Hitlers Elitetruppe (Leseprobe)

Hitlers Elitetruppe? Mythos Fallschirmjäger

Um die Fallschirmtruppe der Wehrmacht ranken sich zahlreiche Legenden. Sie gilt gemeinhin als schlagkräftige Elite, die sich beim Angriff auf Kreta 1941 und beim Kampf um den Monte Cassino 1944 gegen eine personelle und materielle Übermacht durchzusetzen verstand. Die nationalsozialistische Propaganda entwarf das heute noch vorherrschende Bild von einer unüberwindlichen Fronttruppe. Nach 1945 wurden die von Fallschirmjägern begangenen Kriegsverbrechen, aber auch die enge Verzahnung mit Partei und Staatsführung heruntergespielt und verdrängt. Dieser Band nimmt auf der Basis neuer Quellen und bislang unveröffentlichter Fotos eine Neubewertung vor.

ISBN 978-3-89809-187-9

Militärhistorisches Museum

Hitlers Elitetruppe?

Mythos Fallschirmjäger

Hitlers Elitetruppe?

Mythos Fallschirmjäger

Herausgegeben von Magnus Pahl und Armin Wagner

Inhalt Einführung

Katalog

7 Fallschirmjäger. Mythos einer Truppe Armin Wagner

Essays

15 Kreta 1941 – Die „Schwarze Madonna“ der deutschen Fallschirmtruppe Magnus Pahl

120 Plakatausstellung

39

„Eine ganze Fallschirmjäger-Division vielleicht 10 Fahrzeuge“?

Zur Organisation und Ausstattung der Fallschirmtruppe Magnus Pahl

63 Kriegsverbrechen der Fallschirmtruppe in Italien und Frankreich 1943 bis 1945 Peter Lieb 73

Fallschirmjäger der Wehrmacht im Kalten Krieg: Der Spielfilm Die grünen Teufel von Monte Cassino (1958) Armin Wagner

97

Die „Traditionsgemeinschaft FallschirmPanzer-Jäger-Abteilung 1“ als Beispiel für die Veteranenkultur in der Bundeswehr Thomas Schröder

111 Wahrnehmung und Nachleben der

Fallschirmtruppe der Wehrmacht in der Bundeswehr John Zimmermann

126 132 138 140 142

Aufbauphase Hitlers Elitetruppe?

Treue um Treue Enttäuschung Überfall Inszenierte Helden

Kreta Aufmarsch Angriff Abwehr 162 Verbrechen 166 Inszenierte Helden 170 Auswirkungen

144 148 158

174 180 186 194 196 200

Monte Cassino Fallschirmjägerfamilie Kampf um Rom Cassino-Schlachten Inszenierte Helden Freiwillige Aufgabe?

Grüne Teufel

208 214 220 226 230

Rezeption Im Geiste unbesiegt Veteranen Inszenierte Helden Alte Adler Nachwirkungen

Anhang 236 Bildnachweis 238 Autorenverzeichnis 238 Impressum

Fallschirmjäger. Mythos einer Truppe Armin Wagner „Tatsächlich teilen derzeit die meisten Soldaten der Kompanie die Einschätzung, dass es kaum möglich sein wird, alle Kameraden unversehrt an Leib und Seele wieder nach Hause zu bringen. Man hilft sich mit dem Gedanken, dass Fallschirmjäger genau für solch schwierige Aufgaben gebraucht werden und im Prinzip nur das eingefordert wird, wofür man zu Beginn seiner militärischen Ausbildung den Treueeid geschworen hat.“ „Der Versuch, mich vom Krieg zu distanzieren, hat mich ihm nun erst recht in die Arme geworfen, da man ja kaum damit rechnen kann, daß eine Elitetruppe wie die Fallschirmjäger eine lange Zeit kampfloser Ruhe wird genießen können.“ Der Soldat, der die ersten Zeilen niederschrieb, hat den Zweiten Weltkrieg nicht erlebt, ist weder in Narvik 1940 noch auf Kreta 1941 im Sprungeinsatz dabei gewesen und hat auch nicht 1944 bei Cassino gekämpft.

Es sind Erinnerungen eines Hauptmanns der Bundeswehr, der 2007 im Rahmen der International Security Assistance Force (ISAF) im afghanischen Feyzabad stationiert war. Das zweite Zitat stammt von einem Unteroffizier der Wehrmacht. Seit 1943 befand er sich auf dem italienischen Kriegsschauplatz und war in seiner Funktion als Dolmetscher zeitweise auch zur dort im Kampf stehenden 1. Fallschirmjägerdivision kommandiert.

Diese zwei Äußerungen1 heben den Stellenwert der Fallschirmjägertruppe im militärischen Kerngeschäft, dem Kampf, hervor. Die erste nennt ihn nicht beim Namen, sondern thematisiert vielmehr den Preis dafür, also das eigene Leben; die zweite nimmt wie selbstverständlich hin, dass Fallschirmjäger das Gefecht zu erwarten haben. Um das zu Opfernde kreisen die Überlegungen des Offiziers der kriegsungewohnten Bundeswehr, tief verankert in der zivilen Gesellschaft seiner Heimat, wenngleich den Einsatz von „Leib und Seele“ wohl oder übel als Teil des Berufsbildes akzep-

tierend. Anders der Unteroffizier der Kriegsmaschine Wehrmacht: Er versucht ihn zwar zu vermeiden, nimmt den Kampf aber zugleich mit einer gewissen Nonchalance hin – mit Krieg ist bei Fallschirmjägern halt „zu rechnen“.

Zwischen den Erinnerungen beider deutscher Soldaten liegen mehrere Jahrzehnte. Ihre Feststellungen beziehen sich auf deutsche Streitkräfte einmal als Instrument einer Diktatur, einmal als Parlamentsarmee in der Demokratie. Insofern muss die politische Rolle der Fallschirmjäger der Wehrmacht noch vor der Frage beleuchtet werden, ob die ihnen vielfach zugesprochene militärische Schlagkraft tatsächlich so groß war. Verkörperten die Angehörigen der Waffen-SS ganz augenfällig „Hitlers politische Soldaten“2, so standen auch die Fallschirmjäger in einer historisch gewachsenen herausgehobenen Treuebeziehung zum „Führer“, der den Aufbau dieser Truppe nachdrücklich gefördert hatte, und zum Oberbefehlshaber der Luftwaffe Hermann Göring, zu dessen Teilstreitkraft sie gehörten. Damit fiel ihnen ein regimenäherer Stellenwert als anderen Truppenteilen zu. Die ideologische Grundsatztreue der Fallschirmtruppe zum Nationalsozialismus verlangt, ihre Verwicklung in Kriegsverbrechen genauer zu untersuchen.

I. Eines haben die zwei Zitate ungeachtet der langen Zeitspanne, die zwischen ihnen liegt, gemeinsam: Sie verdeutlichen, dass Fallschirmjäger militärisch als eine besondere Truppengattung galten und gelten, im Kampf eingesetzt als „Speerspitze“, „Feuerwehr“ und „Troubleshooter“. Entscheidend ist dabei nicht, ob diese pauschale Zuschreibung den Tatsachen entspricht: Die Fallschirmjäger der Wehrmacht rekrutierten sich besonders in der frühen Kriegszeit aus ausgewählten, physisch leistungsfähigen Freiwilligen und waren materiell im Vergleich zu den normalen Infanteriedivisionen des Heeres gut ausgerüstet. Nicht zwangsläufig 7

jedoch kämpften sie deshalb besser. Ihre Offiziere stammten ursprünglich aus Polizei und SA,3 und die rasch aufgestellten Verbände mussten zunächst darin geschult werden, als geschlossene Formationen infanteristisch zu wirken. Während ihrer ersten Einsätze beim Angriff auf Polen und auf die Niederlande erzielten sie keine durchschlagenden Erfolge – die Einnahme Den Haags scheiterte –, und im Zuge der Landung auf Kreta galten die eingeflogenen Gebirgsjäger als leistungsfähiger. Relevant ist jedoch, dass das elitäre Image der Fallschirmjäger durch gezielte Propaganda und durch den eigenen Anspruch an Dynamik gewann und „selbstreferenziell“ eine objektive Analyse ihrer Leistungsfähigkeit verdrängte.

Dieses besondere Prestige kam der Truppe allerdings nicht nur in der Wehrmacht zu. Fallschirmjäger stellen zwar in jeder Armee nur einen kleinen Teil der militärischen Kräfte. Selbst innerhalb der Infanterie treten sie hinter motorisierten Verbänden wie Panzergrenadieren und oft auch leichten Truppen wie Jägern zahlenmäßig zurück. Ihre Fähigkeit zur luftverlastbaren Beweglichkeit, ihr militärischer Auftrag „am scharfen Ende“ des Soldatenberufes, schließlich die Besonderheit des Sprungdienstes begründen aber ihren Ruf in den Streitkräften vieler Länder, unabhängig von deren Staats- und Regierungsform: Aus den militärischen Spezialisten, wie es zahlreiche andere in praktisch allen Bereichen gerade moderner Armeen gibt, werden in der Fremd- wie in der Selbstwahrnehmung Elitesoldaten. „In Indochina gewann der Mythos unserer Fallschirmjäger jeden Tag mehr an Bedeutung“, erinnerte sich der letzte Führer des 1er Régiment Étranger de Parachutistes, des 1. Fallschirmjägerregimentes der Fremdenlegion, an seine Dienstzeit in dem Verband, der später, nach dem Putsch gegen Staatspräsident Charles de Gaulle in Algerien 1958, aufgelöst wurde. Das Regiment „war eine Gemeinschaft, die sich stolz nach außen abschirmte und ihren eigenen Verhaltenskodex hatte.“ Ihr Zusammenhalt „gründete 8

auf Werten, die sich im Krieg herausgebildet hatten und deren Bedeutung heutzutage in einem Land, das in Frieden lebt, schwer zu erklären sind.“4 Mit der ihnen zugeschriebenen Schlagkraft verbindet sich heute oft eine auf die Fallschirmjäger projizierte politische Zuverlässigkeit. Sie sind damit mehr als nur eine Fronttruppe im regulären Krieg, sondern auch geeignet als militärische Option in innenpolitischen Auseinandersetzungen, wenn polizeiliche Maßnahmen versagen. Angehörige des britischen Parachute Regiment erschossen während des Nordirland-Konflikts im Ballymurphy-Massaker 1971 und während des Bloody Sunday 1972 unbewaffnete Zivilisten. Die 10. französische Fallschirmjägerdivision wurde 1957 in Algier eingesetzt, um den Bombenterror der algerischen Unabhängigkeitsbewegung mit militärischer Gewalt und Gegenterror zu brechen. In letzterem Fall wandelte sich die politische Verlässlichkeit in eine bewaffnete Abwehrreaktion gegen die eigene Regierung. Als Paris sich anschickte, Französisch-Algerien (Algérie française) gegen alle Erwartungen eines Teils der dort eingesetzten Soldaten in die Unabhängigkeit zu entlassen, kam es zur Revolte, wesentlich gestützt auf die Fallschirmjäger der Fremdenlegion: Sie waren ein sichtbares Beispiel für den Eigensinn eines militärischen Verbandes, der die Gehorsamspflicht hinter sich ließ und eine eigene Agenda entwickelte, worauf wiederum in einem nur ungenau zu fassenden Verhältnis dessen (echter oder angeblicher) Elitestatus zurückwirkte. Fallschirmjäger können und „dürfen“ in dieser Selbstwahrnehmung mehr als andere Truppen.

