Die Charité zwischen Ost und West 1945-1992 (Leseprobe)

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Rainer Herrn · Laura Hottenrott (Hrsg.)

Die Charité zwischen Ost und West (1945–1992) Zeitzeugen erinnern sich

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Mit freundlicher Unterstützung von

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2010 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebra-wissenschaft.de Lektorat: Matthias Zimmermann, Berlin Bearbeitung der Interviews: Laura Hottenrott Verschriftlichung der Interviews: Henriette Harding und Urs Taeger Umschlag: typegerecht berlin, Berlin Satz: typegerecht berlin, Berlin Schrift: Frutiger 9/12,5 pt Druck und Bindung: Bosch-Druck, Ergolding ISBN 978-3-937233-70-3 www.bebra-wissenschaft.de

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Inhaltsverzeichnis

Grußwort Walter Momper

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Vorwort Karl Max Einhäupl

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»Ich muss doch in einer ganz anderen DDR gelebt haben …« Reiner Felsberg

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Historische Annäherungen

Oral History Alexander von Plato

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Wie alles begann. Die Karriere eines Projektseminars Volker Hess

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Das Ausstellungskonzept: Die Charité zwischen Ost und West (1945–1992). Zeitzeugen erinnern sich Rainer Herrn und Laura Hottenrott

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Vom Subjekt zum Objekt. Einige Überlegungen zu medizinhistorischen Ausstellungen mit Zeitzeugen Thomas Schnalke

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Oral History als Ausstellungsobjekt Ulrich Schwarz

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Die Charité nach 1945: Ein Literaturbericht Sabine Schleiermacher

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Maximalinvasiv. Die Charité nach 1989 Peer Pasternack

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Kommentierte Quellen der Erinnerung SPANNUNGSBÖGEN Die Charité als Sozialobjekt Rainer Herrn

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Die Charité als Versorgungsobjekt Rainer Herrn

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Die Charité als Politobjekt: Politisches Handeln Rainer Herrn

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Die Charité als Politobjekt: Die medizinische Forschung Rainer Herrn

139

Die Charité als Politobjekt: Lehre an der Charité Rainer Herrn

150

Die Charité als Grenzobjekt Rainer Herrn

171

Die Charité als Observationsobjekt des MfS Laura Hottenrott

189

Die Charité als Prestigeobjekt Rainer Herrn

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Die Charité als Medienobjekt Rainer Herrn

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ZEITZEUGENINTERVIEWS

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Irene Hofer

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Moritz Mebel

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Christa Eckerle

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Regine Witkowski

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Johannes Hellinger

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Edith Gerike

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Wolfgang Kaufhold

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Harald Mau

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Manfred Pohl

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Geerd Dellas

330

Ingrid GĂśrze

343

Bert Flemming

347

Karla Wintrich

362

Heidrun Kubisz

374

Gudrun Lewin

378

Dirk Stoltenfeldt

387

Martin K.

399

Anhang

Auswahlbibliografie

414

AbkĂźrzungsverzeichnis

424

Abbildungsverzeichnis

425

Personenregister

426

Danksagung der HerausgeberIn

429

Die Autoren

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Grußwort des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin, Walter Momper, für den Ausstellungskatalog anlässlich der »Zeitzeugen-Ausstellung« der Charité im Abgeordnetenhaus von Berlin

Die Charité ist eine der größten Universitätskliniken Europas. International anerkannte Ärzte und Wissenschaftler forschen, lehren und heilen an dieser Institution, die in diesem Jahr ihr 300-jähriges Bestehen feiert. Dies ist Anlass genug, ihre bewegte Geschichte zu reflektieren und zu dokumentieren. Zahlreiche Zeugnisse erinnern an die vergangenen 300 Jahre seit ihrer Gründung. Doch eine Aufarbeitung der letzten 50 Jahre ist bisher kaum erfolgt. Daher freue ich mich ganz besonders, dass es anlässlich dieses Jubiläums gelungen ist, sich der jüngsten Vergangenheit der Charité in einer Zeitzeugenausstellung anzunähern. Diese Ausstellung, die vom 1. September bis zum 15. Oktober 2010 im Abgeordnetenhaus von Berlin zu sehen ist, bietet Gelegenheit, auf die Zeit von 1945 bis 1992 zurückzublicken und auf mehr als 50 Jahre Entwicklung, Umbruch und Wandel einer renommierten Wissenschaftseinrichtung zu schauen. Die Ausstellung zeigt die Institution Charité in einem facettenreichen Licht. Sie begegnet uns als Grenzobjekt, als Stasiobservationsobjekt, als Renommier- und Prestigeobjekt, als Versorgungsobjekt, als Polit- und auch als Medienobjekt. Doch die Charité war nicht immer ein Brennpunkt des politischen Interesses. Ihre Anfänge gehen bis auf das Jahr 1710 zurück. Kurz vor den Toren Berlins errichtete man damals einen zweigeschössigen Fachwerkbau, der ursprünglich als Pesthaus für die Bürger der Stadt dienen sollte. In Danzig war die Pest ausgebrochen und breitete sich unaufhaltsam nach Westen aus. Der preußische König Friedrich I. ließ daher die Stadttore schließen und befahl, ein Pesthaus vor dem Spandauer Tor zu errichten. Die Angst vor der herannahenden Pestwelle war jedoch unbegründet, da sie nur bis Prenzlau kam und Berlin nie erreichte. Stattdessen nahm das Pesthaus zunächst seinen Betrieb als Armenhaus auf. Arme und wenig begüterte Menschen ließen sich dort behandeln und hofften auf Genesung. Damit war der Grundstein gelegt und das einstige Pesthaus entwickelte sich fortan als eine Stätte medizinischen Wirkens. Fernab von politischen Schauplätzen verschrieb sich die Charité einzig der Forschung, Lehre und medizinischen Pflege. Ihrem über die nationalen Grenzen hinauseilenden Ruf folgten bald zahlreiche internationale Forscher. Sie alle waren begierig darauf, am Wissensschatz des weltweiten Mittelpunkts moderner Medizin zu partizipieren. Nicht zuletzt damit wurde sie zu einer Geburtsstätte innovativer wissenschaftlicher Errungenschaften. Die Charité brachte über die Hälfte der deutschen Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie hervor, von denen ich nur einige nennen möchte: Robert Koch, Ferdinand Sauerbruch und nicht zuletzt Rudolf Virchow. Virchow, der sich vor allem durch sein soziales Engagement auszeichnete, betonte immer wieder, dass es ohne »volle und uneingeschränkte Demokratie« keinen Wohlstand und keine Gesundheit geben könne.

