Kantaten! (Leseprobe)

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K   antaten! Das Bachsche Kantaten-Werk an der Kaiser-WilhelmGedächtnis-Kirche in Berlin Herausgegeben im Auftrag des Bach-Chores an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche e.V. von Arne Ziekow

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2012 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Dorothea Wagner, Berlin Umschlaggestaltung: PEAK.B Agentur für Kommunikation, Berlin Satz: typegerecht berlin Schrift: Warnock Pro 9,7 / 13 pt Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg ISBN 978 -3 -937233 -98 -7 www.bebra-wissenschaft.de

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Inhaltsverzeichnis

ROBERT LEICHT

Kantaten-Klang und Großstadtlärm

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K ARL HOCHREITHE R

Bach und Berlin

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Anmerkungen zum Kantaten-Zyklus in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ACHI M ZIMMER M AN N  /  ARNE ZIEKOW

Voraussetzungen einer »wohlbestallten Kirchenmusik«

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Zu den äußeren Einflüssen auf die Aufführungspraxis ­Bachscher Kantaten M ARTIN PETZOLDT

Zur Funktion der Kantaten Bachs im ­evangelisch-lutherischen Gottesdienst

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CORNELIA KULAWI K

Kantaten als »gesungene Predigt« – Was bleibt der Predigerin?

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GU NTER K EN NEL

Geistliche Musik im säkularen Umfeld

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Zur Bedeutung des Kantaten-Zyklus an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche für die Kirchenmusik in der Metropole Berlin M ATTHIAS HOFFM AN N -TAUSCHWITZ

Eine Insel im Großstadtgefüge

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Die Chorleiter – Vier Kurzporträts

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Die Autoren – Biographische Notizen

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Zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche

Die Aufführungen – Chronologie 1947– 2011 75

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Danke!

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Abbildungsverzeichnis

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ROBERT LEICHT

Kantaten-Klang und Großstadtlärm

Urbanistische Sedimentbildung Wer im Jahr 1964 aus dem Westen der Republik nach Berlin verschlagen wurde, geriet in eine paradox zerrissene Stadt. Dass sie durch eine makabre Mauer gespalten und ihr westlicher Teil durch eben eine solche grauenhafte Grenze umzingelt war, kam einem jungen Menschen ohne eigene Anschauung der Vorgeschichte bereits wie ein factum brutum von historisch zurückreichender Zwangsläufigkeit vor, obwohl der 13. August 1961 erst drei Jahre zurücklag. Und gleichzeitig drängte sich der Eindruck auf, dass damit ein Zustand von historischer Endgültigkeit erreicht war: Der Kalte Krieg schien zu einer urbanistischen Sedimentbildung geführt zu haben, die sich wohl nie mehr verflüssigen lassen würde. In dieser ja doch seit dem Kriege kaputten und nach dem Kriege erst recht »gemordeten Stadt« (Wolf Jobst Siedler), deren mitunter renommistisch-kommerzielle Neubauten teilweise schon nach einem Dutzend Jahren ihrerseits heruntergekommen wirken sollten, bildete sich um die Kaiser-WilhelmGedächtnis-Kirche das irgendwie brausende neue Zentrum des freien Berlins. Dass das Kulturzentrum um Scharouns Philharmonie, die als dessen Nukleus zwei Jahre nach Egon Eiermanns Gedächtniskirche vollendet wur-

de, in Wirklichkeit an der östlichen Peripherie Westberlins (oder wie man westlich korrekt zu schreiben hatte: West-Berlins) errichtet wurde, war zwar eine contradictio in adiecto, die erst mit dem Mauerfall von 1989 vom Kopf auf die Füße gestellt wurde. Aber wenn in Berlin der freie Bär brummte, dann zwischen Bahnhof Zoo, Ku’Damm und Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche – einem Ensemble, dem sich vier Jahre nach Eiermanns (ihm in Hinblick auf die Einbeziehung der Turmruine durch die Öffentlichkeit aufgenötigten) genialem Entwurf das angeberische Europa-Center beigesellen sollte. »Stern, auf den ich schaue«, spotteten wir mit der damaligen Liednummer 527 des Kirchengesangbuches. Wo einst die neo-romanische Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche dem Romanischen Café gegenüberstand, Kirchentreff und Künstlertreff, nun also der (damals) neueste Schrei: Kirche und Kommerz. Sei’s drum – das war für einen kaufmännischen Lehrling und angehenden Studenten wie mich, der aus der durchaus heilen Welt der südwestdeutschen Provinz kam, der Strudel großstädtischer Turbulenz schlechthin, wobei das Mondäne und Anrüchige nur scheu und neugierig begafft werden konnte, die eigene Teilnahme an dieser großen Welt sich aber aufgrund finanzieller Restriktionen zumeist auf die Besuche bei Aschinger, sei es beim Bahn7

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Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche 1960 er Jahre

hof Zoo oder, näher zur Lehrstelle, in der KarlMarx-Straße in Neukölln zu beschränken hatte; allenfalls das Café Zuntz konnte noch frequentiert werden, weil das dortige Zeitungs­angebot auf einem mit Schaukelstühlen umstellten runden Tisch den Preis des Heiß­getränks abzumildern half.

