Psychiatrie in der DDR II (Leseprobe)

Mit dem Erscheinen des ersten Bands zur Geschichte der Psychiatrie in der DDR wurde ein wegweisender Schritt in Richtung einer diffe­ renzierten Auseinandersetzung mit diesem Thema gegangen. Die Bei­ träge des zweiten Bands nehmen nun weitere Teilbereiche in den Blick und greifen bisher kaum beachtete und neue Forschungsergeb-

Psychiatrie in der DDR II

nisse auf.

Ekkehardt Kumbier (Hrsg.)

Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte

Das Wirken einzelner Protagonisten wie Helmut Rennert, Hans Szew­ czyk oder Dietfried Müller-Hegemann sind ebenso Themen wie die Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Ansätze, die Fächer­ diffe­renzierung und Spezialisierung oder die Geschichte einzelner psy-

Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte

chiatrischer Einrichtungen. Auch die Rolle der Psychiatrie im gesellschaftspolitischen Kontext wird untersucht, wobei die interdisziplinäre

ISSN 1611-8456 ISBN 978-3-95410-263-1

€ 32,–

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Autorenschaft vielfältige Denk- und Forschungsansätze ermöglicht.

Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte, Bd. 27 Herausgegeben von Kristina Hßbener, Volker Hess und Thomas Beddies

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Ekkehardt Kumbier (Hrsg.)

Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte

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Das Buchprojekt wurde von der Stiftung für Seelische Gesundheit gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2020 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Redaktion der Reihe: Dr. Kristina Hübener Lektorat: Matthias Schütt, Schürensöhlen Umschlaggestaltung: hawemannundmosch, Berlin Satz: typegerecht, Berlin Schrift: Walbaum 9,5/11,6 Pt Druck und Bindung: Finidr, Český Těšín

ISBN 978-3-95410-263-1 ISSN 1611-8456 www.bebra-wissenschaft.de

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Inhaltsverzeichnis

Ekkehardt Kumbier Vorbemerkungen 9

I. Gesellschaftlich-politischer Kontext Thomas R. Müller, Maike Rotzoll, Christof Beyer „Flucht in die Wolken“. DDR-Psychiatrie in der Kritik

21

Hartmut Bettin Die Aufklärungspflicht in der Psychiatrie zwischen Selbstbestimmungsrecht und Fürsorgepflicht. Ethische Positionen in DDR und BRD in den 1960er- bis 1980er-Jahren

37

Udo Grashoff Suizidprävention per Anruf: Staatliche Telefone des Vertrauens und kirchliche Telefonseelsorge in der DDR

53

Rainer Erices Der Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion und die Reaktion der DDR

73

Steffen Dörre Wissenschaft und Ideologie. Der Pawlowismus in der frühen DDR

95

Holger Steinberg Die Karriere des Psychiaters Dietfried Müller-Hegemann als Beispiel eines politisch gewollten Auf- und Abstiegs in der DDR

119

Ekkehardt Kumbier Schwieriger Neuanfang: Die Gründung der Fachgesellschaften für Psychiatrie und Neurologie in der DDR zwischen Autonomiebestrebung und staatlicher Ideologie

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II. Fächerdifferenzierung und Spezialisierung Lara Rzesnitzek „Vorkämpferin fürs Kollektiv“ oder „Zersetzerin der Seele“?

Zur klinischen Psychologie in der DDR

161

Stefan Orlob Hans Szewczyk – Spiritus Rector der Forensischen Psychiatrie in der DDR

183

Alexa Geisthövel Lokale Praxis einer „Leitinstitution“: Die Gerichtspsychiatrische Abteilung der Charité-Nervenklinik 1960 bis 1980

197

Jan Armbruster Der Status der Psychiatrie im Zuge der Fächerdifferenzierung von Neurologie und Psychiatrie an den Hochschulen der DDR am Beispiel der Universität Greifswald

211

III. Diagnostische und therapeutische Ansätze

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Markus Wahl „Ich weiß, daß die Kur sehr hart wird…“ Die Anwendung der Aversionstherapie bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit im Bezirkskrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie in Arnsdorf in der DDR, 1966–1981

229

Viola Balz „Nur eine Cognacbohne“. Alkohol im Spiegel der Gesundheitsfilme des Deutschen Hygienemuseums Dresden

243

Volker Hess Klinische Psychopharmakaforschung im Auftrag westlicher Pharmaindustrie in der DDR, 1960–1990

263

Ekkehardt Kumbier Dialyseverfahren in der Therapie der Schizophrenien – Ein Beitrag zur Geschichte der biologisch orientierten Forschungsrichtung in der Psychiatrie

277

Ekkehardt Kumbier Alte Idee – neues Gewand? Helmut Rennert und die Universalgenese der endogenen Psychosen

293

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IV. Entwicklungen in einzelnen psychiatrischen Kliniken Franz-Werner Kersting Visual History: Die DDR-Anstaltspsychiatrie in Filmdokumenten

315

Martin Kiechle Gegenwärtige Vergangenheit. Die Universitätsnervenklinik in Jena nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs

337

Maren von Appen „so daß wir allmählich den Charakter der Anstalt abschütteln können und zu einer Klinik mit aktiver Behandlung werden“ – Die Umgestaltung der Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg bei Schwerin im Kontext der DDR-Reformpsychiatrie in den 1960er-Jahren

355

Kathleen Haack „Im Grunde gibt es ... keine Chance zu Veränderungen zu kommen“ Zur Lage der Anstaltspsychiatrie in der DDR in den 1980er-Jahren – Das Beispiel Ueckermünde

377

Falk Bersch Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen im Land Mecklenburg und in den DDR-Nordbezirken 1945 bis 1989/90

393

V. Anhang Abkürzungsverzeichnis 418 Abbildungsnachweis 422 Personenregister 425 Autorenverzeichnis 430

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Ekkehardt Kumbier Vorbemerkungen

Mit dem Erscheinen des ersten Bandes zur Geschichte der Psychiatrie in der DDR1 war ein wichtiger Schritt in Richtung einer differenzierten Auseinandersetzung mit diesem Thema gegangen worden. Das hatten in der Folge u. a. die zahlreichen Rezensionen mit überwiegend positivem Echo gezeigt.2 Der Sammelband mit seinen zum Teil sehr unterschiedlichen Beiträgen wurde als eine „umfangreiche erste Bestandsaufnahme aktueller Forschungsansätze“ und zugleich als „Basis für weiterführende Diskussionen und Untersuchungen unter sozial-, ideen- und politikhistorischen ­Aspekten“ verstanden.3 Damit war deutlich geworden, dass die Erarbeitung eines zweiten Bandes erforderlich werden würde. In diesem Wissen war ein Katalog mit Themen formuliert worden, die vertieft oder überhaupt erst aufgearbeitet werden müssen.4 Vereinzelt war in Rezensionen auch angeregt worden, den Fokus zukünftig auf besonders hervorstechende Leistungen und Personen der Psychiatrie in der DDR zu richten, die trotz widriger Bedingungen zum Wohle ihrer Patienten gewirkt hätten.5 Tatsächlich sind auch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution viele Fragen zur Rolle der Psychiatrie als Institution im Gesundheitswesen der DDR und der in ihr Tätigen noch unbeantwortet geblieben. Deshalb wird derzeit versucht, innerhalb eines Forschungsprojekts einige Antworten auf diese offenen Fragen zu finden. Das vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBF) finanzierte Verbundprojekt „Seelenarbeit im Sozialismus“ (Förderkennzeichen 01UJ1908CY) zielt auf die wissenschaftliche Aufarbeitung der für die Psychologie, die Psychiatrie und die Psychotherapie relevanten Strukturen des DDR-Gesundheits- und Forschungswesens. Mitarbeiter verschiedener Professionen der Universitäten in Erlangen-Nürn-

1 Ekkehardt Kumbier/Holger Steinberg (Hrsg.), Psychiatrie in der DDR. Beiträge zur Geschichte, Berlin 2018.

2 Vgl. u. a. Norbert Jachertz, Psychiatrie in der DDR. Mutige Ansätze und knappe Ressourcen, in: Deutsches Ärzteblatt 115 (2018), S. A1014; Detlef Schläfke, Psychiatrie in der DDR, in: Ärzteblatt Mecklenburg-Vorpommern 29 (2019), S. 424–426; Uta Kanis-Seyfried, Psychiatrie in der DDR. Beiträge zur Geschichte, in: Sudhoffs Archiv 103 (2019), S. 243–246; Frank Pillmann, Gründliche historische Aufarbeitung, in: Der Nervenarzt 89 (2018), S. 765; Markus Weih, Gründliche historische Aufarbeitung, in: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie 86 (2018), S. 267; Tobias Wustmann, Psychiatrie in der DDR, in Psychiatrische Praxis 45 (2018), S. 328–329.