Grußwort

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Weniger rühmliche und vor allem dunkle Zeiten brachen für die Charité mit dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur an. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verloren an der Charité und der Berliner Medizinischen Fakultät mindestens 145 Professoren und Dozenten aus »rassischen« oder politischen Gründen Lehrbefugnis und Arbeitsplatz. Viele Forscher gingen ins Exil; andere wurden später deportiert und in Konzentrationslagern ermordet. Noch in den letzten Kriegstagen wurde auf dem Gelände der Charité gekämpft; gleichzeitig operierte und entband man in Kellern und Bunkern unter schwierigsten Bedingungen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs instrumentalisierte das SED-Regime die Charité zu politischen Zwecken für die DDR. Damit wurde ein Ort, an dem medizinischer Fortschritt und Heilung im Vordergrund stehen sollten, von einer diktatorischen Regierung als Vorzeigeeinrichtung genutzt, um Leistungsfähigkeit, Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit des Regimes auf medizinischem Gebiet zu proklamieren. Diesem Anspruch konnte die Charité jedoch im Alltag nicht entsprechen. Dieser war geprägt von Mangelwirtschaft, wissenschaftlicher Rückständigkeit und einem eklatanten Mediziner-Exodus. So verließen bereits in den 1950er Jahren viele Mediziner Ost-Berlin und die DDR; bis zum Mauerbau im Jahre 1961 hatte man insgesamt 7.500 Ärzte verloren. Trotzdem gelang es einzelnen Bereichen der medizinischen Forschung in der DDR, den Anschluss an das internationale Niveau zu erreichen. Die Forschungen des Gerichtsmediziners Otto Prokop und der Biochemiker Samuel Mitja Rapoport und Karl Lohmann sind Beweis dafür. Und dass trotz aller Probleme und wirtschaftlicher Schwierigkeiten in die Vorzeigeeinrichtung der DDR investiert wurde, bewies der Bau des neuen Bettenhochhauses Anfang der 1980er Jahre. Diesen sich begegnenden Widersprüchen hat sich die Charité in Ihrer Ausstellung angenommen und einen ersten Schritt für ihre eigene Vergangenheitsbewältigung getan. Zeitzeugen erinnern sich und decken zugleich das Bild einer Institution auf, die zu einem Knotenpunkt für das Ineinandergreifen verschiedener politischer Ebenen in der DDR wurde. Dabei versucht die Ausstellung ein möglichst umfassendes Bild wiederzugeben, indem die gesamte Zeitspanne von 1945 bis 1992 durch Zeitzeugenberichte abgebildet wird. Es berichten Mitarbeiter aller Tätigkeitsbereiche der Charité von ihren Erfahrungen, darunter Professoren, Ärzte, Pflegepersonal, Forscher, Studenten, Verwaltungsangestellte, Techniker und Handwerker. Einige von ihnen arbeiten bis heute an der Charité, andere wurden bereits als Studenten von der Humboldt-Universität aus politischen Gründen relegiert, manche flüchteten in den Westen Deutschlands und einige gehörten sogar zu den politischen oder gesellschaftlichen Funktionsträgern des ehemaligen DDR-Regimes. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Ende des Sozialismus in der ehemaligen DDR entfiel auch die übergeordnete politische Bedeutung der Charité, die Zeiten des politischen Diktats waren vorbei. Heute ist sie wieder eine der größten Universitätskliniken Europas. Sie wird als ausgezeichnete Ausbildungsstätte geschätzt und genießt mit mehr als 100 Kliniken und Instituten Weltruf in der Hochleistungsmedizin. Die hier gezeigte Ausstellung bietet die Chance, 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, die vielfältigen Wirkungsfelder der Charité in ihren Dimensionen und Verflechtungen kennenzulernen. Diese historische Aufarbeitung stellt die Grundlage für das weitere Wirken der Charité in der Zukunft dar. Freiheit und Unabhängigkeit von Wissenschaft und Forschung waren nicht immer selbstverständlich. Sie sollen und müssen es aber in Gegenwart und Zukunft sein. Dafür lohnt es sich aufzuzeigen, aufzuklären und anzumahnen.

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Grußwort

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Vorwort Prof. Karl-Max Einhäupl, Vorstandsvorsitzender Charité – Universitätsmedizin

»Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.« Wilhelm Dilthey

Mit der Unterscheidung von Erklären und Verstehen entwickelte der Berliner Historiker und Geschichtsphilosoph Wilhelm Dilthey (1833–1911) in seinen »Ideen über eine beschreibende und vergleichende Psychologie« ein epistemologisches Spannungsfeld, vor dem jeder Arzt in seiner täglichen Arbeit steht: Als Naturwissenschaftler sind wir Mediziner trainiert, Phänomene des Körpers wissenschaftlich exakt zu erklären, Krankheiten gemäß den anerkannten Methoden der Biologie, der Chemie oder der Physik zu analysieren und die notwendigen therapeutischen Maßnahmen zu entwickeln. Doch jeder praktizierende Arzt ist sich bewusst, dass es oftmals nicht ausreicht, Krankheiten zu erklären. Zum therapeutischen Erfolg gehört auch die Fähigkeit des Mediziners, die Lebenslage des Patienten zu verstehen, das heißt, im Dilthey’schen Sinne aktiv nachzuerleben. Durch dieses Nacherleben werden die Lebensumstände des Anderen, in diesem Fall des Patienten, in die eigene Erfahrungswelt einbezogen, was zu einem besseren, weil empathischen Verständnis von Ursachen und Wirkungen beiträgt. Dieses aktive Einbeziehen individueller Lebenslagen und Erlebnisse möchte die Charité auch bei ihren Feierlichkeiten zum 300. Gründungsjahr praktizieren. Gemäß eines weiteren Diktums von Dilthey, nämlich dass die »Urzelle der geschichtlichen Welt das Erlebnis« ist, ist es gelungen, für die jüngere Geschichte der Charité während des Kalten Krieges und der deutschen Teilung eine große Zahl von Zeitzeugen zu gewinnen. Die in vielen Interviews gesammelten Erlebnisberichte von Menschen, die mit dem traditionsreichen Krankenhaus in Berlin auf unterschiedliche Weise in Berührung kamen, dienen als Mosaiksteine für das faszinierende historische Bild der Charité zwischen Ost und West. Die Ausstellung und der Katalog gewähren so auf sehr vielfältigen Wegen wichtige Einblicke in die Charité und die Berliner Universitätsmedizin nach dem Zweiten Weltkrieg, zu Zeiten der getrennten und geteilten Stadt und während des politischen Umbruchs von 1989. Die Ausstellung und der Katalog wären nicht möglich gewesen ohne die Mithilfe vieler Menschen, die sich der Charité verbunden fühlen. Ich möchte an dieser Stelle dem Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses, Walter Momper, für die Schirmherrschaft und die Möglichkeit danken, die Ausstellung im Abgeordnetenhaus zu präsentieren. Mein Dank geht auch an die Ausstellungsverantwortlichen, die mit einem hervorragenden Konzept überzeugen konnten. Besonders danken möchte ich den jungen Ausstellungsmachern, den Studierenden der Universität der Künste. Ihnen ist eine sensible, aber auch sehr lebendige und erlebbare Präsentation der Zeitzeugenaussagen gelungen. Und ich danke schließlich der Stiftung Aufarbeitung SED-Diktatur, die das Projekt maßgeblich gefördert hat. Sie alle trugen dazu bei, dass wir die Geschichte der Charité und die Geschichten ihrer Menschen verstehen, nacherleben und damit ein Teil von uns selber werden lassen können.

Vorwort

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»Ich muss doch in einer ganz anderen DDR gelebt haben …« Reiner Felsberg, Projektleiter »Charité 300«

Um es gleich vorweg zu sagen: Für mich als alten »Charitéler« und Koordinator des 300-jährigen Charité-Jubiläums war die Ausstellung »Die Charité zwischen Ost und West (1945–1992). Zeitzeugen erinnern sich« vom Beginn meiner Tätigkeit an mein Lieblingsprojekt. Als ich 2007 nach elf Jahren von der Bündnisgrünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus wieder an die Charité wechselte und die bis dato von Medizinhistorikern maßgeblich vorkonzipierten Jubiläumsprojekte in ihrer Vielfalt vorgestellt bekam, war mir klar, dass die Aufarbeitung der jüngsten Geschichte der Charité einen gebührenden Platz im Jubiläum erhalten muss. Ein – wider Erwarten – glücklicher Umstand war die Tatsache, dass dafür wegen der geplanten ganzjährigen großen Jubiläumsausstellung »Charité. 300 Jahre Medizin in Berlin« kein Platz mehr im Berliner Medizinhistorischen Museum zur Verfügung stand. Dies führte zur Kooperation mit meiner ehemaligen politischen Wirkungsstätte und eröffnete die Gelegenheit, die Charité im Kontext der Entwicklung des politischen Berlins darzustellen, noch dazu in den Räumen des Berliner Parlamentes. Wenn die Charité im Jahr 2010 ihr Jubiläum mit dem Veranstaltungsprogramm »Charité 300« begeht, fragt man sich bei der Betrachtung ihrer jüngsten Vergangenheit: Wie passte das zusammen, 300 Jahre Charité- und 40 Jahren DDR-Geschichte? Stellen doch Charité und DDR auf den ersten Blick einen Widerspruch dar! »Charité 300« klingt wie »Paracetamol 500«. Das klingt nach einer Heilung versprechenden Dosis des Mittels Charité oder Caritas oder Barmherzigkeit. Und da ist durchaus etwas dran! Denn dies entspricht nicht nur dem Gründungsauftrag der Charité, sondern begründet auch ihren Ruf und Mythos – bis heute. Aber gerade dies konnte man ja nun von der DDR nicht sagen. »DDR 40« klingt da schon eher wie eine Drohung oder eine unheimliche Diagnose. Auf den ersten Blick sind heute die ungleichzeitigen Verhältnisse in allen Belangen zugunsten der Charité geklärt: 1. Die Laufzeit: 300 Jahre Charité und kein Ende – gegenüber 40 Jahren DDR und schon vorüber. 2. Der Name: Charité mit französischem Charme (und nicht VEB Gesundheitskombinat Berlin) gegenüber DDR mit ihrer bürokratischen Sperrigkeit. 3. Die Marke: Barmherzigkeit gegenüber Vormundschaft. Gemeinsamkeiten gab es historisch offensichtlich auch: Das Pesthaus und die DDR waren beide von vornherein als Isolierstation- und Sicherungsverwahranstalten konzipiert. Allerdings bestand das Pesthaus zum Schutze der Bürger vor den mit Pest infizierten Insassen, während die DDR wiederum zum Schutze ihrer Insassen vor der »kapitalistischen Pest der freien Welt« betrachtet wurde.

