las und lernte er. Er interessierte sich sehr für Sprachen, von denen er in der Schule schon Spanisch und Russisch lernte. Daneben widmete er sich leidenschaftlich dem Theater und der Literatur.«17 Am Schülertheater des »Carolinums« wurde seine frühe Begeisterung für die Bühne geweckt. Mutter Elisabeth, die selbst ausgebildete Schauspielerin war, brachte dieser Leidenschaft besonderes Verständnis entgegen. Gemeinsam wurden die deutschen Klassiker aufgeführt. Hier kam es dann zum Affront mit der Schulleitung, als die Pennäler Schillers »Räuber« bringen wollten. Dem Rektor war der Inhalt des Stückes zu aufrührerisch, Karl Moor kein geeignetes Vorbild für die Kleinstadtjugend. Letztlich waren die Bedenken der schulischen Obrigkeit aber zu abwegig. Das Stück durfte aufgeführt werden.18 Spätestens mit dem Kriegsende begann sich Leers zu politisieren. Nach eigenen Angaben gehörte er während seiner Zeit am »Carolinum« einer »verbotenen Schülergemeinschaft« an.19 Aus der Tatsache, dass diese Angabe ihn später als »Pionier des ›Dritten Reiches‹« qualifizieren sollte, lässt sich entnehmen, dass die »Schülergemeinschaft« durchaus politische Zielsetzungen hatte. Der gemeinsame Antrieb speiste sich vor allem aus einer grundlegenden Oppositionshaltung gegenüber der in Weimar gegründeten Republik. Seine eigene politische Wahrnehmung während dieser frühen Nachkriegszeit beschrieb Leers in den 1950er Jahren: »Ein ›Gegenstand kalter Anwiderung‹ war auch uns damals die Weimarer Republik. Was auch immer die Politiker dieses Staates, der vom Feinde unserem Volke aufgedrängt war, zu seiner Rechtfertigung sagten, gewann uns nicht, sondern brachte uns auf.« Verbittert schrieb er über »die Spartakusunruhen, die Austreibung der Deutschen aus dem El16 17 18 19
Wackerbarth, Die Letzten des Stamme von Leers, S. 7. Schirach, Die Pioniere des Dritten Reiches, S. 142. Persönliches Gespräch mit Gesine »Geschi« von Leers, vom 25.9.2006. Schirach, Die Pioniere des Dritten Reiches, S. 142.
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saß und Lothringen, die mit einem Bündel Kleider wie Vagabunden über die Kehler Rheinbrücke geschoben wurden, [...] die Deutschen, die aus Westpreußen und Posen fliehen mußten; die Kolonialdeutschen, die kahlgestohlen von den Engländern nach Deutschland abgeschoben wurden; wir sahen die Herrschaft der Deserteure, der Leute, die nie in Deutschland eine Rolle gespielt hatten und hätten spielen können und nun auf einmal oben waren, weil sie mitgewirkt hatten, Deutschland zu Fall zu bringen.«20 Diese Erscheinungen verband er mit der neuen Demokratie – und begann sie zu hassen. Und ein weiteres politisches Motiv, das ihn sein Leben lang begleiten und bestimmen sollte, trat während dieser Zeit hervor – der Antisemitismus. »Die Demokraten erzählten uns vom Sieg der ›Humanität‹ – und wir erkannten bald, dass dieses Wort nichts als Vorzugsrechte für die Juden bedeutete, die in schwarzen, dichten Scharen nach 1918 nach Deutschland strömten und unser Volk unter Niederlage und Währungswirrwarr, Feindesgewalt und wirtschaftlicher Not derartig brutal auspowerten, dass sogar das altansässige Judentum in Deutschland besorgt seine Stimme erhob und vor den Folgen warnte.«21 Auffällig ist – und das spricht für die authentische Wiedergabe seiner frühen Überzeugungen – die Differenzierung zwischen einheimischen Juden und den sogenannten »Ostjuden«. Diese Haltung mag unter anderem darauf beruht haben, dass einer seiner Mitschüler Jude war. Persönliche Vorbehalte gegen ihn hatte er nicht.22 Eine ähnliche Begründung für seine frühe Politisierung gab Leers auch an anderer Stelle. Im September 1956 veröffentlichte die in New York ansässige deutsch-jüdische Zeitschrift »Aufbau« Teile eines Briefes, den Leers drei Jahre zuvor an einen Freund geschrieben haben soll, den er noch »aus seinen Jugendtagen kannte«. Dieser Brief war der »Aufbau«-Redaktion angeblich zugespielt