Urlaub Macht Geschichte (Leseprobe)

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URLAUB MACHT GESCHICHTE Reisen und Tourismus in der DDR

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2022 Asternplatz 3, 12203 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Robert Zagolla, Berlin Umschlag: Manja Hellpap, Berlin Satz: typegerecht berlin Schriften: Minion Pro, Frutiger Next Pro Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-89809-201-2 www.bebraverlag.de

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Inhalt

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Prolog 7

2 Vom Luxusgut zum Menschenrecht Der Aufstieg des Tourismus 13 3

Urlaub für die »Werktätigen« Erholung als ­gewerk­schaft­licher Auftrag

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Bungalows und Gästehäuser Die Betriebe als Reiseveranstalter 69

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»Liebe zur deutschen Heimat« Die staatlich organisierte Wanderlust

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»Bau auf, bau auf …« Ferienlager und Jugendreisen

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Im Dienst des Staates Das Reisebüro der DDR 91

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Unterwegs mit Zelt und Klappstuhl Das Land der »Camping­freunde« 99

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Exkurs Baden ohne 109

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10 Brot und Spiele Die Kosten des Wohlstands

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11 Rasanter Aufschwung Die DDR als Reiseweltmeister

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12 »Uns umschlingt ein Band der Freundschaft« Reisen ins sozialistische Ausland 127 13 Zwischen »Verpflegungsstelle« und »Weltniveau« Gaststätten und Hotels 143 14 »Reiseland DDR« Besuche im Arbeiter-und-Bauernstaat 15 Fazit Urlaub in der Fürsorgediktatur

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16 Coda Good Bye, Lenin! 175 nhang A Anmerkungen 179 Ausgewählte Literatur Bildnachweis 202 Abkürzungen 203 Register 205 Der Autor 208

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1 Prolog

Reisefreiheit! Das war es, was die Menschen in der DDR wohl am meisten umtrieb, als sie im Herbst 1989 auf die Straße gingen. Damit war nicht nur, aber vor allem die Freiheit gemeint, all jene Länder zu besuchen, die ihnen kraft Gesetzes verschlossen waren. Viele wollten endlich einmal eine Maß auf dem Münchner Oktoberfest bestellen oder sich am Strand von Saint-Tropez aalen. Go Trabi, go! Der Tourismus spielte aber nicht nur eine zentrale Rolle beim Untergang der DDR, er war schon zuvor ein geradezu konstitutives Element dieses Staates – in der Politik und im Lebensalltag gleichermaßen. Die Menschen in der DDR reisten – wie die Menschen zu allen Zeiten – aus den verschiedensten Motiven, ob zum Baden nach Usedom oder auf Montage nach Bitterfeld. Karl der Große, der kriegerische »Reisekaiser«, legte in seinem Leben 40 000 Kilometer zurück. Ein Durchschnittsdeutscher bringt es heute dank maschinengetriebener Verkehrsmittel auf eine Wegstrecke von weit über einer Million Kilometer. Den Löwenanteil daran machen »Freizeitwege« aus:1 Hierzu zählen der Gang zum Italiener um die Ecke, die U-BahnFahrt ins Kino und die Autofahrt zur Datsche; die mit Abstand meisten Kilometer aber werden auf der Reise in einen mehr oder weniger fernen Urlaubsort zurückgelegt. Diese touristische Reise2 ist ein seltsam nutzloses Unterfangen. Sie ist keine Investition in den Erwerb von Kapitalien jedweder Art: Geld, Macht, Gesundheit, Wissen oder was es sonst noch für triftige Gründe gibt, eine Reise anzutreten. Manches davon spielt auch im Tourismus eine Rolle und die Übergänge sind fließend – aber: Die touristische Reise ist nicht rational begründet, soll nichts Konkretes einbringen. Im Gegenteil. Man opfert Zeit und Geld, nur um woanProlog

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ders zu sein. In diesem Anderswo wird nicht gearbeitet, wird keine Pflicht erfüllt: »Wer noch gezwungen ist, seine Reisen ernst zu nehmen, kann kein Tourist sein«, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk.3 Die touristische Reise ist spielerischer Konsum, Konsum von Raum, von Erlebnissen und von Symbolen. Sie ist Selbstzweck und als solcher ein Luxus. Um diese seltsame Reiseform geht es in den folgenden Kapiteln, um den Urlaub der DDR-Bürger bis 1989 und um die Strukturen, in denen er sich entfaltete – und die zum Teil vor den Augen der Menschen sorgsam verborgen wurden.4 Das Reiseleben der DDR war höchst facettenreich; erst im Laufe der Arbeit an diesem Buch wurde mir klar, wie facettenreich es war. Nicht alles kann hier in der vielleicht wünschenswerten Breite behandelt werden. Ein Punkt aber – in der Forschung nur stiefmütterlich thematisiert – erfordert einigen Raum: Tourismus in der DDR, das schließt Tourismus in die DDR ein, die ja auch ein Reiseziel für Menschen aus anderen Ländern war (wobei Geschäftsreisen und Tagestouren, obschon keine Urlaubsreisen, nicht ausgespart werden können). Gerade in diesem Bereich offenbart sich in der Rückschau besonders deutlich die erwähnte verborgene Ebene. Die Geschichte des Tourismus in der DDR lässt sich nicht erzählen, ohne einen Blick auf die großen Zusammenhänge zu werfen. In der Menschheitsgeschichte war das Reisen in aller Regel mehr Last als Lust. Die touristische Reise ist daher keineswegs der heutige Ausdruck einer in nomadischer Urzeit erworbenen Wanderlust, wie bisweilen zu lesen ist. Sie ist noch keine dreihundert Jahre alt. Der »touristische Blick« auf Land und Leute entstand im Zuge der romantisch-zivilisationskritischen Neubewertung von Natur und Geschichte im Europa des 18. Jahrhunderts, als empfindsame Philosophen und Künstler die erhabene Größe schneebedeckter Berge und donnernder Meereswogen entdeckten und sich dem wohligen Schauder verfallener Burgruinen hingaben.5 Als im folgenden Jahrhundert der Industriekapitalismus Fahrt aufnahm, hielt der zuvor auf eine kleine Avantgarde beschränkte touristische Blick auf Land und Leute auch im wachsenden Bürger8