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Ein Vergleich bietet also Grund genug, eine durchaus verbreitete retrospektive Idealisierung in einer Extra-Ausstellung, auf der Basis von Zeitzeugeninterviews über Arbeitsund Lebensbedingungen in der Charité zu hinterfragen. Natürlich lässt sich Geschichte nicht objektiv über Zeitzeugenschaft darstellen und schon gar nicht faktisch-korrekt aufarbeiten. Und wo zwei Zeitzeugen sind, gibt es auch immer wieder diametrale Wahrnehmungen des Erlebten. Bezeichnend dafür waren Redebeiträge von CharitélerInnen auf unserer Vorbereitungsveranstaltung am 30. Januar 2009 im Plenarsaal des Berliner Abgeordnetenhauses unter dem Titel »Die Charité zwischen Ost und West – Zeitzeugenschaft versus Geschichtsschreibung«. Ehemalige AbsolventInnen des Studiums der Medizin an der Humboldt-Universität, wie es damals offiziell hieß, reagierten auf kritische Einlassungen der ReferentInnen zur Situation an der Charité in der DDR immer wieder mit Unverständnis. Sie reflektierten das Leben der Studierenden, AbsolventInnen, MitarbeiterInnen und HochschullehrerInnen durchweg positiv. Keine Rede war dort von eingeforderter Staatsräson, und schon gar nicht von Partei- und Stasidiktat. Auf die geäußerte Schlussfolgerung: »Ich muss ja in einer ganz anderen DDR gelebt haben«, gibt es ein klares politisches Nein. Die DDR war immer dieselbe! Aber es gibt auch immer das individuelle Ja! Denn die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren unterschiedlich, die Wahrnehmungen oft grundverschieden. Es gab immer das Leben der anderen, auch an der Charité! Und auf die Behauptung: »Ich konnte immer alles sagen, was ich wollte«, gibt es wiederum ein individuelles Ja. Natürlich, denn es kam nur darauf an, was gesagt wurde. Das stimmte immer 100-prozentig bei denjenigen die ohnehin sagten, was gewünscht war, oder – und das gab es ja auch – sogar daran glaubten und dies auch so und nicht anders wollten. Es traf aber ebenso auf mögliche alltagskritische Äußerungen im privaten und halböffentlichen Raum zu. Das »Sagbare« war immer abhängig davon, welche berufliche Position man selbst innehatte, ob Spitzel in der Runde waren und ob nicht anwesende Vorgesetzte, Mentoren oder Hochschullehrer selbst voller DDR-Zynismus steckten und in satter sozialistischer Lebensironie verharrten. Das war alles möglich. Und es gehörte tatsächlich wenig Mut dazu – insbesondere in den 1980ern –, Versorgungsmängel, »Fehlmeldungen« der Aktuellen Kamera und des Schwarzen Kanals oder auch Planerfüllungs-Phrasen zu kritisieren, oder sich über die Dederonbeutel und Präsent-20-Anzüge tragenden, zehn Meter gegen den Wind »stinkenden« Typen von »Horch und Guck« lustig zu machen. Und selbst Kritik an der Stationierung der SS-20-Raketen war möglich, wie es durchaus auch möglich war, offen Sympathien für die Friedens- und Kirchengruppen zu äußern. Es gibt aber ein klares politisches Nein auf dieselbe Behauptung, dort, wo die Diktatur systembedingt gnadenlos zuschlug. Dies tat sie immer dann, wenn sich die Kritik gegen die Ursachen und somit gegen den ureigensten Charakter der Diktatur wandte. Wenn etwa fundamentale Freiheitsforderungen erhoben wurden wie die nach freien Wahlen ohne Einheitslisten der Nationalen Front und ohne Wahlfälschungen, nach freier Meinungsäußerung, nach Versammlungs-, Presse- und Reisefreiheit. Dazu aber hatten nur wenige den Mut, und jene, die es taten, bekamen auch die volle Härte des Machtapparates zu spüren. Die Staatsmacht konnte aber auch dann zuschlagen, wenn eine in der Schule oder beim Studium niedergeschriebene berechtigte Alltagskritik nicht mit einer den Sozialismus verbrämenden Floskel versehen war. Oft behalf man sich mit dem Vehikel »Ich bin für den Sozialismus, aber für einen besseren«, wenn man die DDR also links überholen wollte. Übrigens eine DDR-weit verbreitete Kunst!

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Leider sehen auch heute noch CharitélerInnen eine kritische Aufarbeitung ihrer DDRZeit als Nestbeschmutzung an und eines so schönen Jubiläums nicht würdig. Dabei pflegen einige einen Ostrevanchismus der besonderen, exklusiven Art, denn die Charité war in ihrer privilegierten Versorgungsrolle in der DDR Exquisit, Delikat und Intershop zugleich. Bei anderen Nostalgikern unter den Zeitzeugen ist wohl vieles mit der Furcht der Fehldeutung des eigenen Lebenswerkes, der eigenen Biografie begründet. Und es zeigt auch die Sonderrolle einer medizinischen Prestige-Einrichtung zu Ostzeiten und den besonderen Stolz ihrer MitarbeiterInnen, in einer weltberühmten Universitätsklinik und im führenden Krankenhaus der östlichen Hemisphäre gearbeitet zu haben. Aber das alles entschuldigt nicht die mangelnde Bereitschaft für eine kritische Reflektion der eigenen Geschichte. Dabei hatten wir es doch in der DDR – bei Marx und Lenin – gelernt, Kritik und Selbstkritik zu üben. Ich freue mich auf die Diskussionen, die Auseinandersetzung und den Streit. Sie gehören bei einem Zeitzeugenprojekt dazu und werden in unseren Workshop zur Auswertung der Ausstellung einfließen. Die Ausstellung »Die Charité zwischen Ost und West (1945–1992). Zeitzeugen erinnern sich« gibt meines Erachtens einen hervorragenden Einblick in die Charité und die Berliner Universitätsmedizin vom Ende des Zweiten Weltkriegs, 1945 über die Zeit der geteilten Stadt bis zur Charité-Erneuerung in der politischen Wende bis 1992. Diese Zeit verdient im Jahr des 300-jährigen Bestehens der Charité und im Jahr 20 nach der Wiedervereinigung eine besondere Betrachtung – und so mag es dann auch sein: vom Betrachter eine besondere Bewertung.