Ungewöhnlicher Fluchtpunkt Was sich auf den ersten Blick wie ein Eingesponnensein in das vermeintlich weltstädtische Geschehen ausnahm, erwies sich mit der Zeit mehr und mehr als eine sich im lärmenden Geschrei vertiefende Vereinsamung, aus der nun gerade die neue Kaiser-Wilhelm-GedächtnisKirche einen ungewöhnlichen Fluchtpunkt zu bilden vermochte, weil in ihrem tiefen Char­

tres-Blau und in ihrer betörenden Stille vieles zur Ruhe kommen konnte. Wahrscheinlich ist schon oft beschrieben worden, wie dieser Bau beides in einem bilden konnte – Schwerpunkt und Aufhebung der Schwere, Anziehungspunkt und Fluchtpunkt, Meditationszelle auf einer Insel grellen Stadtlebens: In der Ruhe liegt die Kraft! Diese coincidentia oppositorum, dieser scharfe und sanfte Gegensatz des eigentlich (fast) Unvereinbaren machte die wahre Genialität und den Genius dieses Ortes aus, der übrigens damals noch von den Rücksichtslosigkeiten und Verschmutzungen unseres heutigen habituellen Großstadt-Vandalismus bemerkenswert und achtungsvoll verschont wurde – von einem seltenen Weinfest einmal abgesehen, das den im Tenor neben mir sitzenden Sohn des vormaligen fränkischen Posaunenwarts nach einem Besuch zwischen Anspielprobe und Kantate-Gottesdienst um 18 Uhr das abschließende Paternosterlied weinselig ergänzen ließ: Vater unser im Zeltinger Himmelreich … Womit wir bereits in das geistliche und kulturelle Leben innerhalb dieser Kirche eingetreten sind. Hier konnte man am Reformationstag Otto Dibelius über Psalm 46 predigen hören, wobei der Satz »Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben« einen kaum zu überbietenden Gegensatz zwischen der Stadt Zion und der tatsächlichen Lage der Stadt Berlin bildete. Hier konnte man den nachmaligen Superintendenten Reinhold George am Volkstrauertag 1965 gegen die neue Ostdenkschrift mit einer solchen Vehemenz wettern hören, dass man weniger an Zion als an das Jüngste Gericht zu denken geneigt war. Hingegen vermochten die originellen Fünf-Minuten-Andachten mit ihrem Erfinder Heinrich Giesen die Erweckung und Zeitgenossenschaft so konzentriert zu

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bündeln, dass man sich immer wieder fragte: Wie und woraus macht er das?

Ort der Sammlung und Versammlung Der Bach-Chor an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche wurde für eine ganze Reihe von jungen Leuten, die aus dem Westen der Republik nach Berlin gekommen waren – vorwiegend zum Studium, und das nicht nur an der Kirchlichen Hochschule und an der Kirchenmusikschule in Spandau – zu einem Ort der Sammlung und Versammlung. Der regelmäßige Takt der wöchentlichen Proben und der zumeist vierzehntäglichen Einsätze im Kantate-Gottesdienst (und sei es nur für den vierstimmigen Schlusschoral) bot – neben der Musik als solcher – gesellige Fixpunkte im ansonsten vielleicht von Zerstreuung und Heimatlosigkeit zerfaserten Aufgehen in der Stadt. Und (ehrlicherweise) weit entfernt von der chorisch-liturgischen Disziplin und Virtuosität etwa der Thomaner und Kruzianer, war man so doch ein wenig angeschlossen an den Zeitund Kreislauf der evangelischen Kirchenmusik schlechthin; dies nicht zuletzt deshalb, weil ja das Programm der Kantate-Gottesdienste (und wohl auch der intermittierenden Orgelvespern) von Johann Sebastian Bach wirklich dominiert wurde. Instrumentalisten und Solisten allerdings brachten die Maßstäbe der Oper und der professionellen Orchester mit in diese Kirche, zu begrenztem Honorar, aber doch sehr ehrenvoll. Über alledem wurde Karl Hochreither über ganze Jahrzehnte zu einem Fixpunkt im liturgischen und künstlerischen Geschehen an diesem Ort, so wie dieser Ort in der Stadt selber ein Fixpunkt war.

Deckblatt des Programmheftes vom 27. März 1965

Reminiszenzen Rückblicke verklären vieles – vor allem weiten sie die Erlebnisräume zu gefühlt viel längeren Zeitspannen aus, was natürlich auch der enormen plastischen Prägewirkung solcher Erlebnisse auf das junge Gemüt zu verdanken ist. Ein halbes Jahr in einem solchen Chornetzwerk kann sich dann für ein Leben lang nachgerade zu einer unvergesslichen Epoche ausdehnen. Natürlich aber: Fixpunkte im eigenen (auch theologischen) Denken, Fühlen und Musizieren. Ohne Karl Hochreithers damalige Einführung in die Entwicklung von der Kantate BWV 80a (Alles, was von Gott geboren zum Sonntag Oculi, Aufführung am 27. März 1965) zur Kantate BWV 80 (Ein feste Burg ist unser Gott zum Reformationsfest) hätte ich nie in eigener Predigttätigkeit die Entwicklung und Degene9

