Einführung: Die Industrialisierung im Spielzeug der Kaiserzeit Ein rasanter technischer und wissenschaftlicher Fortschritt hat im 19. Jahrhundert die Gesellschaft umfassend verändert. Begonnen hatte die Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England. Innerhalb weniger Jahre wurden dort die Spinnmaschine, der mechanische Webstuhl und die Dampfmaschine erfunden. Auch die erste Eisenbahn fuhr 1825 in England. Diese technische Revolution leitete die handwerkliche Fertigung in die industrielle Massenproduktion über. Durch die maschinelle Produktion mittels Wasserkraft oder Dampfkraft fielen die Preise – Massen von einst selbstständigen Handwerkern wurden zu Fabrikarbeitern, die nun nach dem Takt der Maschinen arbeiteten. Die seinerzeit beliebten Spielzeug-Dampfmaschinen und die dazugehörigen Antriebsmodelle spiegeln diese Entwicklung wider. In Deutschland begann die Bevölkerung schon Anfang des 19. Jahrhunderts rasch zu wachsen. Zwischen 1815 und 1910 verdreifachte sie sich fast auf 64,9 Millionen Einwohner. Für die vielen Menschen, die durch das Bevölkerungswachstum vom Land in die Städte getrieben und von der Hoffnung auf Arbeit in den neuen Industriebetrieben angezogen wurden, gab es nicht genügend Arbeitsplätze. Die Elendsviertel wuchsen, die hygienischen Bedingungen waren katastrophal, Krankheiten und Seuchen grassierten. Die Arbeitsbedingungen waren hart und die Löhne niedrig. Kinderarbeit war, vor allem in der Textil-Industrie, die düstere Begleiterscheinung einer ungeregelten Industrialisierung. Zögernd griff der Staat in die Arbeitsbedingungen ein. Kinderarbeit in Fabriken wurde ab
1839 auf das Mindestalter von neun Jahren eingeschränkt und dann über den langen Zeitraum bis 1903 in mehreren Schritten weitgehend verboten. 1884 wurden die gesetzliche Krankenversicherung, die Unfallversicherung und 1891 die Rentenversicherung für Arbeiter eingeführt. Außerdem wurden im Jahr 1891 die Sonntagsruhe und der Mutterschutz von sechs Wochen gesetzlich verankert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts holte Deutschland den industriellen Rückstand auf. Vor allem in den forschungsintensiven Industrien wie der chemischen Industrie, der Optik und der Elektroindustrie wurden deutsche Unternehmen Weltmarktführer. Die Industrialisierung und das Wachstum der Städte spiegeln sich im Spielzeug dieser Zeit. In den kleinen Dingen kann man die großen zeithistorischen Zusammenhänge wiederfinden – die Eisenbahn, die Maschinenproduktion, die Elektrifizierung der Städte, die aufkommende Welt der Markenartikel, aber auch die Militarisierung der Gesellschaft, insbesondere ab 1898 die Flottenrüstung. Der Nationalismus der Kaiserzeit machte vor den Kinderzimmern nicht Halt. Die geschlechtsspezifischen Rollenbilder des 19. Jahrhunderts werden im Spielzeug ebenfalls sichtbar. Bei aller Faszination, die die historischen Spielzeuge auslösen, sie zeigen nur einen Teil der Wirklichkeit – die bürgerliche. Die Wirklichkeit der Arbeiterfamilien erschließt sich erst, wenn man genauer auf die Umstände schaut, unter denen Spielzeuge hergestellt wurden.
Christian Arpasi und Andreas Bödecker
Bild linke Seite: Spielende Kinder vor der Zeche Deutscher Kaiser in Hamborn, Ruhrgebiet, Ansichtskarte von 1910 (Sammlung BPM)
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