worden. Die Diktion der veröffentlichten Textpassagen sowie einige sachliche Ungenauigkeiten, auf die der Verfasser des Kommentars, Kurt R. Grossmann, aufmerksam macht, sprechen für die Authentizität. Demnach begründete Leers die Anfänge seiner Judenfeindlichkeit so: »Ich komme an sich aus einer alten mecklenburgischen Landadelsfamilie; wir waren alle Bismarckianer, das Deutsche Reich, dem die meisten meiner Verwandten als Offiziere dienten, war das Heiligtum unseres Denkens. […] Dann kam der Zusammenbruch 1918, und wie Pilze schossen die jüdischen Politiker aus dem Boden, die über den Sturz des Kaiserreichs jubelten, die immer weiter nach links drängten, die sich zu den Verteidigern der Erniedrigung Deutschlands machten. Und dann die jüdische Presse – mehr als alles andere haben mich das ›Tagebuch‹ von Leopold Schwarzschild, 20 Leers, Die Zeit der Freikorps, in: »Der Weg« 8 (1954), S. 174. 21 Ebd., S. 174. 22 Persönliches Gespräch mit Gesine »Geschi« von Leers, vom 25.9.2006.
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›Weltbühne‹ von Tucholsky, ›Die Welt am Montag‹ schließlich zum Judengegner ge macht.«23 Leers begriff den Nationalismus als ein traditionalistisches Element, das aufgrund der einschneidenden Nachkriegserfahrungen seine Ergänzung und »Modernisierung« durch die Artikulation eines politischen Antisemitismus erfuhr. Das war ganz und gar nicht untypisch für die damalige Zeit. Eine vergleichbare Tendenz ist in zahlreichen nationalen Verbänden der frühen Nachkriegszeit auszumachen. So etwa im Alldeutschen Verband, einer der bedeutendsten nationalistischen Vereinigungen des Kaiserreichs. War die Programmatik bis 1918 verhältnismäßig einseitig auf die »Belebung des vaterländischen Bewußtseins in der Heimat und Bekämpfung aller der nationalen Entwicklung entgegengesetzten Richtungen« ausgerichtet,24 trat auch hier nach Kriegsende eine antijüdische Komponente hinzu, die eine Mitgliedschaft von Juden fortan verbot. In seiner umfang- und quellenreichen Arbeit über den Alldeutschen Verband hat Alfred Kruck schon 1954 diese programmatische Neuausrichtung mit ähnlichen Worten wie Leers dargestellt: »Immer mehr gewann die Auffassung Boden, daß nach allem, was das Judentum in Deutschland und in der ganzen Welt während des großen Krieges gegen das deutsche Volk gesündigt hatte, der Kampf um die Brechung seiner Macht gar nicht scharf genug geführt werden könne. Diese Kampfesstimmung wurde erheblich verstärkt durch die Tatsache, daß seit Kriegsende immer mehr Juden nicht nur in politische, sondern auch in wirtschaftliche Schlüsselstellungen eindrangen.«25 Leers beschritt ideologisch also damals noch keinen »Sonderweg«, sondern bewegte sich im typischen Rahmen seines sozialen Umfelds. Der katastrophale Kriegsausgang hatte in Deutschland zu einer politischen Ohnmacht geführt, die seine östlichen Nachbarn dazu ermunterte, selbständig Grenzkorrekturen vorzunehmen. Besonders im oberschlesischen Raum, in dem eine starke polnische Minderheit lebte, spitzte sich die Situation nach dem Kriegsende zu. Im August 1919 kam es hier zum ersten polnischen Aufstand. Zwei weitere sollten 1920 und 1923 folgen. Die militärische Abwehr derartiger Unruhen wurde maßgeblich durch Freiwilligenverbände, die Freikorps, organisiert.26 Sie wurden zum Sammelbecken der nationalistischen Kräfte in Deutschland. Johann von Leers war zu jung gewesen, um im Weltkrieg als Soldat mitkämpfen zu können. Hier nun bekam er die Gelegenheit, das »Verpasste« nachzuholen. Leers unterbrach die schulische Ausbildung und meldete sich mit 17 Jahren zur »Marinebriga23 Artikel »Selbstbekenntnisse des Herrn von Leers« von Kurt R. Grossmann, in: »Aufbau« vom 21. September 1956. 24 Zitiert nach: Werner, Der Alldeutsche Verband 1890–1918, S. 46. 25 Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890–1939, S. 131. 26 Aus Sicht der Freikorps: Oertzen, Die deutschen Freikorps, S. 116ff.