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ration der Befreiungstheologie Martin Luthers zum orthodoxen lutherischen Triumphalismus nachzeichnen können, etwa am Reformationstag 2011 im Naumburger Dom, in meiner Geburtsstadt, zu den Klängen der erst nach Bachs Tod aufgesetzten Trompeten. So schließen sich über Jahrzehnte, mit Dank wahrgenommen, die Kreise. An der Kantate BWV 104 (Du Hirte Israel, höre zum Sonntag Misericordias Domini, aufgeführt am 8. Mai 1965) konnte man für den Rest des Lebens die Intrikatheiten des scheinbar so einfachen 9/8- (und auch 12/8-) Taktes begreifen lernen; beim eigenen Spiel am Horn in Beethovens und Kreutzers Septetten musste ich erst kürzlich wieder daran zurückdenken. Und bei der Aufführung von Mozarts Davidde penitente KV 469 – der Parallelform zu seinem Torso einer Messe in c-Moll – zeigte sich, was man als Sänger vor einer Aufführung

niemals tun sollte: Die famose Sopranistin Catherine Gayer hatte nämlich am Vormittag der Aufführung staubige Vorhänge abgenommen, und das hörte man – genauer: man hörte sie kaum noch. Und dass ich über den Proben zur Kantate BWV 20 O Ewigkeit, du Donnerwort (aufgeführt am 19. Juni 1965) meine spätere und heutige Ehefrau kennengelernt habe, darf man ja auch als positives Vorzeichen nehmen. Nun gut – alles Reminiszenzen, von Bedeutung nur für einen selbst und an Ort und Stelle längst durch so vieles andere überholt. Ich bin aber davon überzeugt, dass dieser musikalische, theologische und urbane Fluchtpunkt längst ungezählte andere Menschen in seinen Bann geschlagen hat und – was man an sich selbst erst viel später richtig wahrnehmen dürfte – weiterhin prägen wird. Sicut erat in principio.

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K ARL HOCHREITHE R

Bach und Berlin

Anmerkungen zum Kantaten-Zyklus in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche1

Der Beginn der Kantate-Gottesdienste An Ostern 2007 wurde mit einem Gottesdienst des Beginns der regelmäßigen Kan­tateGottesdienste am 6. April 1947 gedacht. Fast auf den Tag genau 60 Jahre danach erklang einmal mehr die Kantate Christ lag in Todesbanden, die Ostern 1947 von der Spandauer Kantorei und einem Instrumentalensemble unter der Leitung von Gottfried Grote in der Steglitzer Matthäus-Kirche zur Aufführung gebracht worden war. Nicht weniger als rund 1.300 mal wurden seither im Rahmen dieses Zyklus Gottesdienste gefeiert und Konzerte veranstaltet. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche lag nach dem Krieg wie fast die ganze Stadt in Trümmern; ein Bombenangriff hatte sie in der Nacht zum 23. November 1943 in Schutt und Asche gelegt. Die Matthäus-Kirche kam als einziger Ort für die Kantate-Gottesdienste in Frage, weil sie unter den halbwegs zentral gelegenen und nur beschädigten Gotteshäusern eines war, das wieder ein dichtes Dach hatte und dessen geborstene Fenster wenigstens mit Brettern vernagelt waren. Bischof Wolfgang Huber sagte in seiner Predigt im Ostergottesdienst 2007, der am Beginn der damaligen Jubiläumsveranstaltungen stand: »In der Trümmerstadt Berlin sollte

Bachs ergreifende Musik erklingen. Angesichts von Verwüstung und Tod sollte ein Glaube laut werden, der auch Trümmerberge versetzt. Eine Hoffnung sollte wachgerufen werden, die vor Verwüstung und Trauer nicht verstummt. Menschen sollten mit neuem Mut der Liebe in ihrem Leben Raum geben und Gott aufs Neue vertrauen …« Und später: »Mit Wehmut wurde der Verstorbenen gedacht; doch eben-

Ruine der Gedächtniskirche 1953

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so stark war die Bereitschaft, neu anzufangen. Im erschreckten Rückblick stieg die Scham darüber auf, wie tief der Sauerteig der Bosheit Denken und Handeln vergiftet hatte. Die Menschen suchten Halt. Sie litten unter dem Blick in den Spiegel. Sie wollten neu beginnen.«

Die Initiatoren der Kantate-Gottesdienste Damit hatte er angesprochen, was die Initiatoren 1947 umtrieb und motivierte, etwas zu beginnen, das bis heute lebendig ist. Damals predigte Kirchenrat Theodor Wenzel, der Direktor der Inneren Mission. Er war der eigentliche Initiator des Zyklus, ein, wie berichtet wird, begnadeter Prediger und einer, der durch sein unerschrockenes Bekenntnis während der Zeit des Nationalsozialismus glaubwürdig war wie damals wenige. Als Mitglied des Pfarrernotbundes hatte Wenzel unerschrocken die Euthanasie bekämpft und untergetauchte Juden versteckt. Aber Wenzel war nicht nur ein tapferer Christ, ein charismatischer Prediger und ein zupackender Organisator, er war auch den schönen Künsten zugetan und zutiefst davon überzeugt, die hungernde und frierende Bevölkerung Berlins habe – wie er sagte – Gottes Wort in anziehend- und begeisternd-künstlerischer Form mindestens ebenso nötig wie materielle Hilfe in Form von Care-Paketen und Hilfswerkspeisungen. Unter dem Leitwort »Die Kantate des Sonn­tags« rief er einen »Arbeitskreis für Kantate-Gottesdienste« ins Leben, dem unter seinem Vorsitz als wichtigste Mitglieder der große Bach-Forscher Friedrich Smend als wissenschaftlicher Berater, der spätere Schöneberger Superintendent Reinhold George als Geschäftsführer, Hilde Lang als