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Von der Ostsee bis zur Sächsischen Schweiz: Das Urlaubsland DDR in einer illustrierten Karte aus den 1950er Jahren

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tum Einzug. Dank der Eisenbahn und des bezahlten Jahresurlaubs entstand ein ökonomisch-technisches System: der Fremdenverkehr, oder wie es seit den 1950er Jahren auch heißt: der Tourismus. Diese Art, Geld und Zeit zu verschwenden, ist ein mächtiger Wirtschaftszweig geworden – manchen Berechnungen zufolge der größte der Welt. Das Corona-Virus stoppte diesen Höhenflug im Frühjahr 2020. Die historische Analyse zeigt jedoch, dass dies nur eine Delle in einem langen, globalen Aufwärtstrend sein wird. Dieser Trend lässt sich als eine Demokratisierung des Tourismus auffassen: Immer mehr Menschen erheben Anspruch darauf zu verreisen und setzen diesen Anspruch auch durch. Zu einer eminent politischen Frage entwickelte sich dies erstmals im Europa der Zwischenkriegszeit. Der Ausschluss der großen Mehrheit von der schönen Urlaubswelt erschien als Sinnbild genereller Benachteiligung. Für die Legitimität eines politischen Systems wurde es somit zentral, dass es diese Benachteiligung aufheben konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand aus genau diesem Grund in der DDR das »Erholungswesen« weit oben auf der politischen Agenda, ungleich höher als in der Bundesrepublik. Eine Geschichte der DDR ist ohne die Geschichte des Tourismus in der DDR höchst unvollständig. Genau besehen, kann es allerdings die Geschichte des Tourismus in der DDR gar nicht geben, so wenig wie es die Geschichte des Bleistiftanspitzers oder die Geschichte der Welt geben kann. Geschichte ist nur im Plural zu haben, historische Wahrheit ist stets »perspektivisch gebrochen«.6 Denn stets muss die Geschichtswissenschaft – so wie letztlich jede Wissenschaft – konstruieren, muss eine Auswahl treffen aus der »schlechthin unendlichen Mannigfaltigkeit«, wie Max Weber schrieb. In der noch recht jungen Historischen Tourismusforschung finden sich denn auch vielfältige Ansätze.7 Will man sie grob ordnen, scheint mir das wichtigste Kriterium die Reichweite der Darstellung zu sein, die wiederum meist – nicht immer – mit dem gewählten Gegenstand zusammenhängt. Sie kann von der akribischen Schilderung des Schicksals eines einzelnen Grand Hotels bis zur weitreichenden Gesamtschau touristischer Mobilität im Weltmaßstab reichen. 10

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Aufschlussreich ist es, dabei verschiedene Ebenen zu unterscheiden, die die bestimmenden Faktoren menschlicher Existenz bilden, so wie es der große französische Historiker Fernand Braudel vorgeschlagen hat: Unter der flirrenden sichtbaren »Oberfläche« verbergen sich träge, mehr oder weniger unbewusste »Strukturen langer Dauer«. Ersteres, die sich bisweilen abrupt wandelnde Oberfläche der Erscheinungen, ist demnach das Feld der Politik- oder, wie es allgemeiner und etwas abwertend heißt, der Ereignisgeschichte. Letzteres ist ein Feld der Strukturgeschichte, die wirtschaftliche Kennziffern ebenso untersucht wie Muster des Denkens und Fühlens. Mein Herz schlägt eher für die Tiefenstrukturen, die – nicht zuletzt anhand des Tourismus – Auskunft geben können über das, was im Goethischen Sinne »die Welt im Innersten zusammenhält«. Das Thema dieses Buches gebietet aber, eine »mittlere Reichweite« zu wählen und dabei einen Schwerpunkt auf ereignisgeschichtliche Aspekte zu legen. Sie dominieren auch die Forschung zur DDR. Den Hintergrund der inzwischen kaum mehr überschaubaren Literatur bildet fast immer das Politisch-Staatliche, in den meisten Arbeiten steht es sogar explizit im Zentrum.8 Dieser Bereich kann auch hier nicht ausgeblendet werden – Vorwissen über die DDR wird nicht vorausgesetzt. Allerdings kann ich mich dabei angesichts der guten Forschungslage meist kurzfassen. Zu den wissenschaftlichen Arbeiten über die DDR gesellt sich eine Fülle von Populärwissenschaftlichem: teils schlechte, teils gute Bücher mit bunten Bildern und teils oberflächliche, teils vorzügliche TV-Dokumentationen – auch und gerade zum Thema Reisen. Hier findet sich allerdings auch besonders viel Verklärt-Ostalgisches: Wie unbeschwert, wie putzig war doch das Leben damals, als wir noch mit dem Dachzelt auf dem Trabi an der Müritz übernachteten! Indes, von den legendären Dachzelten wurden nicht einmal zweitausend Stück gebaut und sie waren keineswegs ein Unikum der DDR; schon vor dem Zweiten Weltkrieg gab es sie in einigen Ländern. Empirisch ist Ostalgie wenig ergiebig. Dennoch ist eine solche Verklärung vergangener Reiseabenteuer höchst aufschlussreich, verweist sie doch auf grundlegende psychiProlog