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de Ehrhardt«. Die Marinebrigade war mit rund 6.000 Mann der größte Freiwilligenverband. Er hatte bereits in Braunschweig, Thüringen und München gegen kommunistische Aufstandsbewegungen gekämpft. Unter der Führung ihres Kommandeurs, Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt, einem hochdekorierten Marineoffizier, wurde im Verbund mit regulären Armeekräften der Aufstand in Oberschlesien niedergeschlagen.27 Über seine Motivation zum Eintritt in die Marinebrigade schrieb Leers später: »[...] es ging uns dabei nicht allein um den Schutz Oberschlesiens, das schöne Land, das wir im Kampfe lieb gewannen – wir fanden endlich eine gemeinsame Fahne, eine Möglichkeit, uns zusammenzuschließen. Wir konnten eingreifen in das Schicksal des Reiches.«28 Die Marinebrigade war für Leers mehr als eine militärische Einheit, er hoffte, in ihr auch eine politische Heimat zu finden. Während der Zeit des Nationalsozialismus erwähnte Leers seine Zeit in Oberschlesien nicht. Lediglich in einer Buchankündigung findet sich ein kurzer Hinweis dazu: »Als Jahrgang 1902 zum Weltkrieg nicht mehr ›zugelassen‹, geht er 1919 von der Schule aus nicht zur Universität, sondern zum Freikorps – erst Deutschland dann das tägliche Brot.«29 Worauf diese Schweigsamkeit zurückzuführen ist, bleibt unklar. Selbst die Tatsache, dass Hermann Ehrhardt gerade in den 1930er Jahren in starker Opposition zur NSDAP stand, dürfte nicht als Erklärung genügen. Wegen seiner führenden Mitarbeit in Otto Strassers »Kampfgemeinschaft revolutionärer Nationalsozialisten« stand Ehrhardt im Zuge des »Röhm-Putsches« vom 30. Juni 1934 in Gefahr, erschossen zu werden. Seine oppositionelle Haltung zwang ihn sogar eine Zeitlang ins Exil. Die ehemaligen Oberschlesien-Kämpfer wurden im »Dritten Reich« durch das Engagement ihres früheren Chefs aber in keiner Weise diskreditiert. Im Gegenteil, die in der »Ehrhardt-Gefolgschaft« organisierten Männer wurden 1934 dem Reichsführer SS unterstellt, später in die SA eingegliedert. Johann von Leers war nicht dabei. Möglich erscheint, dass Leers seinen Einsatz in Oberschlesien deshalb kaum erwähnte, weil dieser nur von kurzer Dauer war. Dafür spricht etwa, dass die Zeitspanne zwischen Ausbruch und Niederschlagung des Aufstandes nur sechs Wochen betrug. In dieses Zeitfenster müssten sein Entscheidungsprozess, seine militärische Grundausbildung und die Anreise ins Krisengebiet fallen. Für einen längeren militärischen Einsatz wäre dabei wenig Zeit geblieben. Trotzdem hat Leers, wie er schreibt, die »furchtbare Härte« des Kampfes in Oberschlesien kennengelernt. Und er nahm noch eine weitere Erfahrung nach Hause mit: Er war »Putsch-Soldat« geworden. »Der Putsch-Soldat war der Übergang zum politischen Soldaten.« Leers musste freilich 27 Ausführlich zur Marinebrigade Ehrhardt: Krüger, Die Brigade Ehrhardt; Schulze, Freikorps und Republik 1918–1920, Meinl, Nationalsozialisten gegen Hitler; Sprenger, Landsknechte auf dem Weg ins Dritte Reich?. 28 Leers, Die Zeit der Freikorps, in: »Der Weg« 8 (1954), S. 178. 29 Hagen, SA-Kamerad Tonne, Verlagsanhang.