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Historische Annäherungen

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Oral History Alexander von Plato

Eine bemerkenswerte Entwicklung der Zeitgeschichte in Deutschland Vor 20 Jahren – die DDR existierte noch – fragte mich ein Historiker der Akademie der Wissenschaften mit leichter Selbstironie: Wozu, meinen Sie, bräuchten wir eine Oral History der DDR? Wir haben doch die Stasi-Akten! Mit dieser ironischen Bemerkung meinte er zweierlei: Im Prinzip brauche die Geschichtswissenschaft Akten und keine persönlichen Berichte und in der DDR hätten wir mit den Stasi-Hinterlassenschaften auch genügend Wissen über das Denken der DDRBevölkerung. Dahinter verstecken sich eine ganze Reihe von Vorannahmen über die Oral History, auf die ich hier eingehen will. Man stelle sich vor, nach 1989 hätten wir bei der Untersuchung einer Mentalitätsgeschichte der DDR ausschließlich auf Aktenbestände nach 1945 im Allgemeinen und auf die Materialien der Staatssicherheit seit 1950 vertraut. Wir hätten nahezu alle wesentlichen Entwicklungen durch die Brille der Herrschaftsakten und durch die Augen und Ohren der MitarbeiterInnen der Staatssicherheit gesehen bzw. gehört. Das wäre nicht unwichtig, aber hätte enorme Verzerrungen produziert. Ebenso gut wäre anzunehmen, man hätte sich bei der Untersuchung der Verfolgung von Gegnern des Nationalsozialismus oder bei der Rekonstruktion der Konzentrationslager ausschließlich auf die Verwaltungsakten gestützt. Das Vorhaben wäre dreifach gescheitert: Zum einen hätten wir neben den noch wenigen Quellen der Alliierten weit überwiegend Akten des nationalsozialistischen Machtapparats gefunden, das heißt in diesem Fall Akten der Verbrechen und der Täter; zum anderen wäre man im Westen nicht einmal an diese Materialien herangelassen worden, da die 30-Jahre-Sperrfrist weniger die Opfer schützte als die Verantwortlichen dieser Verbrechen. Und drittens wäre die Geschichte der Verfolgten bei reiner Aktensicht vermutlich völlig »entpersonalisiert« worden. Ihre Leidensgeschichten und Schwierigkeiten, ihre Verfolgungs- und besonders ihre KZ-Geschichte zu verarbeiten, wäre nicht Gegenstand der historischen Untersuchung geworden. Die ersten großen Berichte über Konzentrationslager kamen daher von den ehemaligen Insassen selbst, beispielsweise von Eugen Kogon, Primo Levi und vielen, vielen mehr.1 Auch in der Untersuchung anderer großer Fragen des 20. Jahrhunderts, wie die nach Flucht und Vertreibung oder nach der Kriegsgefangenschaft, stützte man sich zunächst weitgehend auf persönliche Erinnerungen. Danach wurde die Geschichte des Nationalsozialismus jahrelang zu einer Politikgeschichte, zu einer Geschichte der »Facts and Figures«. Noch 1980, also 35 Jahre nach Kriegsende, musste der westdeutsche Historiker Lutz Niethammer feststellen, dass die Geschichtswissenschaften eine wesentliche Frage in ih-

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rer Untersuchung des Nationalsozialismus und seiner Folgen vollständig ausgespart habe, nämlich die Frage nach der Kontinuität im Bewusstsein der Menschen, die das »Dritte Reich« erlebt hatten. Seitdem hat es eine zunehmende Beschäftigung mit der Frage gegeben, wie der Nationalsozialismus von ganz verschiedenen Menschen aus unterschiedlichen Milieus und Gruppen verarbeitet worden ist.2 Seitdem haben sich auch die Quellen der historischen Zunft weit über die Akten hinaus erweitert. Inzwischen kümmern sich die historischen Institute, die Gedenkstätten und Archive auch um Nachlässe der Opfer des Nationalsozialismus und um subjektive Erinnerungszeugnisse wie Fotoalben, Tagebücher und in den letzten Jahrzehnten auch um persönliche Erinnerungen, und zwar in einem ungeheuren Ausmaß: Rund 50.000 Interviews hat allein die Shoah Foundation führen lassen; keine Gedenkstätte, die nicht lebensgeschichtliche Interviews hätte, neben Yad Vashem und dem Holocaust Memorial Museum haben besonders in Deutschland historische Institute, wie das Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen, und Privatpersonen, wie die Filmerin Loretta Walz, Sammlungen von Interviews angelegt; kein zeithistorisches Institut, in dem nicht Erinnerungen oder die Gedenkpolitik zum Thema gemacht worden wären. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Zeitgeschichte in einer Weise entwickelt, die noch in den 1960er Jahren unmöglich erschien. In den letzten Jahren gab es neben der Befragung der Shoah Foundation auch internationale Oral-History-Untersuchungen, so in Österreich und Deutschland zum KZ Mauthausen und zur Zwangsarbeit in 27 Ländern während des Zweiten Weltkriegs.3 Seit 1990 haben sich schließlich eine Fülle von historischen Forschungsprojekten mit den Konsens- und Dissenselementen in der Gesellschaft der DDR befasst, so in Professionsuntersuchungen über LehrerInnen, Hochschulprofessuren, Oppositionelle, die Staatssicherheit und vieles andere mehr. Dabei wurden zahlreiche Befragungen durchgeführt und Akten der Gauck- bzw. Birthler-Behörde genutzt und kontextualisiert.4 Trotz dieser in meinen Augen insgesamt positiven Entwicklung möchte ich einige Fragen aufwerfen.

Bedeutungen der Oral History und einige Missverständnisse ihrer Nutzung In der Oral History geht es um Subjektivität, die – methodisch gesehen – zugleich ihr größtes Problem ist. Im Zentrum des Interesses der »mündlichen Geschichte« steht das, was Subjekte getan, vielleicht sogar bewirkt, was sie aus ihrem engeren und weiteren Umfeld wahrgenommen und gespeichert, gedacht oder gar gefühlt haben. Wir wollen wissen, wie und warum sie sich an etwas erinnern und wie sie darüber erzählen, ob ihre Erzählungen glaubwürdig sind. Nicht zuletzt interessiert stets auch, wie ihr Verhältnis zur »großen Politik« war, die uns zumeist in den Kompendien der Weltgeschichte als das Wesentliche des zu Überliefernden begegnet. In der Tat erscheint es so, dass, je weiter eine Geschichtsperiode zurückliegt, desto politischer und von der »großen Kultur« beeinflusst scheint sie gewesen zu sein. Je näher wir an ihr leben, desto mehr spielen auch andere Lebensbereiche eine Rolle. Wir alle wissen, dass Politik, die soziale Lage der Bevölkerungsteile und die Wirtschaft, Krieg und Frieden, Armut oder Reichtum, Milieu oder Klasse, veraltete unproduktive Technik oder technische Neuerungen jeden Menschen tief beeinflussen, auch wenn

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HISTORISCHE ANNÄHERUNGEN

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er es zur fraglichen Zeit nicht so wahrgenommen hat, oder vielleicht, wenn überhaupt, erst im Nachhinein bemerken konnte. Probleme bestehen darin, die Ergebnisse der Befragungen kleinerer Gruppen zu verallgemeinern. Aber je kleiner die Untersuchungsgruppe und je größer die Zahl der dazu Befragten ist, desto plausibler wird auch die allgemeine Bedeutung der Ergebnisse. Kritisch sehen viele Kritiker auch die Gültigkeit der Erinnerung. Darauf gibt die Oral History unter anderem zwei Antworten. Erstens: Sogar wenn sich das selbst Erlebte mit den Berichten anderer oder Schilderungen aus den Medien vermischen sollte, nehmen die Individuen zumeist das auf, was sich mit ihren Erinnerungen deckt oder in die eigenen Erfahrungen »integrieren« lässt. Eine zweite Antwort auf diesen Vorwurf richtet sich zugleich gegen ein weit verbreitetes Missverständnis in den Geschichtswissenschaften: Es geht in der Oral History zumeist nicht allein und nicht vorrangig um die Rekonstruktion von einzelnen Ereignissen und Abläufen, sondern vor allem um die Verarbeitung von erinnerter Geschichte, die Bedeutung früherer Erfahrungen für spätere Phasen der Geschichte, beispielsweise um Neuorientierungen nach politischen Umbrüchen. Diese Fragen sind besonders im Deutschland des 20. Jahrhunderts mit seinen mindestens fünf Systemwechseln, die zwei oder drei Generationen innerhalb ihres Lebens zu verarbeiten hatten, wesentlich. Das Ende der Weimarer Republik, der Aufstieg des Nationalsozialismus und die Kriegsvorbereitungen für den Zweiten Weltkrieg wären unverstehbar, würde man nicht die Empfindung der »nationalen Schmach« der Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Ablehnung des Friedensvertrags von Versailles bzw. der verschiedenen Reparationsabkommen in weiten Teilen der Bevölkerung als Erklärungen heranziehen. Der Nationalsozialismus würde grundlegend unterschätzt, wenn man seine Attraktivität und seinen sozialen Kitt im Bewusstsein vieler Zeitgenossen hinter dem organisierten Terror verschwinden lassen würde. Und die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg und deren politische Kultur waren mindestens mitbestimmt von den Debatten um das Verhältnis zum Holocaust bzw. insgesamt zur nationalsozialistischen Vergangenheit sowie dessen Weiterwirkung nicht nur institutionell, sondern vor allem in den Köpfen. Die Erfahrungsdimension hatte in der Entwicklung der Geschichtswissenschaften außerdem eine wichtige Bedeutung für die Untersuchung der Rolle und des Gewichts »großer Persönlichkeiten in der Geschichte«; darüber hinaus in der Analyse von kollektiven oder Massenphänomenen, vor allem in Massenbewegungen. Mit dem Entstehen der Jugendbewegung wuchs auch die Frage nach der Bedeutung von Generationen. Allgemein gesprochen: Individuen bekamen in Kollektiven größeres Gewicht als früher, und Kollektive schienen individuellen Mustern zu folgen, die »ungleichzeitig« zur unmittelbaren Politik, z. B. je nach individueller oder generationenspezifischer Vorerfahrung, verliefen. Insbesondere in modernen Diktaturen waren persönliche Berichte, vor allem mündliche, zu einem wesentlichen Element einer Gegenüberlieferung zur offiziellen Tradierung geworden, die bis heute die Archive füllt und zur Verfälschung von Geschichte beiträgt. Denken Sie an die Lager, die Verfolgungsinstanzen, den Repressionsapparat, die Propaganda, die historischen Text- und Bildverfälschungen – gäbe es hier nicht die Befragungen von Augenzeugen und von Zeugen der Zeit, liefen wir alle Gefahr, den einseitig überliefernden institutionellen Archivalien »aufzusitzen«. Die »Wende« von 1989/90 verstärkte diese Themen des Bewusstseins, der Mentalitäten oder der weiter wirkenden subjektiven Haltungen und beflügelte die Forschung.