3 Vgl. Kanis-Seyfried, Psychiatrie in der DDR, hier S. 243.

4 Vgl. Ekkehardt Kumbier/Holger Steinberg, Einleitung, in: Ekkehardt Kumbier/Holger Steinberg (Hrsg.), Psychiatrie in der DDR. Beiträge zur Geschichte, Berlin 2018, S. 11–22.

5 Vgl. Schläfke, Psychiatrie in der DDR.

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berg, Jena, Greifswald und Rostock sowie der Fachhochschule Dortmund untersuchen die Rolle der Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie als Teil des Gesundheitssystems in der SBZ und DDR für den Zeitraum von 1945 bis 1990. Professionelle Strukturen im akademischen und klinischen Bereich, inhaltliche Entwicklungen, Verbindungen zwischen den genannten Fächern, aber auch die Frage nach deren politischer Instrumentalisierung stehen dabei im Vordergrund. Ergebnisse und Forschungsansätze, die bislang sehr unterschiedlich behandelt wurden und ohne einen Bezug zur vermeintlichen Klammer des Gesundheitssystems und zu den Strukturen des SED-Staates stehen, sollen neu zusammengeführt und erschlossen werden. Dementsprechend zielt das zugehörige Teilprojekt „Psychiatrie in der DDR zwischen Hilfe, Verwahrung und Missbrauch?“ (Förderkennzeichen 01UJ1908CY) auf die Aufarbeitung der Psychiatrie und deren Rolle im DDR-Gesundheitswesen sowie der dafür relevanten Strukturen. Innerhalb dieser Strukturen werden besonders Abläufe, gesetzliche Rahmenbedingungen, Akteure und deren Interaktionen vor dem Hintergrund politischideologischer und fachlicher Diskurse und Vorgaben betrachtet. Durch Netzwerkanalysen wird es möglich sein, Beziehungsstrukturen zu erkennen und den Einfluss sowohl Einzelner als auch von Gruppen innerhalb der Psychiatrie sowie außerhalb auf politisch-administrativer Ebene zu überprüfen. Dadurch sollen Handlungsspielräume herausgearbeitet und die für die Durchsetzung der Gesundheits- und Wissenschaftspolitik verantwortlichen SED- sowie institutionellen Leitungs- und Machtstrukturen aufgezeigt werden. Die Möglichkeiten und Grenzen ihres Handlungsspielraums dürften die Verantwortlichen in den psychiatrischen Institutionen gekannt haben, den sie innerhalb des staatlichen Gesundheitswesens hatten, in das sie als Vertreter der sozialistischen Gesellschaft eingebunden waren.6 Das zeigen exemplarisch die Reformansätze in den frühen 1960er-Jahren, die von in der Psychiatrie Tätigen angestoßen worden waren mit dem Ziel, die Versorgung psychisch kranker und behinderter Menschen zu verbessern.7 Im Wissen um die Grenzen des Machbaren war ihnen zugleich bewusst, dass die gesellschaftliche Verantwortung für die dafür notwendigen Veränderungen in die psychiatrischen Einrichtungen verschoben wurde und somit auch die politische Unterstützung ausblieb. Doch wissen wir bis heute viel zu wenig über die trotzdem immer vorhandenen Handlungsspielräume und über diejenigen, die sie nutzten, wie auch über die Wege hin zum Machbaren. Denn grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass jeder Mensch handeln und einen Spielraum für sein Handeln nutzen kann. Ebenso kann jeder innerhalb dieses Spielraums zwischen verschie-

6 Vgl. auch Ekkehardt Kumbier/Kathleen Haack, Die Therapeutische Gemeinschaft und das Arzt-Schwester-Patient-Verhältnis in der Psychiatrie zwischen therapeutischem Anspruch und sozialistischer Realität, in: Markus Wahl (Hrsg.), Volkseigene Gesundheit: Reflexionen zur Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR, Stuttgart 2020, S. 111–134.

7 Vgl. Ekkehardt Kumbier/Kathleen Haack/Holger Steinberg, 50 Jahre Rodewischer Thesen – Zu den Anfängen sozialpsychiatrischer Reformen in der DDR, in: Psychiatrische Praxis 40 (2013), S. 313–320.

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denen Handlungsmöglichkeiten wählen.8 Zweifelsohne waren die Handlungsspielräume9 in der DDR aufgrund der alle gesellschaftlichen und auch privaten Bereiche umfassenden politischen Einflussnahme durch SED und Staat oft reglementiert. Das führte zu einer mehr oder weniger begrenzten Anpassung des Einzelnen. So waren auch die Akteure innerhalb der Psychiatrie nicht nur in der Rolle der passiv Betroffenen, sondern konnten trotzdem auch als aktiv Handelnde die Verhältnisse innerhalb einer „partizipatorischen Diktatur“10 mitgestalten, zumindest auf lokaler Ebene. Jenseits von Vorverurteilungen und Schuldzuweisungen muss es deshalb im Rahmen wissenschaftlicher Studien gelingen können, diese individuellen Handlungsspielräume näher auszuloten, ohne sich aber nur auf besonders hervorstechende Einzelfälle zu konzentrieren. Diese zu kennen und einzuordnen ist sicher wichtig, doch sie allein bzw. einseitig zu betrachten birgt die Gefahr in sich, ein verzerrtes Bild vom Alltag in psychiatrischen Institutionen und vom Gesundheitswesen in der DDR zu erhalten. Denn trotz des zeitlichen Abstands von mittlerweile über 30 Jahren nach dem politischen Umbruch ist auch die Diskussion in der DDR-Forschung über Widerstand, Aufbegehren und Originalität einerseits und Anpassung, Mitläufertum und Mittäterschaft andererseits in totalitären Strukturen immer noch relevant und nicht abgeschlossen. Zugleich ist dieser zeitliche Abstand notwendig und ermöglicht eine unvoreingenommene Forschung.

Mit den Teilbereichen Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie soll sich auf einen besonders relevanten Forschungsgegenstand zum Verständnis des Funktionierens und Nachwirkens diktatorischer Strukturen konzentriert werden, waren die Beteiligten doch unausweichlich selbst Teil des Systems, zugleich aber als Behandelnde von dessen Auswirkungen genötigt, sich mit diesen Mechanismen auseinanderzusetzen. Wenig bekannt ist so zum Beispiel über „Nischen“, welche therapeutische Akteure aber auch Patienten innerhalb dieser drei Bereiche besetzen konnten und wie sich ihre doppelte und oft ambivalente politische Funktion innerhalb der Diktatur gestaltete.11 Da die Disziplinen Psychiatrie und Psychotherapie besonders eng mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen verknüpft waren und sind,

8 Vgl. Wolfram Kurz, Sinnerfahrung im Zwischenfeld von Aktivität und Passivität. Überlegungen zum Phänomen des „Zwischen“, in: Hermes Andreas Kick/Jochen Taupitz (Hrsg.), Handeln und Unterlassen. Ethik und Recht in den Grenzbereichen von Medizin und Psychologie, Berlin/ Heidelberg 2003, S. 91–97.

9 Vgl. Francesca Weil, Kleine Handlungsspielräume, in: Deutsches Ärzteblatt 107 (2010), S. A489–A491.

10 Vgl. Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2011, insbesondere S. 28ff. Mit dem Begriff der „partizipatorischen Diktatur“ will die Historikerin Mary Fulbrook verdeutlichen, dass die Menschen in der DDR zwar durch das sich ständig verändernde soziale und politische System eingeschränkt und beeinflusst wurden, es aber oft gleichzeitig ertrugen und auch aktiv mitgestalteten.

11 Vgl. http://www.seelenarbeit-sozialismus.de/seelenarbeit-sozialismus/projekt/ziele (letzter Zugriff am 20. Juli 2020) und Susanne Guski-Leinwand/Bernhard Strauß/Rainer Erices/Hans-J. Grabe/Ekkehardt Kumbier, „Seelenarbeit im Sozialismus“ – Einblicke in ein Verbundprojekt, in: Gerbergasse 18, 4 (2020), im Druck.

