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Die ersten Asyle für Obdachlose in Berlin

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Bevor sich die städtische Armendirektion von Berlin endlich dem massenhaften Phänomen der Obdachlosigkeit annahm, engagierte sich auf diesem Gebiet der Fürsorge allerdings eine private Initiative bürgerlicher Kreise. Mit der Gründung des »Berliner Asyl-Vereins für Obdachlose« wurde bereits im Herbst des Jahres 1868 die Notwendigkeit zur Schaffung von Unterkünften für obdachlose Menschen in der Stadt explizit benannt und von Vereinsseite mit aller Konsequenz angegangen. Zu den prominenten Mitgliedern des Vereins gehörten zahlreiche Vertreter des Berliner Bürgertums wie der Bankier Gustav Thölde (1819–1910), der bis zu seinem Tod den Vorsitz des Vereins inne hatte, der Kaufmann und sozialdemokratische Politiker Paul Singer (1844–1911) und auch der Arzt und Professor für Medizin an der Berliner Universität Rudolf Virchow (1821–1902).

In einem ersten Aufruf »An die Einwohner Berlins!« wurde die Intention zur Gründung des Vereins formuliert: »Viel Elend und viel Noth bedarf der Hilfe in unserer großen Stadt. Aber kaum giebt es ein schreienderes Uebel, als das, zu dessen Heilung wir unsere Mitbürger hierdurch auffordern. Wir meinen das Elend der Unglücklichen, die nicht wissen, wo sie Nachts ihr Haupt hinlegen – wir meinen die Obdachlosen, für welche bis jetzt nur Polizeigewahrsam und Arbeitshaus existieren – und unter den Obdachlosen meinen wir zunächst die Frauen und Mädchen. Mag, was darunter verbrecherisch und lasterhaft, dahin kommen, wohin Verbrechen und Laster gehören; mag aber die unverschuldete Noth davor bewahrt werden, mit der Gemeinschaft, in die man sie bringt, dem Verbrechen und Laster zu verfallen.«1 Demnach sei es das zentrale Anliegen des Vereins, von nun an anständige Unterkünfte für obdachlose Menschen einzurichten und die Betroffenen von hier aus möglichst rasch in Arbeit zu vermitteln, damit sie wieder selbstständig für ihr Auskommen sorgen könnten. Im Gegensatz zu den einzigen bestehenden kommunalen Einrichtungen in der Stadt wie dem Polizeigewahrsam oder dem Arbeitshaus, wo die Obdachlosen von Kriminalisierung bedroht waren und Angaben zu ihrer Person machen mussten, betonte man in der Arbeit des »Asyl-Vereins für Obdachlose« von

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1 Zit. nach: William Spindler, Das Asyl für Obdachlose zu Berlin. Ein Vortrag gehalten am 29. October 1869, Berlin 1870, S. 7.

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Beginn an die Anonymität der Aufnahme suchenden Personen.2 Ihnen sollte eine Unterkunft für die Nacht und bedingungslose Hilfe angeboten werden, ohne sie per se wegen ihrer Obdachlosigkeit zu kriminalisieren. Daher waren polizeiliche Kontrollen in den Einrichtungen des Vereins auch von Beginn an ausdrücklich untersagt. Daraufhin konnten schon im Januar 1869 die ersten provisorischen Räume für obdachlose Frauen, Mädchen und Kleinkinder in einem gemieteten Gebäude an der Wilhelm-, Ecke Dorotheenstraße unweit der Spree eröffnet werden.3 Bis zu fünf Nächte pro Monat durften Frauen und Kinder hier in der Regel um Aufnahme ersuchen.4 Allein im ersten Jahr der Vereinstätigkeit konnten so schon weit über 12.000 Personen untergebracht werden, darunter mehr als 2.000 Kinder.5 Bereits ein Jahr später wurde ein neues Asyl für obdachlose Frauen in einem eigens dafür errichteten Gebäude in der Füsilierstraße nahe des Alexanderplatzes eröffnet.6 Die hierdurch frei gewordenen Räume im vorherigen Provisorium wurden nun für die Aufnahme obdachloser Männer bereit gestellt, bis im Jahr 1873 von Vereinsseite auch ein eigenes Männerasyl in der Büschingstraße unweit des Friedrichshains eröffnet werden konnte.7 In beiden Einrichtungen wurden den Obdachlosen neben der Bereitstellung eines Schlafplatzes morgens und abends einfache Mahlzeiten gereicht. Darüber hinaus waren eigene Bade- und Waschgelegenheiten zur Körperpflege eingerich-

2 Vgl. dazu: Ebd., S. 12-19. 3 Ausführlich zur frühen Geschichte und Organisation der Vereinstätigkeit sowie der Einrichtung der ersten Unterkünfte vgl.: Friedrich Horn, Das Asyl für Obdachlose in Berlin, in: Der