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auch erkennen, dass bei vielen Freikorps-Führern dieses politische Bewusstsein fehlte.30 Offenbar hatte der kurze Einsatz in Oberschlesien ausgereicht, um bei Leers erste Zweifel über den politischen Anspruch der Freikorps-Bewegung zu streuen. Die Möglichkeit, sich als Putsch-Soldat zu beweisen, sollte er jedenfalls bald bekommen. Am 10. Januar 1920 war gegen alle Widerstände in Deutschland der Versailler Vertrag in Kraft getreten. Neben Reparationsforderungen bisher nicht gekannten Ausmaßes, Gebietsabtretungen, politisch-wirtschaftlichen Reglementierungen und formeller Kriegsschuldanerkennung, sah er auch die Verkleinerung der militärischen Streitkräfte auf eine Gesamtstärke von 100.000 Mann vor. Für die zahlreichen Freikorps bedeutete das Entwaffnung und Auflösung. Die Freikorps-Bewegung hatte sich inzwischen aber verselbständigt. Ursprünglich von der sozialdemokratischen Regierung zur Bekämpfung kommunistischer Aufstandsbewegungen im Ruhrgebiet und in München zu Hilfe gerufen, wurden die Gegensätze zwischen Freikorps und Regierung immer gravierender. Am 29. Februar kam es zum endgültigen Bruch dieser gegensätzlichen Zweckgemeinschaft, als Reichswehrminister Noske den Befehl zur Auflösung der »Marinebrigade Ehrhardt« erteilte. Nach dem Befehl ging diese zum offenen Aufstand über.31 Angesichts der unsicheren Lage im Osten war die Haltung der Regierung unentschlossen. Das militärische Potenzial der Freikorps würde womöglich noch einmal gebraucht werden. In Armeekreisen war die Sympathie für die Belange der Freikorps noch weitergehender. Hier fand sich der Kommandierende General des Reichswehrgruppenkommandos I in Berlin, Freiherr Walther von Lüttwitz, bereit, die militärische Führung der rebellierenden Freikorps zu übernehmen. Nachdem sich Reichs präsident Ebert und Reichswehrminister Noske weigerten, den Auflösungsbefehl zurückzunehmen und verschiedene politische Forderungen zu erfüllen, entschied sich Lüttwitz dazu, die Regierung zu stürzen. Aus der Meuterei war ein Putsch geworden. In der Nacht vom 12. zum 13. März marschierten die Freikorps-Truppen in Berlin ein, setzten formell die Regierung ab und proklamierten den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp als neuen Reichskanzler. Ein sofortiger Generalstreik und kommunistische Aufstände in verschiedenen Teilen Deutschlands verhinderten jedoch die Etablierung der neuen Regierung. Nach nur vier Tagen war der Putschversuch gescheitert. Neben Berlin war vor allem Mecklenburg einer der Hauptschauplätze des KappPutsches gewesen. Am 13. März war es in Schwerin zu Verhandlungen zwischen den Putschisten und der Landesregierung gekommen, die sich in erster Linie auf die An30 Leers, Die Zeit der Freikorps, in: »Der Weg« 8 (1954), S. 178. 31 Aus Sicht von Ehrhardt: Freksa (Hg.), Kapitän Ehrhardt. Abenteuer und Schicksale, S. 164ff.; aus Sicht eines Ehrhardt-Mannes: Mann, Mit Ehrhardt durch Deutschland, S. 132ff.