Theodor Wenzel

Sekretärin, später Geschäftsführerin, und eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten der Berliner Evangelischen Kirche angehörten. Hier sind vor anderen zu nennen Gottfried Grote, damals Direktor der Berliner Kirchenmusikschule und Leiter der Spandauer Kantorei, dem Chor dieses Instituts, und Wolfgang Reimann, seinerzeit Leiter der Abteilung für Kirchenmusik an der Berliner Musikhochschule und Direktor des Staats- und Domchores. Dazu kamen noch die Dirigenten zweier Chöre, die neben der Spandauer Kantorei und dem Staats- und Domchor zunächst die KantateGottesdienste bestritten: Paul Hoffmann, Leiter der Kantorei der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, und Herbert Müntzel, Leiter der Schöneberger Kantorei.2 Heterogener hätte die Zusammensetzung des Arbeitskreises kaum sein können. Vor al-

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lem die denkbar unterschiedlichen politischen Biographien einiger seiner Mitglieder bargen enormes Konfliktpotential, wie die Protokolle der Sitzungen belegen. Doch ungeachtet harter Auseinandersetzungen blieben sich die Initiatoren in ihrem Ziel einig: Sie wollten im zerstörten Berlin den Anstoß zu einem kirchlich geprägten Kulturleben geben und etwas tun für die Wiederbelebung des Bachschen Kantaten-Werkes in dem Rahmen, für den es geschaffen worden war, dem evangelischen Gottesdienst; sie verfolgten mit ihrem volksmissionarischen Anliegen zugleich ein kulturpolitisches Ziel.

Die Entwicklung bis 1961 Während die beiden ersten Kantate-Gottesdienste sonntags um 18 Uhr gefeiert wurden, entschloss man sich danach, sie auf den Sonnabend, ebenfalls 18 Uhr zu verlegen, an dem sie noch heute stattfinden. Ihre damals noch reichere Liturgie »trug deutlich die Handschrift Gottfried Grotes«.3 Zwei Jahre lang wurden die Kantate-Gottesdienste wöchentlich gefeiert, dann musste man aus finanziellen Gründen zu dem vierzehntäglichen Rhythmus übergehen, der dem Zyklus auch heute noch zugrunde liegt. Ab 1949/50, nach dem Ausscheiden der Schöneberger Kantorei, erweiterte sich der Kreis der beteiligten Chöre allmählich, während sich aus den mitwirkenden Instrumentalisten über die Jahre ein festes Ensemble bildete; auch der Kreis der Vokalsolisten blieb im Wesentlichen gleich. Die musikalische Leitung lag stets in den Händen des Dirigenten des jeweils mitwirkenden Chores. Bis zum Februar 1957 fanden die Kantate-Gottesdienste in der Steglitzer Matthäuskirche statt, danach

wurden sie wegen Renovierungs- und Umbauarbeiten in die Zehlendorfer Pauluskirche verlegt. Am 25. Mai 1957 gründete Hanns-Martin Schneidt, der 1956 zum Direktor der Berliner Kirchenmusikschule und der Spandauer Kantorei berufen worden war, das Bach-Collegium aus dem bereits bewährten Kreis der Instru­ mentalisten, die zunächst aus ganz Berlin, nach dem Bau der Mauer und bis zu ihrem Fall nur noch aus den Orchestern des Westteils der Stadt kamen. Der Gedanke, die Kantate-Gottesdienste nach der Fertigstellung der neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche dort im Zentrum des Westteils der Stadt zu institutionalisieren, war schon während des Baus der Kirche zum festen Plan gereift. Der im Herbst 1961 von HannsMartin Schneidt gegründete Bach-Chor, in den er die Spandauer Kantorei integrierte, sollte dann zusammen mit dem Bach-Collegium, das später satzungsmäßig mit dem Chor verbunden wurde, die Kantaten-Arbeit alleine schultern. Mit einer Aufführung der Kantaten I-III des Weihnachts-Oratoriums seines Namenspatrons trat der Bach-Chor am 17. Dezember 1961, dem Tag der Einweihung der neuen Gedächtniskirche, zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Es bleibt auf einiges hinzuweisen, das ins Bewusstsein sich zu rufen die Voraussetzung dafür ist, die Leistung der Gründerväter angemessen würdigen zu können. Wir vermögen uns heute kaum vorzustellen, wie schwierig es war, im zerstörten Berlin Aufführungsmaterial für Bach-Kantaten zu beschaffen. Es musste oft von auswärts besorgt werden, manchmal sogar per Boten. 13

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Die Besuche Bachs in Berlin und Potsdam

Deckblatt des Programmheftes vom 17. Dezember 1961

Nicht selten fuhr Hilde Lang selbst nach Leipzig, um dort bei den Verlagen die benötigten Noten auszuleihen. Die Finanzierung der Aufführungen war ein schier unlösbares Problem. Während der Wintermonate wurden die Gottesdienstbesucher gebeten, Brennmaterial beizusteuern: Kohlen tütenweise, Briketts einzeln. Die Musiker brachten angewärmte Backsteine mit, um sich die Finger warm halten zu können. Der Druck jedes Programms musste von einer alliierten Dienststelle genehmigt werden, etc. etc. Und das alles in einem Alltag, der ein Überlebenskampf par excellence in der gespenstischen Kulisse einer in Trümmern liegenden Stadt war, begleitet von den allgegenwärtigen, schrecklichen Kriegserlebnissen und eingedenk des Bewusstseins von erdrückender Schuld.