Arbeiterfreund. Zeitschrift des Centralvereins in Preußen für das Wohl der arbeitenden Klassen 7 (1869), S. 241-264; Hans Wohlgemuth, Das Asyl für Obdachlose in Berlin, in: Sonntags-

Blatt für Jedermann aus dem Volke, Nr. 28, 11. Juli 1869, S. 220ff.; H. S., Das Asyl für obdachlose

Frauen und Mädchen in Berlin, in: Illustrirte Zeitung, Nr. 1341, 13. März 1869, S. 185f.; Berliner

Asyl-Verein für Obdachlose (Hg.), Der Berliner Asyl-Verein für Obdachlose, Berlin 1882, hier bes. S. 5-26; Berliner Asyl-Verein für Obdachlose (Hg.), Festschrift des Berliner Asylvereins für

Obdachlose aus Anlass seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens, Berlin 1893. 4 Spindler, Das Asyl für Obdachlose zu Berlin, S. 18. 5 Ebd., S. 25. 6 Zur Einrichtung des neuen Asyls für obdachlose Frauen und Mädchen vgl.: Das neue Asyl für obdachlose Frauen und Mädchen in Berlin, Füsilier-Straße, in: Baugewerks-Zeitung. Zeitschrift für praktisches Bauwesen, Nr. 52 (1870), S. 421f. Vgl. auch: Deutsches Bauhandbuch, Bd. 2:

Baukunde des Architekten, Zweiter Halbband, Berlin 1884, S. 461f. Eher volkstümliche Darstellungen: Max Ring, Ein Abend im Asyl für Obdachlose, in: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt, Nr. 4 (1870), S. 54-56. Lucius Mummius, Ein Besuch im berliner Asyl für Obdachlose, in:

Illustrirte Volkszeitung. Zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie, Nr. 6 (1874), S. 138f.;

E. Dely, Im Frauen-Asyl für Obdachlose in Berlin, in: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte

Frauenleben unserer Zeit 2, Heft 6 (1895), S. 353-356. 7 Zur Einrichtung des Asyls für obdachlose Männer vgl.: Gustav Schubert, Berliner Bilder. Das

Asyl für Obdachlose, in: Illustrirte Zeitung, Nr. 2177, 21. März 1885, S. 279 u. S. 281; Hermann

Heiberg, Asyl für Obdachlose in Berlin, in: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt, Nr. 49 (1887), S. 813 u. S. 820.

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tet worden. Ansonsten war die Reinigung der Kleidung und Wäsche hier ebenso gewährleistet wie eine medizinische Grundversorgung und eventuelle Vermittlung einer Arbeitsstelle.

Nach den gravierenden Problemen auf dem Berliner Wohnungsmarkt und den teils dramatischen Folgen in den frühen 1870er Jahren änderte sich schließlich auch die städtische Politik auf diesem Gebiet der Fürsorge. So wurde im Jahr 1877 in der Friedenstraße am Rande des Friedrichshains ein erstes städtisches »Asyl für Obdachlose« eingerichtet.8 Allerdings handelte es sich hierbei nur um vier einfache Holzbaracken, die sich bereits vorher auf dem Grundstück befunden hatten und nun provisorisch als Unterkünfte für alleinstehende Obdachlose umgenutzt wurden. Ursprünglich waren diese als Teil einer nebenan liegenden Krankenanstalt in der Palisadenstraße wohl während einer der letzten großen Pockenepidemien in Deutschland Anfang der 1870er Jahre kurzfristig zur notdürftigen Unterbringung von Pockenkranken aufgestellt worden.9 Allein in Berlin verstarben damals weit mehr als 6.000 Menschen an den Folgen dieser schweren Infektionskrankheit; in ganz Deutschland forderten die Pocken zwischen 1870 und 1873 insgesamt sogar rund 180.000 Opfer.10 Nach dem Ende dieser verheerenden Epidemie und der Eröffnung des ersten eigenen städtischen Krankenhauses im Friedrichshain im Jahr 1874 wurden diese Baracken wohl nicht mehr als Krankensäle genutzt und erfuhren einige Jahre später eine Umnutzung zur Unterbringung von alleinstehenden Obdachlosen für die Nacht.