Der oben zitierte Unteroffizier der Wehrmacht, Gerhard Nebel, Altphilologe und in der Bundesrepublik der 1950er und frühen 1960er Jahre ein durchaus bekannter Schriftsteller, betrachtete die Fallschirmjäger nicht als einen der üblichen Verbände der Wehrmacht, sondern als oftmals wagemutig im Kampf wie irregulär im soldatischen Verhalten. In seinen Erin-

nerungen an den Krieg in Italien zwischen 1943 und 1945 charakterisiert er sie in einer (dominierenden) Mischung aus Ablehnung, ja Abscheu und (gelegentlichem) Respekt: „Ich pries mich glücklich, daß ich mit einer so rauhen und so entschieden und unbekümmert auf Schmerz, Tod und Vernichtung ausgerichteten Truppe nichts zu tun hatte.“ Er sprach von „nihilistischen Divisionen“; ihr Personal: „Prachtvolle Raubkatzen, aber zugleich blöde und enge Sklavenseelen, wilde Draufgänger, aber auch wüste Rüpel, unbezwingliche und bewundernswerte Todesverächter, aber zugleich auch skrupellose Räuber.“5 Sogar Nebel, der sich in seinen Büchern weithin unsoldatisch gibt und immer auf der Suche nach dem guten Leben im schlechten Krieg ist, konnte sich der Wirkung der Truppe nicht völlig entziehen: „Ich wurde mit Herzlichkeit empfangen, und gleich in der ersten halben Stunde wurde mir deutlich, daß hier Kameradschaft kein leeres Wort ist.“ 6 Schon in seinem Rückblick aus unmittelbarer Nachkriegszeit zählte Nebel die Fallschirmjäger – treffend – wie sonst nur die Waffen-SS zu den „politisch ungebrochenen Verbände[n]“ und im Unterschied zum Heer „Hitler ergeben“.7 Diese politische Aufladung der Fallschirmjäger ist an ihrer militärischen Bilanz zu spiegeln: Dem von ihnen selbst artikulierten Ruhm und ihrer Glorifizierung innerhalb wie außerhalb der Wehrmacht ist entgegenzuhalten, dass die Fallschirmtruppe im Zweiten Weltkrieg kaum an den Hauptkriegsschauplätzen zum Einsatz gekommen ist. Ihre mythenstiftenden Schlachten um Kreta und den Monte Cassino waren strategisch von nachgeordneter Bedeutung.

Die Kämpfe um die Insel und den Berg waren jedoch trotz des hohen Blutzolls geeignet, relativ isoliert vom Kampfgeschehen anderer Fronten von der nationalsozialistischen Propaganda als militärische Großtaten bejubelt zu werden.

II. Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr (MHM) fragt mit der Ausstellung „Hitlers Elitetruppe?

Mythos Fallschirmjäger“ anhand ihrer Geschichte zwischen 1935 und 1945 sowie deren Rezeption in der Bundesrepublik nach dem Prestige dieser Waffengattung im Spannungsfeld von Kriegseinsatz und propagandistischer Instrumentalisierung, nach ihren öffentlich zumeist nicht bekannten Wurzeln und ihrer Ideologisierung. Die Ausstellung des MHM unternimmt, ganz im Sinne der um die Jahrtausendwende programmatisch erklärten „Militärgeschichte in der Erweiterung“8, erstmals den Versuch, die Geschichte einer einzelnen Truppe der Wehrmacht im System des „Dritten Reiches“ und des von ihm entfesselten Krieges quellengestützt und forschungsbasiert 9 mit den Mitteln des Museums zu verorten. Der Kriegseinsatz einer Waffengattung und ihr Nachleben seit 1945 waren bislang nie Gegenstand eines solchen Vorhabens; als Referenz im weiteren Sinn ist nur die im Frühjahr 2017 eröffnete Schau „Verheizt – vergöttert – verführt. Die Deutsche Gebirgstruppe 1915–1939“ des Bayerischen Armeemuseums in Ingolstadt zu nennen.

Unmittelbarer Anlass für die Ausstellung ist der 80. Jahrestag der deutschen Landung auf Kreta im Mai 1941 (Unternehmen „Merkur“). Doch es stehen nicht allein diese für die Erkenntnis der Leistungen und Grenzen von Luftlandeverbänden durchaus relevante Operation sowie die Schlacht um Cassino 1944 im Fokus.

Stattdessen werden die Bedeutung der Fallschirmjäger für die Kriegführung der Wehrmacht insgesamt und innerhalb des militärischen Gefüges zum Thema gemacht sowie deren Kriegsverbrechen dargestellt – in der Ausstellung und in diesem Band.10 Anschließend wird nach ihrer öffentlichen Wahrnehmung in der Nachkriegszeit11 und in den neuen westdeutschen Streitkräften gefragt. Wieviel von den Fallschirmjägern der Wehrmacht in der Bundeswehr steckt, muss noch genauer herausgearbeitet werden, hier können erste 9

Hinweise gegeben werden.12 Auch wenn sich die Bundeswehr bei ihrer Aufstellung 1956 gerade nicht in direkter Kontinuität zur Wehrmacht verstand, sind bedeutende personelle Überschneidungen offensichtlich; habituelle Gewohnheiten und mentale Residuen sind zukünftig differenziert herauszuarbeiten. Die Forschung hat angefangen, nach deren Prägekraft zu fragen, und das ist besonders relevant für die Infanterie im Allgemeinen und die als Elite verstandenen Fallschirmjäger im Besonderen13 – eben weil sie sich als Männer gerade für „schwierige Aufgaben“ verstanden, wie es der eingangs zitierte Offizier der Bundeswehr nach seinem Afghanistan-Einsatz formulierte.

Damit greift das MHM die Forderung des neuen Traditionserlasses der Bundeswehr von 2018 auf, die eigene Geschichte verstärkt zu thematisieren. In diesem Zusammenhang ist auch die unweigerlich mitschwingende Frage nach dem Verhältnis der „Armee in der Demokratie“ zur Wehrmacht des „Dritten Reiches“ zu stellen.14 In Spielfilmen, in Computerspielen, im Modellbau und in Reenactments werden Truppengattungen wie die SS oder eben auch die Fallschirmjäger zumeist unreflektiert dargestellt. Es geht darum, hierfür ein Problembewusstsein zu schaffen. Vor allem für eine jüngere Generation von Soldatinnen und Soldaten will die Ausstellung Orientierungswissen anbieten, das auch auf fragwürdige Traditionsbezüge hinweist.

Im Sommer 2020 wurde die 2. Kompanie des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr (KSK) aufgelöst.

Der Verband selbst hat seine Wurzeln in den 1990er Jahren in der Fallschirmjägertruppe. Die Kompanie war wegen rechtsextremistischer Tendenzen in die Kritik geraten. In ihrem Tagesbefehl vom 1. Juli 2020 erklärte die Bundesministerin der Verteidigung: „Das KSK zeigte in allen Einsätzen seit 1998 Spitzenleistungen.

Die Analyse der aktuellen Ereignisse und rechtsextremistischen Fälle macht jedoch deutlich, dass sich das KSK zumindest in Teilbereichen über die letzten Jahre 10

verselbständigt hat, abgeleitet aus einem ungesunden Eliteverständnis einzelner Führungskräfte.“15 Diese Feststellung, losgelöst von der Fokussierung auf das KSK, unterfüttert tagesaktuell den grundsätzlicheren wissenschaftlichen Anspruch des MHM: Es möchte mit seiner Ausstellung das Verhältnis von Mythos und Realität einer in der Erinnerungs- und Forschungsliteratur wie in der Belletristik16 und im Film präsenten Truppengattung diskutieren, die noch dazu mit dem Ruf des „Elitären“ verbunden war und ist.

Methodisch folgt das MHM dem Ansatz seiner beiden Ausstellungen zum 20. Juli 1944 aus den Jahren 2014 und 201917: Das Museum präsentiert „Hitlers Elitetruppe? Mythos Fallschirmjäger“ dem Publikum in Dresden einerseits mit interessanten Exponaten gleichsam „3-D“. Andererseits stellt es die Erkenntnisse in reduzierter Form als Plakatausstellung für die historische Bildung in der Bundeswehr zur Verfügung.

Dahinter steckt die Überzeugung, durch das Medium Plakatausstellung eine größere Reichweite zu erzielen, nämlich bei all jenen, die den Weg in die sächsische Landeshauptstadt nicht finden (können). So werden in verdichteter Form die geschichtlichen Kernaussagen transportiert. Von der Ausstellung des Jahres 2019 („Der Führer Adolf Hitler ist tot.“) wurden statt der ursprünglich geplanten ca. 50 Plakatsätze zunächst 120, aufgrund der unerwartet großen Nachfrage schließlich über 260 Sätze verteilt – ein Beleg für die Akzeptanz des Formats wie auch für das Selbstverständnis des MHM, in gleicher Weise die interessierte Öffentlichkeit anzusprechen und innerhalb der Bundeswehr als Servicedienstleister für historische Themen zu wirken.

III. Der Katalog- und Essayband zur Fallschirmtruppe 1935–1945 ist mehr als eine bloße Begleitpublikation zur Ausstellung. Er hat den Anspruch, den noch auffallend geringen Stand der Forschung nicht nur wider-

zuspiegeln, sondern zum Teil überhaupt erst zu markieren. Die zwischen 1998 und 2010 erschienenen Bücher zur Geschichte dieser Waffengattung von KarlHeinz Golla, Hans-Martin Stimpel und Günter Roth haben Grundlagen geschaffen; erkennbar ist jedoch, dass sie als Werke ehemaliger Angehöriger der Fallschirmtruppe interessengeleitet sind und durchaus pro domo sprechen.18 Die Herausgeber danken Peter Lieb und John Zimmermann, beide vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in Potsdam, sowie Thomas Schröder von der Unteroffizierschule des Heeres (USH) in Delitzsch für ihre Beiträge.

Lieb beleuchtet die von Fallschirmjägern in Italien und Frankreich begangenen Kriegsverbrechen und vergleicht sie mit jenen des Heeres und der Waffen-SS. Zimmermann und Schröder untersuchen die Wahrnehmung der deutschen Fallschirmjäger der Wehrmacht des Zweiten Weltkrieges in der Bundeswehr: zum einen im Kontext des allgemeinen Nachlebens der Wehrmacht in den westdeutschen Streitkräften des Kalten Krieges, zum anderen beispielhaft auf der lokalen Ebene an dem Einfluss, den ehemalige Luftlandesoldaten auf die Traditionsarbeit der BundeswehrFallschirmjäger in Iserlohn nehmen konnten. Magnus Pahl geht in einem Beitrag über die Organisation und Ausrüstung der Fallschirmtruppe insbesondere der Frage nach, ob es sich bei ihr tatsächlich um eine schlecht ausgerüstete und leichtbewaffnete Infanterie gehandelt hat. In zwei längeren Beiträgen untersuchen er und Armin Wagner zudem die wichtigsten Erinnerungsorte der Fallschirmjäger: Pahl analysiert operationsgeschichtlich Planung und Verlauf der Luftlandung auf Kreta 1941 und deren zentralen Referenzwert für diese Truppe schon während des Krieges und danach; Wagner betrachtet rezeptionsgeschichtlich einen westdeutschen Spielfilm aus den späten 1950er Jahren über die Schlacht um Cassino 1944 als zweiten, besonders prominenten Einsatz der Truppe.