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In vielen deutschen historischen und zeithistorischen Instituten wurden entsprechende Forschungen begonnen. Die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in den 1950er Jahren in beiden Teilen Deutschlands waren offensichtlich. Gerade nach den Erfahrungen des Umbruchs von 1945 konnte man nach 1990 nicht davon ausgehen, dass sich der überwiegende Teil der DDR-Bevölkerung ohne große Probleme in das andere Nachkriegsdeutschland mit ganz anders sozialisierten Menschen integrieren würde, wie dies das hoffnungsfrohe Bild der »blühenden Landschaften« nahelegte. Aber mündliche Berichte sind nicht nur dann notwendig, wenn sie die Lücken schließen sollen, die in Ermangelung anderer Quellen entstanden. Hinter einer solchen Annahme steht die Vorstellung einer höheren Wertigkeit schriftlich überlieferten Materials. Aber auch das hat seine Tücken: Die »klassischen« Quellen, wie die Verwaltungsakten des Staates, der Kirchen, der Verbände, Parteien und anderer repräsentieren Elitentradierung oder, wie erwähnt, Herrschaftsüberlieferung. Deutlichstes Beispiel sind die unterschiedlichen Ergebnisse, die nur aus Polizei- oder gar Gestapo-Akten geschlossen wurden gegenüber jenen, die mithilfe nachträglicher Befragungen der damals Verhörten gewonnen werden konnten. Trotzdem hat sich die Geschichtsschreibung in ihrer Kritik seit dem Historismus besonders der mündlichen Quellen angenommen. Es geht nicht nur um Mündlichkeit. Oral History hat sich zwar als Begriff durchgesetzt, zielt aber insgesamt auf eine Subjektivität, die auch durch andere Quellen als die mündliche fassbar sein kann – etwa durch subjektive Erinnerungszeugnisse wie Tagebücher, Briefe, Autobiografien, Fotoalben oder auch durch quantitativ orientierte Lebensverlaufsforschung usw. Sinnvoller ist es daher, »Oral History als Erfahrungswissenschaft« zu verstehen. Dann öffnet sich das Feld nicht nur hin zu Biografien und Lebensgeschichten, sondern darüber hinaus auf eine allgemeinere Mentalitätsgeschichte. Damit ermöglicht sie eine viel weiter führende Debatte in der Wissenschaftsgeschichte der Historiografie, nämlich eine Debatte um die Bedeutung des Subjektiven, des »Bewussten« oder gar des »Unbewussten«, des kulturellen Gedächtnisses einer Gruppe oder einer ganzen Gesellschaft in einer »universellen Historiografie«.

Schlussbemerkung Zum Schluss die Frage, die weniger platt ist, als sie zunächst klingt: Was ist eine Geschichtsschreibung ohne Subjekte, ohne deren Erfahrungen? Und welche Bedeutung haben diese für die historischen Entwicklungen, für die Kultur? Wenn man die Subjektivität, die Haltungen, Auffassungen und die Konsens- oder Dissensentwicklungen in einer Gesellschaft, die Nachwirkungen früherer Wertesysteme für ein wesentliches Element der Geschichte, ihrer Überlieferung und ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung hält, dann verlangt dies – neben der Anerkennung anderer methodischer Zugänge – einen Perspektivwechsel, und zwar hin zu den subjektiven Erfahrungen und Mentalitäten und hin zu den spezifischen Quellen, die diese zu untersuchen erlauben. Denn die Erfahrung ist eine eigene Dimension und verlangt die Bearbeitung entsprechender Quellen. Den umgekehrten Fehler sollte man jedoch nicht ebenso wenig begehen: So unsinnig es ist, eine Geschichtsschreibung ohne Subjekte zu versuchen, so falsch wäre es, die Geschichte auf eine Erfahrungsgeschichte zu reduzieren.

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Anmerkungen 1 Vgl. Eugen Kogon: Der SS-Staat, Frankfurt am Main 1949 (1946); Primo, Levi: Se questo è un uomo

(1947, auf Deutsch: Ist das ein Mensch?, Frankfurt am Main 1959). 2 1980 begann Lutz Niethammer mit einem der ersten großen westdeutschen Oral-History-Projekte: Le-

bensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet, dessen dritten Band »Wir kriegen jetzt andere Zeiten. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern« (Berlin, Bonn 1985) wir zusammen herausgaben. 3 Vgl. Gerhard Botz (Wien) zu Mauthausen (noch in Arbeit) und Alexander von Plato, Almut Leh, Chris-

toph Thonfeld (Hrsg.): Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, Wien, Köln, Weimar 2008. 4 Begonnen hatten damit schon vor 1989 Außenseiter der DDR-Historiografie. Vgl. Wolfgang Herzberg:

So war es. Lebensgeschichten zwischen 1900 und 1980. Nach Tonbandprotokollen, Halle und Leipzig 1985 oder auf Grundlage von Befragungen 1987 der westdeutschen HistorikerInnen Lutz Niethammer, Alexander von Plato, Dorothee Wierling: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin 1991.

Oral History

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Wie alles begann. Die Karriere eines Projektseminars Volker Hess

