Mit der Eisenbahn kam Deutschlands späte Industrialisierung in Fahrt In Deutschland war der Eisenbahnbau der wichtigste Motor der Industrialisierung. Wie bei vielen anderen Innovationen der Zeit hatte auch hier England einen großen Vorsprung gegenüber dem europäischen Kontinent. Die englischen Politiker wussten um die wirtschaftliche Bedeutung dieses Vorsprunges und hüteten die technischen Einzelheiten des Dampfmaschinen- und Lokomotivbaus als Staatsgeheimnisse. Durch Industriespionage, Abwerbung englischer Experten oder illegale Ausfuhr und Kopie englischer Maschinen kam das technische Wissen dennoch langsam nach Deutschland. 1835 fuhr in Deutschland die erste dampfbetriebene Eisenbahn auf der sechs Kilometer langen Strecke von Nürnberg nach Fürth. Drei Jahre später wurde die Eisenbahn von Berlin nach Potsdam eröffnet und bis 1846 weiter nach Magdeburg ausgebaut. Die erste Fernbahnstrecke war die 1839 eröffnete 120 Kilometer lange Eisenbahnstrecke von Dresden nach Leipzig. Auf ihr fuhr auch die erste in Deutschland – nach englischem Vorbild – gebaute Dampflokomotive, die „Saxonia“. Die erste eigenständig in Deutschland entwickelte Lokomotive war 1844 die Lokomotive „Beuth“ aus der Werkstatt von August Borsig in der Berliner Chausseestraße. August Borsig gelang es innerhalb eines Jahrzehnts nicht nur, den technischen Vorsprung der Engländer von über 20 Jahren einzuholen, sondern selbst eine marktbeherrschende Stellung im Lokomotivbau zu
erringen. Die letzten englischen Lokomotiven wurden 1853 an preußische Eisenbahnen geliefert. Danach kamen sämtliche Dampflokomotiven aus heimischer Produktion. 1854 bestellten die 27 preußischen Eisenbahngesellschaften 69 Lokomotiven. Von denen stammten 67 von Borsig und zwei von der ebenfalls in Berlin ansässigen Friedrich Wöhlert’schen Maschinenbau-Anstalt. Nun hatte Borsigs Unternehmen einen solch guten Ruf erlangt, dass trotz härtester englischer, amerikanischer und belgischer Konkurrenz Aufträge aus dem Ausland eingingen. Zur gleichen Zeit wuchs das deutsche Eisenbahnnetz rapide. Innerhalb von 15 Jahren nach Eröffnung der ersten Eisenbahnstrecke waren in Deutschland über 5.800 Kilometer Eisenbahnlinien in Betrieb. Um 1850 betraf ein Viertel aller Investitionen in Deutschland die Eisenbahnen, von der 574 Meter langen Göltzschtalbrücke im Vogtland bis zu den mechanischen Bleistiftanspitzern für die Bahnbüros. Die Eisenbahn machte die Menschen mobil. Zwischen Augsburg und Nürnberg beispielsweise beförderte die Postkutsche im Jahr 1839 nur 309 Fahrgäste. Zwei Jahre später fuhren auf der neuen Eisenbahnstrecke zwischen den beiden Städten 31.622 Fahrgäste mit dem Zug. Eine Reise mit der Postkutsche von Berlin nach Köln hatte fünfeinhalb Tage gedauert. 1851 konnte man mit dem ersten durchgehenden Schnellzug in 17 Stunden von Berlin nach Köln reisen.
Bild linke Seite: Die sächsische Dampflok XV 182 mit dem D-Zug Leipzig–Berlin, 1904 bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof Altenburg, rechts davon eine Spiritus-Dampflokomotive von Märklin (Spur 1) mit einem vierachsigen Abteilwagen und einem Speisewagen, alle drei um 1905 (Foto: Eisenbahnstiftung Joachim Schmidt; Märklin-Zug: Sammlung BPM)
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