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gilt das insbesondere hinsichtlich der Grundwerte einer Gesellschaft und dem ihr zugrunde liegenden Menschenbild.12 In der sozialistischen Gesellschaft wirkte sich dieser Zusammenhang auch auf die Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Therapeut und Patient aus, im medizinischen Kontext vor allem auf die Beziehung zwischen Arzt und Patient bzw. Schwester und Patient. Der Mensch als sozial geprägtes und sozial handelndes Wesen rückte seit Ende der 1960er-Jahre zunehmend in den Fokus medizinischer und somit auch psychiatrischer Anschauungen.13 Das ermöglichte erstmals eine Kritik des einseitigen medizinisch-naturwissenschaftlichen Krankheits- und Therapieverständnisses, bei dem soziale Aspekte im Kontext psychischer Erkrankungen bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend ausgeklammert worden waren; eine Sichtweise, die zudem mit dem marxistischen Menschenbild nicht vereinbar war.14 Interpersonelle Beziehungen als wesentlicher Bestandteil psychiatrisch-therapeutischen Handelns rückten verstärkt in den Fokus. Ein verändertes und tendenziell gleichberechtigtes Arzt-Schwester-Patienten-Verhältnis, welches dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung tragen sollte, wurde in Aussicht gestellt.15 Hierfür sollte das Konstrukt eines idealisierten sozialistischen Menschenbildes die Grundlage bilden, das in der DDR in den 1950er-Jahren unter dem Schlagwort „neuer Mensch“ und seit den 1960ern als „allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit“ propagiert worden war. Es stellte eine wichtige Konstante bei der angestrebten Erziehung (Formung) staatstreuer Bürger dar und sollte alle Lebensbereiche umfassen. Auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus wurde auf eine uneingeschränkte Parteinahme für den Sozialismus gezielt.

Es rückten verstärkt Erziehungsaspekte in den Mittelpunkt, die das Individuum innerhalb der „sozialistischen Gemeinschaft“ als Teil des Kollektivs verorten sollte.16 Ziel war die normierte Identität des Einzelnen, die alle Gesellschaftsschichten, fußend auf dem Grundsatz der Gleichberechtigung aller Bürger in der sozialistischen Gesellschaft, einschloss. Das bedeutete aber auch, dass der Einzelne nicht primär als Individuum wahrgenommen wurde, sondern zuallererst als ein für die Gemeinschaft fühlendes und handelndes Wesen, das sich deren Interessen nicht nur unterzuordnen, sondern als seine eigenen anzusehen hatte. So hat kürzlich der Greifswalder Historiker Hartmut Bettin im Zusammenhang mit der Debatte zur Sterbehilfe in der DDR darauf hingewiesen, dass die Beziehung zwischen Arzt und ­Patient bzw. Schwester und Patient durch das sogenannte medizinische Betreuungsverhältnis und die damit verbundene ärztliche Betreuungspflicht geprägt war.17 In diesem stand der Patient weniger in einem partnerschaftlichen 12 Vgl. Paul Hoff, Autonomie und psychiatrische Krankheitsmodelle – Die historische und aktuelle Perspektive, in: Wulf Rössler/Paul Hoff (Hrsg.), Psychiatrie zwischen Autonomie und Zwang, Heidelberg 2005, S. 7–25.

13 Vgl. Helmut F. Späte/Achim Thom/Klaus Weise, Theorie, Geschichte und aktuelle Tendenzen in der Psychiatrie, Jena 1982.

14 Vgl. ebd.

15 Vgl. Kurt Winter, Soziologie für Mediziner, Berlin 1973, S. 130–145.

16 Vgl. Stefan Busse, Psychologie in der DDR, Basel 2004.

17 Vgl. Hartmut Bettin, Bedeutsam, eigenständig, relevant? Eine vergleichende Analyse der Debatten zur Sterbehilfe in der DDR, in: Medizinhistorisches Journal 54 (2019), S. 31–69. Zu

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Verhältnis, sondern wurde vielmehr als Empfänger medizinischer Leistungen im Rahmen einer paternalistisch wohlmeinenden staatlichen Versorgung gesehen, die ihn zur Mitwirkung verpflichtete18, seinen individuellen Handlungsspielraum aber einschränkte. Dem Arzt kam im staat­lichen Gesundheitswesen der DDR neben der eigentlichen Behandlung auch die Aufgabe zu, den Patienten im Sinne der Vor- und Nachsorge, Rehabilitation usw. zu beraten und letztlich im Sinne der sozialistischen Gemeinschaft zu überzeugen. Inwieweit das für die therapeutische Beziehung innerhalb der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung gilt, muss noch näher geprüft werden. Doch scheint es auch hier so zu sein, dass zwischen dem Anspruch auf gleichberechtigte Partnerschaft einerseits und der tatsächlichen individuellen Lebenswirklichkeit andererseits wie so häufig in der DDR eine große Diskrepanz bestand.19 Die besondere Rolle der Psychiatrie innerhalb der Medizin ergibt sich aber auch dadurch, dass sie seit ihrer Etablierung als medizinische Fach­disziplin immer wieder als verlängerter Arm staatlich motivierter Ordnungsinteressen fungierte. Das führte wiederholt zum Missbrauch der Psychiatrie; am schwerwiegendsten während der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch ab den 1960er-Jahren in der Sowjetunion, wo systematisch politische Dissidenten pathologisiert worden waren. Beinahe folgerichtig rückte nach 1989 die Frage nach der Funktionalisierbarkeit der Psychiatrie als Institu­tion und Wissenschaft in der als moderne (Fürsorge)Diktatur20 und „durchherrschte“ Gesellschaft21 etikettierten DDR in den Fokus der Öffentlichkeit und zunehmend auch den der Forschung. Die Doppelfunktion der Psychiatrie zwischen Heilen, der Sicherung sozialer Kompetenzen einschließlich der Vermeidung von Ausgrenzungen einerseits und andererseits dem Schutz der Gesellschaft in Form eines vorbeugenden Gesundheits- und Gefährlichkeitsmanagements, der nicht selten mit erheblichen Eingriffen in die Freiheitsrechte von Patienten verbunden war (und ist), spielt deshalb nicht nur in der historischen Forschung weiterhin eine große Rolle. Wenn auch die These des generellen politischen Missbrauchs der Psychiatrie in der DDR bereits in den 1990er-Jahren von Sonja Süß widerlegt werden konnte22,

den rechtlichen Aspekten vgl. insbesondere Ulrich Lohmann, Rechtliche Aspekte des Arzt/Patient-Verhältnisses in der Bundesrepublik und der DDR, in: Ulrich Lohmann (Hrsg.), Gesundheit und Soziales (Public Health): Beiträge zur Grundlagendiskussion, 1974–2009, Wiesbaden 2019, S. 109–127.

18 Vgl. Ulrike Seifert, Gesundheit staatlich verordnet. Das Arzt-Patienten-Verhältnis im Spiegel sozialistischen Zivilrechtsdenkens in der DDR, Berlin 2009.

19 Vgl. Kumbier/Haack, Die Therapeutische Gemeinschaft und das Arzt-Schwester-PatientVerhältnis in der Psychiatrie zwischen therapeutischem Anspruch und sozialistischer Realität.

20 Vgl. Jürgen Kocka, The GDR: A Special Kind of Modern Dictatorship, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Dictatorship as Experience: Towards a Socio-Cultural History of the GDR, New York 1999, S. 17–26 sowie Konrad H. Jarausch, Care and Coercion: The GDR as Welfare Dictatorship.

In: ders. (Hrsg.), Dictatorship as Experience: Towards a Socio-Cultural History of the GDR. New York 1999, S. 47–69.

21 Vgl. Jürgen Kocka, DDR: Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Ders., Arbeiten an der Geschichte. Gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 280–285.

22 Vgl. Sonja Süß, Politisch missbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1998; Sonja Süß, Zur Frage eines politischen Missbrauchs der Psychiatrie in der DDR – Eine

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so lassen sich DDR-weit dennoch Fälle von Missbrauch, Rechtsverletzungen bei polizeilichen, aber auch ärztlichen Psychiatrieeinweisungen sowie Tabubrüche bei der Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht nachweisen.

Deshalb ist es nach wie vor wichtig, die Verknüpfungen zwischen der Psychiatrie und den autoritären Strukturen der DDR-Gesellschaft aufzuspüren, ohne jedoch die Psychiatrie einseitig politisch zu deuten und von vornherein wissenschaftlich zu diskreditieren.