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sche Mechanismen. Das Erleben im Fremdraum ist intensiver als im gewohnten Umfeld, bleibt länger haften, prägt das Ich. Reiseerlebnisse bilden oft Höhepunkte im Leben.9 Es ist wohl allen Menschen eigen, dass sie gerne an ihre wilden Wanderjahre zurückdenken; das tue ich selbst auch. Doch auch beruflich ist mir dieses Phänomen schon oft untergekommen, und zwar vornehmlich bei der Begegnung mit Menschen, die vor dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal in ihrem Leben verreisen konnten – und dies der NS-Organisation »Kraft durch Freude« (KdF) verdankt hatten. Das waren keine unverbesserlichen Alt-Nazis, und doch schwärmten sie immer noch von ihren schönen KdF-Reisen, die sie als ein ausnahmsweise positives Produkt des NS-Regimes sahen. Die Parallelen zum ostalgischen Blick auf den DDR-Tourismus liegen auf der Hand: In der Wahrnehmung der Reisenden sind die erinnerten Reisen ein zentraler Bestandteil der Ich-Identität und, zumindest in der Rückschau, unpolitisch. In der Intention der Herrschenden waren sie jedoch hoch politisch – so hoch politisch, dass sie meinten, ihre Herrschaft hinge zum Gutteil davon ab, den Untertanen zu schönen Ferien zu verhelfen. Damit sollten sie Recht behalten.

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2 Vom Luxusgut zum Menschenrecht Der Aufstieg des Tourismus Die DDR fiel nicht vom Himmel, sondern hatte ihre Vorgeschichte, die teils weit zurückreichte. Auch wenn sie den Menschen nicht immer bewusst war, prägte sie doch die sozialen, wirtschaftlichen und mentalen Strukturen des neuen deutschen Teilstaats; die berühmte »Stunde Null« 1945 hat es nie gegeben. Dies galt nicht zuletzt für den Tourismus. Schauen wir also zunächst etwas weiter zurück.

»Alle Welt reist«: Urlaubsfreuden für die Geistesarbeiter Um 1900 war die Praxis alljährlich zu verreisen in den »besseren Kreisen« der entwickelten Industrieländer fest etabliert. Auch in Deutschland hatte sich eine privilegierte Schicht, eine Touristenklasse herausgebildet, die sich aus »Geistesarbeitern« rekrutierte, womit vor allem Staatsdiener, Kaufleute und Akademiker gemeint waren.10 Dabei reichte das Einkommen der Männer aus, um auch Frau und Kinder verreisen zu lassen. Die gemeinsame Urlaubsreise – um 1800 noch nahezu unbekannt – wurde geradezu zur Prägestätte der neuen, bürgerlichen Kleinfamilie und damit des Bürgertums selbst. Daneben reisten natürlich weiterhin die alten Eliten, die High Society des Adels, der hohen Militärs und der Finanz- und Wirtschaftsmagnaten. Wie angedeutet, ist die touristische Reise per se Luxus. Die alten Eliten störten sich daran nicht, im Gegenteil: demonstrative Prasserei gehörte zu ihrem Habitus. Dem aufstrebenden Bürger aber war Luxus höchst suspekt, Zeitverschwendung war ihm ein Gräuel: Time is money. Daher suchte er nach rationalen Begründungen für seine Reiselust – und fand sie in der »Regeneration der Arbeitskraft«.11 Theodor Vom Luxusgut zum Menschenrecht

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Fontane befand: »Der moderne Mensch, angestrengter wie er wird, bedarf auch größerer Erholung.« Bis heute liefert die Erholung – in der ostdeutschen Tourismusforschung oft mit dem Anglizismus »Rekreation« bezeichnet – die zentrale Legitimation der Urlaubsreise, obschon die Wissenschaft den Beweis für deren Existenz weitgehend schuldig geblieben ist.12 Zunächst freilich konnten nur die »Geistesarbeiter« einen Erholungsbedarf geltend machen. Denn nur sie waren »moderne Menschen« im Sinne Fontanes, litten an einer schleichenden Zerrüttung der »Nerven« (die anscheinend auch ihre Frauen und Kinder befiel, die ebenfalls die Urlaubsorte bevölkerten). »Körperliche Ausarbeitung« hingegen erfordere wenig »geistige Anstrengung« und mache daher allenfalls am Sonntag eine längere Erholungspause nötig. Diese Argumentation legitimierte die klassengesellschaftliche Tatsache, dass bis 1914 zwei Drittel der Angestellten und alle Beamten Urlaub erhielten, aber höchstens ein Zehntel der Arbeiter. Die Touristenklasse zerfiel in zahlreiche Milieus, die sich in gegenseitiger Abneigung zugetan waren.13 Doch sie war zugleich nach außen von der Bevölkerungsmehrheit scharf abgegrenzt. Die reisende Minderheit stellte das Personal der gut 300 000 Mitglieder zählenden Gebirgs- und Wandervereine, bevölkerte die Grand Hotels in den See- und Kurbädern, die Pensionen in den Sommerfrischen, die Wanderherbergen in den Bergen und sie drängte sich an den mit Baedeker-Sternchen prämierten Sehenswürdigkeiten. Die Elite innerhalb dieser Elite zog es dank der einsetzenden Globalisierung in die weite Welt, auf die Rundreise zu den Niagarafällen und auf die Kreuzfahrtdampfer, die sie bis nach Island und Ägypten brachten. Exklusive Fernreisen wurden von Reisebüros nach dem Vorbild des britischen Veranstalters Thomas Cook & Son zusammengestellt – führend in Deutschland war das Berliner Reisebüro Carl Stangen –, ansonsten organisierte man seinen Urlaub meist selbst. »Alle Welt reist!« notierte Fontane: »Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört das Massenreisen«. Freilich hatte er da die eigenen Kreise, die »Geistesarbeiter« im Blick. Nur an Hot Spots ließ sich mit Fug von Massen sprechen, etwa am Mittelrhein, wo die Dampfer 14