IV. Als Direktor des MHM gilt mein erster und herausgehobener Dank, im Namen des Hauses wie persönlich, Dr. Magnus Pahl für die Kuratierung der Ausstellung, die Gesamtverantwortung für die Konzeption und die Realisierung des Vorhabens, schließlich die Konzipierung der vorliegenden Publikation. Unterstützt wurde er – informell – von Hauptmann Thomas Schröder, Lehroffizier für Militärgeschichte an der USH. Jede Ausstellung kann allerdings nur gelingen, wenn dem Kurator ein Team zur Seite steht, das dessen Ideen, seine Konzeption, die Exponatvorschläge und Textentwürfe in die Praxis umsetzt. Dass es gelungen ist, das gesamte Projekt – also Plakate, Ausstellung und Katalog – in kurzer Zeit und unter den ungünstigen Bedingungen der Covid-19-Pandemie des Jahres 2020/21 fertigzustellen, ist vor allem einem leistungsfähigen und enthusiastischen Team zu verdanken: Katja Springer gestaltete als externe Mitarbeiterin sowohl die Ausstellungsplakate als auch den Katalog. Wie schon 2019 bei der Ausstellung zum 75. Jahrestag des 20. Juli 1944 bewältigte sie diese Aufgabe mit großem Engagement in konstruktiver und inspirierender Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen des MHM: aus der Gestaltung Katrin Korritter und Katrin Micklich; für die Objektdisposition und den Leihverkehr Katja Friedrich und David Pfeffer; aus der Museumspädagogik das Team um Avgi Stilidis; für Recherche und Objekttexte Erik Zimmermann; für Bildrecherche und -lizenzierung sowie Koordinierung des Katalogs Steffen Jungmann; im Ausstellungsmanagement und -aufbau Sven Birke als Leiter mit Jens Wohllebe, Philipp Hornig und Heiko Herzog; für die Medienstationen Tilo Meissner und Isabell Bretsch; für die Katalogfotografien Andrea Ulke und in der Restaurierung Dr. Lutz Strobach und seine Mannschaft; für das Begleitprogramm Jan Kindler und für das Marketing Almut Hoffmann; zudem Oliver Frei vom MHM Berlin-Gatow für Fotorecherchen und Objekttexte; last but not least dem Bereich Sammlung unter Leitung von Götz Ulrich Penzel für die 11

Objektbereitstellung. Der Technische Betriebsdienst des Bundeswehrdienstleistungszentrums Dresden unter Leitung von Michael Schneider trug maßgeblich zum Ausstellungsaufbau bei. Die Kolleginnen und Kollegen vom Bundessprachenamt schließlich besorgten die Übersetzung der Plakatinhalte für eine englischsprachige Handreichung.

Aus dem ZMSBw gebührt unser Dank dem Kommandeur Kapitän z.S. Dr. Jörg Hillmann für die Bereitschaft, die Ausstellung durch Mitarbeiter aus seinem Haus zu unterstützen, vor allem aus dem Bereich Publikationen unter Dr. Christian Adam. Mag. phil. Michael Thomae hat, wie schon 2019, die Plakat- und Objekttexte sowie die Essays für den Begleitkatalog in gewohnt hoher Qualität lektoriert. Dipl. Ing. Bernd Nogli danken wir für die Anfertigung der Karte für den Beitrag zu Kreta 1941.

Dem Bundesarchiv-Militärarchiv unter Leitung von Michael Steidel ist für freundliche Unterstützung zu danken, wobei Cynthia Flohrs zuverlässige Recherchen zu betonen sind. Besonderer Dank gilt den privaten Leihgebern, die dem MHM persönliche Erinnerungsstücke oder Fotoaufnahmen anvertraut haben. Sie sind jeweils im Bildnachweis bzw. bei den Exponaten namentlich erwähnt.

Hauptmann Markus Lippmann, dem Betreuer der Militärgeschichtlichen Sammlung des Ausbildungsstützpunktes Luftlande/Lufttransport in Altenstadt, sowie dem Förderverein Fallschirmjägermuseum – hier vor allen Oberst a.D. Manfried Reinig und dem 2020 verstorbenen Oberstleutnant a.D. Dieter Finger – verdanken wir die Überlassung hochwertiger Leihnahmen und die großzügige Unterstützung mit Bildmaterial.

Dr. Rolf Wirtgen, dem ehemaligen Leiter der Wehr-

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technischen Studiensammlung in Koblenz, Oberst Jörg Busch, dem Sammlungsleiter des Ausbildungszentrums Pioniere in Ingolstadt, sowie schließlich dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Von der Zusammenarbeit mit Generalleutnant a.D. Hans-Werner Fritz, dem Präsidenten des Bundes Deutscher Fallschirmjäger hat das MHM profitiert. Auch sie seien in die Danksagung eingereiht.

V. Abschließend ein Hinweis: Die ersten Planungen für „Hitlers Elitetruppe? Mythos Fallschirmjäger“ sahen eine größere Sonderausstellung vor, die auch Leihnahmen aus Polen, Italien und Griechenland eingeschlossen hätte. Damit sollten Sichtweisen aus jenen Ländern einfließen, die Schauplatz der Landung auf Kreta (und weiteren griechischen Orten wie dem Korinth-Kanal und der Insel Leros) und der Schlacht um Cassino waren (oder wo, wie im Kampf um Klosterberg und Stadt Cassino, polnische Exileinheiten auf alliierter Seite einen entscheidenden Beitrag zum Kampf lieferten).

Auch mit dem Bayerischen Armeemuseum sollte vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dessen Ausstellung zur Gebirgsjägertruppe 1915–1939 kooperiert werden. Die Covid-19-Pandemie des Jahres 2020 hat dieses Vorhaben unmöglich gemacht, weil alle planerischen Schritte auf der Zeitachse unberechenbar geworden sind. Im Frühjahr 2020 brachen zum Teil die Kontakte zu Leihgebern in den genannten Ländern komplett ab. Das MHM hat sich deshalb, um die Eröffnung im Frühjahr 2021 garantieren zu können, unter Verzicht auf solche internationalen Leihen auf Exponate aus Deutschland beschränkt. Die Perspektive, die Kurator Magnus Pahl auf die Geschichte der Fallschirmtruppe in der Wehrmacht wirft, berücksichtigt gleichwohl das Handeln der alliierten Akteure.

Anmerkungen 1

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Wolfgang Schröder, Nacht über dem Hindukusch. In: Sascha Brinkmann und Joachim Hoppe (Hrsg.), Generation Einsatz – Fallschirmjäger berichten ihre Erfahrungen aus Afghanistan, Berlin 2010, S. 99–108, hier S. 108; Gerhard Nebel, Auf ausonischer Erde. Latium und Abruzzen. Italienisches Tagebuch 1943/44, Wuppertal 1949, S. 86.

Vgl. grundlegend Bernd Wegner, Hitlers politische Soldaten.

Die Waffen-SS 1933–1945: Leitbild, Struktur und Funktion einer nationalsozialistischen Elite, 9. Aufl., Paderborn [u.a.]

2010; aus der inzwischen umfangreicheren Literatur zur Waffen-SS siehe außerdem Jan Erik Schulte, Peter Lieb und Bernd Wegner (Hrsg.), Die Waffen-SS. Neue Forschungen, Paderborn [u.a.] 2014.

Vgl. dazu den Beitrag von Magnus Pahl zur Organisationsgeschichte und Ausrüstung der Fallschirmtruppe.

Hélie de Saint Marc, Asche und Glut. Erinnerungen, Friedberg 1998 (Mémoires. Les Champs de braises, Paris 1995), S. 100, 138. Zur Rezeption französischer Fallschirmjäger des Algerienkrieges bei Bundeswehrsoldaten dieser Truppengattung vgl. jetzt Sönke Neitzel, Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte, 5. Aufl., Berlin 2020, S. 290 f.

Nebel, Auf ausonischer Erde (wie Anm. 1), S. 83; Gerhard Nebel, Unter Partisanen und Kreuzfahrern, Stuttgart 1950, S. 19. Vgl. auch Neitzel, Deutsche Krieger (wie Anm. 4), S. 206 f.

Nebel, Auf ausonischer Erde (wie Anm. 1), S. 86. Vgl. dazu auch die einleitenden Bemerkungen in dem Beitrag von John Zimmermann in diesem Band.

Nebel, Unter Partisanen (wie Anm. 5), S. 171, auch S. 256; Nebel, Auf ausonischer Erde (wie Anm. 1), S. 168.

Vgl. grundsätzlich Thomas Kühne und Benjamin Ziemann, Militärgeschichte in der Erweiterung. Konjunkturen, Interpretationen, Konzepte. In: Thomas Kühne und Benjamin Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte?, Paderborn [u.a.]

2000, S. 9–46.

Der Kurator der Ausstellung hat jüngst eine grundlegende quellengestützte Studie vorgelegt: Magnus Pahl, Monte Cassino 1944. Der Kampf um Rom und seine Inszenierung, Paderborn [u.a.] 2021.

Vgl. dazu den Beitrag von Peter Lieb.

Hier untersucht am Beispiel eines Spielfilms der 1950er Jahre über den Kampf der Fallschirmjäger bei Cassino; vgl. den Beitrag von Armin Wagner.

Siehe die Beiträge von John Zimmermann und Thomas Schröder.

Vgl. Neitzel, Deutsche Krieger (wie Anm. 4), u.a. S. 204–207, 478–483, 533–539, 546 f.

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Nicht betrachtet wird das Fallschirmjägerbataillon 40, seit 1986 Luftsturmregiment 40 der Nationalen Volksarmee der DDR. Eine wissenschaftlichen Kriterien genügende Aufar- beitung der Geschichte dieses Verbandes fehlt völlig. Auch handelte es sich in seiner Größenordnung um einen nicht den Truppengattungen in Wehrmacht und Bundeswehr ähnlichen Verband.

Tagesbefehl der Bundesministerin der Verteidigung vom 1.7.2020: Folgen rechtsextremistischer Tendenzen im KSK, www.bmvg.de/de/aktuelles/akk-tagesbefehl-folgen-rechts extremistischer-tendenzen-ksk-273406 (12.12.2020).

Vgl. Otto Zierer, Rot schien die Sonne, München 1975 – der wohl bekannteste deutsche Belletristik-Titel über die Fallschirmjäger der Wehrmacht und „Programmroman“ dieser Truppengattung; in einer früheren Fassung unter dem Pseudonym Dietrich Hagen, Rot scheint die Sonne.

Roman der deutschen Fallschirmjäger, Balve 1960. Außer- dem wichtig: Heinz G. Konsalik, Sie fielen vom Himmel, Darmstadt 1958 (mit dem Kampf um Monte Cassino im Mittelpunkt); Will Berthold, Vom Himmel zur Hölle. Das Schicksal deutscher Fallschirmjäger, München 1958.

Vgl. Linda v. Keyserlingk, Gorch Pieken und Matthias Rogg (Hrsg.), Attentat auf Hitler. Stauffenberg und mehr, Dresden 2014; Magnus Pahl und Armin Wagner (Hrsg.), „Der Führer Adolf Hitler ist tot.“ Attentat und Staatsstreichversuch am 20. Juli 1944, Berlin 2019.

Vgl. Karl-Heinz Golla, Die deutsche Fallschirmtruppe 1936–1941. Ihr Aufbau und ihr Einsatz in den ersten Feldzügen der Wehrmacht, Hamburg, Berlin, Bonn 2004; Hans- Martin Stimpel, Die deutsche Fallschirmtruppe 1942–1945.

Einsätze auf Kriegsschauplätzen im Osten und Westen, Hamburg 2001; Hans-Martin Stimpel, Die deutsche Fallschirmtruppe 1942–1945. Einsätze auf den Kriegsschau- plätzen im Süden, 2. Aufl., Hamburg, Berlin, Bonn 2006; Hans-Martin Stimpel, Die deutsche Fallschirmtruppe 1936–1945. Innenansichten von Führung und Truppe, Hamburg, Berlin, Bonn 2009; Günter Roth, Die deutsche Fallschirmtruppe 1936–1945. Der Oberbefehlshaber Generaloberst Kurt Student. Strategischer, operativer Kopf oder Kriegshandwerker und das soldatische Ethos. Würdigung, Kritik, Lektion, Hamburg, Berlin, Bonn 2010. Vgl. dazu auch die Erinnerungen des kriegsgedienten Fallschirmjägers (und späteren Bildungsforschers) Hans-Martin Stimpel: Idyll – Inferno – Innovation. Autobiographische Skizzen 1926 bis 2000, Hamburg 2000.

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Ein verwundeter Fallschirmjäger in Chania. Kreta, Mai 1941.

Kreta 1941 – Die „Schwarze Madonna“ der deutschen Fallschirmtruppe Magnus Pahl „Wenn Hitler Student zu sich gerufen und befohlen hätte: ,Machen Sie Ihre Truppe fertig zur Landung auf dem Mond‘, Student hätte die Hacken zusammengeschlagen und ,Jawohl‘ gerufen!“1 Generaloberst a.D. Kurt Student war der Oberbefehlshaber der Fallschirmtruppe der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und in den frühen 1950er Jahren der Bundesleiter des „Bundes ehemaliger deutscher Fallschirmjäger e.V.“.