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erkennung der neuen Reichsregierung richteten. Die Verhandlungen blieben erfolglos. Als weiteres Problem für die Putschisten sollte es sich erweisen, dass zufällig am 14. März in Neustrelitz der jährliche Landesparteitag der mecklenburgischen SPD stattfand. Auch diese rief nun zum Generalstreik auf. Aber Neustrelitz war Garnisonsstadt. Im Offizierkorps der Garnison hatte es zeitgleich Diskussionen über die Haltung zum Pusch gegeben. Letztlich setzten sich die putschistischen Kräfte durch. Handstreichartig versuchten sie, das von einer Einwohnerwehr und Staatsgendarmerie gesicherte Stadtschloss zu nehmen. Nach einem Feuergefecht einigten sich beide Seiten auf einen Waffenstillstand.32 Auf den jugendlichen Johann von Leers müssen diese aufregenden Szenen in seiner sonst beschaulichen Heimatstadt als Fanal zum politischen Umbruch gewirkt haben. Begeistert schloss er sich den Putschisten an. In den folgenden Tagen kam es in Neustrelitz und Umgebung zu zahlreichen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Teilen der Landarbeiterschaft und Gutsbesitzern. General Paul von Lettow-Vorbeck, der sich seine militärischen Meriten in Afrika erworben hatte, übernahm für die Putschisten den militärischen Oberbefehl in Mecklenburg. Unter dem Schlagwort »Bekämpfung des Bolschewismus auf dem Lande« befahl er eine Guerilla-Taktik. Mit dieser Strategie hatte er bereits in Afrika Erfolg gehabt. Dazu formulierte er: »Die Führer der einzelnen Abschnitte führen den Kampf selbständig. Erfolg kann nur erreicht werden, wenn starke Verbände die Abschnitte täglich durchstreifen und jede bewaffnete oder plündernde Horde rücksichtslos erschossen wird.«33 Trotz der martialischen Ankündigungen soll es nach neueren Untersuchungen bei den Auseinandersetzungen in Mecklenburg-Strelitz, die sich noch bis zum 19. März hinzogen, nur Verletzte, aber keine Toten gegeben haben.34 Nach dem gescheiterten Putsch war Leers desillusioniert. Rückblickend kam er zu dem Fazit: »Und es zeigte sich, dass die Freikorpsbewegung zu einseitig soldatisch und zu wenig revolutionär und programmatisch klar war.«35 An weiteren militärischen Auseinandersetzungen sollte Leers nicht teilnehmen. Die Mitwirkung am Kapp-Putsch und an den anschließenden »März-Unruhen« blieb für die meisten Teilnehmer – dank des Anfang August verabschiedeten Gesetzes »über die Gewährung von Straffreiheit« – folgenlos.36 Auch Johann von Leers konnte wieder an die Schulbank zurückkehren. Im April 1921 legte er in Neustrelitz sein Abi32 Mrotzeck, Der Kapp-Lüttwitz Pusch im März 1920, in: Mecklenburgische Jahrbücher 120 (2005), S. 148. 33 Ebd., S. 150f. 34 Im Gegensatz zu Mecklenburg-Schwerin, wo zahlreiche Todesopfer zu beklagen waren. Ebd., S. 151. 35 Leers, Die Zeit der Freikorps, in: »Der Weg« 8 (1954), S. 180. 36 Reichsgesetzblatt, Jahrgang 1920, Nr. 163, S. 1487.
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Das Abgangszeugnis von Johann von Leers vom Gymnasium in Waren, 1917.
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tur als Jahrgangsbester ab. Aufgrund der ausgezeichneten Leistungen wurde bei ihm auf die Abnahme einer mündlichen Prüfung verzichtet.37 Vor dem versammelten Auditorium hielt Leers die Abschlussrede – in lateinischer Sprache.
Vom Studenten zum Attaché Mit dem Wintersemester 1921/22 begann Johann von Leers ein juristisches Studium. Eine juristische Laufbahn fasste er allerdings nie ernsthaft ins Auge. Er wollte, wie von seiner Mutter vorgesehen, Diplomat werden. Der rechtswissenschaftliche Abschluss sollte ihm dazu lediglich den Weg bereiten. Um sein geistiges Blickfeld für die geplante Diplomatenkarriere entsprechend zu erweitern, entschloss er sich, auch Volkswirtschaftslehre und Geschichte zu hören. Obwohl er diese beiden Fächer fakultativ belegte und somit keinem Prüfungszwang unterworfen war, befasste er sich mit ihnen in gleicher Intensität und mit wachsender Leidenschaft. Leers hatte sich für eine Immatrikulation an der Universität Kiel entschieden. Die Universitäten Berlin und Stralsund hätten sich aufgrund der kürzeren Distanz zu seinem Neustrelitzer Wohnsitz ebenfalls angeboten. In Kiel hatte aber seit Kurzem Gustav Radbruch eine Professur für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Rechtsphilosophie inne. Radbruch polarisierte damals die juristische Fachwelt. Dem bis dahin vorherrschenden