Da war es sehr hilfreich, sich in der Pflicht einer großen Tradition zu wissen, denn Berlin war eine Bach-Stadt: Die Pflege seines Werkes auf die eine oder andere Weise war in Berlin nie ganz abgerissen, und begonnen hatte sie mit den Besuchen des Komponisten selbst. Bach war mehrmals in der Stadt, mit Sicherheit z. B. Anfang 1719, als er von Köthen aus ein Cembalo für den dortigen Hof selbst abholte. Vermutlich hielt er sich damals eine Woche lang in Berlin auf, er muss aber davor schon in der Stadt gewesen sein, um das Instrument bei dem für seine kostbaren Cembali berühmten Instrumentenbauer Michael Mietke4 zu bestellen. Er mag seinen Aufenthalt im Übrigen dazu genutzt haben, Kontakte zu knüpfen. An Beziehungen hat es ihm wohl kaum gemangelt, waren doch die Kollegen der Musiker, die sechs Jahre zuvor aus der Hofkapelle Friedrichs I. ausgeschieden und an den Köthener Hof gegangen waren, sicher gerne bereit, entsprechende Verbindungen herzustellen. Es war wohl auch in jenen Tagen, dass Bach dem Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg, dem Bruder des verstorbenen Königs und jüngsten Sohn des Großen Kurfürsten, begegnet ist und ihm vorgespielt hat, wie aus dem Vorwort zur Widmungspartitur der Six Concerts avec plusieurs instruments – den Brandenburgischen Konzerten – hervorgeht, die Bach ihm zwei Jahre später hat zugehen lassen.5 Christian Ludwig residierte im Berliner Stadtschloss. Er hielt sich eine kleine Privatkapelle, die auch aus Musikern bestand, die aus der später von Friedrich I. aufgelösten Hofkapelle kamen. Von der Reise, die Bach 1741 nach Berlin führte, wissen wir wenig. Dass wir überhaupt

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Kenntnis davon haben, verdanken wir zwei Briefen: einem nicht erhaltenen, den Bach an seine Familie in Leipzig richtete,6 und einem, den sein Vetter von dort mit der beunruhigenden Nachricht von der Erkrankung Maria Barbaras, Bachs zweiter Ehefrau, schrieb.7 Nun gab es damals auch schon familiäre Gründe für eine Berlin-Reise: Bachs zweiter Sohn, Carl Philipp Emanuel, war seit 1740 in der Hofkapelle Friedrichs II. tätig, der im selben Jahr den Thron bestiegen hatte. Zu einer Begegnung mit dem König kam es aber während Bachs Aufenthalt 1741 nicht. Indessen traf er vermutlich den Kämmerer und Vertrauten des Königs, Michael Gabriel Fredersdorf, wie wir aus der Eintragung in einer Abschrift der Flötensonate E-Dur schließen können, die Bach offenbar für ihn anfertigte.8 In Berlin lebte zudem ein Freund der Familie Bach, der Arzt Dr. Georg Ernst Stahl,9 dessen Haus eine prominente Adresse hatte, nämlich Unter den Linden, wo Bach in diesen Tagen vermutlich auch wohnte. Ein Besuch Bachs in Berlin, über den sich die Fachliteratur ob ihres gänzlich privaten Charakters ausschweigt, fand 1745 statt. Bach wurde Pate des ältesten Sohnes von Carl Phi­lipp Emanuel.10 Die letzte Reise Bachs nach Berlin und Potsdam im Mai 1747 wurde zu einem der bedeutendsten Ereignisse in Bachs Leben und zu einem Höhepunkt in seiner beruflichen Laufbahn; in Bezug auf das, was wir heute Publicity nennen, war es wohl der Höhepunkt schlechthin. Dass sie zum Allgemeinwissen gerechnet werden darf, liegt sicher am Werk, das sozusagen ihr künstlerisches Ergebnis war, dem Musikalischen Opfer, und an den Umständen seiner Entstehung. Genaueres über die Reise, ihr Zustandekommen, die Begegnung Bachs mit dem König etc. ist bei Forkel zu lesen.11 Nach ihm

Johann Sebastian Bach 1746 (Elias Gottlob Haussmann)

geht der Besuch Bachs auf eine Einladung des Königs zurück. Er berichtet vom Drängen des Monar­chen, erwähnt aber mit keinem Wort, dass es wohl Gründe der politischen Opportunität waren, die Bach bewogen, der Einladung nicht sofort zu folgen: Am 30. November 1745 hatten gegen Ende des 2 . Schlesischen Krieges preußische Truppen Leipzig besetzt, am 17. Dezember war die Residenz Dresden gefallen. Erst nachdem am 25. Dezember 1745 Frieden geschlossen und schließlich auch die Besetzung Leipzigs beendet war, konnte Bach daran denken, in die preußische Residenz zu reisen. – Immerhin haben die Preußen bei den Leipzigern zwei Mil­lionen Gulden Kontribu­ tionen eingetrieben, und Bach schrieb noch in einem Brief an seinen Vetter vom 6. Oktober 1748: »da wir leider! Die preußische Invasion hatten«12. 15