Wichtige Zugänge sind hier neben der essentiellen Suche in Archiven die interviewbezogene Arbeit. In dem genannten Forschungsprojekt liegt deshalb ein besonderes Augenmerk auf der Befragung von Zeitzeugen, die in irgendeiner Form zwischen 1945 und 1989 mit der Psychiatrie in der DDR konfrontiert waren. Das durchaus ambitionierte Ziel von mehr als 100 zu Befragenden zielt darauf, sowohl aus allen psychiatrischen Universitäts- sowie Bezirksnervenkliniken der DDR als auch aus ausgewählten ambulanten und stationären Einrichtungen an somatischen Kliniken jeweils einen Zeitzeugen aus dem ärztlichen, pflegerischen, fürsorgerischen und psychologischen Spektrum und soweit möglich auch ehemalige Patienten bzw. deren Angehörige zu befragen. Diese Interviews mit den ehemaligen ­Akteuren werden neben gezielten Archivstudien erst den kritischen Abgleich mit den „Alltagserfahrungen“ ermöglichen, um zu prüfen, welche Rolle die Verantwortlichen im staatlichen Gesundheitswesen einnahmen und welche Handlungsspielräume sie hatten. Neben Studien in den Archiven des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU) liegt der Fokus auf den Landesarchiven und Überlieferungen in lokalen Einrichtungen, wie etwa der ehemaligen Bezirksnervenklinik Ueckermünde. Diese müssen aber als Bestand meist erst noch erschlossen und deren Inhalte ausgewertet werden.

Damit soll bewerkstelligt werden, historische Forschung nicht allein aus dem Blickwinkel von Extremfällen zu beschreiben, sondern auch Entwicklungen und Maßnahmen von der Führungs- über die vermittelnde Ebene der Bezirks- und Kreisärzte bis hin zu lokalen Entscheidungsträgern mit ihren jeweiligen Kompetenzen, Beschränkungen und den Auswirkungen ihres Handelns nachzuverfolgen. Das soll helfen, ein möglichst realitätsnahes Bild des durchaus als ambivalent erlebten psychiatrischen Alltags von Patienten und Personal nachzuzeichnen.

Obwohl das Forschungsprojekt erst im letzten Jahr begonnen hat, finden sich erste Ergebnisse in dem vorliegenden Sammelband in den Beiträgen von Maren von Appen, Rainer Erices, Kathleen Haack und Ekkehardt Kumbier. Diese und auch die anderen Arbeiten ermöglichen nicht zuletzt wegen der interdisziplinären Autorenschaft mit ihren unterschiedlichen Denkansätzen eine differenzierte Beschäftigung mit diesen Themen. Das hilft insbesondere für die Auseinandersetzung um die Deutungskompetenz zur Geschichte der Psychiatrie in der DDR und für die damit verbundene Einordnung der zahlreichen Lebensberichte, Festschriften, Hagiografien und anderen Veröffentlichungen, die bisher erschienen sind. In jüngster Zeit

Rückschau nach 20 Jahren, in: Ekkehardt Kumbier/Holger Steinberg (Hrsg.), Psychiatrie in der DDR. Beiträge zur Geschichte, Berlin 2018, S. 111–126.

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entstanden einige bemerkenswerte Arbeiten, von denen das von Markus Wahl herausgegebene Buch zur Sozialgeschichte des Gesundheitswesens in der DDR erwähnt werden soll.23 Diese und auch andere Arbeiten machen im 30. Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer deutlich, dass sich die Forschungslandschaft zur DDR insgesamt und damit auch zum Gesundheitswesen verändert hat. An die Stelle einer dichotomen tritt immer mehr eine differenzierte Betrachtungsweise.24 Außerdem verweisen sie auf die teils immer noch ambivalente politische und historische Auseinandersetzung mit dem ehemals sozialistischen Staat in der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland. Zukünftig wird deshalb auch verstärkt die Frage beantwortet werden müssen, welche Bedeutung diese Umwandlung für die (ost-)deutsche Gesellschaft hatte.25 Das Ende der DDR und der ­folgende Transforma­tionsprozess haben in den Biografien der Menschen Spuren hinterlassen. Die Veränderungen und Brüche im Leben dieser Menschen werden zunehmend untersucht und diskutiert werden müssen. Das gilt natürlich auch für die im Gesundheitswesen der DDR und die in der Institution Psychiatrie tätigen Menschen. Die Perspektive der Akteure zu erfassen, der Ärzte, Schwestern und Pfleger, der Psychologen, Fürsorger und eben der Patienten26 und ihrer Angehörigen, das wird die Aufgabe sein, der wir uns mehr als bisher zuwenden sollten.

Nun kann es nicht der Anspruch dieses zweiten Sammelbands sein, diese genannten Aspekte alle aufzugreifen und die weiterhin drängenden Fragen allumfassend zu beantworten. Vielmehr versteht er sich als Fortsetzung der im ersten Band begonnenen Auseinandersetzung mit dem Thema „Psychiatrie in der DDR“, stellt aktuelle Forschungsarbeiten vor und wirft neue Fragen auf.27 Die eingangs erwähnte Begrenzung auf bestimmte Teilbereiche im ersten Band hatte die Berücksichtigung bisher kaum beachteter im zweiten notwendig gemacht. In dem wieder in vier Abschnitte gegliederten Buch wird im ersten Teil die Rolle der Psychiatrie im gesellschaftlich-politischen

23 Markus Wahl (Hrsg.), Volkseigene Gesundheit. Reflexionen zur Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR, Stuttgart (2020). Eine weitere lesenswerte Arbeit ist u. a. die von Igor J. Polianski, Psychiatrische Fachbücher aus dem Nationalsozialismus und die zensorische Praxis in der SBZ und frühen DDR, in: Der Nervenarzt 91 (2020), S. 261–267.

24 Vgl. Wahl, Gesundheit, S. 15 25 Mit dieser Thematik hat sich erst jüngst der Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch „Die Übernahme“ beschäftigt, vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.

26 Auf die insbesondere von dem britischen Historiker Roy Porter ab 1985 eingeführte Medizingeschichte „von unten“ war erst kürzlich im Zusammenhang mit der Psychiatriegeschichte hingewiesen worden. Sie ist mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum in psychiatriehistorischen Untersuchungen aufgegriffen worden und berücksichtigt die Alltagsgeschichte, vor allem die Lebenspraxis der Menschen und ihr Verhalten innerhalb der gesellschaftlichen Bedingungen. Vgl. Burkhart Brückner/Thomas Röske/Maike Rotzoll/Thomas Müller, Geschichte der Psychiatrie „von unten“. Entwicklung und Stand der deutschsprachigen Forschung, in: Medizinhistorisches Journal 54 (2019), S. 347–376.

27 Auf eine erneute Übersicht zur bisherigen historischen Aufarbeitung der Psychiatrie in der DDR wird hingegen an dieser Stelle verzichtet und auf den ersten Band verwiesen; vgl. Kumbier/ Steinberg, Einleitung.

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Kontext der DDR untersucht. Dabei wird das Ringen um die Entstehung des psychiatriekritischen Buchs „Flucht in die Wolken“ ebenso beschrieben wie die Aufklärungspflicht der Patienten in der Psychiatrie vor dem Hintergrund ethischer Positionen, die verschiedenen Aspekte der Suizidprävention per Telefon, die Frage nach dem Umgang mit dem Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion, der veränderte Blick auf den Pawlowismus und seine bisherige wissenschaftshistorische Einordnung oder die Verortung der Fachgesellschaften im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Ideologie. Im zweiten Abschnitt wird näher auf die Fächerdifferenzierung und Spezialisierung eingegangen, so auf die Etablierung der klinischen Psychologie, die Differenzierung von Neurologie und Psychiatrie an einzelnen Hochschulen oder die Entwicklung der Gerichtspsychiatrischen Abteilung der Nervenklinik an der Berliner Charité, die als Leitinstitution auf diesem Gebiet in der DDR galt. Im dritten Abschnitt werden diagnostische und therapeutische Ansätze in der Psychiatrie der DDR aufgezeigt, etwa bei der Behandlung alkoholabhängiger oder schizophrener Menschen, aber auch in Bezug auf die klinische Psychopharmakaforschung im Auftrag der westlichen Pharmaindustrie. Schließlich werden im vierten Teil die Situation und die Entwicklung in einzelnen psychiatrischen Einrichtungen oder Regionen aus ganz unterschiedlicher Perspektive betrachtet bzw. die Versorgung bestimmter Patientengruppen wie die von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen untersucht. In einem Beitrag wird exemplarisch an der Umgestaltung der Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg bei Schwerin gezeigt, wie seit den 1960er-Jahren in Folge der sozialpsychiatrischen Reformen und vor allem der Rodewischer Thesen (1963) versucht wurde, den bis dahin dominierenden Charakter der verwahrenden Anstaltspsychiatrie zu überwinden und eine aktive Therapie mit dem Ziel der Rehabilitation zu realisieren. Das Wirken einzelner Protagonisten wie das von Horst Berthold im eben genannten Zusammenhang fand darüber hinaus ebenso Eingang wie das von Dietfried Müller-Hegemann, Helmut Rennert oder Hans Szewczyk in verschiedenen anderen Kontexten.