Nach der Errichtung des neuen Arbeitshauses 1879 am Rummelsburger See diente das Grundstück zwischen Palisaden- und Friedenstraße auch noch zur Aufnahme von obdachlosen Familien.11 Während diese aber anscheinend in einem festen Gebäude der alten Pockenanstalt in der Palisadenstraße untergebracht waren, fanden alleinstehende Obdachlose weiterhin Aufnahme in den zur Friedenstraße gelegenen Holzbaracken.12 Allerdings zeichnete sich früh ab, dass gerade die Unterkünfte für

8 Vgl. dazu: Virchow (Hg.), Die Anstalten der Stadt Berlin, S. 207. 9 Vgl. dazu: Schreiben »An das Königliche Polizei-Präsidium, III. (Bau)Abtheilung« vom 8. Mai 1871, in: LAB A Rep. 010-02, Nr. 4891; Virchow (Hg.), Die Anstalten der Stadt Berlin, S. 103f. 10 Vgl. dazu: Kaiserliches Gesundheitsamt (Hg.), Beiträge zur Beurtheilung des Nutzens der

Pockenschutzimpfung nebst Mittheilungen über Maßregeln zur Beschaffung untadeliger

Tierlymphe, Berlin 1888, S. 170; Bundesgesundheitsamt (Hg.), Gutachten des Bundesgesundheitsamtes über die Durchführung des Impfgesetzes unter Berücksichtigung der bisherigen

Erfahrungen und neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse (= Abhandlungen aus dem Bundesgesundheitsamt, Heft 2), Berlin 1959, S. 2. 11 Vgl. dazu: Virchow (Hg.), Die Anstalten der Stadt Berlin, S. 79 u. S. 207. 12 Vgl. dazu: Ebd.; Berichterstattung über die Vorlage, betreffend die Unterbringung obdachloser

Familien in dem Krankenhause Pallisadenstraße 59/60, 13. Februar 1879, in: LAB A Rep. 000-0201, Nr. 1388.

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alleinstehende Obdachlose in keiner Weise den baulichen und sozialen Anforderungen an eine solche Einrichtung entsprachen. Zudem äußerte sich schon nach kurzer Zeit Protest gegen die Anlage eines Obdachs in dieser Gegend. Einige Anwohner forderten zum Beispiel durch die Eingabe einer Petition bei der Berliner Stadtverwaltung entschieden die Verlegung »nach einem (…) entlegeneren Stadttheile«.13 Da sich viele Obdachlose bereits vor der Öffnung des Asyls in den Eingängen der umliegenden Häuser aufhalten würden und daher des Öfteren polizeiliche Hilfe hinzugezogen werden müsse, sei es dringend notwendig, diese Einrichtung in eine andere Gegend zu verlegen, so die Argumentation.14 Darüber hinaus war der Magistrat im Sommer 1883 vonseiten des Polizeipräsidiums dringend ersucht worden, wegen der hohen Feuergefahr und anderer baulicher Mängel für eine baldige Beseitigung des Asyls an dieser Stelle Sorge zu tragen.15 Offenbar waren ohne Genehmigung einige Feuerstellen zu Wasch- und Kochzwecken sowie ein Ofen zur Desinfektion von Kleidungsstücken aufgestellt worden, die nicht den Baubestimmungen entsprachen.16

Insbesondere die katastrophalen Zustände in den provisorischen Holzbaracken dürften aber Anlass zur Klage gegeben haben, wie ein zeitgenössischer Bericht nahelegt. Beim Betreten einer dieser Baracken beschrieb der Autor seine ersten Eindrücke wie folgt: »War’s Wirklichkeit, war’s Traum, das sich den Augen bot? Ich stand dem grausigsten Elend gegenüber, das aus jedem Winkel der Baracke grinsend hervorschaute. (…) Wie ich die Anzahl von Menschen sah, die hier im Asyl eng aneinandergepfercht sich am Boden wälzten oder stehend den Morgen erwarteten, (…) wußte [ich] nicht, wohin ich mich wenden sollte.«17 Die Eindrücke, die er hier gewann, weckten bei ihm die Erinnerung an die Darstellung eines Schlachtfelds mit zahlreichen Toten und Verletzten, so die Fortsetzung seiner beklemmenden Schilderung. Schockiert von seinen Erlebnissen beschloss er, hier nicht wie geplant die Nacht zu verbringen. Beim Verlassen der Unterkunft schätzte er die Zahl der Obdachlosen auf etwa 200 Personen, die sich in je einer der vier Baracken aufhielten. Ähnlich schockiert äußerte sich ein anderer Autor über die untragbaren Verhältnisse: »Ich habe in der Nacht das städtische Asyl, das in der Friedenstraße liegt und

13 Vgl. dazu: Schreiben »An die hochedlen Stadtverordneten hiesiger Königl. Haupt- und Residenzstadt« vom 8. Januar 1881, in: LAB A Rep. 000-02-01, Nr. 1388. 14 Ebd. 15 Schreiben »An den Magistrat hiesiger Königlicher Haupt- und Residenzstadt« vom 27. August 1883, in: LAB A Rep. 010-02, Nr. 4891. 16 Schreiben »An den Magistrat hiesiger Königlicher Haupt- und Residenzstadt« vom 6. September 1883, in: LAB A Rep. 010-02, Nr. 4891. 17 Hans R. Fischer, Unter den Armen und Elenden Berlins. Streifzüge durch die Tiefen der Weltstadt, Berlin 1887, S. 11f.

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