Die negative Einschätzung eines ehemaligen Fallschirmjägeroffiziers von 2004 bezog sich allgemein auf Students „Führertreue“ bis zur bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945. Veteranen und Militärexperten sahen Student nach dessen Tod im Jahr 1978 zunehmend kritisch. Sie suchten ihn auch für die Verluste während des Unternehmens „Merkur“, dem Luftlandeeinsatz auf Kreta im Mai 1941, verantwortlich zu machen, indem sie ihm eine unprofessionelle Planung und Führungsfehler vorwarfen.

Student wuchs mehr und mehr in die Rolle eines Sündenbockes, eines Außenseiters, der eigentlich gar nicht recht zur Fallschirmtruppe gepasst habe, wie es vor allem Günter Roth in seiner Biographie des Generalobersts darstellt. Den Angriff auf Kreta habe nicht Hitler ihm befohlen, sondern im Gegenteil, Student habe „etwas für sein Image“ tun wollen.2 Den Gipfelpunkt dieser Vorwürfe bildete die Einschätzung von Oberst a.D. Gerhart Schirmer, der auf Kreta ein Bataillon geführt hatte, später in die Fallschirmjägertruppe der Bundeswehr eingetreten war und dem Roth sein Buch gewidmet hat. In einem Brief an Roth kam Schirmer 2001 zu dem vernichtenden Urteil: „Strategisch und operativ war beim Kreta-Unternehmen alles idiotisch, leider auch Student.“3 Dabei war der Angriff auf Kreta im Mai 1941 in militärischer Hinsicht durchaus erfolgreich. Zudem war er ein Novum: Die deutschen Fallschirm- und die mit Transportmaschinen eingeflogenen Gebirgsjäger eroberten die Insel nahezu ausschließlich aus der Luft,

ohne nennenswerten Nachschub über See zu bekommen. Das Mittelmeer war in der Hand der britischen Marine, die italienischen Seestreitkräfte waren klar unterlegen, und die Deutschen konnten als größte Überwassereinheit lediglich einen erbeuteten griechischen Zerstörer ins Treffen schicken, während die Luftherrschaft bei den Deutschen lag. Die alliierten Verteidiger an Land, Neuseeländer, Australier, Briten und Griechen, waren den Deutschen zwar mit ihren über 42.000 Soldaten zahlenmäßig überlegen, verfügten aber ebenso wie die Angreifer kaum über schwere Waffen wie Artillerie, Panzer oder Panzerabwehrmittel; die einwöchigen Gefechte besaßen daher vorwiegend infanteristischen Charakter.4 „Merkur“ ist bis heute rund um den Globus bei allen Fallschirmtruppen ein fester Begriff. In Gesprächen mit Fallschirmjägern der Bundeswehr fällt diesbezüglich bisweilen sogar das Wort von einer sagenumwobenen „Schwarzen Madonna“. Eine Madonna ist in der christlichen Ikonographie ein populärer Begriff für das Marienbildnis, also der Einzeldarstellung der Mutter Gottes mit ihrem Kind Jesus. Madonnen mit schwarzem Gesicht, beispielsweise die Schwarze Madonna von Tschenschtochau (Polen), werden als besonders wundertätig verehrt. Wodurch jedoch konnte einer blutigen, auf Weisung Hitlers eröffneten Schlacht, in deren Verlauf zahlreiche Verbrechen begangen wurden, das Image einer anbetungswürdigen und ehrfurchtgebietenden Heiligenfigur zukommen?

Die Apotheose der deutschen Fallschirmtruppe wurzelt in der NS-Propaganda; sie feierte den Sieg und apostrophierte insbesondere die Kampfkraft der über 10.000 eingesetzten Fallschirmjäger als übermenschlich. Sie erschuf einen Heldenmythos, der bis heute wirkmächtig ist. Wie fast jedem Mythos, so haften auch dem Kreta-Mythos der Fallschirmjäger neben einem realen Kern falsche Vorstellungen und Erzählungen an, die mit der Wirklichkeit keine oder nur am Rande 15

Berührung haben. Der relativierende Zusatz „schwarz“ wird dabei bemerkenswerterweise nicht im Hinblick auf die eigenen Verbrechen an der Zivilbevölkerung gebraucht, sondern ist Teil der Selbstwahrnehmung: Der Angriff durch „des Führers kühnster Elitetruppe“, wie die Fallschirmjäger sich selbst bezeichneten5, kostete über 3.000 Soldaten Students das Leben, die meisten davon fielen am ersten Angriffstag, dem 20. Mai. Ungeachtet der strikten Geheimhaltung in der nationalsozialistischen Diktatur ließen sich die Verluste nicht verbergen. Das mangelnde Wissen schürte Gerüchte, auch in hohen Kommandobehörden der Wehrmacht.

Ein im Vorzimmer des Befehlshabers des Ersatzheeres dienender Reserveoffizier notierte etwa unter dem 27. Mai 1941 in sein Tagebuch: „Kreta Schlacht um Kr[eta] in d[er] Kr[iegs] Gesch[ichte] ohne Bsp. Kopfzer[brechen bei] Amateur Strategen d[er] ganzen Welt […] Es sollen 15000 t[ote] d[eutsche] Fallschirm[jäger] [sein].“6 Dennoch hatte die Wehrmacht die Insel besetzt. Wie war es möglich, dass Hitlers vermeintliche Elitekrieger so hohe Verluste hinnehmen mussten? In populären Vorstellungen wiegt ein Elitekämpfer einen Durchschnittssoldaten um ein Vielfaches auf. Die Annahme einer taktischen Überlegenheit der elitären deutschen Fallschirmjäger gegenüber den alliierten

Der im Mai 1940 in Rotterdam verwundete Kurt Student ließ sich im Lazarett im Kreis genesender junger Soldaten ablichten. Student war der Chefplaner von „Merkur“.

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Verteidigern gilt vielen militäraffinen Betrachtern noch heute als ausgemachte Sache. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Sind die Ursachen in der „idiotischen“ operativen Planung Students zu suchen?

Einsatz im Brennpunkt?

Nach dem Sieg über Frankreich im Mai 1940 hoffte Hitler auf dem Zenit seiner Macht, Großbritannien an den Friedenstisch zu bringen; das Britische Expeditionskorps in Frankreich war nur mit knapper Not bei Dünkirchen eingeschifft und nach England transportiert worden. Die deutsche Luftwaffe unter ihrem Oberbefehlshaber Hermann Göring hatte es nicht vermocht, die Evakuierung über See zu unterbinden. In der anschließenden Luftschlacht um England gelang es ihr überdies nicht, die Luftherrschaft zu erkämpfen. Sie war die Voraussetzung für eine erfolgversprechende deutsche Invasion auf den britischen Inseln (Unternehmen „Seelöwe“), die von der überlegenen Royal Navy gesichert wurden. Großbritannien unter Führung seines neuen kämpferischen Premierministers Winston Churchill bot Hitler die Stirn. Alle Welt stellte sich die Frage, wo Hitlers Kriegsmaschinerie als nächstes zuschlagen würde. Im Geheimen hatte Hitler bereits im Sommer 1940 Planungen für einen Überfall auf die verbündete Sowjetunion in Auftrag gegeben. Am Ende des Jahres war er fest entschlossen, den sogenannten britischen Festlandsdegen auszuschalten: Die Sowjetunion sollte 1941 zum Hauptkriegsschauplatz werden. Damit beschwor er das deutsche Trauma des Ersten Weltkrieges herauf, die Wiederholung eines Zweifrontenkrieges.

Das Britische Weltreich war angeschlagen, aber keineswegs geschlagen. Im Mittelmeerraum behauptete es fest seine Position gegen Hitlers schwachen Verbündeten Italien. Der italienische Diktator Benito Mussolini hatte 1940 ohne Absprache mit Hitler versucht, aus dem bereits 1939 besetzten Albanien heraus Griechen-

land niederzuringen und sich zudem den britischen Kolonialbesitz in Ägypten und Somalia anzueignen. Hitlers sofortiges Angebot, Luftlandekräfte für die Einnahme Kretas bereitzustellen, das zum Zeitpunkt von Mussolinis Angriff noch nicht von britischen Truppen besetzt war, lehnte der „Duce“ im Herbst 1940 ab.

Die militärischen Abenteuer Mussolinis schlugen fehl.

Hitler sah sich daher wegen seiner Bündnisverpflichtungen und aus geostrategischem Interesse genötigt, Kräfte für Nordafrika und den Balkan vorzusehen. Die inzwischen in Griechenland stationierten britischen Verbände galt es zu vertreiben. Im Dezember 1940 unterzeichnete Hitler kurz nacheinander die Weisungen für die Feldzüge gegen die Sowjetunion („Barbarossa“) und Griechenland („Marita“).

Die Fallschirmtruppe – die aus der 7. Fliegerdivision, einem Sturmregiment und anderen Korpstruppen des Luftlandekorps (Deckname: XI. Fliegerkorps) bestand, dem einsatz- und ausbildungsmäßig zudem die 22. Infanterie-(Luftlande-)Division des Heeres angehörte – war für „Barbarossa“ eingeplant worden.7 Diese Planung hätte auch dem Selbstverständnis der Fallschirmtruppe als Schwerpunktwaffe entsprechen dürfen; tatsächlich hatten nach späterer Darstellung des Kommandierenden Generals, General der Flieger Kurt Student, Generalstabsoffiziere des Heeres Anträge auf Zuweisung von Fallschirmjägern gestellt. Sie wollten sich wie im Mai 1940 in Belgien und in den Niederlanden in den Besitz von Brücken über die in Nord-SüdRichtung fließenden zahlreichen russischen Strombarrieren setzen. Doch Student lehnte zersplitterte Einsätze im Osten ab.8 Die Kampfhandlungen im Westen konnte er zunächst nicht selbst auswerten, da er im Mai 1940 in Rotterdam am Kopf verwundet worden war und erst ab 1. Januar 1941 wieder dienstfähig wurde. Mit diesem Stichtag hatte er zudem ein Generalkommando als Führungsorgan des Luftlandekorps neu aufzubauen.

Die taktischen Erfolge in den Niederlanden und Belgien hatten sich zwar zu operativen entwickelt, und an der strategisch bedeutsamen Kapitulation der Niederlande im Mai 1940 hatten auch die Luftlandekräfte einen wichtigen Anteil. Student zog jedoch falsche Schlüsse und leitete daraus die ambitionierte Forderung ab, dass sein auf dem Papier, aber nicht in der Realität aufgestelltes Korps, dessen Stab erst aufgebaut werden musste und dem beispielsweise Versorgungstruppen fehlten, nun eigenständige Operationen ausführen müsse. Student hatte die Vorstellung, dass diese gemäß den ursprünglichen Konzeptionen für die Fallschirmtruppe gegen hochwertige Ziele erfolgen, wenn nicht sogar „kriegsentscheidend“ sein sollten. Ein Überraschungsschlag bei Angriffsbeginn etwa gegen das Regierungsviertel in Moskau ließ sich aufgrund der sprichwörtlichen Weite des russischen Raumes und der begrenzten Reichweite der damaligen Transportmaschinen jedoch nicht realisieren.

Zudem übersah Student offenbar, dass bereits der weniger riskante Einsatz zur Einnahme des niederländischen Regierungsviertels um Den Haag gescheitert war. Den notwendigen Rückhalt für seine Verweigerungshaltung fand Student in Reichsmarschall Göring, der den Briten nach der verlorenen Luftschlacht um England an anderer Stelle eine Niederlage beibringen wollte, nicht zuletzt, um das angeschlagene Prestige seiner Luftwaffe und die persönliche Reputation wieder herzustellen.

Operative Planung des Unternehmens „Merkur“ Da Student mit Görings Protektion den Einsatz seiner Fallschirmtruppe auf dem bevorstehenden Hauptkriegsschauplatz abgelehnt hatte, blieb nur ein künftiger Nebenkriegsschauplatz als Einsatzraum für die Fallschirmtruppe übrig. Am 25. Januar 1941 hatte sich Student zu einer Besprechung über mögliche Einsätze im Mittelmeerraum im Führerhauptquartier einzu17

finden. Er wurde mit der Erarbeitung von Machbarkeitsstudien beauftragt und kam zu dem Ergebnis, dass mit Ausnahme des gut ausgebauten gebirgigen Gibraltars alle wichtigen Ziele, vor allem Kreta und Malta, durch das Luftlandekorps einnehmbar seien.