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Als Reisen noch Luxus war: Katalog des Reisebüros Carl Stangen aus dem Jahr 1899, Kreuzfahrtwerbung der Hapag von 1933

bis zu zwei Millionen Passagiere beförderten. Die touristische Reise hatte sich zu einem boomenden Geschäft entwickelt, doch sie blieb ein Privileg: Der Anteil der regelmäßigen Urlauber an der Bevölkerung – die Reiseintensität14 – erreichte ungefähr zehn Prozent. Die große Mehrheit, die »Handarbeiter«, hatte weder Geld noch Zeit für diese Luxusmobilität. Sie lag weit außerhalb ihres Erwartungshorizonts, ihr primärer Freizeitraum war die Kneipe. Bemühungen, dem entgegenzuwirken, wie sie der sozialistische »Touristenverein ›Die Naturfreunde‹« organisierte, blieben eine Randerscheinung. Die Urlaubsreise war im Bürgertum zur Selbstverständlichkeit geworden und wahrte doch den Nimbus sozialer Auserwähltheit. In der Weimarer Republik sollte sich dies nach dem Willen der nun an der Macht beteiligten Arbeiterbewegung ändern.15 Die Gewerkschaften setzten für die meisten tarifvertraglich Erfassten einen Urlaubsanspruch durch. Alle Arbeitnehmer sollten sich nun eine erholsame Auszeit gönnen können. Arbeiter erhielten drei bis maVom Luxusgut zum Menschenrecht

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ximal sieben Tage Urlaub, Angestellte teils doppelt so viel. Das war international vorbildlich. Häufig ließen sich Arbeiter den Urlaubsanspruch allerdings »abgelten« und arbeiteten für doppelten Lohn weiter. Die Teilhabe am Tourismus blieb ein Luxus. Zum mit Abstand größten Veranstalter wurde das vornehme Mitteleuropäische Reisebüro (MER); hier konnte man »Orient-Reisen« für 2 500 Reichsmark (RM) buchen. Der vor dem Ersten Weltkrieg blühende internationale Tourismus ging allerdings stark zurück: Der Welthandel lag danieder, die Staaten führten strenge Visa- und Devisenbestimmungen ein und der gehobenen Touristenklasse ging krisenbedingt das Geld aus. Doch zugleich weitete sie sich ein wenig in Richtung der sogenannten neuen Mittelschichten aus; auch Lehrerinnen und Lehrer, Bürodamen und Handlungsgehilfen fuhren nun bisweilen in den Urlaub. Für sie gab es weniger hochpreisige »Volksreisen«. So offerierte das Berliner Reisebüro Dr. Carl Degener eine Woche in den Alpen zum Sensationspreis von 69 RM. Zudem erlebten sozialtouristische Organisationen eine kurze Blüte. Ferienheime zählten 25 000 Betten, davon ein Fünftel in Regie der Arbeiterbewegung; die »Naturfreunde« hatten zeitweilig über hunderttausend Mitglieder. Dennoch: Für Arbeiter und auch für kleine Angestellte und Beamte war die Teilhabe am Tourismus in aller Regel weiterhin auf Tagesausflüge oder Verwandtenbesuche beschränkt.16 Für eine gewöhnliche Urlaubsreise waren um 300 RM, für Billigreisen um 100 RM zu veranschlagen; doch bei Monatslöhnen von oft nicht einmal 200 RM blieb kaum ein Pfennig für Freizeitmobilität übrig. Einzig Jugendliche wurden mobil und bevölkerten Zeltlager und die über zweitausend Jugendherbergen. Die ohnehin bescheidenen Ansätze einer touristischen Emanzipation breiterer Schichten machte dann der Schwarze Freitag 1929 zunichte. In der Weltwirtschaftskrise fiel der Fremdenverkehr unter den Vorkriegsstand. Die Branche warb weiterhin massiv für ihre Produkte, doch die Plakate und Prospekte zeigten Träume, die allzu oft unerfüllbar waren. Die Politik sah allmählich Handlungsbedarf. Das gewerkschaftsnahe Internationale Arbeitsamt in Genf setzte das Thema auf die Agenda, voran gingen allerdings totalitäre Regime. 16

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Bereits 1927 hatte die Sowjetunion zwei subventionierte Reiseorganisationen gegründet, doch die Teilnehmerzahlen blieben gering. Wegbereiter des Sozialtourismus »von oben« wurde Italien. 1931 begann die faschistische Freizeitorganisation Opera Nazionale Dopolavoro (OND) »Volkszüge« durchs Land zu schicken, später kamen sogar einige Kreuzfahrten hinzu. Der subventionierte Veranstalter löste einen Reiseboom aus; bald mussten indes die Preise erhöht werden und die Zahl der OND-Urlaubsreisen pendelte sich bei hunderttausend pro Jahr ein.

»Kraft durch Freude« im Dritten Reich Ungleich erfolgreicher nahm sich das NS-Regime des Sozialtourismus an. Im November 1933 hatte es die bereits erwähnte »NS-Gemeinschaft ›Kraft durch Freude‹« (KdF) aus der Taufe gehoben.17 Sie war Teil des pseudogewerkschaftlichen Dachverbands Deutsche Arbeitsfront (DAF), der an die Stelle der zerschlagenen Richtungsgewerkschaften getreten war. Entsprechend unbeliebt war die DAF bei den entrechteten Beschäftigten. Nun bekam sie eine »Gliederung«, die ihr Sympathien verschaffen sollte. Ursprünglich war KdF eher für die Feierabendgestaltung gedacht, doch bald wurde das KdF-Amt Reisen, Wandern, Urlaub nahezu zum Synonym für »Kraft durch Freude«. Die dort organisierten Reisen sollten ein multifunktionales Instrument sein: Leistungssteigerung, Verbrauchslenkung, Tourismusförderung, Stärkung der »Heimatliebe« und Loyalitätsproduktion waren die Ziele. Letzteres war der entscheidende Punkt: Wie andere sozialpolitische Maßnahmen sollte KdF indirekt den Krieg ermöglichen, auf den die Führungsclique heimlich hinarbeitete, und hierzu musste sie – so der Arbeitsfront-Leiter Robert Ley – das »Herz« der »heimatlos« gewordenen Arbeiterschaft gewinnen. Unablässig wurden die »Arbeiter der Faust« rhetorisch zu »gleichberechtigten Mitgliedern der Volksgemeinschaft« aufgewertet. Doch dem Regime war klar, dass es mit hehren Worten allein nicht getan war. Neben der Peitsche brauchte es auch Zuckerbrot: Praktisch Vom Luxusgut zum Menschenrecht