»Erlebte Geschichte« – unter diesem Titel startete im Sommersemester 2003 eine Wahllehrveranstaltung im Regelstudiengang Medizin an der Charité. Mit einer kleinen Gruppe von Studierenden wollten wir ehemalige MitarbeiterInnen nach ihren Erfahrungen und Erinnerungen befragen. Uns interessierten dabei vor allem jene Jahre, die damals – knapp 15 Jahre nach dem Mauerfall – dem Vergessen anheimzufallen drohten: der Alltag in der DDR. Dies war zu diesem Zeitpunkt (noch) kein Thema der Geschichtsschreibung, die sich vor allem auf die Entlarvung unbekannter Stasi-MitarbeiterInnen und Informanten des staatlichen Überwachungssystems oder auf das Schicksal der Opfer staatlicher Repressionen konzentrierte. Ein kleines studentisches Projekttutorium des Instituts für Geschichte der Medizin und des Berliner Medizinhistorischen Museums wäre jedoch schlecht beraten gewesen, die Aufgabe der Ehrenkommission an der Humboldt-Universität fortzusetzen.1 So entschieden wir uns sehr bewusst dafür, nicht in die – angesichts ihrer beachtlichen Bilanz – ziemlich großen Fußstapfen der Ehrenkommission zu treten, sondern die Arbeitswelten in den Mittelpunkt unserer Interviews zu stellen. Diese Beschränkung erwies sich im Nachhinein als äußerst fruchtbar. Sie öffnete uns manche Türe, die sonst verschlossen geblieben wäre. Außerdem zeigte sich rasch, dass wir in vielen Interviews überraschende und vor allem lebendige Schilderungen aus diesen Jahren der Stagnation, aber auch des Umbruchs und Wandels erhielten, die uns immer wieder zutiefst beeindruckten. Sie eröffneten uns Einblicke in die Lebenswirklichkeiten eines Arbeitsalltags in dem größten Universitätsklinikum der DDR weit über die Frage von politischer Unterdrückung und Repression hinaus. Der Leitfaden der halbstrukturierten Interviews, der im Laufe der beiden Lehrveranstaltungen erarbeitet wurde, nahm diesen Arbeitsalltag unter verschiedenen Perspektiven in den Blick: Wie sah die Arbeit aus? Welche Höhepunkte, gemeinsame Aktivitäten und Feste sind in der Erinnerung vorhanden? In welcher Weise wirkten sich Mangelwirtschaft und wirtschaftlicher Rückstand auf die Forschung und Lehre aus? Was bedeutete es, in der wissenschaftlichen Vorzeigeeinrichtung eines repressiven Regimes zu arbeiten, das seinen Bürgern grundsätzlich misstraute und ihre Freiheiten massiv beschränkte? Und wie ging man mit dem permanenten Verdacht der Bespitzelung, des Verrats und der Aushorchung um? Konnte man sich der Bevormundung entziehen – und wie waren solche kleinen Freiheiten beschaffen? Nach einer Einführung in die Methodik wurde von Studierenden und DozentInnen gemeinsam ein ausführlicher Fragenkatalog erarbeitet. Vorgespräche mit den InterviewpartnerInnen dienten dem gegenseitigen Kennenlernen. Die Interviews selbst wurden meist im Rahmen von zwei Terminen geführt, wobei das gesprochene Wort für die weitere Verschriftlichung aufgezeichnet wurde.

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Vom Projekttutorium zum Forschungsprojekt Bereits in den ersten Interviews begegneten wir Schwierigkeiten, die zwar zu erwarten gewesen waren, deren Ausmaß wir aber maßlos unterschätzt hatten. Zum einen sprengte unser Vorhaben, die verschiedenen Arbeits- und Funktionsbereiche einer Universitätsklinik systematisch im gesprochenen Wort festzuhalten, den Rahmen einer Lehrveranstaltung – und das, obwohl alle Beteiligten mit größtem persönlichen Engagement und Zeitaufwand bei der Sache waren. Was ursprünglich als ein Methodenseminar zur Oral History gedacht war, begann sich nun zu einem eigenständigen kleinen Forschungsvorhaben zu entwickeln. Bereits die Suche nach ehemaligen MitarbeiterInnen erwies sich als erstaunlich mühsam. Zwar bekamen wir viele Namen genannt, sodass unsere Kandidatenliste von Interview zu Interview wuchs. Doch zu unserem Erstaunen wurde in vielen Kliniken und Einrichtungen keine Liste der »Ehemaligen« geführt. Auch in den Chefsekretariaten waren Adresse und Anschrift der ausgeschiedenen MitarbeiterInnen oft nicht zu erfahren. Nach dem Wechsel der Klinik- oder Abteilungsleitungen war dieser Teil der eigenen Geschichte offenbar wenig präsent. In solchen Fällen wurden wir meist dank privater Kontakte von alt gedienten MitarbeiterInnen an die nächsten verwiesen. Hierbei durften wir immer wieder erleben, dass unsere InterviewpartnerInnen nach der ersten Kontaktaufnahme mit einem gewissen Amüsement gestanden, von unserem Vorhaben bereits gehört zu haben. Zum anderen mussten wir bei den Interviews selbst schnell feststellen, dass sich die mündlichen Berichte nur selten mit den offiziellen Darstellungen deckten. Derartige Widersprüche hatten wir erwartet. Diese Inkongruenz stellt gleichermaßen die große methodische Schwäche, aber auch die Stärke einer Geschichtsschreibung dar, die auf mündliche Überlieferungen zurückgreift.2 Solche Erinnerungen treffen das Lebensgefühl, die Bedeutung von Ereignissen oder die Auswirkung historischer Prozesse oft viel genauer und anschaulicher als es eine abwägende und analytische Beschreibung je könnte. Man bezahlt mit dem Mangel an faktischer Präzision gewissermaßen den Preis für einen unmittelbareren Zugang zu einer Vergangenheit, die auch jene Verarbeitungs- und Verdrängungsvorgänge einschließt, die Erfahrung als erlebte Geschichte nun einmal auszeichnet. Von dem Ausmaß der Widersprüchlichkeiten waren wir dennoch überrascht. Gerade die Jahre der Wende und Wiedervereinigung erschienen in den geführten Interviews in einem Licht, das sich drastisch von der geläufigen Erfolgsgeschichte abhob, wonach die Charité sich nach dem Fall der Mauer binnen weniger Jahre zum größten Universitätsklinikum Deutschlands, wenn nicht sogar Europas entwickelte: Im April 1995 wurde zunächst das Universitätsklinikum Rudolf Virchow (RVK) aus der Freien Universität Berlin (FU) herausgelöst und der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) zugeordnet. Im folgenden Jahr war der achtjährige und rund 1,5 Milliarden D-Mark teure Umbau des RVK abgeschlossen, ein weiteres Jahr darauf wurde das modernste Klinikum Deutschlands mit der Charité zu einer gemeinsamen Medizinischen Fakultät verschmolzen. Beide wurden 2003 mit dem bis dahin an der FU verbliebenen Klinikum Benjamin-Franklin fusioniert, zugleich die gesamte Berliner Hochschulmedizin unter dem Dach der Charité als interuniversitäre Einrichtung verselbständigt und zu einem weithin »strahlenden Leuchtturm« der medizinischen Forschung weiterentwickelt. Was sich jedoch in den jährlichen Rechenschaftsberichten der Hochschulleitungen als einzigartiger Erfolg und Musterbeispiel einer erfolgreichen Wiedervereinigung und Re-

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organisation der Berliner Hochschulmedizin darstellt, spiegelt sich in der persönlichen Erinnerung der Betreffenden oftmals als zutiefst einschneidende Erfahrung: Bei aller Freude über die neuen Freiheiten und Freizügigkeiten prägten die unwiderrufliche Auflösung institutioneller Strukturen sowie die Ignoranz der neuen KollegInnen gegenüber den Leistungen und Errungenschaften der verbliebenen MitarbeiterInnen die Erfahrungen aller Betroffenen, die wir interviewt haben. So war der rasche Umbau der Charité3 und der umfassende Austausch der Eliten durch die zügige Berufung von ProfessorInnen aus Westdeutschland aus Sicht der politisch und akademisch Verantwortlichen eine äußerst erfolgreiche Operation, die den Elan, das Engagement und die Durchsetzungsfähigkeit aller Beteiligten belegt. Die Erinnerung unserer InterviewpartnerInnen wurde, unabhängig von deren politischen Standorten, hingegen dominiert von der rigiden Evaluierung aller MitarbeiterInnen nach Vorgaben, die bis dahin keine Rolle gespielt hatten, von dem schmerzhaften Zerbrechen der Kollegialität und nicht zuletzt von dem drohenden Verlust eines einstmals sicheren Arbeitsplatzes. Dieser Gegensatz zwischen einer Perspektive von oben und einer »History from Below«, der unmittelbaren Erfahrung der Beteiligten, hätte kaum größer sein können: Auch nach 15 Jahren waren »Wende« und Vereinigung keineswegs Geschichte, sondern eine persönliche Erfahrung, prägend und identitätsbildend. Wenn dies »erlebte Geschichte« ist, wie gehen wir mit diesen persönlichen Eindrücken und Erinnerungen um, haben wir uns angesichts der Vehemenz und Vielfalt solcher Klagen immer wieder gefragt. In welchem Verhältnis steht diese Geschichte zum geläufigen Bild eines glücklichen Aufbruchs in neue Zeiten? Und wie erzählen wir diese Geschichte so, dass sich alle in ihr wieder finden?