Zum Schluss dieser Vorbemerkungen soll betont werden, dass die ­Herausarbeitung solcher Entwicklungslinien in der Medizin, im Gesundheitswesen und der Gesellschaft mit Bezug auf die Entwicklung einzelner Fachbereiche prinzipiell zu den zentralen Forschungsfeldern in der Zeitgeschichte gehört. Das gilt ebenso für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Fachverselbständigung.28 Mit Bezug auf das Konzept der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“29 wird zudem darauf verwiesen, dass die Bundesrepublik für die DDR auch in den Bereichen der Wissenschaft und

28 Vgl. hinsichtlich der Verflechtungen und Parallelgeschichte insbesondere der medizinischen Fachgesellschaften in Ost und West die Einleitung von Thorsten Halling/Friedrich Moll/Heiner Fangerau, Zeitgeschichte der Urologie – Herangehensweisen und Probleme, in: Thorsten Halling/Friedrich Moll/Heiner Fangerau (Hrsg.), Urologie 1945–1990, Berlin/Heidelberg 2015, S. 1–18, hier S. 6–7.

29 Vgl. Christoph Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43 (1993), S. 30–41.

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des Gesundheitswesens eine Referenzgesellschaft darstellte, um ihre vermeintliche Systemüberlegenheit zu demonstrieren.30 In einigen in diesem Buch versammelten Aufsätzen wird die deutsch-deutsche Verflechtung und Parallelgeschichte auch für die Psychiatrie erkennbar, und einmal mehr wird dabei deutlich, dass es eine eigenständige und isolierte „DDR-Psychiatrie“ nicht gab. Vielmehr folgte sie als Fachgebiet der internationalen Entwicklung, wenngleich sie von den in der DDR bestimmenden gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen beeinflusst wurde, die staatlichen und damit politisch-ideologischen Einflüssen unterlagen.31 Der Dank gilt an dieser Stelle wieder besonders der Stiftung für Seelische Gesundheit, die mit ihrer finanziellen Unterstützung das Erscheinen des zweiten Bandes erst ermöglicht hat. Der Dank gilt aber auch und in erster Linie den Autoren, die durch ihre stete und fruchtbare Mitarbeit maßgeblich zum Gelingen eines solchen Werkes beigetragen haben.

30 Vgl. Detlev Brunner/Udo Grashoff/Andreas Kötzig, Asymmetrisch verflochten? Einleitung, in: Detlev Brunner/Udo Grashoff/Andreas Kötzig (Hrsg.), Asymmetrisch verflochten? Neue Forschungen zur gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte, Berlin 2013, S. 11–17.

31 Vgl. Kumbier/Steinberg, Einleitung, hier S. 13–14.

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I. Gesellschaftlich-politischer Kontext

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Thomas R. Müller, „Flucht in die Wolken“

Maike Rotzoll,

DDR-Psychiatrie in der Kritik1 Christof Beyer

Im Jahr 1981 erschien im Verlag Der Morgen das Buch „Flucht in die Wolken“.2 Es war ein großer Erfolg. Bis 1989 wurden in sechs Auflagen mehr als 120.000 Exemplare verkauft, die das wahre Leserinteresse nicht annähernd befriedigen konnten.

In „Flucht in die Wolken“ wird das Schicksal einer jungen Frau namens Pony geschildert, die im Alter von 18 Jahren nach mehreren Aufenthalten in der Psychiatrie 1971 Suizid begeht. Die Autorin Sibylle Boden-Gerstner (1920–2016)3 veröffentlichte das Buch unter dem Pseudonym Sibylle Muthesius. Sie war die Ehefrau des bekannten Journalisten Karl-Heinz Gerstner (1912–2005). Im Mittelpunkt der retrospektiven Darstellung steht ihre Tochter Sonja Gerstner (1952–1971), die im Buch Pony genannt wird. Sie wird als ein vielseitig talentiertes und lebensfrohes Kind dargestellt, das in für DDR-Maßstäbe privilegierten Verhältnissen aufwächst. Sie ist Klassenbeste, schreibt Gedichte in mehreren Sprachen, malt, geht Reiten und ist politisch engagiert. Doch nach einem ungeklärten Vorfall in der Schule erleidet sie einen Stupor.4 Die folgende psychische Krise verändert das Leben der Pro­ tagonistin auf dramatische Weise. Sie verliert ihr Selbstbewusstsein und hat schulische Probleme. Die Beziehung zu ihrem Freund Peer wird von der Familie infrage gestellt. Der Berufswunsch, Psychologie zu studieren, scheint nicht mehr realisierbar, eine Schauspielprüfung misslingt. Nach dem dritten Psychiatrieaufenthalt nimmt sie sich das Leben.

Unter Verwendung von Tagebuchaufzeichnungen, Gedichten und Malereien Sonja Gerstners versucht die Autorin nach Gesprächen mit Beteiligten sowie aufgrund eigener Erinnerungen und Recherchen eine Erklärung für die tragische Tat ihrer Tochter zu finden. „Dies Buch will keinen medizinischen Fall beschreiben, sondern ein Menschenschicksal. Der Hilferuf des Mädchens: ‚Please understand me! Bitte versteht mich!‘ ist der eigentliche

1 Dieser Aufsatz beruht zum Teil auf Thomas R. Müller, „Flucht in die Wolken“ – Ein außergewöhnliches Kapitel der DDR-Psychiatriegeschichte. In: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 12 (2006), S. 427–439.

2 Sibylle Boden-Gerstner/Muthesius, Flucht in die Wolken, Berlin 1981.

3 Boden-Gerstner war Kostümbildnerin, Malerin und Modejournalistin. Sie arbeitete u. a. für die DEFA und den Deutschen Fernsehfunk und als Dolmetscherin für Französisch und Englisch.

1956 gründete sie die Modezeitschrift Sibylle, die nach ihrem Vornamen benannt wurde.

4 Der Begriff Stupor bezeichnet einen Erstarrungszustand, wie er bei psychischen Erkrankungen vorkommen kann.

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Grund, warum es geschrieben wurde.“5 In einem unveröffentlichten Vorwort fügt die Autorin als Intention für das Buch hinzu, sie wolle Anteilnahme und Liebe für psychisch Kranke wecken6 und anderen Betroffenen Mut machen.7 Im Buch wird deutlich, dass Sibylle Boden-Gerstner der Psychiatrie eine Mitverantwortung am Tod ihrer Tochter gibt. Sie beschreibt die Zustände in den psychiatrischen Kliniken, die erlebte Arroganz der Ärzte und die aus ihrer Sicht falschen Behandlungsmethoden. Die damit einhergehende deutliche Kritik am Zustand der Psychiatrie in der DDR führte dazu, dass das Buch erst nach einem mehrjährigen Genehmigungsverfahren erscheinen konnte, in dessen Rahmen namhafte Psychiater sowie Gesundheits- und Kulturpolitiker der DDR als Gutachter herangezogen wurden.

Zwischen den im Buch dargestellten Ereignissen und seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1981 liegen somit mehr als zehn Jahre. Aus den Beurteilungen der Gutachter und den Reaktionen der Leserschaft lässt sich schließen, dass sich die Situation in der Psychiatrie in diesem Zeitraum nicht grundlegend gewandelt hatte und das Buch und die mit ihm ausgelöste Debatte einen zum Zeitpunkt seines Erscheinens noch immer aktuellen Einblick in die Situation und das Selbstverständnis der Psychiatrie in der DDR in den 1970er-Jahren gibt.

Psychiatrie im Spiegel des Buchs „Flucht in die Wolken“ Aufgrund der Symptome der Tochter konsultiert die Familie zunächst den Hausarzt. Dieser sieht eine akute Suizidgefährdung und rät zur Behandlung durch einen „Spezialisten“. Daraufhin entschließen sich die Eltern, mit Pony in eine psychiatrische Klinik zu fahren, auch wenn ihre Vorbehalte groß sind: „In meiner Angst sehe ich Pony in einem großen Wachsaal zwischen Selbstmordkandidaten, Depressiven, Halluzinierenden [...], zu denen soll nun Pony gehören? Wird sie dieses Trauma je überwinden können?“8 Der erste Eindruck bestätigt die Vorurteile: „Wir gehen einen langen Gang entlang, mir scheint es wie ein Kellerverlies [...]. Ich habe die ganze Zeit Angst: Wie wird sie diese Umgebung, den Wachsaal aufnehmen. Wir schauen also in den Aufenthaltsraum für neueingelieferte Patienten hinein: ein etwa zwölf Quadratmeter großes Zimmer mit Stühlen und Tischen, an denen tatenlos Frauen hocken, einige schlurfen in Hausschuhen umher, in einer Nische steht ein Fernsehapparat.“9 Nach einigen Wochen wird Pony wieder entlassen, doch bald kommt es zu einer erneuten Krise und die Ärzte meinen, „es sei unter diesen Umstän-

5 Sibylle Muthesius, Was soll ein Psychogramm?, o. J., BArch DR 1/8433, Bl. 56–57, hier Bl. 56.

6 Ebd., Bl. 57.

7 „Ich habe beim Schreiben immer nur gedacht, schnell, schnell, schnell, vielleicht erreicht es noch andere betroffene Familien, wo man einen Jugendlichen retten kann [...].“ Brief der Autorin vom 28. März 1982, Kopie im Archiv Sächsisches Psychiatriemuseum.