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umgesetzt werden sollte die »Volksgemeinschaft« durch den »Sozialismus der Tat«. Das Schlagwort stand für die nationalsozialistische Variante des Fordismus. Das in den Fabriken des Industriellen Henry Ford in neuartiger Fließbandproduktion hergestellte Billigauto Ford T war die Ikone des konsumfrohen American Way of Life, der bewirkte, dass sich die klassenkämpferische Arbeiterbewegung in einer breiten zufriedenen Mittelschicht aufzulösen begann. Der britische Schriftsteller George Orwell sprach hellsichtig vom Siegeszug des »little fat man«.18 Genau das hatte Henry Ford beabsichtigt. Er und Hitler waren gesellschaftspolitisch (und in ihrem Antisemitismus) enge Geistesverwandte – in Hitlers Münchener Parteibüro prangte Fords Konterfei.19 Auch im Dritten Reich sollten prestigeträchtige Konsumgüter durch serielle Massenproduktion radikal verbilligt werden, voran Autos, Radios, Reisen. Der Volkswagen ging nicht mehr in Serie, doch der Volksempfänger wurde ein Verkaufsschlager – und mehr noch die Volksreisen von KdF. Sie begannen am 17. Februar 1934 mit einer geschickt orchestrierten Aktion: Auf einen Schlag wurden mehr als zehntausend ausgewählte »Arbeiterurlauber« aus den grauen Städten in die klare Luft der bayerischen Berge verfrachtet – KdF war in eine Bedarfslücke gestoßen und wurde mit Buchungswünschen überschüttet. Aus dem Stand wurde die NS-Gemeinschaft der weltgrößte Reiseveranstalter. In den sechs Jahren bis Kriegsbeginn organisierte das Amt Reisen, Wandern, Urlaub über sieben Millionen ein- bis dreiwöchige Urlaubsreisen, davon gut 700 000 Kreuzfahrten. Unter Einbeziehung der Wochenendtouren waren bis 1939 sogar fast 43 Millionen »deutsche Volksgenossen« mit KdF unterwegs.20 Durchs ganze Reich rollten die Sonderzüge mit bis zu tausend »KdFlern«. Das Juwel des Programms aber waren die Hochseereisen – im In- und Ausland wurde die KdF-Flotte, die »deutsche Arbeiter« bis nach Madeira und Tripolis brachte, zur »besten Propaganda für das neue Deutschland«. Mit sechs bis acht gleichzeitig eingesetzten Schiffen betrieb KdF die weltgrößte Kreuzfahrtflotte. Flaggschiffe wurden 1938/39 die Wilhelm Gustloff und die Robert Ley. Nicht nur die NS-Propaganda überschlug sich, auch das Ausland war begeis18

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Urlaubspropaganda der Nationalsozialisten: Die Kreuzfahrtflotte von KdF, Werbeslogan: »Auch du kannst jetzt reisen!«

tert; die »Washington Post«, etwa, schwärmte, auf der Robert Ley könnten sich die 1 500 Passagiere »wie Krösus« fühlen. Die Industrialisierung des Reisens konsequent zu Ende denkend, plante man zudem den Bau von fünf riesigen Ferienorten an der Ostsee, von denen das »Bad der 20 000« am Prorer Wiek (heute Prora) auf Rügen fast fertiggestellt wurde.21 Obschon kaum bezuschusst, lagen die Preise der KdF-Reisen mit durchschnittlich nicht einmal 40 Reichsmark weit unter den Billigangeboten aus der Zeit vor 1933. Eine Woche auf Norwegenkreuzfahrt kostete 50 bis 60 RM, zehn Tage Heiligenhafen 44 RM und einfache einwöchige Reisen weniger als 20 RM, Transport und Vollpension inklusive. Das sensationelle Preisniveau verdankte sich einer vorsichtigen Absenkung der »bürgerlichen« Standards, der gewaltigen Marktmacht des Veranstalters und der vielfältigen politischen Unterstützung, die er genoss. Doch vor allem wirkte hier die Übertragung des Prinzips der fordistischen Fließbandproduktion und des »Gesetzes der Massenproduktion« Vom Luxusgut zum Menschenrecht

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auf den Tourismus: Die »Stückkosten sinken, wenn die Fixkosten auf möglichst große Stückzahlen verteilt werden«.22 Flankiert wurde diese Preisrevolution durch deutliche Verbesserungen bei den tariflichen Urlaubsregelungen für Arbeiter und mehr noch Arbeiterinnen. Ein bis zwei Wochen waren nun die Regel, die Abgeltung wurde verboten. Bis dahin waren Proletarier auf Luxusdampfern und Kurpromenaden unvorstellbar gewesen. Das Sensationelle dieses Anblicks ließ vergessen, dass die »Brechung des Reiseprivilegs« im Ansatz stecken blieb. Auch bei KdF dominierte der Mittelstand. Doch immerhin lag der Anteil der Arbeiter und Arbeiterinnen bei über einem Drittel. Zwischen 1934 und 1939 hatte jede zehnte Arbeitererwerbsperson mindestens eine KdF-Reise unternommen. Zum »treuesten Gefolgsmann des Führers«, wie Funktionäre hofften, wurde dadurch auf Dauer kaum jemand, zumal sich an KdF das Odium der Zweitklassigkeit heftete – die Ansprüche stiegen. Dennoch verfehlte der »Sozialismus der Tat« in Gestalt billiger Urlaubsreisen seine mentale Wirkung nicht. Er veränderte allerdings weniger die politischen Einstellungen als vielmehr die Lebensstilideale. Die Teilhabe am Tourismus rückte in den Erwartungshorizont breitester Schichten. »Reisefieber« war das neue Modewort. Zwischen 1933, dem Tiefpunkt der Rezession, und 1939 stieg die Zahl der Inländer-Übernachtungen von 46 auf 121 Millionen; die Reiseintensität dürfte sich auf gut zwanzig Prozent verdoppelt haben.23 Der KdF-Tourismus erreichte einen Anteil von rund einem Fünftel am binnentouristischen Reiseverkehr. Ansonsten aber bewegte sich der Fremdenverkehr in den marktwirtschaftlichen Bahnen, die schon im Kaiserreich eingeschlagen worden waren. Die Zahl der Reisebüros verdoppelte sich auf rund tausend; führend blieb das MER mit seinen 850 Auslandsvertretungen, gefolgt von Degener, der vor allem preiswerten Urlaub im bayerischen Ruhpolding anbot (was dann nach dem Krieg bruchlos fortgeführt wurde). Die organisatorischen Strukturen waren gestrafft und »gleichgeschaltet« worden, doch im Kern blieb die Branche unangetastet. Nachdem die Rezession Mitte der 1930er Jahre überwunden war, erzielte sie Rekordumsätze, zumal auch der Inbound-Tou20