Vergeltungsgedanken bei der Aburteilung von Straftätern setzte er das Ziel einer »Resozialisierung« entgegen. Praktisch strebte er eine weitgehende Liberalisierung des Strafrechts an. Neben seiner universitären Tätigkeit war Radbruch auch politisch aktiv. Von Anfang an bejahte er die Weimarer Republik. Im Rahmen des KappPutsches wurde er von Hamburger Putschisten kurzzeitig in Schutzhaft genommen. Angeblich soll gegen ihn sogar ein Todesurteil gefällt, aber nicht vollstreckt worden sein.38 Drei Monate später zog Radbruch für die SPD in den Reichstag ein. Im Oktober 1921 – also zu der Zeit, als Leers sein Studium in Kiel aufnahm – wurde Radbruch zum Reichsjustizminister im Kabinett Wirth ernannt. Während seiner Amtszeit, die sich unter Reichskanzler Stresemann bis November 1923 fortsetzte, wurde auf seine Initiative u. a. 1922 das Republikschutzgesetz eingeführt, das Radbruch mit einer »Notlage«, die »durch Ausschreitungen und Kundgebungen rechtsradikaler Kreise entstanden ist«, begründete.39 Er war es auch, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch eine nach ihm benannte Rechtskonstruktion, die »Radbruchsche For-
37 Universitätsarchiv Rostock, Studenten- und Promotionsakte Johann von Leers, Lebenslauf. 38 Kaufmann, Gustav Radbruch. Rechtsdenker, Philosoph, Sozialdemokrat, S. 65ff. 39 Zitiert nach: Ebd., S. 85.
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mel«, den administrativen Verstoß gegen »unrichtiges Recht« zur Pflicht erhob.40 Auf diese Weise wurde die Aburteilung von nationalsozialistischen Straftätern ermöglicht, die nach formellen juristischen Gesichtspunkten nicht hätten belangt werden können. In den sogenannten »Mauerschützen-Prozessen« der Nachwendezeit wurde die »Radbruchsche Formel« wiederum als Strafbegründung herangezogen. Neben der Person Radbruchs war wohl auch das Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel (IfW) für Leers von Interesse, das in dem Ruf stand, eines der weltweit renommiertesten Wirtschaftsinstitute zu sein. Sein Begründer, der Ökonom Bernhard Harms, hatte bereits 1914 das »Königliche Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft« eröffnet und arbeitete später an seiner Vision einer Weltwirtschaftslehre. Aus der Sicht von Johann von Leers musste die Universität Kiel die wissenschaftlich attraktivste Wahl dargestellt haben. Von Beginn an stand Leers unter dem Druck, sein Studium selbst finanzieren zu müssen. Von der Mutter, die in Neustrelitz selbst am Rand des Existenzminimums lebte, konnte er keine Hilfe erwarten. Mit der Erteilung von Nachhilfestunden und später mit einer Beschäftigung als Werkstudent war Leers gezwungen, seinen Lebensunterhalt allein zu erarbeiten. In den Semesterferien fand er in dem bekannten Kieler Bankhaus »Ahlmann« zeitweilige Beschäftigung. Ein Zimmer zur Untermiete musste dem 19-jährigen Studenten aus adligem Hause nun als Wohnung genügen. Auffällig ist, dass Leers keinerlei Ambitionen zeigte, sich burschenschaftlichen Korporationen anzuschließen. Sein soziologischer Hintergrund hätte ihn dafür ei gentlich prädestiniert. Aber für den Anti-Alkoholiker Leers war die burschenschaft liche »Biergemüthlichkeit«, wie Friedrich Nietzsche das innerkorporative Klima romantisierend umschrieb, alles andere als reizvoll.41 Hinzu kam, dass die Burschenschaften zu dieser Zeit stark konservativ und damit vor allem monarchistisch geprägt waren. Leers Verweigerung gegenüber den Studentenverbindungen ist somit auch als Ablehnung von Konservativismus und Monarchie zu verstehen. Stattdessen trat Leers 1923 in einen der zahlreichen Wehrverbände ein. Wie bereits bei seinem früheren Engagement in Ehrhardts Marinebrigade war seine Entscheidung auch diesmal politisch motiviert. Deshalb hatte er sich als neues Betätigungsfeld den »Bund Wiking« ausgesucht. Der Wiking-Bund war der inoffizielle Nachfolger der »Organisation Consul« (O.C.). Diese wiederum war aus der aufgelösten EhrhardtTruppe hervorgegangen. Die O.C. hatte unter der Leitung von Ehrhardt vorwiegend konspirativ gearbeitet. Auf ihr Konto gingen u. a. die Morde an Matthias Erzberger 40 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, S. 105. 41 Später schrieb Leers über »finstere Verbindung[en]«, in denen lediglich »das Bier so stark studiert« wurde. Vgl. Die Volkswirtschaftliche Bedeutung der Alkoholfrage in Vergangenheit und Gegenwart, in: Kampf dem Rauschgift Alkohol, S. 9.