Erlebte Geschichte Diese offene Frage war das wesentliche Fazit, das wir im Sommer 2004 aus dem dritten und letzten Projektseminar zogen – und dabei wäre es geblieben, wenn nicht eine Studentin sich mit Elan und einer bewundernswerten Hartnäckigkeit darangemacht hätte, diesem Problem mit methodischem Rüstzeug zu entgegnen. Isabel Atzl hatte sich, aus den Geschichtswissenschaften kommend, in das Projektseminar »verirrt« und übernahm, erst als Tutorin, dann als Projektleiterin, die konzeptionelle Weiterentwicklung des Projekts. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt rund zehn Interviews erhoben und verschriftlicht. Befragt worden waren ehemalige MitarbeiterInnen, die bis vor Kurzem in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité beschäftigt waren. Sehr bewusst bemühten wir uns, möglichst alle Arbeitsbereiche abzudecken: die Krankenpflege und -fürsorge, den ärztlichen und psychologischen Dienst sowie die Arbeitstherapie und das Labor. Die zehn- bis fünfzehnseitigen Abschriften bildeten schließlich die Grundlage für eine erste Ausstellung, die von März bis Juni 2005 unter dem Titel »Zeitzeugen Charité. Arbeitswelten der Psychiatrischen und Nervenklinik 1940–1999« im Berliner Medizinhistorischen Museum gezeigt wurde. Dokumentiert wurden die Zeitzeugenberichte im Begleitband zur Ausstellung und geben, zwar gestrafft, aber in weiten Teilen vollständig und weitgehend den »Originalton« der Interviews wieder.4 Selbstverständlich bieten diese Berichte ein subjektiv gefärbtes Bild der Arbeitsverhältnisse in der Klinik und der Atmosphäre an der Charité. Nichtsdestotrotz erlauben sie einen tiefen Einblick in die unterschiedlichen Arbeitswelten der Klinik in den Jahrzehnten zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Wiedervereini-

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gung. 2006 folgte dann der nächste Schritt: Zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Pathologie der Charité wurde mit ehemaligen MitarbeiterInnen aus den unterschiedlichen Arbeitsbereichen des Instituts eine zweite Staffel von Interviews geführt und in einer ausführlichen Darstellung der Geschichte des Instituts für Pathologie dokumentiert.5 Die Erfahrungen von Zeitzeugen, das war allen Beteiligten während der Vorbereitung der Ausstellung und des Begleitbandes klar geworden, lassen sich noch nicht zu einer historischen Erzählung zusammenfügen, zu einer Geschichte verdichten, die für alle Beteiligten »Sinn« macht. Zu nah sind die Ereignisse, zu groß die Widersprüche, zu zersplittert die individuellen Erfahrungen, zu fragmentarisch das Bild, das die von uns eingefangenen Perspektiven zeichnen lassen. Dennoch oder gerade deshalb sind die Erinnerungen der Zeitzeugen unverzichtbar. Denn die Erfolgsbilanz der Charité der letzten 20 Jahren bildet nur einen Teil ihrer Geschichte. Zu dieser Geschichte gehören nicht minder die Verletzungen und das Leid der Betroffenen der DDR-Zeit wie der Wende. Widersprüchliche Erfahrungen und konträre Deutungen mit analytischer Tiefenschärfe jenseits einer (ostdeutschen) Trauer- und Verlustgeschichte einerseits und einer (westdeutschen) Erfolgsgeschichte andererseits in eine (gemeinsame) sinnstiftende Erzählung einzubinden, ist eine wesentliche Aufgabe der Geschichtsschreibung – und war auch der Ansatz für unser Projekt. Um den Boden für eine derartige Geschichte zu bereiten, ist es aber notwendig, auch solchen Stimmen Gehör zu verschaffen, die noch nicht in die Geschichte eingegangen sind oder bislang überhört wurden. Das einstige studentische Projekttutorium entwickelte sich – gewissermaßen unter der Hand – zu einem maßgeblichen Beitrag für das Jubiläum der Charité. Wurde das Projekt bislang ausschließlich aus den laufenden Mitteln des Instituts und des Museums bestritten, konnte die Zeitzeugenausstellung 2008 in die Rahmenplanung des Festjahres aufgenommen werden. Seit Ende 2008 ist das Team mit Laura Hottenrott und Rainer Herrn bei der Vorbereitung einer Zeitzeugen-Ausstellung zum Charité-Jubiläum – finanziell unterstützt durch eine substanzielle Förderung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Zugleich haben wir durch Walter Momper, dem Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses, eine wohlwollende Unterstützung erfahren. Mit der Studierendengruppe um Ulrich Schwarz von der Universität der Künste, die wir für die Gestaltung der Ausstellung gewinnen konnten, schließt sich der Kreis. Es war ein langer Weg bis zu dieser Ausstellung – und eine stolze Karriere für ein studentisches Projektseminar.

Anmerkungen 1 Vgl. hierzu den Beitrag von Peer Pasternack. 2 Vgl. den Beitrag von Alexander von Plato. 3 Vgl. den Beitrag von Peer Pasternack. 4 Vgl. Isabel Atzl, Volker Hess, Thomas Schnalke (Hrsg.): Zeitzeugen Charité. Arbeitswelten der Psychia-

trischen und Nervenklinik 1940–1999, Münster 2005. 5 Vgl. Isabel Atzl, Volker Hess, Thomas Schnalke (Hrsg.): Zeitzeugen Charité 2. Arbeitswelten des Institutes

für Pathologie 1952–2005, Münster 2006.

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Das Ausstellungskonzept: Die Charité zwischen Ost und West (1945–1992). Zeitzeugen erinnern sich Rainer Herrn und Laura Hottenrott

Am Beginn unseres Projektes1 stand im Januar 2009 eine Podiumsdiskussion im Abgeordnetenhaus von Berlin. Die Veranstaltung sollte als Auftakt das Interesse wecken und potenzielle Zeitzeugen auf unser Anliegen aufmerksam machen. Außerdem sollte sie den von uns gewählten Ansatz der Oral History vermitteln und als Stimmungsbarometer die Einstellungen, Aneignungsinteressen und Erwartungen der vielen Charité-MitarbeiterInnen zu identifizieren helfen. Letzteres sollte vor allem dazu dienen, die konkreten Bedingungen kennenzulernen, mit denen wir bei der Vorbereitung und Präsentation der geplanten Ausstellung konfrontiert sein würden. Bei der Veranstaltung gelang es den Medizinhistorikern Volker Hess und Thomas Schnalke sowie den Zeitzeuginnen Ingrid Reisinger und Ulrike Poppe mühelos, die Aufmerksamkeit auf den Abschnitt der DDR-Geschichte der Charité zu lenken. Der Zeithistoriker Alexander von Plato warb eindringlich für Zeitzeugeninterviews, um individuelles, nicht verschriftetes Wissen und die Erfahrungshorizonte zahlreicher ProtagonistInnen festzuhalten.2 Auch waren erste Kontakte zu GesprächspartnerInnen, die für ein Interview bereit waren, schnell hergestellt. Die Identifikation der jeweiligen Interessenlagen von Charité-MitarbeiterInnen erwies sich indes als höchst diffizil. Auch 20 Jahre nach dem Ende der DDR schlugen die emotionalen Wellen bei der Frage nach ihrer zeithistorischen Bewertung hoch. Etwas vereinfacht und zugespitzt formuliert, kristallisierten sich zwei Positionen heraus: Der Großteil der ZuhörerInnen brachte die Erwartung zum Ausdruck, dass seine unter schwierigen Bedingungen in der DDR erbrachten Leistungen endlich angemessen gewürdigt würden und in der Tradition des berühmten Krankenhauses ihren Platz finden sollten; dass den zahlreichen Negativschlagzeilen, in die der einstige »Leuchtturm des DDR-Gesundheitswesens« seit der politischen »Wende« immer wieder geriet, endlich auch ein positives Bild von der beträchtlichen Aufbauleistung und vom Kollektivgeist der Mitarbeiterschaft an die Seite gestellt würde. Andere erwarteten vielmehr, dass der politische Druck und die Gängelung durch Partei und Regierung, die im Arbeitsalltag und beim Studium in der Charité besonders hervorgetreten waren, sowie die Fehlentscheidungen und Versäumnisse in den 40 Jahren, die das berühmte Krankenhaus von seiner internationalen Führungsposition verdrängt hatten, in den Blick genommen würden. Vor allem aber schieden sich die Geister beim Thema »Stasi«, also dem Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf den Charité-Alltag. Daran zeigte sich jene ständig schwelende und gelegentlich auflodernde Diskussion der letzten 20 Jahre, der in den Medien breiter Raum gegeben wurde. Dieses Thema habe lange genug den Blick auf die DDR-Zeit dominiert, verengt und verstellt, so die einen. Es müsse endlich abgeschlos-