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Man kann davon ausgehen, dass Bachs Besuch von und nach allen Seiten gut vorbereitet war. Sein ältester Sohn Wilhelm Friedemann begleitete ihn. Mutmaßlich wohnten sie im Hause Stahl, wenn sie sich nicht in Potsdam, dem eigentlichen Reiseziel, aufhielten. Es würde zu weit führen, ausführlicher auf die denkwürdige Begegnung Bachs mit dem König einzugehen, der mit der berühmten Ankündigung »Meine Herren, der alte Bach ist gekommen« die Probe mit seinen Musikern abbrach,13 um ihn sogleich herbeizubeordern. Nach einer umständlichen Begrüßung und vielerlei Förmlichkeiten lud er ihn ein, die Tasteninstrumente im Schloss auszuprobieren – eine Bitte, der Bach sicher gerne mit immer neuen Improvisationen folgte. Wir können uns gut vorstellen, wie die elitäre, kleine Gesellschaft – der König, Bach und die Musiker der Kapelle – von Zimmer zu Zimmer schritt, um Bachs Künsten zu lauschen, darunter der Improvisation über ein Fugenthema, das er sich vom König erbeten hatte. Forkels detaillierte Schilderung des Abends geht auf Wilhelm Friedemanns Bericht zurück, was ihr eine spürbare Authentizität verleiht. Überhaupt kommt Forkels Ausführungen dank seines engen Kontakts mit den beiden ältesten Bach-Söhnen besonderes Gewicht zu. Es erscheint nicht unangebracht, darauf hinzuweisen, dass Friedrichs Kammermusik­ abende in dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Potsdamer Stadtschloss stattfanden; dies war auch der Ort des Zusammentreffens mit Bach. Menzels geniales Bild vom Flötenkonzert in Sanssouci mag den Irrtum mit induziert haben, Friedrich habe den »alten« Bach dort empfangen (was denkbar gewesen wäre, denn die neu erbaute Sommerresidenz des Königs war gerade am 1. Mai 1747 eingeweiht worden).

Am Tag nach dem denkwürdigen Abend im Potsdamer Stadtschloss spielte Bach auf Wunsch des Königs und in seinem Beisein die Orgel der dortigen Heiliggeistkirche, ein Instrument des bekannten Orgelbauers Johann Joachim Wagner.14 Wie Forkel schreibt, wurde Bach »zu allen in Potsdam befindlichen Orgeln geführt«.15 Forkel berichtet auch ausführlich von Bachs Besuch im Berliner Opernhaus, bei dem er sich als besonders kenntnisreich in Sachen Akustik erwies, was nicht verwunderlich ist, hatte er doch den denkbar besten Ruf als Orgelbausachverständiger.16

Frühe Bach-Pflege und Beginn der Bach-Renaissance in Berlin Die Begegnung Bachs mit dem Preußenkönig hat wesentlich zu seiner Bekanntheit und zu seiner Hochschätzung vor allem unter Kennern beigetragen. Zunehmend lenkten nun auch Drucke die Aufmerksamkeit auf Bachs Werk, wie z. B. Johann Sebastian Bachs vierstimmige Choralgesänge gesammelt von Carl Philipp Emanuel Bach, deren erster Teil 1765 in Berlin erschien. 1790, so ist belegt, suchte Johann Carl Fried­rich Rellstab nach Subskribenten für eine Druckausgabe des Wohltemperierten Klaviers, weil das Werk »in fehlerhaften Kopien unter Clavier- und Orgelspielern umhergehe«.17 Sind dies für den geübten Beobachter der Zeitgeschichte leise Ankündigungen kommender Ereignisse, so ist die Tatsache, dass Christian Friedrich Carl Fasch 1794 mit der Singakademie, die er 1791 gegründet hatte, die Bachsche Motette Komm, Jesu, komm BWV 229 studierte, ein deutliches Anzeichen für einen Umschwung in der Bach-Pflege, für eine Hin-

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wendung zu seiner geistlichen Musik, eine Entwicklung, die in der Wiederaufführung der Matthäus-Passion unter Felix Mendelssohns Leitung 1829 einen ersten Höhepunkt fand. Das Ereignis wird allgemein als Beginn der Bach-Renaissance gesehen. Doch wer es würdigt, sollte stets im Blick behalten, was Friedrich Smend 1947, im Jahr des Beginns der regelmäßigen Bachkantate-Gottesdienste schrieb: »Die Wiedererweckung geschah im Zeitalter der Romantik. Zwei Strömungen waren es, die sie trugen: die Besinnung auf die Werte der deutschen Vergangenheit und das zugleich neu erwachte christliche Bewusstsein.«18 Aber nicht genug, dass die spektakuläre Wiederaufführung der Matthäus-Passion, die von signalhafter Wirkung gewesen sein muss, in einem völlig veränderten geistigen Klima stattfand: Mit ihr wurde das Vokal-Instrumentalwerk Bachs auch aus seinen praktisch-musikalischen und soziologischen Zusammenhängen, vor allem aber aus seiner liturgischen Funktion gelöst und in den Konzertsaal verpflanzt. Die Pflege seiner Werke geriet in den schöpferischen Sog der Romantik. Mit welchem Eifer man sich aber der Aneignung Bachscher Werke widmete, mögen zwei musikgeschichtliche Randnotizen beleuchten: Mendelssohns Großmutter ließ für ihren 14 -jährigen Enkel die Partitur der Matthäus-Passion abschreiben, weil er sich dies so sehr gewünscht hatte. Robert Schumann kopierte sich Teile der Kunst der Fuge zum Zwecke intensiveren Studiums und entwickelte aus der Umkehrung ihres Themas den Hauptsatz seiner dritten Violinsonate in d-Moll op. 121. Weil indes der weitaus größte Teil der Werke Bachs nicht im Druck vorlag, gründeten 1850 Robert Schumann, Franz Liszt u. a. in Leipzig die Bachgesellschaft mit dem Ziel der