Anfang April 1941 griff die Wehrmacht Griechenland und nach einem Militärputsch in Belgrad, der eine deutschfreundliche Regierung entmachtete, Jugoslawien an. Bereits Mitte April zeichnete sich die Kapitulation beider Länder ab. Nun zeigte es sich, dass Students Befürchtungen hinsichtlich eines zersplitterten Einsatzes begründet waren, allerdings nicht im Osten, sondern im Südosten. Das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) ließ das verstärkte Fallschirmjägerregiment 2 (Tarnname: Detachement Süßmann) aus dem Verband des XI. Fliegerkorps herauslösen und auf den Balkan transportieren. Das Detachement Süßmann war dem VIII. Fliegerkorps unterstellt worden und schickte sich an, am Kanal von Korinth zu springen, um den Rückzugsweg des Britischen Expeditionskorps aus Griechenland abzuschneiden und ein „zweites Dünkirchen“ zu verhindern. Das VIII. Fliegerkorps verfügte zwar über keine eigenen infanteristischen Luftlandekräfte, war jedoch als einziges Fliegerkorps auf die Unterstützung von Bodentruppen spezialisiert. Mit dem Detachement Süßmann und unter Einbeziehung der 22. Infanteriedivision, die sich inzwischen zur Sicherung der rumänischen Erdölfelder gegen denkbare Aktionen sowjetischer Fallschirmtruppen bei Ploiești befand, stand rund die Hälfte von Students Truppen unter fremdem Kommando.

In dieser Situation schlug Student mit Rückendeckung Görings am 21. April Hitler vor, Kreta anzugreifen. Der Diktator zögerte. 9 Erst am 25. April unterschrieb er die Weisung „Merkur“. In der Eroberung Kretas sah Hitler eine prestigeträchtige Krönung seines Balkanfeldzuges. Vor allem glaubte er, einer potenziellen Bedrohung der rumänischen Erdölquellen, deren Intaktheit für die motorisierte Kriegführung der Wehrmacht im 18

„Merkur“ (lateinisch: Mercurius) galt als „Götterbote“ und war der römische Gott der Händler und Diebe. Er wurde oftmals mit einem geflügelten Helm dargestellt und konnte fliegen, weshalb er vermutlich als (programmatischer) Deckname für die Luftlandeoperation auf Kreta ausgewählt worden ist. „Fliegender Merkur“ von Hans Thoma, 1897.

Osten unabdingbar war, durch auf dem „Flugzeugträger“ Kreta stationierte britische Bomber wirksam begegnen zu können.10 Das letztgenannte Argument war ein zur Strategie deklariertes Feigenblatt, der Reichweitenvorteil für die britischen Bomber war gering.

Auch ließ sich Kreta angesichts der britischen Seeherrschaft und des bevorstehenden Abzugs der Mehrzahl der Luftwaffe aus dem Mittelmeerraum für „Barbarossa“ nicht als Sprungbrett für weitere Operationen nutzen, was der deutschen Führung eigentlich hätte klar sein müssen. Mit dem Einsatzbefehl für „Merkur“ beraubte sich Hitler einer hochmobilen Reserve für „Barbarossa“. Propagandistische Überlegungen und Prestigedenken gaben also für diese Entscheidung den Ausschlag.11 Die Folgen für die operative Planung des Luftlandeunternehmens waren verheerend. Drei volle Monate waren ungenutzt verstrichen, seitdem dieser Einsatz erstmalig erwogen worden war. Die Zeit, neben Kräften und Raum ein Faktor jeder militärischen Planung, wirkte sich in anderer Hinsicht noch gravierender aus als diese Unterlassungssünden: Hitler stellte in der Weisung „Merkur“ die Bedingung, dass der Termin für „Barbarossa“, der 22. Juni, durch „Merkur“ unter keinen Umständen gefährdet werden dürfe. Ihm kam es

insbesondere darauf an, das kampfkräftige und in seiner Zusammensetzung einzigartige VIII. Fliegerkorps beim bevorstehenden Überfall auf die Sowjetunion verfügbar zu haben, um den Panzerverbänden im Osten den Weg freizubomben. Damit das VIII. Fliegerkorps zeitgerecht in den ersten Juniwochen in den Osten verlegen konnte, musste „Merkur“ spätestens Mitte Mai beginnen und die Operationen mussten am Monatsende abgeschlossen sein. Andernfalls drohte den Fallschirmjägern, während der Bodenoperationen ohne die wertvolle Luftnahunterstützung auskommen zu müssen. Damit wäre der Ausgang des gesamten Unternehmens offen gewesen.

Mit der Federführung von „Merkur“ beauftragte Hitler den Oberbefehlshaber der Luftwaffe, der die Vorbereitung und Durchführung an die auf dem Balkan stationierte Luftflotte 4 delegierte. Die Luftflotte 4 konnte das XI. und das VIII. Fliegerkorps für „Merkur“ einsetzen. Die Kommandierenden Generale der beiden Fliegerkorps, Kurt Student und General der Flieger Wolfram Freiherr von Richthofen, hatten sich eng abzustimmen. Persönlich kamen sie schlecht miteinander aus.12 Nach Eingang der Weisung „Merkur“ holte Student am 25. April den Entwurf für einen Einsatzplan aus der Schublade. Ein Exemplar dieses ersten Planes über die „Absichten für die Besetzung der Insel Kreta“, der zur Voraborientierung an die 22. Infanteriedivision geschickt worden war, hat sich als Beutedokument im Militärarchiv der Russischen Föderation erhalten.13 Dieses Dokument erlaubt einen neuen Blick auf den Planungsprozess für „Merkur“. Die Feindlage, mit der gemäß vorgegebenem Schema gemeinhin jeder deutsche Befehl begann, war ausgespart worden! Über die Feindkräfte gab es zu diesem Zeitpunkt nur Vermutungen. Der militärische Nachrichtendienst besaß keine menschlichen Quellen auf Kreta. Selbst die sonst bei der Erstellung der feindlichen Kräfteverteilung sehr verlässliche Funkaufklärung konnte wenig zur Klärung der Feindlage beitragen. Insofern versprach sich die

Luftflotte 4 von der Luftaufklärung Aufschluss über das feindliche Kräftedispositiv. Student konnte kaum auf Tatsachen setzen, sondern musste seinen Operationsplan auf der Grundlage von Annahmen und Mutmaßungen erstellen. Auf Kreta vermutete die deutsche Feindaufklärung vor allem demoralisierte Reste des Britischen Expeditionskorps. Griechenlands Kapitulation ließ einen Einsatz griechischer Soldaten als abwegig erscheinen. Eingedenk der frischen Erfahrungen auf dem griechischen Festland nahmen Feindaufklärung und Luftflotte 4 an, dass sich die kretische Bevölkerung gegenüber den deutschen Invasoren aus der Luft ebenso wohlwollend wie ihre Landsleute zuvor verhalten würde. Ein fataler Irrtum.

Doch nicht nur hinsichtlich der Feindlage bewegte sich Student am 25. April im Ungefähren, sondern sogar bezüglich der eigenen Lage – die zu seinem Korps gehörende, aber mit Sicherungsaufgaben in Rumänien betraute 22. Infanteriedivision bezog er natürlich in seine Planungen mit ein. Tatsächlich teilte das OKW ihm Anfang Mai aber die 5. Gebirgsdivision als Ersatz zu. Der vorgesehene Lufttransportraum wurde Student hingegen zugebilligt: Er rechnete mit zehn Kampfgruppen z.b.V. (Transportgruppen). Diese zehn Gruppen verteilten sich mit ihren rund 500 Transportmaschinen vom Typ Junkers Ju 52 auf drei Kampfgeschwader z.b.V. Eine von Hitler während der Besprechung am 21. April zur Auflage gemachte Seestaffel, die vor allem die schweren Waffen der Fallschirm- sowie Gebirgsjäger zu transportieren hatte, berücksichtigte Student in seinem Plan vom 25. April nicht. Später gab er an, dass er das angesichts der britischen Dominanz im Mittelmeer riskante Manöver stillschweigend habe unterlaufen wollen.14 Die Angriffsziele auf Kreta legte Student aufgrund seiner Erfahrungen vom Vorjahr fest. Er war der Meinung, mindestens einen der drei Flugplätze Kretas in die Hand bekommen zu müssen. Andernfalls ließen 19

sich die für die Eroberung der Insel unentbehrlichen Luftlandekräfte, schweren Waffen und Versorgungsgüter nicht einfliegen. Diese drei Flugplätze bei Maleme (westlich von Chania), Rethymnon und Iraklion lagen an der Nordküste der Insel und waren durch eine Küstenstraße miteinander verbunden. (Das gebirgige Inland schied für Luftlandungen mit Ausnahme weniger, nur eingeschränkt geeigneter Plateaus aus.) Student beabsichtigte, diese Flugplätze einschließlich Chania gleichzeitig anzugreifen, nicht zuletzt, um alliierte Kräfteverschiebungen auf der Küstenstraße zu unterbinden. Die unweit der Sudabucht gelegene kretische Metropole Chania verfügte zudem über einen wichtigen Hafen auf Kreta.

Students Kräfteansatz sah drei Gruppen vor, jeweils geführt von einem General: Die Gruppe Ost bestand aus dem Fallschirmjägerregiment 1 sowie der Mehrzahl der 22. Infanteriedivision und sollte Stadt und Flugplatz Iraklion einnehmen (Führer: Generalleutnant Hans Graf von Sponeck, Divisionskommandeur). Die Gruppe Mitte setzte sich im Kern aus dem überstarken Sturmregiment zusammen und sollte Stadt und Flughafen Rethymnon erobern (Führer: Generalmajor Eugen Meindl, Regimentskommandeur). Die Gruppe West hatte mit dem Fallschirmjägerregiment 3 die schwierigste Aufgabe zu lösen und den Flugplatz bei Maleme einschließlich der rund 15 Kilometer östlich gelegenen Hauptstadt Chania einzunehmen (Führer: Generalleutnant Wilhelm Süßmann, Kommandeur 7. Fliegerdivision). Die Mehrzahl des am 25. April nicht zu seiner Disposition stehenden Fallschirmjägerregments 2 plante Student als Reserve ein; es war fraglich, ob es nach den Kämpfen bei Korinth einsatzbereit sein würde.

Der Flugplatz bei Iraklion galt als der modernste, ein neuer Flughafen bei Retyhmnon befand sich noch im Ausbau. Sollte es sich herausstellen, dass er besser als Iraklion für Luftlandungen geeignet sei, würden Teile der 22. Infanteriedivision als Verstärkungskräfte auf 20

diesem eingeflogen. Student sah zudem Vorausabteilungen in Kompanie- und Bataillonsstärke vor und plante den Einsatz der Lastensegler ein. Die genaue Kräfteverteilung innerhalb der Gruppen ließ er am 25. April offen, sie hatte später bestimmt zu werden.