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und Walther Rathenau sowie ein Sprengstoffanschlag auf die Wohnung von Ernst Thälmann. Auch das Attentat auf den Herausgeber der »Zukunft«, Maximilian Harden, und ein missglückter Blausäureanschlag auf Philipp Scheidemann wurden von O.C.-Mitgliedern verübt. Daneben hatte es aber auch Ansätze zu einer politischen Betätigung gegeben. So gab es gerade innerhalb der süddeutschen O.C.-Strukturen personelle Überschneidungen mit Hitlers SA. Ab 1921 war diese Entwicklung von Ehrhardt gefördert worden. Obwohl diese Tendenz nicht lange anhielt, gab es in der Frühphase der Zusammenarbeit zahlreiche politische Gemeinsamkeiten zwischen der O.C. und den Nationalsozialisten.42 Nach der Verhaftung Ehrhardts Ende 1922 war die O.C. aufgelöst worden.43 Ihre Mitglieder wurden nun vom Ehrhardt-Stellvertreter Eberhard Kautter, ebenfalls ein hochdekorierter Marineoffizier, im Wiking-Bund zusammengefasst. In seiner Satzung hatte der Bund als politisches Ziel die »Erneuerung und Wiedergeburt Deutschlands auf nationaler und völkischer Grundlage durch geistige Erziehung ihrer Mitglieder« festgeschrieben.44 Ungeachtet ihrer politischen Zielsetzung, die in erster Linie die vereinsrechtlichen Vorgaben befriedigen sollte, lag der Arbeitsschwerpunkt auf der militärischen Ausbildung der Mitglieder. Für alle Aktiven – dazu wurden die »Waffenfähigen« im Alter zwischen 20 und 45 Jahren gezählt – standen damit Marsch- und Geländeübungen, Einzel-, Gruppen-, und Kompanieausbildung, Schießen, der Umgang mit Spezialwaffen und die theoretische und praktische Führerausbildung auf dem Dienstplan.45 Diese Gewichtung widersprach den Vorstellungen Leers’. Bereits 1924 erklärte er seinen Austritt aus dem »Wiking«. Nach eigener Aussage hatte er inzwischen die »Aussichtslosigkeit bloßer Wehrverbände« erkannt.46 Die kurzzeitige Mitgliedschaft im Wiking-Bund belegt, dass Leers in der ersten Hälfte der 1920er Jahre im völkischen Lager angekommen war. Die wesentlichsten ideologischen Versatzstücke seiner späteren Weltanschauung waren hier schon angelegt. Nachdem Leers einige Semester in Kiel verbracht hatte, wechselte er vorübergehend nach Berlin,47 bevor er im Oktober 1924 sein Studium in Rostock abschloss. Hier bekam er bei dem Staatsrechtler Edgar Tatarin-Tarnheyden die Gelegenheit zur Promotion. Als Arbeitsthema wählte Leers »Die Werkwohnung in der Gesetzgebung«. In der später veröffentlichten Dissertation sprach er sich deutlich für eine rechtliche Stär42 Meinl, Nationalsozialisten gegen Hitler, S. 50ff. 43 Zur Organisation Consul: Mahlke, Organisation Consul (OC) 1920–1923, S. 549–554. 44 Zit. nach: Finker, Bund Wiking (BW) 1923–1928, S. 368. Ebenfalls zum Bund Wiking: Breuer/ Schmidt, Vom Wiking zur Ehrhardtzeitung, S. 175–194. 45 Finker, Bund Wiking (BW) 1923–1928, S. 370. 46 BArch SSO (ehem. BDC), Leers, Johann von, 25.1.1902, Lebenslauf in der SS-Führerakte. 47 Die Unterlagen zu seiner Studentenzeit in Kiel und Berlin sind Kriegseinwirkungen zum Opfer gefallen.
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