Veröffentlichung der Werke Johann Sebastian Bachs in einer Gesamtausgabe. Als diese vollendet war, löste die Gesellschaft sich satzungsgemäß auf. Gleichzeitig konstituierte sich im Januar 1900 die Neue Bachgesellschaft, um die Werke Bachs in aller Welt bekannt zu machen. Diesem Ziel dienen seither vor allem Bachfeste, das seit 1904 erscheinende Bach-Jahrbuch und die Beförderung praktischer Werkausgaben. Das erste dieser Bachfeste fand vom 21. bis 23. März 1901 in Berlin statt und wurde in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche eröffnet.19 Berlin als Veranstaltungsort zu wählen, lag aus verschiedenen Gründen nahe: Wie angedeutet, war hier die Bachpflege nie ganz abgerissen, ja sie gewann dank der Aktivität der Singakademie zunehmend an Bedeutung. Philipp Spitta war 1875 an die Königliche Hochschule für Musik berufen worden, und mehrere Repräsentanten des hiesigen Musiklebens waren zugleich führende Persönlichkeiten der Neuen Bachgesellschaft. Das erste der drei Konzerte des Festes enthielt fünf Kirchenkantaten.20 Dieses Programm stand am Beginn leidenschaftlicher Diskussionen darüber, wie die Kantaten – immerhin die umfangreichste Werkgruppe im Schaffen des Komponisten – der Vergessenheit entrissen werden könnten.

Folgerungen für die Berliner ­Kantate-Gottesdienste und Neubeginn in der Gedächtniskirche Für die Initiatoren der Berliner Kantate-Gottesdienste war die Antwort klar: Die Kantaten waren nur in dem liturgischen Zusammenhang wiederzubeleben, für den Bach sie geschrieben hatte. Diese Antwort erwies sich in 333 Kanta17

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te-Gottesdiensten, die seit Ostern 1947 bis zum Umzug in die neu erbaute Gedächtniskirche stattfanden, als richtig. Das Einweihungskonzert am 17. Dezember 1961 allerdings und die Proben dazu müssen für die Mitwirkenden ein ungeheurer Schock gewesen sein: Die akustische Situation, vor allem auf der Empore, war katastrophal. Es herrschte allgemeine Ratlosigkeit. Aber die Freude, nun an zentraler Stelle der westlichen City in einer wunderbaren neuen Kirche das Bachsche Kantaten-Werk zu Gehör bringen zu können, überwog. Und es gab die Hoffnung, dass man sich an den Raum schon gewöhnen werde; sicher würde sich die Akustik auch verbessern lassen, und noch war ja auch die Orgel nicht eingebaut, was erst im darauffolgenden Oktober geschah. Am 6. Januar 1962 fand der erste KantateGottesdienst statt. Der Schwung, der einem solchen Anfang innewohnt, trug eine Zeitlang. Erste Versuche, den Schwierigkeiten der Akustik durch Einpinseln der Betonwaben im unteren Bereich aufzuhelfen, blieben wirkungslos, und dann machte Hanns-Martin Schneidt wahr, was er nach dem Einweihungskonzert dem Konzertmeister Max Kalki gegenüber wenig verschlüsselt geäußert hatte: »Hier werde ich nicht alt.« Er kündigte als Direktor der Berliner Kirchenmusikschule und als Leiter des Bach-Chores im Sommer 1963. Im Zuge des Revirements an der Kirchenmusikschule übernahm Heinz Werner Zimmermann das Direktorat, Helmuth Rilling das Fach Chorleitung und der Verfasser das Fach Künstlerisches Orgelspiel. Schneidt hatte die Spandauer Kantorei, den Chor der Kirchenmusikschule, im Bach-Chor aufgehen lassen. Das neue Kollegium war sich aber darin einig, dass die Kantorei, die eine ruhmreiche Vergangen-

heit als A-cappella-Chor hatte, unter Rillings Leitung wieder erstehen sollte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich her­ ausstellte, dass Unterricht, die Leitung zweier Chöre und die vierzehntäglichen KantatenAufführungen Helmuth Rilling zeitlich überforderten, zumal er seine Stuttgarter Position nicht ganz aufgeben wollte. Wahrscheinlich haben ihn die fehlende finanzielle Basis des Bach-Chores und die Akustik der Kirche in dem Entschluss, die Leitung des Bach-Chores niederzulegen, eher bestärkt. Um die Verbindung von Kirchenmusikschule und Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zu erhalten, wurde die Leitung des BachChores dem Fach Künstlerisches Orgelspiel zugeschlagen: Im Februar 1964 trat demzufolge der Verfasser die Nachfolge Rillings als Leiter des Bach-Chores an. Die Neugründung der Spandauer Kantorei, in der zu singen für die sängerisch besonders begabten Studierenden der Kirchenmusikschule Teil des Unterrichts wurde, bedeutete einen empfindlichen Verlust für den Bach-Chor, dem ein weiterer folgte, als Rillings Nachfolger an der Kirchenmusikschule diese Regelung auf alle Studierenden ausdehnte. Damit war die Verbindung des Chores zur Kirchenmusikschule gekappt. Es war ohne Zweifel sehr schwierig, den Chor nach diesem Aderlass sängerisch zu regenerieren: Wer singt schon gerne in einem Chor, in dem sich das klangliche Erlebnis gemeinsamen Singens in einer Aufführung nicht einstellt? Auf dieser Empore sang damals sozusagen jeder für sich allein – nicht jede Stimme, nein, jeder Sänger. Auch für einen Konzertmeister war es nicht stimulierend, ohne Hörkontakt mit dem zwei Meter von ihm entfernt sitzenden Continuo-