Für die beabsichtigte zeitgleiche Landung an mehreren Stellen hatte Student den Begriff des Ölfleck-Verfahrens geprägt: Kleine Päckchen seiner „Fallschirmer“ sollten an verschiedenen Stellen landen, Widerstandsnester („Igel“) bilden, diese ausweiten und sich schließlich zu einem großen Fleck vereinigen. Dieses Verfahren lief dem klassischen Führungsdenken des Heeres zuwider, in dem der Bildung eines klaren Schwerpunktes zentrale Bedeutung in jeder militärischen Operation zukam. Der Befehlshaber der Luftflotte 4, General der Flieger Alexander Löhr, und Richthofen, beide von den vor Ort befindlichen Generalstabsoffizieren des Heeres beeinflusst, kritisierten Student dafür. Interessanterweise zogen beide Parteien aus der ungeklärten Feindlage Argumente für ihre jeweilige Planung: Löhr und Richthofen argumentierten, dass ein klarer Schwerpunkt – sie dachten an den Westteil der Insel um Maleme – die Gewähr dafür böte, dass selbst im Falle stärkerer Feindkräfte diese durch eine deutsche Kräftekonzentration bezwungen werden könnten. Student berief sich hingegen auf seine Erfahrungen aus dem Vorjahr: Ein Flugplatz müsse mindestens gewonnen werden. Erst nach gewaltsamer Klärung der Feindlage könne ein Schwerpunkt festgelegt und durch luftgelandete Verstärkungskräfte gebildet werden. Für Students Auffassung sprach, dass sie die zeitliche Auflage in Form von Luftnahunterstützung für maximal zwei Wochen in Rechnung stellte; der Ansatz der Operation war zwar riskanter – nach Students Lesart kühner –, versprach aber, sich nicht so sehr in die Länge zu ziehen wie planmäßig vorgetragene Infanterieangriffe auf der Küstenstraße von West nach Ost. Hinzu kam, dass Student um den taktischen Ausbildungsstand seiner Regimenter wusste. Lediglich dem Fallschirmjägerregiment 3, dessen Kommandeur und ein Großteil der

Offiziere aus dem Heer stammten, mag er zugetraut haben, einen planmäßigen Infanterieangriff in Regimentsstärke vorzutragen.

Neben der Planung für den Einsatz hatte Student den Aufmarsch seiner Kräfte vorzubereiten. Das Gros der 7. Fliegerdivision verlegte auf der Eisenbahn auf den Balkan und dann weiter im Landmarsch durch Griechenland. Der für einige Einheiten bis zu 3.000 Kilometer lange Anmarsch vollzog sich unter den kritischen Augen des Generalstabschefs des Heeres, der hinter seinen Tagebucheintrag „4.800 Kraftfahrzeuge“ ein Ausrufezeichen setzte15 – der hohe Motorisierungsgrad der 7. Fliegerdivision Görings stieß auf Eifersüchteleien. Während die Fallschirmeinheiten pünktlich bis zum 15. Mai, dem zunächst vorgesehenen Angriffstag, auf den improvisierten Feldflugplätzen eintrafen, ließ sich das Flugbenzin für die Ju 52 nicht pünktlich heranschaffen. Der Angriffstermin musste auf den 18., schließlich auf den 20. Mai verschoben werden.

An der Planung Students vom 25. April hatte sich im Kern nichts geändert. In erster Linie war die Kräfteeinteilung aktualisiert worden, bedingt durch die Rückunterstellung des Detachements Süßmann sowie den Austausch

der 22. Infanterie- mit der 5. Gebirgsdivision. Student musste aufgrund des limitierten Transportraums von rund 500 Ju 52 seine vier Fallschirmjägerregimenter auf zwei Wellen aufteilen. Für das Absetzen aller Fallschirmjäger in erster Welle wären mehr als 1.000 Ju 52 erforderlich gewesen, die gesamte Luftwaffe verfügte jedoch mit Stand 17. Mai über lediglich 675 Transportmaschinen.16 Die erste Welle, die am Morgen des 20. Mai mit dem Lastensegler landen oder mit dem Fallschirm abspringen sollte, bildeten das Sturmregiment (das später durch ein Gebirgsjägerregiment verstärkt werden sollte) der Gruppe West bei Maleme sowie das Fallschirmjägerregiment 3 bei Chania als die eine Hälfte der Gruppe Mitte. Ursprünglich hatte Student für die Einnahme des Raumes Maleme-Chania nur das Fallschirmjägerregiment 3 in erster Welle eingeplant. Nach Rückkehr der rund 500 Ju 52, Neubetankung und An-Bord-Gehen sollte die zweite Welle mit dem Fallschirmjägerregiment 2 bei Rethymnon – ebenfalls zur Gruppe Mitte zählend –, sowie dem verstärkten Fallschirmjägerregiment 1 bei Iraklion als Gruppe Ost abspringen. Auf dem Flugplatz von Iraklion sollten später in dritter Welle die Hauptkräfte der 5. Gebirgsdivision eingeflogen werden. Student stand unter scharfer Beobachtung. Sein Konkurrent Richt21

hofen vertraute am 16. Mai seinem Tagebuch an: „Ich habe den Eindruck, dass der ganze Laden Student unglaublich kriegsfremd und unwendig ist. Habe daher Sorge für Gelingen.“17

20. Mai 1941 – Parole „Reichsmarschall“ Die alliierten Verteidiger erwarteten den deutschen Angriff. Aufgrund der Ultra-Aufklärungsergebnisse, entzifferten deutschen Funksprüchen, war der Oberbefehlshaber der sogenannten Creforce, der bisherige Kommandeur der 2. Neuseeländischen Division General Bernard Freyberg, bestens über die deutschen Kräfte, die beabsichtigten Einsatzräume und den Angriffstermin im Bilde.18 Im Kern verfügte Freyberg über zwei von drei Brigaden seiner 2. Neuseeländischen Division sowie über britische und australische Infanteriekräfte, die er um die Flugplätze konzentrierte.

Pünktlich um 07:15 Uhr flogen Richthofens Jagdflugzeuge, Zerstörer, Sturzkampfflugzeuge (Stuka) und Kampfflugzeuge (Bomber) Luftunterstützung, parallel dazu landeten die ersten Lastensegler des Sturmregiments. Die meisten der insgesamt 72 verfügbaren Lastensegler waren in dessen I. Bataillon zusammengefasst. Der Hauptauftrag der mit Lastenseglern landenden Soldaten bestand in der Vernichtung der Flakbatterien bei Maleme und Chania. Der unmittelbar gegen die Flakstellungen gerichtete Lastenseglereinsatz galt als noch gefährlicher als der Fallschirmsprung, weshalb deren Besatzungen von anderen Fallschirmjägern als „Todeskommandos“ bezeichnet wurden.19 Für das Anrufverfahren im gegnerischen Gebiet hatte Student die Parole „Reichsmarschall“ ausgeben lassen; er hätte sich wohl kaum einer liebdienerischeren Geste bedienen können. Das Sturmregiment hatte sich für das riskante sogenannte verkürzte Verfahren entschieden, einer auf dem Überraschungsfaktor basierenden Handstreichtaktik: Das II. und das III. Bataillon sprangen mit 22

dem Fallschirm mitten in das Angriffsziel bei Maleme – und damit in abwehrbereite neuseeländische Truppen.20 Die Fallschirmjäger wurden zumeist aus einer Höhe von 80 bis 120 Metern abgesetzt und benötigten rund 20 bis 30 Sekunden bis zur Landung. Einige der Soldaten wurden bereits am Schirm getroffen, allerdings insgesamt wohl weniger, als oftmals vermutet worden ist: Sinkgeschwindigkeit, Abdrift und Pendelbewegungen machten es selbst den ausgezeichneten neuseeländischen Schützen schwer, Treffer zu erzielen. War der Schwebezustand mit der Landung beendet, setzte ein noch größerer Schwächemoment ein: Der Fallschirmjäger benötigte mindestens 80 bis 90 Sekunden, um sich stehend vom Gurtzeug zu befreien. Er bot somit ein vortreffliches Ziel. Hatte er diese beiden kritischen Phasen überstanden, musste er sich überdies, zumeist unter feindlichem Feuer, an die mit Fallschirm abgeworfenen Waffenbehälter heranarbeiten, die die Gewehre und Maschinengewehre enthielten.

Einige Waffenbehälter wurden falsch ausgeklinkt und fielen in alliierte Hände. Am Körper trugen die Fallschirmjäger lediglich Pistolen und Eierhandgranaten, nur wenige von ihnen Maschinenpistolen. Die schweren Waffen, etwa Panzerabwehrgeschütze, wurden an fünf miteinander gekoppelten Fallschirmen, dem sogenannten Fünfling, abgeworfen und mussten ebenfalls unter Feindfeuer geborgen und einsatzbereit gemacht werden. Die bunten Lastenfallschirme erleichterten den Verteidigern schließlich das Erkennen und Bekämpfen der Fallschirmjäger.

Unter diesen Umständen entwickelte sich bei Maleme ein ungleicher Kampf, den ein neuseeländischer Captain anschaulich schilderte: „Die erste Welle schien über uns zu kreisen und auf dem Flugfeld zu landen, die zweite schien über unseren Rücken hinweg Richtung 21. Bataillon zu schweben; wir begannen zu schießen, obwohl die meisten sich außerhalb unserer Reich-

weite befanden. Plötzlich kamen sie mitten unter uns runter. Ich beobachtete gerade den Einsatzraum des 21. Bataillons, als ein Paar Stiefel in einem Olivenbaum ganz in der Nähe auftauchte. Sie waren direkt über uns. Um mich herum krachten Schüsse. Ich hatte eine Thompson-MP und es war wie Tontaubenschießen.“21 Das III. Bataillon des Sturmregiments wurde bei diesem „Tontaubenschießen“ nahezu komplett aufgerieben, das II. Bataillon erlitt ebenfalls große Verluste.

Ein neuseeländischer Batteriechef wusste in ähnlicher Form zu berichten: „Ein weiterer armer Teufel wird bei der Landung erledigt. Sein Fallschirm verfängt sich in einem Olivenbaum und er endet an einer Steinmauer lehnend, den Kopf in die Hände gestützt, als hätte er an der Mauer meditiert, als der Tod ihn ereilte. Tote Deutsche überall – Fallschirme, die sich in Bäumen verfangen haben und noch im Winde flattern.“22 Lediglich das westlich des Flugplatzes über feindfreiem Gelände abspringende IV. (schwere) Bataillon landete nahezu unbeschadet. Bei ihm sollten auch vier Lastensegler landen, die zwei Gebirgskanonen 36 der Fallschirmartillerieabteilung mit sich führten. Da einer dieser Lastensegler verloren ging, war nur ein Geschütz einsatzbereit. Das IV. Bataillon griff mit seinen schweren Waffen den Flugplatz aus Westen an, während das dezimierte II. Bataillon die den Flugplatz beherrschende Höhe 107 attackierte. Der Führer der Gruppe West, Generalmajor Meindl, wurde schwer verwundet.

Der Führer der Gruppe Mitte, Generalleutnant Süßmann, erreichte erst gar nicht das Gefechtsfeld. Sein Divisionsstab war auf vier Lastensegler verteilt worden.

Süßmanns Lastensegler stürzte nach dem Abbrechen seiner Tragflächen, womöglich wegen Materialermüdung, im Anflug auf Kreta ab. Die anderen Lastensegler landeten planmäßig im Abschnitt des Fallschirmjägerregiments 3. Dessen I. und II. Bataillon sowie das unterstellte Fallschirmpionierbataillon wurden ebenfalls planmäßig abgesetzt. Der Absetzraum dieser Kräfte südlich Chania mit einem größeren Gebäudekomplex,

Ein Fallschirmjäger des Sturmregiments blickt auf den schwer umkämpften Flugplatz bei Maleme. Bei dem Fotografen handelte es sich um einen „Knipser“, der den Film fälschlicherweise doppelt belichtet hat.

es handelte sich um ein Zuchthaus, und einem Stausee waren aus der Luft gut erkennbar. Hier waren überdies nur schwache alliierte Kräfte eingesetzt, sodass die Mehrzahl des Regimentes relativ geordnet den Boden erreichte. Das III. Bataillon, das dichter an Chania heran landen sollte, wurde demgegenüber mit seinen Kompanien falsch abgesetzt, wohl auch deshalb, weil es kaum aus der Luft erkennbare markante Punkte, sogenannte Bauernlineale, gab. Zudem sprang das Bataillon in den abwehrbereiten Feind. Es wurde zu großen Teilen aufgerieben. Ein neuseeländischer Corporal schilderte bildhaft das Absetzen von Teilen dieses Bataillons: „Durch die Bäume hindurch sah ich große Truppentransportflugzeuge schwerfällig durch die Luft manövrieren, während kleine Punkte aus ihren Rümpfen sprangen, deren Fall von sich plötzlich aufblähenden Fallschirmen gebremst wurde. Der ,Blitz‘ war da.