8 Boden-Gerstner/Muthesius, Flucht, 1981, S. 55.

9 Ebd., S. 55 f.

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den besser, wenn Pony wieder in die Klinik käme, sie sei wohl doch zu früh entlassen worden, es bestehe Suizidgefahr“.10 Zur Behandlung schlagen die Ärzte den Eltern eine Elektrokrampftherapie vor: „Am nächsten Morgen eröffnen uns die Ärzte, dass man beschlossen habe, Pony mit Elektroschocks zu behandeln. Wir leben in der Hoffnung auf ein Wunder, auf eine absolute Wende, die Ärzte würden es schon wissen, warum sollten wir so altmodisch und überängstlich sein und uns weigern? Ich erinnere mich allerdings gefragt zu haben, ob ein Risiko dabei wäre. Daraufhin schaute man mich strafend an, anscheinend wurde diese Frage als eine Zumutung aufgefasst.

Man beteuerte mir das Gegenteil. Also unterschrieben wir. Wie alle Eltern unterschreiben [...] Auf mein Drängen darf ich sie am zweiten Tag besuchen. Etwas Schlimmeres hatte ich noch nie gesehen […] Pony ist nicht wiederzuerkennen: Der Körper starr, in schrecklichen Zuckungen […] das Gesicht aufgedunsen und verzerrt, die eine Seite des Mundes hochgezogen, die andere kann den rinnenden Speichel nicht halten. Das soll mein Kind sein?“11 Auch den dritten Psychiatrieaufenthalt beschreibt die Autorin in dramatischer Weise. Ihre Tochter erhält nun eine Insulinkomatherapie. Als sie sich gegenüber dem Personal aggressiv verhält, kommt sie in einen Isolierraum, den sogenannten „Bunker“. Vom Stationsarzt fühlt sich die besorgte Mutter nicht ernst genommen und mit Vorwürfen belegt. In ihrer Verzweiflung recherchiert die Autorin in der Fachliteratur nach Krankheitsbildern, Diagnosen und alternativen Behandlungsmethoden. Dabei, so schildert sie im Buch, sei sie immer wieder auf Sigmund Freud und die Psychoanalyse gestoßen. Doch ihre Forderung nach einer psychotherapeutischen Behandlung lehnen die Ärzte ab. Das sei doch alles nur Spekulation, wird ihr entgegnet. Stattdessen wird ein Arzt mit den Worten zitiert, der Erreger der Krankheit sei noch nicht gefunden.

Während der anderthalbjährigen psychiatrischen Betreuung wird die ­Familie, so Karl-Heinz Gerstner rückblickend, mit sieben Ärzten, sieben ­Diagnosen und sieben Therapien konfrontiert.12 „Irrenhausatmosphäre“, invasive Behandlungsmethoden wie Elektrokrampftherapie und Insulinkomatherapie, Isolation, fehlende Beschäftigungstherapie, unzureichende Rehabilitation und ein gestörtes Verhältnis der Ärzte zu den Angehörigen und Patienten ist das Bild, das das Buch „Flucht in die Wolken“ von der Psychiatrie um 1970 vermittelt.

Psychiatrie im Spiegel von Sonja Gerstners bildnerischem Werk Bei dem Text „Flucht in die Wolken“ von Sybille Boden-Gerstner (Muthesius) handelt es sich um eine retrospektive Darstellung des Lebens ihrer Tochter und deren Weg zum Suizid, in die die Autorin auch Kritik an der 10 Ebd., S. 127.

11 Ebd., S. 143–144.

12 Karl-Heinz Gerstner, Sachlich, kritisch und optimistisch: eine sonntägliche Lebensbetrachtung, Berlin, 2. überarb. u. erw. Auflage, 2002, S. 424.

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damaligen Psychiatrie und ihrer Behandlungsmethoden aufnahm. Neben Briefen, Gedichten, Liedern und anderen schriftlichen Aufzeichnungen baute die Mutter zahlreiche Zeichnungen und Aquarelle, Egodokumente von Sonja Gerstner aus der Zeit ihrer Krise, in das Buch ein. Sie versah diese mit Bildunterschriften, die sie Texten und Tagebuchnotizen ihrer Tochter entnahm, womit sie eine lebensgeschichtliche Interpretation der Werke nahelegte. Gleichzeitig lieferte sie genaue Hinweise zur Datierung und zur Lebenssituation, in welcher die jeweiligen Werke entstanden waren, ob zuhause oder in der Klinik und in welchem zeitlichen Zusammenhang mit psychischer Krise und/oder psychiatrischen Interventionen.

Insofern scheint eine Analyse der Bildwerke Sonja Gerstners die Möglichkeit zu eröffnen, den eigenen Blick der jungen Frau auf ihre krisenhaften Erlebnisse und ihre Erfahrungen mit psychiatrischen Institutionen in die Analyse einzubeziehen. Die Werke wurden 2004 und 2005 in Einzelausstellungen in Leipzig gezeigt (Galerie L. A. und Sächsisches Psychiatriemuseum). Im Jahr 2007 wurden die meisten Werke, insbesondere auch einige der in „Flucht in die Wolken“ abgebildeten, neben weiterem autobiografischem Material von Sybille Boden-Gerstner als Dauerleihgabe an die Heidelberger Sammlung Prinzhorn gegeben.13 Damit werden sie nun in einer weltberühmten Sammlung von künstlerischen Werken aus psychiatrischem Kontext bewahrt, deren historischer Kern in den Jahren 1919 bis 1921 zusammengetragen wurde und somit zunächst vor allem zuvor entstandene Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen und Textilien einbezog. Diese wurden in den letzten Jahrzehnten durch später entstandene Arbeiten, Nachlässe von psychiatrieerfahrenen Künstler*innen oder von Psychiatern angelegte Sammlungen ergänzt (wodurch die Werke sowohl im Kontext von Kunst als auch von Psychiatrie- oder Krisenerfahrung verortet werden). Die Übergabe der Werke Sonja Gerstners an die Sammlung als einer Schnittstelle von Kunst und Psychiatrie folgt somit dem Narrativ der Mutter, die diese Zuordnung bereits in ihrem Buch vorgenommen hatte. Die Dauerleihgabe großer Teile des Nachlasses ist zudem eines der ganz seltenen Beispiele von Werken aus der DDR in der Sammlung Prinzhorn, und dies stellt den Bezug zur Psychiatrie des Landes her.

Der Bestand in der Sammlung Prinzhorn, bislang nur zum Teil inventarisiert, enthält neben den bekannten Aquarellen und Zeichnungen ein „Tagebuch“, das keine autobiografischen Texte, sondern vorwiegend kunstvolle Collagen aus ganz unterschiedlichen Materialien enthält, sowie bemalte Bettwäsche und noch nicht sortierte Texte und Bilder. Diese stammen zum Teil aus Sonja Gerstners Schulzeit vor der Krise, zum Teil sind sie aber auch danach entstanden.

Sucht man in den Bildwerken nach Motiven, die einen eindeutigen thematischen Bezug zu psychiatrischen Institutionen oder Interventionen aufweisen, so stößt man beim derzeitigen Erschließungsstand des Konvolutes

13 Information des Museum Sammlung Prinzhorn zur Ausstellung „Die Sammlung wächst“, 24.

Mai – 9. September 2007, http://www.kunst-spektrum.de/html/prinzhorn1.html (abgerufen am 29.6.2019).