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rismus wieder boomte; er spülte Devisen im Wert von mindestens einem Zwölftel der Exporterlöse ins Land.24 Wie stark das Bedürfnis nach touristischem Erleben inzwischen im Bewusstsein der Menschen verankert war, zeigt die baldige Aufhebung der bei Kriegsbeginn im September 1939 verhängten Urlaubssperre. KdF stellte die Reisetätigkeit weitgehend ein, aber der freie Fremdenverkehr lief munter weiter, eine trügerische Normalität vorgaukelnd, bis er 1944 allmählich zum Erliegen kam.

»Wie die Maden im Speck«: Die frühe Nachkriegszeit Die Kapitulation am 8. Mai 1945 schien einen tiefen Bruch in der Entwicklung des Tourismus in Deutschland, wenn nicht dessen Ende zu bedeuten. Die Mobilität war enorm hoch. Aber es war eine Elendsmobilität. Millionen irrten durchs Land: entlassene Zwangsarbeiter, KZ-Überlebende und andere Displaced Persons, Wehrmachtssoldaten, Heimatvertriebene, Waisenkinder, Ausgebombte. Die Menschen hungerten und froren und hatten wahrlich andere Sorgen, als Urlaub zu machen. Doch wie schon der Erste Weltkrieg, so bildete auch der Zweite keine tourismushistorische Zäsur: Wohl brach der Urlaubsreiseverkehr ein und erreichte erst lange Jahre später wieder den Vorkriegsstand, doch als ein strahlendes Ideal der Lebensgestaltung blieb das »Verreisen« in den Seelen der Menschen lebendig. »Die Deutschen werden reisen wie noch nie, wenn sie erst wieder satt zu essen haben«, hatte Carl Degener 1949 zurecht prophezeit.25 Das bewahrheitete sich in West- und Ostdeutschland gleichermaßen. Die touristische Reise erweist sich als eine »Struktur langer Dauer«, erstaunlich immun gegen Katastrophen und Ideologien. Das Deutsche Reich war 1945 gemäß des Potsdamer Abkommens und der Londoner Protokolle in Besatzungsgebiete aufgeteilt, die alsbald in eine Ost- und drei Westzonen zerfielen; die gleiche Aufteilung erfuhr die gemeinsam verwaltete Reichshauptstadt. Ein Drittel des Territoriums wurde Polen zugeschlagen und die Bewohner wurden westwärts über die Oder-Neiße-Linie deportiert. In diesem RestVom Luxusgut zum Menschenrecht

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deutschland – auf der Fläche der heutigen Bundesrepublik – gab es nur noch fünfzig Hotels, die internationalen Standards entsprachen; ein Viertel der Hotels war zerbombt, in vielen Großstädten neunzig Prozent. Und in den von Bomben verschonten Kur- und Seebädern wurden sie zweckentfremdet als Notquartier für Heimatvertriebene; zwölf Millionen Menschen mussten in diesem Chaos eine Bleibe finden. Wollten sie dorthin gelangen, blieb oft nur, hunderte Kilometer zu Fuß zu laufen. Loks, Waggons und Brücken waren zerstört. Die Züge waren grotesk überfüllt, wenn die Städter auf »Hamsterfahrt« im Umland etwas Essbares im Tausch gegen das Tafelsilber zu ergattern versuchten, denn ansonsten gab es nur Hungerrationen »auf Karte«. Die wenigen Autos schlichen mit Holzvergasern über die Straßen, und für die Einreise in ein anderes Besatzungsgebiet war ein Interzonenpass erforderlich. Es grenzt an ein Wunder, dass es den Alliierten innerhalb eines Jahres gelang, den Großteil der zehn Millionen Displaced Persons aus dem Land herauszubekommen und so unzählige Menschen vor dem Hungertod zu bewahren. Ein weiteres Wunder war: Kaum dass die Waffen schwiegen, wurden Ansätze einer Wiederbelebung des Tourismus sichtbar.26 Geld beziehungsweise Tauschwaren für diesen Luxus gab es. Einige hatten den Zusammenbruch wirtschaftlich gut überstanden, andere waren Genies darin, auf dem Schwarzmarkt reich zu werden. Und die meisten machten sich an den Wiederaufbau, räumten die Trümmer beiseite, fuhren die Produktion wieder an. Im August 1945 eröffnete die MER-Filiale am Boulevard Unter den Linden in Berlin wieder ihre Pforten, die zerborstenen Schaufenster mit Pappe verkleidet. In den jeweils zugänglichen Feriengebieten regte sich bald wieder touristisches Leben – ob in Oberbayern in der amerikanischen Besatzungszone, im Schwarzwald in der französischen, an der britischen Nord- und Ostsee oder an der sowjetischen Ostsee und in Sachsen und Thüringen, das die Amerikaner von den Sowjets gegen einen Teil Berlins eingetauscht hatten. In den Seebädern der sowjetischen Zone fanden sich 1946 immerhin 24 000 registrierte und etliche illegale Feriengäste ein, im Folgejahr mehr als dreimal so viele. Ganz wie im Fall der Nordseebäder 22