Bald war der Himmel voller luftiger Pilze und während diese herabsegelten, brausten die sie begleitenden Messerschmitts über unseren Köpfen – knapp über unseren Köpfen hinweg, denn sie rauschten gerade so über die Baumspitzen hinweg, um uns mit ihrem Motorenlärm abzulenken. ... Ich ging am Fuß eines Baumes in Stellung und eröffnete mit Leuchtspurmunition das Feuer auf die baumelnd herabsinkenden Gestalten. ... Überall wurde geschossen und die Fallschirmjäger boten uns ein leichtes Ziel, als sie etwa 150–200 Yards [ca. 140–180 m] entfernt im grasreichen Gelände und in den Weingärten landeten. Viele wurden 23

Ein wenige Wochen vor „Merkur“ gemachtes, hochaufgelöstes Luftbild von den Höhen um Galatas.

Für Luftbildauswerter waren die Höhenunterschiede gut zu erkennen.

erschossen, bevor sie sich aus ihrem Schirm befreit hatten. Sehr wenige überlebten in unserem Bereich.“23 Anders als das Sturmregiment hatte sich der Kommandeur des Fallschirmjägerregiments 3 Oberst Richard Heidrich für das sogenannte planmäßige Verfahren entschieden, also das Absetzen weitab vom zutreffenderweise im Raum Chania erwarteten Gegner. Nach dem Sammeln wollte er einen planmäßigen Infanterieangriff im Regimentsverband ausführen. Doch der Angriff in Richtung Chania gegen einen schwachen Gegner scheiterte; in diesem Abschnitt stand den Fallschirmjägern eine aus Kampfunterstützungstruppen neu gebildete neuseeländische 10. Brigade gegenüber.

Der Regimentskommandeur machte später die besondere Geländegestaltung für seinen Misserfolg verantwortlich; die beherrschenden Höhen um Galatas und der Talkessel als Landeraum wären aus den ausgezeichneten Luftbildern angeblich nicht erkannt worden; zudem habe das missglückte Absetzen des III. Bataillons 24

dazu beigetragen. Heidrich, der unmittelbar nach seiner Landung mit dem Fallschirm den verunglückten Divisionskommandeur ersetzen musste, forderte gegen 15:15 Uhr als Führer der 7. Fliegerdivision über Funk das ebenfalls zur Gruppe Mitte gehörende Fallschirmjägerregiment 2 an, um die Initiative auf dem Gefechtsfeld zu gewinnen und seinen Auftrag auszuführen. Dieser Antrag hatte weder praktisch – die zweite Welle ließ sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr umlenken und hätte sich laut Plan bereits in der Luft befinden müssen – noch theoretisch Aussicht auf Genehmigung, da Student das Fallschirmjägerregiment 2 für Rethymnon fest eingeplant hatte. Mit seinem Antrag baute Heidrich für später argumentativ vor, da sich ein Misserfolg bereits abzeichnete. (Am 20. Mai fielen 313 Soldaten des Regiments, die Kämpfe in den folgenden Tagen kosteten nochmals 60 Tote).24 Das passive Binden von Kräften des Gegners konnte später von Heidrich als Teilerfolg verkauft werden. Insgesamt waren am Morgen des 20. Mai 4.320 Mann in der ersten Welle gelandet

und damit 1.390 weniger, als vom einkalkulierten Transportraum her möglich gewesen wären, da auch schwere Waffen und Gerät mitgeführt werden mussten.25 Die zweite Welle am Nachmittag des 20. Mai konnte nicht gemäß dem Zeitplan starten, der sehr eng bemessen war. Zwar waren bis auf sieben alle Ju 52 zurück auf die Feldflugplätze gekommen. Die enorme Staubentwicklung auf den unbefestigten Pisten bewirkte jedoch, dass das Auftanken und An-Bord-Gehen sich teilweise um mehrere Stunden verzögerten.

Am nachteiligsten erwies sich, dass die Luftnahunterstützung des VIII. Fliegerkorps, welches pünktlich am frühen Nachmittag über Rethymnon und Iraklion flog, nicht zeitgleich mit den Luftlandungen erfolgte. Die unzureichenden Kommunikationsmittel hatten es nicht erlaubt, die Formationen Richthofens über eine Verschiebung zu unterrichten geschweige denn die Luftangriffe mit den verspäteten Fallschirmlandungen zu koordinieren. Infolgedessen sprangen die Fallschirmjägerregimenter 1 und 2 – anders als das Sturm- und das Fallschirmjägerregiment 3 am Morgen – ohne direkte Luftunterstützung. Bei der zweiten Welle wurden 3.740 Mann abgesetzt.26 Der Kommandeur des um ein Bataillon verminderten Fallschirmjägerregiments 2 der Gruppe Mitte, dessen Soldaten teilweise von Heidrich ausgebildet worden waren, hatte ein Verfahren gewählt, das dem planmäßigen näher als dem verkürzten kam: Seine beiden Bataillone sollten nach Versammlung aus nahegelegenen Räumen Stadt und Flugplatz Rethymnon erobern.

Die Feindlage um Retyhmnon war am undurchsichtigsten. Die hier eingesetzten Australier hatten in den Wochen zuvor ihre Flak am Flugplatz bewusst nicht gegen die deutschen Aufklärungsflugzeuge eingesetzt.

Die Eroberung einer mittelgroßen Stadt mit nur einem Bataillon, wie es sich der aus der Luftwaffe stammende Kommandeur Oberst Alfred Sturm vorstellte, war zum Scheitern verurteilt. Sturm selbst wurde kurz nach der

Landung gefangen genommen. Seine beiden um die Hauptkräfte des feuerstarken Fallschirm-MG-Bataillons und der mit neuen 10,5-cm-Leichtgeschützen ausgerüsteten Fallschirmartillerie verstärkten Bataillone igelten sich getrennt voneinander ein; sie entgingen in den kommenden Tagen nur knapp der Vernichtung.

Oberst Bruno Bräuer, der Kommandeur des Fallschirmjägerregiments 1, wählte dasselbe Rezept wie das Sturmregiment bei Maleme, das sogenannte verkürzte Verfahren. Er plante seinen Sturmangriff beiderseits des Flugfeldes. Bräuers II. Bataillon sprang in den abwehrbereiten Feind am Flugplatz und wurde nahezu komplett aufgerieben, während das I. Bataillon zwar im feindfreien Raum, aber aufgrund eines Absetzfehlers zu weit östlich abgesetzt wurde. Sein III. Bataillon unternahm, nach Westen gesichert durch das zugeteilte II. Bataillon des Fallschirmjägerregiments 2, den Angriff auf die Stadt Iraklion, freilich auch mit viel zu geringen Kräften. Die Stadt konnte nicht erobert werden.

Bräuer befand sich beim I. Bataillon. Infolge des Absetzfehlers hätte er einen herkömmlichen Infanterieangriff gegen den Flughafen führen können, sofern er einen solchen Angriff denn beherrscht hätte. Stattdessen kennzeichneten unprofessionelle Einzelaktionen Bräuers Gefechtstätigkeiten am 20. und 21. Mai, die ein beteiligter Angehöriger des I. Bataillons schilderte: „Weiter in Richtung Flugplatz durch die Weinfelder entlang der Küstenstraße. Links von mir sehe ich auf einmal den Gefreiten Hans Scherm von unserer Gruppe mit dem MG 34. Neben ihm läuft ein zweiter Mann, führt Munition zu, gibt Ziele an. Ich sehe unter der Kombination das Ritterkreuz. Es ist unser Bataillonskommandeur Major Walther. Es wird mir langsam klar, dass wir so den Berg vor uns nicht erobern können.“27 Der Veteran der Kämpfe um Narvik und in den Niederlanden, Major Erich Walther, war wie Bräuer aus der Polizei hervorgegangen. Seine Führungstätigkeit erschöpfte sich in der Ausübung von Aufgaben eines einfachen Soldaten.

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Ordnung im Chaos?

Ein Angehöriger der Fallschirmpanzerjägerabteilung ruht während einer Kampfpause auf dem Holm einer 3,7-cm-Pak. Er hält einen erbeuteten, auch als Sonnenschutz benutzbaren Regenschirm in der Hand. Hohe Temperaturen und unzweckmäßige Bekleidung führten zu zahlreichen Ausfällen wegen Hitzeschlägen. Kreta, Mai 1941

Mit Ausnahme des Fallschirmjägerregiments 2, zu dem keine Verbindung zustande kam, meldeten die Regimenter über Funk ihre Lage zu Students Stab nach Athen. Student konnte daraus entnehmen, dass keines der Angriffsziele erobert worden war. Lediglich der Kampf um Maleme versprach einen gewissen Erfolg.

Am späten Abend des 20. Mai entschied er sich für die Schwerpunktbildung bei Maleme und passte damit seinen Operationsplan der aktuellen Lage an. Am 21. Mai sollten Oberst Bernhard Ramcke, der aus zurückgelassenen Fallschirmjägern einen Gefechtsverband in Bataillonsstärke zusammengestellt hatte, sowie zwei Fallschirmpanzerjägerkompanien bei Maleme springen. Zudem hoffte Student am zweiten Angriffstag die ersten Gebirgsjäger einfliegen lassen zu können. Als Voraussetzung dafür galt, die neuseeländischen Stellungen auf der Höhe 107 zu erobern, aus denen das Flugfeld im direkten Richten beschossen werden konnte.

Den Deutschen spielte eine alliierte Fehlentscheidung in die Hände: Das gegenüberliegende neuseeländische Bataillon hatte nicht verstärkt werden können. Sein Kommandeur entschloss sich dazu, die Höhe 107 in der Nacht zu räumen. Am frühen Morgen des 21. Mai befand sie sich daher in der Hand des Sturmregiments.

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Am Morgen des 21. Mai landeten die ersten Verstärkungen aus der Luft bei Maleme: der Gefechtsverband Ramcke in Stärke von rund 550 Fallschirmjägern sowie zwei Fallschirmpanzerjägerkompanien mit 20 Pak und Zugmitteln. Am Nachmittag folgte ein Gebirgsjägerbataillon mit Ju 52 auf dem Flugplatz, der sich noch immer unter Artilleriefeuer befand. Ramcke übernahm am Abend die Führung über die Reste des Sturmregiments und versuchte, Ordnung in das taktische Chaos zu bringen. In der Nacht vom 21. auf den 22. Mai unternahmen die Neuseeländer den Versuch, den Flugplatz und die Höhe 107 zurückzugewinnen. Er scheiterte.

Die Alliierten erwarteten nach wie vor nennenswerte deutsche Verstärkungen von Seeseite her (und kalkulierten aufgrund von Auswertefehlern ihrer Intelligence-Analysten sogar den Einsatz der 22. Infanteriedivision ein), sodass sie stärkere Truppenkontingente in der Küstenverteidigung belassen zu müssen glaubten. Die Wehrmacht versuchte tatsächlich, über den Seeweg Verstärkungen nach Kreta zu bringen. Doch die Royal Navy stellte die erste leichte Seestaffel mit über 60 unzulänglichen Seefahrzeugen (es handelte sich um gecharterte Motorsegler mit griechischer Besatzung) in der Nacht vom 21. auf den 22. Mai, vernichtete deren vorderste Schiffe und zwang den Rest zur Umkehr. Das VIII. Fliegerkorps konnte diese Niederlage nicht verhindern. Auch die zweite leichte Seestaffel wurde am Morgen des 22. Mai von der Navy gestellt; der Versuch, ihr ähnlich hohe Verluste beizubringen, schlug fehl. Bei Tageslicht konnte die Luftwaffe die britischen Seestreitkräfte angreifen und ihnen erhebliche Verluste zufügen. Doch auch die zweite Seestaffel musste umkehren. Die ausgeschifften Fallschirm- und Gebirgsjäger der beiden Seestaffeln hatten sich nun auf einen Lufttransport umzustellen. Verstärkungen konnten weiterhin nur aus der Luft herangeführt werden.

Zu diesen zählte der Gefreite Peter Stoerk vom Fallschirmjägerregiment 3, der zu seiner großen Enttäuschung nicht der ersten Welle zugeteilt worden war.

Stoerk schnappte sich einen „umherstehenden Schirm“ und hoffte, von einer Ju 52 mitgenommen zu werden.