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Abb. 1: „Magie Trésor“ ab 23.10.1970, Buch, collagiert mit Papier, Pflanzen, Textil, Bildmaß: 30,2 × 22,5 cm.

lediglich auf zwei Arbeiten. Im „Tagebuch“ ist auf einer der ersten Seiten ein Briefumschlag eingeklebt, auf dem Sonja Gerstners vorübergehende Adresse in einer psychiatrischen Einrichtung in Berlin angegeben ist (WilhelmGriesinger-Klinik bei Berlin-Biesdorf – die frühere Heilanstalt für Epileptische, Wuhlgarten, heute Klinikum Hellersdorf) (Abb. 1)14. Viele der übrigen Collagen könnten vorsichtig eher als Ausdruck von die Grenzen der Klinik überschreitenden Träumen eines 17-jährigen Mädchens interpretiert werden: Fotografien von Frauen oder weiblichen Statuen werden mit Stoffen und bemaltem Papier, häufig in Rosatönen, in Szene gesetzt, wobei auch verschiedene Formen von Bändern und Spitzen zum Einsatz kommen.15 Bei der zweiten Arbeit mit konkretem Bezug zur Psychiatrie handelt es sich um ein in „Flucht in die Wolken“ abgebildetes Werk, das ein Mädchen in einer Zelle zeigt (Abb. 2).16 Die Mutter hat als Bildunterschrift zwei Sätze aus dem Krankenhaustagebuch ihrer Tochter ausgewählt „Ich denke an

14 Sonja Gerstner (* 13.6.1952 Berlin – † 8.3.1971 Berlin), für alle © Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinikum Heidelberg.

15 Beispiele finden sich in Boden-Gerstner/Muthesius, Flucht in die Wolken, Frankfurt am Main 1982, S. 214 und S. 224.

16 Sammlung Prinzhorn Heidelberg, Gerstner Sonja, Ohne Titel [Selbstporträt im Isolierzimmer], 1970, Wasserfarben auf Papier, 41,8 × 29,9 cm, Inv. Nr. 000D 8073/19 (2007). Boden-Gerstner/Muthesius, Flucht, 1982, S. 322.

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Abb. 2: „Ich denke an die Stunden im Bunker“ [Selbstporträt im Isolierzimmer] 1970, Wasserfarben auf Papier, Bildmaß: 41,8 × 29,9 cm.

die Stunden im Bunker, in denen ich mich entschloss, mir das Leben zu nehmen mit dem Draht vom Bettgestell. Niemand kam herein, – da hab ich einfach laut gesungen.“17 Den Bezug zwischen dem Erlebnis des Eingesperrtseins im Isolierzimmer und der Verarbeitung im Bild stellt die Mutter im weiteren Text des Buchs her: „Später, als Pony […] in ihrem Insulinzimmerchen untergebracht ist, malt sie sich von ihrem schlimmsten Erlebnis frei. Sie zeichnet sich als Kind, allein, in einem leeren Kerker, auf der Erde hockend.“18 Der Aufenthalt im Isolierzimmer wird somit zeitlich vor dem Beginn der Insulinkomatherapie eingeordnet, die gegen Ende des Jahres 1970 stattfand (kurz vor Weihnachten 1970 wurde Sonja Gerstner aus ihrem dritten und letzten Klinikaufenthalt entlassen, am 8. März 1971 suizidierte sie sich). In

17 Boden-Gerstner/Muthesius, Flucht, 1982, S. 322. Der zugehörige Eintrag aus dem Krankenhaustagebuch vom 22.11.1970 wird auf S. 223–224 wiedergegeben und muss nach der Rückverlegung aus dem Isolierzimmer („Bunker“) in das übliche Zimmer verfasst worden sein: „Ich höre gerade Brahms. Paßt zu meiner Stimmung. Die schwere Musik inspiriert mich. Ich muss an etwas schreckliches denken. Das Schrecklichste, was bis jetzt in meinem Leben passierte. Ich denke an die Stunden im Bunker, in denen ich mich entschloss, mir das Leben zu nehmen mit dem Draht vom Bettgestell. Stundenlang allein im Dunkeln, über mir und an den Wänden liefen Rohre entlang, in denen es dauernd rauschte, ich dachte nur, jetzt wird Gas durchgeblasen, ich wusste nicht, ob Pappi, Mutti, Maja, Tante Miezl und Oma Zachau noch leben, niemand kam herein --- und die Schreie in den Nebenbunkern ... da hab ich einfach laut gesungen ... Hinweg, hinweg mit diesen makabren Gedanken.“ 18 Ebd., S. 328.

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Abb. 3: „Deswegen soll ich nu verrückt sein, weil ich mir Blumen ins Bett lege“, 1970, Gouache auf Papier, Bildmaß: 41,7 × 29,7 cm.

der Phase der Insulinkomatherapie entstanden einige Aquarelle, deren Motive sich jedoch deutlich von dem Isolierzellenbild unterscheiden. Es sind in den meisten Fällen farbenfrohe Werke, die eine traumartige Atmosphäre vermitteln. Eins davon zeigt eine große rotblaue, tulpenähnliche Blüte, in der ein schemenhaftes Paar beschwingt tanzt (Abb. 3).19 Das Paar ist in Zartblau gehalten, hebt sich nur leicht von dem ins Schwarzblaue changierenden Hintergrund ab und wirkt dadurch fast transparent, leicht und elfenartig. Leichtigkeit und fließende Formen erinnern an Chagall, dessen Werke Sonja Gerstner kannte.20 Eine fester umrissene, gelbgemusterte Schlange, die sich um die Blüte und somit auch um das Paar windet, wirkt weniger bedrohlich als fantastisch, gleichwohl kann man durch die überdimensionierte, im Inneren intensiv rote Blüte den Eindruck eines „Tanzes auf dem Vulkan“ gewinnen. Sehr wahrscheinlich entspringt dieses Werk einem Thema – der Liebe –, das Sonja Gerstner ausweislich ihres Krankenhaustagebuchs in dieser Zeit stark beschäftigte und dessentwegen sie sich ungerechtfertigt als krank abgestempelt und in der Psychiatrie einge-

19 Sammlung Prinzhorn Heidelberg, Gerstner, Sonja: „Deswegen soll ich nu verrückt sein, weil ich mir Blumen ins Bett lege“, 1970, Gouache auf Papier, 41,7x29,7 cm, Inv. Nr. 000D 8073/ 12 (2007). Boden-Gerstner/Muthesius, Flucht, 1982, S. 308.

20 Boden-Gerstner/Muthesius, Flucht, 1982, S. 97, im Buch undatierter Brief von Sonja Gerstner an ihren Freund Peer (aus der Zeit ihrer Vorbereitung auf die Prüfung an der Schauspielschule): „Wie Du an meiner Inspiration siehst, ich habe auf Wunsch ein Chagallbuch bekommen. Ist aber natürlich echt Pony-Chagall. Jetzt geht‘s bald mit Öl los.“

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sperrt fühlte. So hielt sie im November 1970 fest: „Frau Dr. Kössling sagte ich im Caritas [andere psychiatrische Einrichtung, d. V.], die Aktion heißt Liebe! Dafür war ich in drei medizinischen Gefängnissen! […] wer liebt ist glücklich! Liebt Euch! […] wie dumm sind diese Menschen! Ich bin revolutionär, nicht geistig gestört. Ich bin opferbereit nicht nervenkrank.“21 Sie verbindet diese Überzeugung auch mit ihrer Motivation zu künstlerischer Tätigkeit: „Ich möchte Götter und Teufel malen, wie Gott dem Teufel durch die Liebe überlegen ist. Mein Motiv ist dabei immer wieder der Mensch.

Ich will Pfarrerin werden, Liebe predigen mit dem Pinsel in der Hand.“22 So scheinen die meisten ihrer Werke lebensgeschichtlich bedeutsame, teils auch krankheits- oder krisenbedingte Motive aufzugreifen, diese aber in einer fantastischen, intensiv farbigen Welt anzusiedeln. Dies gilt noch für das letzte Aquarell, das Sonja Gerstner kurz vor ihrem Suizid in der elterlichen Wohnung hinterließ. Hier überspannt eine schwarze filigrane Hängebrücke einen tiefen Abgrund zwischen zwei braunen Bergmassiven vor einem von dunkelgelb bis sonnenuntergangsfarben gestalteten Himmel. Auf den Bergen ebenso wie in den Wolken werden einspännige Kutschen von Pferden gezogen, eines dieser Gefährte bewegt sich kopfüber oberhalb der Brücke und somit über dem Abgrund.23 Während diese Werke keinen direkten Psychiatriebezug aufweisen, kann ein solcher für das Zellenbild angenommen werden, das sich vor allem in der düsteren Farbgestaltung deutlich von den übrigen Arbeiten unterscheidet. Hier ist das Schwarz der Zellenwände die dominierende Farbe, auch wenn die quer und längs schraffierte Fläche immer wieder durchbrochen ist und Grün- und Blautöne durchscheinen lässt. Hell erleuchtet erscheint dagegen das gelb gehaltene vergitterte Fenster, durch das von außen Licht fällt – jedenfalls ist der perspektivisch auf das Fenster zulaufende Streifen des Zellenbodens ins Rosaschwarze aufgehellt. In diesem Streifen befindet sich das unbekleidete Mädchen, das seine Ellenbogen auf die angezogenen Knie und mit den Armen und Händen den Kopf beidseits stützt. Eine zusätzliche Lichtquelle scheint von vorne und von außerhalb des Bildes direkt das Mädchen anzuleuchten, das somit von einem gelblichen Schimmer umgeben ist, der sich im Umkreis auch auf dem Fußboden ausbreitet. Dennoch wirkt der weitgehend leere Raum allenfalls fahl erleuchtet, was eine unheimliche Atmosphäre hervorruft. Die Leere wird eher akzentuiert durch das Vorhandensein zweier grauer, verloren wirkender Gegenstände, einer großen Tasse mit Henkel und einem Esslöffel. Das Unheimliche wird durch einen quer über dem Fenster schwebenden schwarzen Mann mit Hut, der von vier weiteren freischwebenden Hüten begleitet wird, verstärkt. Dieses

21 Boden-Gerstner/Muthesius, Flucht, 1982, S. 353 (Eintrag Sonja Gerstner im Krankenhaustagebuch vom 22.11.1970, Name der Ärztin von der Mutter vermutlich pseudonymisiert).