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wurde in der Presse geklagt, dass »Schieber und Schwarzhändler« dort »wie die Maden im Speck« lebten. In der Tat: Während die Menschen in den Städten in Hunger und Elend vegetierten, war etwa auf der Nordseeinsel Norderney alles zu haben. In den Restaurants und Nachtbars schwelgten Kohlenhändler, Schmuggler und Lebedamen in Sekt und Schnaps, Bohnenkaffee und Butterkuchen, für die sie fantastische Schwarzmarktpreise hinblätterten. Nicht anders ging es in Heiligendamm an der Ostseeküste oder in Oberhof im Thüringer Wald zu. Mit Straßenkontrollen und Razzien versuchte die Polizei, dem obszönen Treiben Herr zu werden. In der sowjetischen Zone ging man dabei vielfach äußerst brutal vor und setzte die gefürchteten »Volkskontrollausschüsse« auf die »Volksschädlinge« an. In den West-Zonen beendete die Einführung der Deutschen Mark 1948 den Spuk; in der Ost-Zone florierte das illegale Schlemmerleben mancherorts noch eine Weile, nun angefacht durch das Währungsgefälle zwischen West- und Ostmark. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es gesamtdeutscher Konsens, dass die Urlaubsreise kein Privileg mehr sein dürfe. Diese Überzeugung basierte auf Forderungen, die die Arbeiterbewegung in den 1920er Jahren weitgehend vergeblich erhoben hatte und die dann von den Diktaturen in Italien und Deutschland aufgegriffen und weltweit propagiert wurden. Ihr später Erfolg: 1948 wurde das Recht auf »regelmäßigen bezahlten Urlaub« im Artikel 24 der UN-Menschenrechtscharta verankert – wohingegen sauberes Trinkwasser erst 2010 zum Menschenrecht erhoben werden sollte. Bei der Frage, mit welchen Mitteln die Teilhabe am Tourismus zu demokratisieren sei, gingen Ost und West freilich entgegengesetzte Wege.

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3 Urlaub für die »Werktätigen« Erholung als ­gewerk­schaft­licher Auftrag Die sowjetische Besatzungszone (SBZ) beziehungsweise die frühe Deutsche Demokratische Republik (DDR) übernahmen beim Aufbau des Tourismus zunächst die Vorreiterrolle.27 1946 verfügte die Militäradministration einen gesetzlichen Urlaubsanspruch, der 1949 mit der Gründung der DDR Verfassungsrang erhielt; Artikel 16 bestimmte: »Jeder Arbeitende hat ein Recht auf Erholung, auf jährlichen Urlaub gegen Entgelt.« In den Westzonen beziehungsweise in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) erließen hingegen die einzelnen Bundesländer Mindeststandards, die erst 1963 auf Druck der Gewerkschaften im Bundesurlaubsgesetz vereinheitlicht wurden. Entschlossener noch als beim Mindesturlaub – in Ost wie West anfangs rund zwölf Tage – ging man im sowjetischen Machtbereich bei der Demokratisierung des Reisens voran. Hierbei setzte man ganz auf subventionierten Fremdenverkehr.

Die Anfänge des FDGB-Feriendienstes Träger des Sozialtourismus wurde der 1945/46 gegründete Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB). Formalrechtlich ein Gewerkschaftsdachverband, fungierte er angesichts der engen Verflechtung mit der Staatspartei – der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) – als eine »erzieherische« und sozialpolitische Organisation, die für Ruhe in den Betrieben zu sorgen hatte. Im Jargon der Machthaber: Der FDGB »erkennt die führende Rolle der SED (…) an und ist einer der wichtigsten Träger der Staatsmacht«.28 Nicht die »Werktätigen« galt es also zu vertreten, sondern die »Staatsmacht«. Urlaub für die »Werktätigen«

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Der Aufbau der Gewerkschaften erfolgte federführend durch engagierte Kommunisten, die oft schwer unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten. Dennoch ist zu fragen, ob der FDGB eher dem Modell des Zentralrats der Gewerkschaften der UdSSR oder dem der Deutschen Arbeitsfront folgte. Aber diese Frage ist letztlich müßig: Beide Staatsgewerkschaften wiesen analoge funktionale Strukturen auf, beide wuchsen zu den größten Massenorganisationen ihres Landes heran und beide blieben »gehorsame Agenten« (Hans-Ulrich Wehler) der jeweiligen Regimeführung, trotz immer wieder aufbrechender Widersetzlichkeiten auf unterer Ebene. Das wichtigste Instrument gewerkschaftlicher Interessenvertretung fehlte in beiden Diktaturen: Es galt ein faktisches Streikverbot – so wie dann auch in der DDR, obwohl hier das »Streikrecht der Gewerkschaften« bis 1968 sogar in der Verfassung garantiert war. Mit Blick auf die Urlaubspolitik wurde das leuchtende Vorbild der »Gewerkschaften der UdSSR« gepriesen: Sie würden alles tun, um den Werktätigen »die besten Möglichkeiten für ihre Gesundung und sinnvolle Erholung zu geben«, hieß es etwa in einer FDGB-Publikation von 1954, wobei sie sich »von den weisen Worten Josef Wissarionowitsch Stalins, des großen Führers des Sowjetvolkes, leiten« ließen.29 Sein Vorgänger, der 1924 verstorbene Revolutionsführer Lenin, hatte die elitären Kurbäder auf der Krim kurzerhand verstaatlicht; später wurden besonders am Schwarzen Meer moderne Sana­ torien gebaut, in denen »Werktätige« (eine Wortschöpfung Lenins) wochenlange Kuren machten. Doch anders als das Kurwesen wurde der nicht medizinisch legitimierte Sozialtourismus in der Sowjetunion erst in den 1960er Jahren massiv ausgebaut. Vielmehr orientierte sich der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund zunächst am Ferienheimwesen der Weimarer Jahre – und an den Erfolgen von KdF.30 Wie vierzehn Jahre zuvor die Deutsche Arbeitsfront, so erhielt auch der FDGB sein eigenes Reisebüro. Am 20. März 1947 verkündete der Erste Bundesvorsitzende Hans Jendretzky die Gründung einer neuen Abteilung, die »allen Gewerkschaftsmitgliedern eine zweckvolle Durchführung ihrer Ferien« ermöglichen sollte: Der »Feriendienst« war, wie zuvor KdF, Ableger einer Pseudo-Gewerkschaft, 26