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sen werden, war die mehrheitlich geäußerte Position. Einzelstimmen entgegneten: Die eigentliche Bearbeitung des Themas habe noch gar nicht begonnen, das Ausmaß und die verschiedenen Wirkungsfelder, auf die das MfS an der Charité Einfluss genommen habe, seien nach wie vor unerforscht. Auch wären durchaus nicht alle MitarbeiterInnen auf ihre Tätigkeit für den DDR-Geheimdienst hin überprüft worden. Die Ausstellung – und ihre Macher – verfolgen jedoch weder das Ziel, die Positionen nun polarisierend zuzuspitzen noch zwischen ihnen befriedend zu vermitteln und Identität zu stiften. Vielmehr möchten wir den individuellen Stimmen Gehör zu schenken, die Positionen und Erfahrungswelten der Zeitzeugen darzustellen, und ihre Biografien im zeithistorischen Kontext verstehbar zu machen.

Die Quellen zur Charité in der DDR-Zeit Um einen faktischen Rahmen für das Verständnis der Zeitzeugeninterviews zu schaffen, haben wir zunächst die verfügbaren Arbeiten zur DDR-Geschichte der Charité und des DDR-Gesundheitswesens ausgewertet und in Form einer Zeitleiste als Arbeitsmittel zusammengetragen. Sehr schnell stellte sich heraus, dass die Beschäftigung mit diesem historischen Abschnitt erst am Anfang steht und die Einträge in der Chronologie noch Lücken aufweisen. Insofern sollen von unserem Zeitzeugenprojekt Anregungen für die intensivere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR-Periode des Krankenhauses ausgehen. Zurückgreifen konnten wir zunächst auf Publikationen aus der DDR-Zeit. Die wichtigste unter ihnen ist die Hauszeitschrift Charité-Annalen Neue Folge, die zwischen 1981 und 1995 erschien und viele aktuelle Beiträge aus der Zeit, aber auch einige historische Bearbeitungen der frühen DDR-Geschichte der Charité enthält. Jene Texte, die sich mit der jüngeren Vergangenheit der Charité beschäftigen, entstanden vornehmlich im Umfeld des 275. Gründungsjubiläums im Jahr 1985. Sie repräsentieren jedoch, wie jede andere Sekundärarbeit, ein bestimmtes (Selbst-)Darstellungsinteresse. Die dafür ausgewerteten Primärquellen und ihre Interpretation zielten vor allem darauf ab, die »Erfolgsgeschichte« des Krankenhauses im Sozialismus nachzuzeichnen. Dies trifft auch auf eine in den späten 1990er Jahren einsetzende, von Horst Spaar herausgegebene Publikationsreihe über die Entwicklung des DDR-Gesundheitswesen zu, die jedoch stärker Aspekte von dessen historischer Verfasstheit vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Veränderungsprozesse sowie den Gründen des letztendlichen Scheiterns nachgehen. Diese Reihe wurde unter dem Titel »Dokumentation zur Geschichte des Gesundheitswesens der DDR« von der »Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft e. V.« erstellt und zwischen 1996 und 2003 publiziert. Ihre Protagonisten waren selbst maßgeblich an der Gestaltung der DDR-Gesundheitspolitik beteiligt, sodass sie mit ihrem Insiderwissen und Detailreichtum einen unverzichtbaren Fundus für unser Projekt darstellen. Dies gilt auch für eine zweibändige Präsentation transkribierter Archivalien zur Charité-Geschichte, zusammengestellt vom ehemaligen langjährigen Dekan der Medizinischen Fakultät Heinz David.3 In den 1990er Jahren setzte eine weitere Beschäftigung mit diesem Themenfeld am Institut für Geschichte der Medizin der Charité von Udo Schagen und Sabine Schleiermacher ein. Dabei wurde zunächst die Zeit der Sowjetischen Militäradministration und die der frühen DDR – vornehmlich im Vergleich zur Bundesrepublik – in Einzelaspekten

Das Ausstellungskonzept: Die Charité zwischen Ost und West (1945–1992)

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intensiver in den Blick genommen. Dennoch fehlt es neben einem ersten kurzen Abriss der Charité-Geschichte in der DDR von Günter Grau4 noch immer an themen- und quellenorientierten Studien über die »longe dureé«.5 Dieser Umstand wie auch der von uns gewählte Zugang waren Anlass, in diversen Archiven weiter nach Dokumenten zu recherchieren – insbesondere betraf dies das Archiv der Humboldt-Universität, das Bundesarchiv Berlin (BAB), das Landesarchiv Berlin (LAB) und das Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). Die immense Fülle des dort vorgefundenen Materials ließ eine umfassende systematische Sichtung und Bearbeitung im Rahmen der Vorbereitungszeit für die Ausstellung als aussichtsloses Unterfangen erscheinen. Möglich war es uns lediglich, eine punktuelle Auswahl zu treffen, um essenzielle Informationen und präsentables Ausstellungsmaterial zu finden. Dabei standen die von uns vorher im Ausstellungskonzept umrissenen sieben »Spannungsbögen« im Vordergrund. Während in den Vorläuferprojekten am Beispiel ehemaliger MitarbeiterInnen der Nervenklinik und des Instituts für Pathologie der Charité der typische Arbeitsalltag dieser Einrichtungen in der DDR exemplarisch dargestellt wurde, nimmt das Ausstellungsprojekt »Die Charité zwischen Ost und West (1945–1992). Zeitzeugen erinnern sich« die gesamte Einrichtung in den Blick. Hier soll das Besondere der Charité als großes Universitätsklinikum – »als Stadt in der Stadt« – in der Zeit zwischen 1945 und 1992 im Vordergrund stehen. Mittels Zeitzeugeninterviews mit ProtagonistInnen aus den verschiedenen Bereichen des Mitarbeiterspektrums und Zeiten der Beschäftigung an der Charité, mit Archivalien und Fotos diverser Provenienz werden politisch brisante Perspektiven umrissen, die die Ausnahmestellung der Charité in der gesundheits- und hochschulpolitischen Landschaft der DDR kennzeichnen. Das Universitätsklinikum ist durch seine exponierte Stellung eine besonders geeignete Institution, um das Ineinandergreifen der verschiedenen politischen Ebenen in diesem Zeitabschnitt sichtbar zu machen. Der Arbeitsalltag der MitarbeiterInnen – ForscherInnen, ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen, TechnikerInnen und Verwaltungsangestellten – wird hier als Austragungsort unterschiedlichster gesellschaftspolitischer Sachverhalte verstanden. Diese leiten sich ab aus der geografischen Lage der Charité in unmittelbarer Grenznähe, aus der privilegierten medizintechnischen Ausstattung und Versorgung als führendes medizinisches Zentrum der DDR, aus dem sich daraus ergebenden Überwachungsinteresse durch die Sicherheitsorgane (insbesondere des MfS), aus der Teilhabe einiger Charité-MitarbeiterInnen an der Gestaltung der DDR-Hochschul- und Gesundheitspolitik, aus dem im Traditionsverständnis begründeten Prestige und nicht zuletzt aus dem großen medialen Interesse, das an dieser Einrichtung wegen ihrer exponierten Stellung in den Ost- und West-Medien immer bestand. Diese als »Spannungsbögen« bezeichneten Themenfelder sind in der Ausstellung als separate räumliche Stationen präsentiert, in denen Audio-Collagen, Fotos und Dokumente gezeigt werden.6 Im vorliegenden Begleitband folgen die gleichnamigen thematischen Kapitel nach den einführenden Aufsätzen. Die Charité als Sozialobjekt: Für viele Charité-MitarbeiterInnen und -StudentInnen war das Krankenhaus kein beliebiger Studien- und Arbeitsort. Es bot – begründet durch seinen Ruf – gute berufliche Startpositionen, soziale Sicherheit, Karrieremöglichkeiten und

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