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Ankündigung des ersten Kantate-Gottesdienstes im »Führer durch die Konzertsäle Berlins«

Cellisten zu musizieren. Die Instrumentalisten konnten dieses Problem dank ihrer Professionalität be­wältigen, nicht aber die Choristen als Laien­sänger. Gelinde gesagt war es eine frustrierende Situation: Von den für den Bau Verantwortlichen wollte keiner wahrhaben, geschweige denn zugeben, dass es Versäumnisse gegeben hatte, z. B. dass in der Planungsphase kein Musiker hinzugezogen worden war. Egon Eiermann, der Architekt der neuen Kirche, fühlte sich betrogen und hatte vor dem Leiter der kirchlichen Baubehörde so wenig Achtung, dass er es ablehnte, mit ihm zu sprechen; dem Akustiker verargte er zu Recht, dass dieser zwar für den damaligen Bischof Otto Dibelius ein offenes Ohr hatte, nicht aber für ihn.

Es soll mit diesen unerfreulichen Andeutungen genug sein, indes gebietet es die Dankbarkeit, diejenigen zu nennen, ohne deren Hilfe man hätte aufgeben müssen: Prof. Oskar Söhngen, der den Architekten Egon Eiermann wieder ins Gespräch einband, Pfarrer Günter Pohl und Konsistorialpräsident Hansjürg Ranke, denen die Segel über der Empore zu verdanken sind, die schließlich im April 1976 aufgehängt werden konnten, und, allen voran, Prof. Dr. Rudi Fischer, der geräuschlos beraten und die Gremien von der Notwendigkeit und Machbarkeit entscheidender Maßnahmen überzeugt hat, sowie Hans Hasselmann, der die Anliegen des Bach-Chores beim Kirchlichen Bauamt stets tatkräftig unterstützte. So ist die Akustik seit dem Abschluss der Umbauarbeiten im Jahr 19

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Achim Zimmermann, Karl Hochreither und der Bach-Chor am 10. November 2002 in der Klosterkirche Neuruppin

1988 akzeptabel. Es gibt zwar kaum Nachhall, aber eine hinreichende Nachhallkurve, von der man weiß, wie man sie weiter verbessern könnte.

Institutionalisierung der Kantate-Gottesdienste Trotz all dieser Schwierigkeiten hat sich gezeigt, dass nicht nur die Idee der Initiatoren von 1947 trug, sondern auch die Entscheidung, die Kantate-Gottesdienste in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zu beheimaten, richtig war. Die Kirche, die während der Teilung Berlins als Predigtstätte des Bischofs der Westregion der Berlin-Brandenburgischen Kirche Zentrum kirchlichen Lebens und zugleich

Symbol des West-Berliner Stadtzentrums war, ließ die Kantate-Gottesdienste an dieser zentralen Funktion teilhaben und förderte damit ihre Institutionalisierung im kulturellen Leben der Teilstadt. Nicht gelöst war damit allerdings das schon die Initiatoren von 1947 beschäftigende Problem der Finanzierung der Kantate-Gottes­ dienste. Trotz des geringen Vergütungsniveaus der mitwirkenden Vokalsolisten und Instrumentalisten reichten die Einnahmen aus Kollekten und Eintrittsgeldern bei Weitem nicht, um dem Zyklus das Überleben zu sichern. Zwar beteiligen sich Kirche und Senat seit Gründung des Bach-Chores mit Zuschüssen an den Kosten, doch bedurfte und bedarf es bis heute trotz eines seit Ende der 1980er Jahre etablierten Zuschusssystems immer wieder erheblicher Anstrengungen und zahlreicher Gespräche mit Verantwortlichen aus Kirche und Politik, um zu einer auskömmlichen Finanzierung zu kommen. Dem standen Bemühungen zur Verringerung der Kosten gegenüber, wozu auch die Verlängerung der Aufführungspausen im Frühjahr und Sommer gehörte. Dennoch konnte mit der Aufführung der Kantaten I-III des Weihnachts-Oratoriums von Bach am 17. Dezember 1986 bereits das Jubiläum »25 Jahre Bach-Chor« gefeiert werden. Und nur ein Jahr später wurde das 40 -jährige Bestehen der Kantate-Gottesdienste u. a. mit der Aufführung des Oster-Oratoriums BWV 249 in einem Gottesdienst der beiden Berliner Bischöfe Martin Kruse (West) und Gottfried Forck (Ost) sowie mit einem Vortrag des dem Chor noch heute verbundenen Theologen Prof. Dr. Martin Petzoldt aus Leipzig begangen. So strahlte die Institution über West-Berlin hinaus und hielt Verbindung nach Leipzig als der zentralen Wirkungsstätte Bachs.

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