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Sozialistisches Urlaubsidyll vor der Kulisse des Lilienstein im Elbsandsteingebirge: Werbung für den Feriendienst des FDGB, um 1954

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die sich damit ein Sympathie erheischendes Betätigungsfeld schuf. Die Kontinuität zeigte sich bis in die Rhetorik hinein, die den Appell an ein Wir-Gefühl mit terroristischer Ausgrenzung paarte. Aus dem Slogan »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« wurde »Vom Ich zum Wir«, aus der »Urlaubergemeinschaft« als »Volksgemeinschaft im Kleinen« wurde das »Ferienkollektiv« als »Abbild der sozialistischen Menschengemeinschaft«. Sollten sich zuvor die »Arbeiter der Faust« in den »Luxusstätten« der Juden und Plutokraten erholen, so verkündeten nun Spruchbänder, den »Arbeitern und Bauern« stünde das »Privileg der Geldsäcke« offen. Und wie zuvor bei der Rede von der »Volks- und Leistungsgemeinschaft« griff man auf den bürgerlichen Erholungsmythos zurück: Die Urlaubsreise diene der »Reproduktion der Arbeitskraft« beziehungsweise der »Rekreation der Arbeiterklasse« und damit auch der Wirtschaft. KdF und Feriendienst sahen sich als Produzenten von Loyalität und Leistungskraft, gar eines »neuen Menschentyps« in einem »neuen Deutschland« – was wiederum in beiden Fällen ihren Kunden meist herzlich egal war: Sie wollten einfach Urlaub machen.

Sozialistische Kreuzfahrtträume Sinnbild der urlaubspolitischen Kontinuität wurde 1960 die »Friedensflotte«, ein Lieblingsprojekt von Herbert Warnke, seit 1948 Erster Vorsitzender des Bundesvorstands des FDGB.31 Schon 1953 hatte er einen Plan für ein Kreuzfahrtschiff skizziert, aber erst einige Jahre später waren die Werft-Kapazitäten so weit ausgebaut, dass das Projekt Gestalt annehmen konnte. Es war ein Kind des Kalten Krieges, der Systemkonkurrenz der beiden deutschen Staaten, in der es darum ging, West- und Ostdeutsche gleichermaßen mit »materiellen Errungenschaften« zu beeindrucken. In der DDR war diese Marschroute von Walter Ulbricht ausgegeben worden. Ulbricht war seit der Wiedergründung der KPD 1945 der starke Mann in der Sowjetzone und seit 1950 als Generalsekretär, dann Erster Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED auch formal der Staatslenker der DDR. In 28

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seiner Grundsatzrede auf dem V. Parteitag der SED forderte er 1958: Um die »Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung« zu beweisen, sei »der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit (sic!) allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern« so zu steigern, dass er 1961 das westdeutsche Niveau »erreicht und übertrifft«. Das war, gelinde gesagt, ein ambitioniertes Ziel.32 Den schlagenden Beweis sollte ausgerechnet ein Kreuzfahrtschiff liefern, dessen Fertigstellung bis 1961 der Parteisekretär der Mathias-Thesen-Werft in Wismar anschließend ankündigte: »Früher sind die Kapitalisten, die reichen Geldsäcke auf solchen Schiffen gefahren. Heute sollen die Arbeiter auf solchen Schiffen fahren.« Ulbricht ergänzte: »Es ist sehr schön, daß wir die politische Macht haben, aber wir müssen auch beweisen, daß unser Wohlstand wächst.« Die Führungsclique war euphorisch gestimmt. Ganz grundlos war diese Euphorie nicht. Vor dem Parteitag konnte man endlich – acht Jahre nach der Bundesrepublik – die 1939 eingeführte Rationierung von Lebensmitteln aufheben und 1957 war es der UdSSR überraschend gelungen, einen Satelliten ins All zu schicken – der »Sputnikschock« ließ den Westen erzittern und den Osten frohlocken. Ebenfalls vor dem Parteitag wurde ein kleiner Volkswagen ausgeliefert, den man in Übersetzung des russischen Namens Sputnik »Trabant« getauft hatte. Trotz leerer Regale in den Geschäften sah es so aus, als könne sich die »sozialistische Gesellschaftsordnung« womöglich tatsächlich als »überlegen« erweisen. Das Wirtschaftswachstum und die Arbeitsproduktivität waren mit Westdeutschland – noch – vergleichbar, in einigen Bereichen von Forschung und Entwicklung war die DDR sogar führend. Die Ausbildung technischer Fachkräfte war vorbildlich (die Lehrbücher wurden auch im Westen benutzt), und als Bundeskanzler Konrad Adenauer 1955 die letzten zehntausend Kriegsgefangenen aus Russland freibekam, waren darunter viele hervorragende Wissenschaftler, die, wie Manfred von Ardenne, die Arbeitsbedingungen im Sozialismus denen im Kapitalismus vorzogen. Denn das Regime investierte Unsummen in High-Tech-Projekte der Chemie- und Metallindustrie, vor allem aber in die Atomforschung und die Entwicklung eines Turbojet-Passagierflugzeugs. Urlaub für die »Werktätigen«

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