22 Boden-Gerstner/Muthesius, Flucht, 1982, S. 390 (Eintrag Sonja Gerstner im Krankenhaustagebuch vom 30.11.1970).

23 Ebd., S. 502 (Bildunterschrift: „Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich finde das Leben nicht mehr schön“). Auf S. 502–503 ihres Buches interpretiert die Mutter den verkehrt herum gemalten Wagen als Leichenwagen, der nicht mehr an die Erde gebunden sei, sondern in einen rosaroten Himmel fahre.

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dunkle Motiv ist zwar auf seine Weise fantastisch, erinnert aber kaum an die entsprechenden farbigen Elemente der anderen Aquarelle. Einzig zwei einander zugewandte Vögel hinter dem Fenstergitter knüpfen an Liebesmotive anderer Arbeiten an, doch sind die Vögel hier schwarz und heben sich von dem gelben Fensterrahmen eher düster ab, sodass die angstgeprägte Atmosphäre eher noch verstärkt wird.

Grauen und Einsamkeit in einer Zelle, einem Isolierzimmer, dies erlebte Sonja Gerstner, wie sie in ihrem Krankenhaustagebuch schreibt, während ihres letzten Aufenthaltes in einem psychiatrischen Krankenhaus. Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern man dieses Erlebnis als spezifisch für die DDR-Psychiatrie einordnen kann. Das gilt auch für die in „Flucht in die Wolken“ geschilderten Behandlungsmethoden, die ärztlichen sowie pflegerischen Verhaltensweisen oder die allgemeinen Lebensbedingungen in der Psychiatrie. Tatsächlich war die Insulinkomatherapie zumindest wenige Jahre zuvor auch in der BRD (und anderenorts) noch üblich gewesen, die Elektroschocktherapie war es weiterhin. Sozialpsychiatrische Stationen waren um 1970 auch auf der anderen Seite der Mauer noch keineswegs flächendeckend vorhanden (vor der Psychiatrie-Enquete [1975] nur in wenigen Kliniken) und hatten somit die Mentalität des Personals noch nicht beeinflussen können, die ländlichen Großanstalten waren baulich ebenfalls veraltet, die Schlafsäle groß und mit vergitterten Fenstern versehen. Psychotherapie im Anstaltskontext dürfte sehr selten gewesen sein. Sonja Gerstner hätte folglich Ähnliches in einer westdeutschen Psychiatrie erleben können – erst durch das Buch ihrer Mutter wurde ihre Geschichte zu einem besonderen Kapitel der DDR-Psychiatrie.

Die Bewertung durch die Psychiater in der DDR Sibylle Boden-Gerstner hatte unmittelbar nach dem Tod ihrer Tochter Sonja im Jahr 1971 mit der Arbeit an dem Manuskript begonnen. Zunächst bot sie es 1976 dem Union-Verlag an, der aber ablehnte. Im Frühjahr 1978 reichte sie das Manuskript beim Buchverlag Der Morgen in Berlin ein. Der Verlag gab 1978 und 1979 mehrere Fachgutachten bei renommierten Psychiatern in Auftrag. Die Gutachter kamen zu unterschiedlichen Bewertungen, in denen sich die Diversität der Positionen in der Psychiatrie und bei der Beurteilung der Herangehensweise an das Thema und seiner Darstellung widerspiegeln. Zwei Gutachter empfahlen die Veröffentlichung. Sie lasen das Manuskript nicht als ein medizinisches Fachbuch, sondern würdigten die Authentizität der Schilderung eines tragischen Menschenschicksals.

Kurt Höck (1920–2008), Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Psychotherapie am Haus der Gesundheit in Berlin, beurteilte das Buch zwar als ein „problematisches Werk“. Doch gerade der kritische Teil, „die realistische Darstellung der Unzulänglichkeiten, Mängel und Schwächen psychiatrischer Einrichtungen und Kliniken, der derzeitigen Begrenztheit der medizinischen Wissenschaft und ärztlichen Kunst, ihre Widerspiegelung hinter der professionellen Maskierung in den verschiedensten Reaktionen und Verhaltensweisen von Ärzten und Schwestern, die Darstellung dieser Seite unse-

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res Alltags aus der Sicht der Betroffenen bewegt, erschüttert, konfrontiert und stellt Fragen, auf die wir eine Antwort finden müssen, wirft Probleme auf, die nach einer Lösung drängen.“24 Diese Probleme seien aber, so Höck weiter, nur zum Teil medizinische, sondern vor allem gesellschaftliche, die als solche erkannt und durch die Gesellschaft gelöst werden könnten und müssten.

Auch Dagobert Müller (1921–1992), Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie Berlin-Lichtenberg, bescheinigte dem Buch einen Durchbruch im Sinne objektiver Berichterstattung. Das Manuskript, so resümiert Müller, „entspricht in seiner Authentizität, seiner Dokumentation, seinem Aufbau und den vorsichtigen Interpretationen einem Werk, welches der Öffentlichkeit besonders empfohlen werden könnte.“25 Gerade diese Aspekte stellte Harro Wendt (1918–2006), Direktor der Bezirksnervenklinik Uchtspringe, infrage. Die auf einem „sehr begrenzten subjektiven Einblick“ beruhende „oberflächliche“, „widersinnige“, „unsachliche“ und „schreckenserregende Darstellung der Psychiatrie“26 vermittle dem Leser suggestiv Angst statt Vertrauen in die Psychiatrie. Die Bewertungen des Buches seien durch die subjektiv befangene Mutter geprägt und die Einzelerlebnisse so wie der Lebensweg Ponys untypisch und nicht verallgemeinerbar. Durch ihre Aggression gegenüber den Ärzten wolle die Autorin, so Wendt, nur die eigene Schuld abwehren. Der Gutachter warnt: „Mit der Veröffentlichung würde auch in der DDR, Modeströmungen im kapitalistischen Ausland entsprechend, ein ,antipsychiatrisches‘ Buch jedem zugänglich werden und eine Polemik angeheizt, die auf Kosten der psychiatrisch behandlungsbedürftigen Patienten geht, die Behandlungsbereitschaft ängstlicher Patienten vermindert, dadurch die Suizidgefahr vergrößert, Flucht in den Alkoholmißbrauch fördert u. a. m. Wenn es darum geht, Missstände aufzudecken, wäre die Kritik an die Vertreter des Faches selbst bzw. an die verantwortlichen staatlichen Organe zu richten.“27 Schlussfolgernd kann Wendt „das Buch nicht empfehlen [...], da es gesundheitspolitisch so eher Schaden als Nutzen stiften wird.“28

Das Buch – ein Fall für die Gesundheits- und Kulturpolitik der DDR Gesundheitspolitische Erwägungen prägten auch die gutachterliche Stellungnahme von Dr. B. Barleben, Abteilungsleiter im Ministerium für Gesundheit. Da eine offizielle Mitteilung des Ministeriums entsprechend der staatlichen Ordnung nicht möglich sei, äußerte Barleben seinen persönli-

24 Kurt Höck, Gutachten zum Buch von S. C. Muthesius: „Flucht in die Wolken“, 1978, Archiv Sächs. PsyMuseum.

25 Dagobert Müller, Begutachtung des Manuskriptes von Sibylle Muthesius „Flucht in die Wolken“, 1979, Archiv Sächs. PsyMuseum.

26 Harro Wendt, Gutachten zu S. C. Muthesius: Flucht in die Wolken. Ein Psychogramm, BArch DR 1/2322b, 1979, Bl. 338–356, hier Bl. 344–346.

27 Ebd., Bl. 354.

28 Ebd., Bl. 356.

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