Am 22. Mai war es soweit: „Ich hätte aufjubeln können vor Freude, als sich die Maschine langsam erhob. […]

Dann wieder das herrliche Gefühl des Niederschwebens und glatte Landung. Ich suchte sofort, nachdem ich mich vom Schirm losgemacht hatte, mein Gewehr, das in einem WAB [Waffenabwurfbehälter] war, als ich schon zusammenschrak. Eine Salve Granaten krepierte um mich und dann auf dem nahen Flugplatz [Maleme].

Dort sah es wüst aus. Auf dem kleinen Rollfeld lagen ungefähr 30 Ju‘s, die bei der Landung Bruch gemacht hatten und von Artillerie zerschossen waren.“ Der Gefreite folgte dem Gefechtslärm und stieß auf Angehörige des Sturmregiments: „In der vordersten Stellung lehnten sie an den Häuserwänden und suchten in den Häusern Deckung vor Sonne und feindlichem Feuer. In zwei Tagen waren sie erst 3 Kilometer vorgekommen und hatten schwere Verluste gehabt. Kein Offizier kümmerte sich um den Vormarsch. Das war jedenfalls nicht meine Truppe.“28 Stoerk musste einsehen, dass er sich nicht zu seinem – Heidrichs – Regiment durchschlagen konnte und kämpfte mit den Fallschirmpanzerjägern.

Das dezimierte Sturmregiment bot einen chaotischen Anblick. Kampfmoral und Siegeswillen des Einzelschützen waren zwar hoch, nach dem Ausfall vieler Offiziere fehlte es aber vielerorts an der nötigen Koordination, um Einsatzfreude, Draufgängertum und Opferwillen in zweckmäßige Bahnen zu lenken.29 Auch die mediterranen Temperaturen setzten den Fallschirmjägern stark zu. Vor allem aber war das Regiment zwar auf den risikoreichen Sturmangriff aus der Luft und den Kampf in kleinen Gruppen trainiert worden, nicht aber für den Infanteriekampf im größeren Rahmen. Auch die zugeteilten Fallschirmpanzerjäger verhielten sich im Kampf entlang der Küstenstraße nicht immer so, wie es für die mit Versorgungsgütern wie Munition bei

einem Luftlandeeinsatz äußerst knapp gehaltene Fallschirmtruppe zu erwarten gewesen wäre: „Wiederum schießen wir mit unseren 3,7-cm-Geschützen wild in die Gegend, ohne ein konkretes Ziel ausmachen zu können.“ 30 Doch wie sah es bei Stoerks Fallschirmjägerregiment 3 aus? Heidrichs Bataillone kämpften zwar geordneter, aber letztlich genauso erfolglos wie die Fallschirmjägerregimenter 1 und 2. Seine Soldaten lagen vor den Höhen von Galatas fest. Stellenweise mussten sie vor den bunt zusammengewürfelten alliierten Truppen sogar zurückweichen. Ein neuseeländischer Kraftfahrer erinnerte sich an einen Gegenangriff am 22. Mai gegen Heidrichs Regiment, bei dem ein Offizier „eine wilde Horde Griechen“ angeführt habe, „unter ihnen waren auch Frauen. Ein Grieche hatte ein Brotmesser mit einer wellenförmigen Klinge wie ein Bajonett an einer Schrotflinte festgebunden, andere trugen die verschiedensten uralten Waffen.“ Die Deutschen hätten bei dem Sturmangriff dieser „ungehobelten Truppe“ „die Flucht“ ergriffen.31 Die alliierten Angriffe verfehlten nicht ihre Wirkung, doch Heidrich wollte sich von ihnen unter keinen Umständen den Schneid abkaufen lassen. Dem Kommandeur des II. Bataillons, Major Helmut Derpa, befahl er die Einnahme der Höhen vor Galatas, um auf Chania vorstoßen zu können. Derpa fiel am 22. Mai nach Darstellung Heidrichs – die von den meisten Veteranen später übernommen wurde –, weil er entgegen dessen Befehl aus eigenem Entschluss eine Höhe frontal angegriffen habe, die er zuvor aufgegeben hatte. Für den Kommandeur des I. Bataillons, Major Friedrich August Freiherr von der Heydte, stellte sich das freilich anders dar. In seinen nur in englischer Sprache publizierten Erinnerungen an „Merkur“ schilderte er die Befehlsausgabe vor dem Angriff: „Zu dem Zeitpunkt, da diese Befehle gegeben wurden, äußerte der Kommandeur des II. Bataillons seine Bedenken über den 27

Angriff, den er führen sollte. Der Regimentskommandeur jedoch, dessen Nerven zum Zerreißen gespannt waren, wollte von solchen Bedenken nichts wissen.

Er schnitt dem Kommandeur des II. Bataillons das Wort ab und bezeichnete ihn als feigen Hund. Zutiefst getroffen verlor der sensible und ritterliche Bataillonskommandeur jede Farbe im Gesicht. Sogar aus seinen zusammengepressten Lippen schien alles Blut gewichen zu sein. Nach einem Moment der Stille salutierte er: ,Um mein eigenes Leben geht es mir nicht, Herr Oberst‘, antwortete er. ,Aber ich sorge mich um das Leben der Männer, für die ich verantwortlich bin. Mein eigenes Leben würde ich gerne geben.‘ Das waren die letzten Worte, die ich aus seinem Munde hörte.“ Ein Frontalangriff auf eine Höhe ohne Artillerieunterstützung – gewissermaßen nach dem in der Wehrmacht verpönten sowjetischen Muster der frühen Kriegsjahre und gegen die Regeln der Kriegskunst – , wie ihn von der Heydte schilderte, hätte ein schlechtes Licht auf den Ruf Heidrichs als begnadeten Taktiker geworfen. Insofern verwundert es nicht, dass Heidrich später seine Sicht auf die Dinge verbreitete. Von der Heydtes Bild von Heidrich war insgesamt kein allzu Positives: „Der Regimentskommandeur hatte sich ganz dem Dienst in der Armee verschrieben – das heißt dem militärischen Drill. Nie konnte ich feststellen, dass er außermilitärische Interessen irgendeiner Art gehabt hätte.

Er suchte und fand seine einzige Form der Erholung im Offizierkasino, wo er regelmäßig enorme Mengen von Alkohol zu sich nahm. Er war ein Junggeselle und seine einzige Liebe – sofern er zu einer solchen Regung fähig war – galt seinen beiden Dackeln, den einzigen lebenden Wesen, die es wagen durften, ihm nicht zu gehorchen.

Er war durch die harte Schule des Heeres gegangen und hatte offenbar jeden Glauben an die Menschlichkeit verloren. Das Ergebnis war, dass er seine Mitmenschen ausschließlich nach ihrer Fähigkeit beurteilte, ihm bedingungslos zu gehorchen. Doch war er trotz alledem ein ausgezeichneter Ausbilder.“32 Heidrich hatte seine Fallschirmjäger auch für das Erbeuten von 28

Der Kommandeur des Fallschirmjägerregiments 3, Oberst Richard Heidrich (mit Schirmmütze), zeichnet nach der Schlacht einen Soldaten aus.

Material im Feindesland ausgebildet. Seine Soldaten übertrugen das „Organisieren“ auch auf Nachbareinheiten. In einer zeitgenössischen Auswertung des unterstellten Fallschirmpionierbataillons, das unter anderem mit Flammenwerfern und anderem Spezialgerät ausgestattet war, wurde über die Fahrt eines mit Waffen und Gerät einer Kompanie beladenen „BeuteLKW“ auf dem Weg zum Bataillonsgefechtsstand berichtet. Er kam nicht dort an: „Fahrzeug und Ladung werden vom Kommandeur eines Nachbarbataillons, das sie auf ihrer Irrfahrt schließlich antreffen, als willkommene Verbesserung seiner Ausrüstung beschlagnahmt, ,da es die Lage erforderte.‘“33 Alle drei Fallschirmjägerregimenter der 7. Fliegerdivision waren indes zur Verteidigung übergegangen, lediglich das inzwischen verstärkte Sturmregiment griff weiter an. Die Fallschirmjäger gingen auf der Küstenstraße vor, während die Gebirgsjäger durch das unwirtliche Gebirge marschierten und von dort aus die neuseeländischen Stellungen im schmalen Küstenstreifen aus den Angeln hoben. Die Operationen leitete ab dem 22. Mai der eingeflogene Kommandeur der Gebirgsdivision Generalmajor Julius Ringel. Student hatte zwar die Operationsplanung des Angriffs aus der Luft vorgenommen, die Operationsführung am Boden traute man ihm höheren Orts jedoch nicht zu. Am 23. Mai vereinigten sich die Gruppen West (vorstoßende Ge-

birgsjäger) und Mitte (Heidrichs Regiment). Ringels Gebirgsjäger konnten am späten Abend des 25. Mai Galatas einnehmen. Erst an diesem Tag durfte Student nach mehrmaligen Anträgen auf die Insel fliegen.

Seine Rolle war mehr die eines Schlachtenbummlers denn die eines militärischen Führers. Seine größte Sorge bestand darin, dass die beiden Igelstellungen des Fallschirmjägerregiments 2, die um ihr Überleben kämpften, kapitulieren könnten.

Auch hier sah es ähnlich chaotisch aus wie beim Sturmregiment, wie sich ein Angehöriger einer dem III. Bataillon zugeteilten Fallschirm-MG-Kompanie erinnerte: „Eine militärische Führung gab es in unserem Teil des Verteidigungsringes eigentlich nicht. Befehle wurden kaum jemals irgendjemandem erteilt. Jeder tat das, was er zur Verteidigung für notwendig und zweckmäßig hielt. Das bedeutete, daß sich mehrmals impulsiv unter dem Eindruck und dem Feuerschutz der Tiefangriffe des Haifischgeschwaders [Zerstörergeschwader 76] Gegenangriffe gegen die Australier entwickelten, die zwischen uns und den einigen Kilometer ostwärts kämpfenden Fallschirmjägern lagen. Diese improvisierten Angriffe brachen jedesmal schnell wieder zusammen und hatten große Verluste für uns zur Folge. Ich kann mich erinnern, daß ein schwerverwundeter Fallschirmjäger unserer Kompanie mit Bauchdurchschuß es ablehnte, zum Verbandsplatz zu gehen.

Er nahm, aus der Hüfte mit dem MG schießend, an einem Angriff teil und fiel kurz darauf. Die Tapferkeit mancher Fallschirmjäger grenzte an Tollkühnheit, und es war für die wenigen verbliebenen Unteroffiziere oft schwer, ihre Männer im Zaum zu halten und sinnlose Aktionen zu vermeiden.“34 Den Eindruck eines chaotischen Verhaltens im Gefecht hatte auch Richthofen gewonnen, der am 26. Mai in sein Tagebuch notierte: „Fallschirmtruppen sehr nieder, Verluste, Offizierverluste, ganz durcheinander und sehr undiszipliniert. Im Erdkampf nicht ausgebildet. Bestätigung meines bisherigen Eindrucks.“ 35

Auf dem Propagandasektor tat Joseph Goebbels alles, um einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Zunächst berichtete die NS-Propaganda unter dem Eindruck schlechter Nachrichten und ungewisser Erfolgsaussichten überhaupt nicht über „Merkur“. Doch die Lage wirkte sich täglich günstiger für die Deutschen aus, die kontinuierlich neue Verstärkungen einfliegen lassen konnten. Am 26. Mai durchbrachen Fallschirmund Gebirgsjäger die alliierten Stellungen vor Chania, Freybergs Soldaten mussten sich in Richtung Sudabucht zurückziehen. Aufgrund dieser Lageentwicklung entschloss sich Freyberg dazu, den Kampf auf Kreta abzubrechen und sich mit seinen Hauptkräften durch das Gebirge an die Südküste nach Chora Sfakion durchzuschlagen. Von diesem Fischerort aus wollte er seine Truppen nach der Einschiffung nach Ägypten evakuieren lassen. Erst an diesem 26. Mai informierte die NSPropaganda offiziell die deutsche Öffentlichkeit. Unangenehmes wurde ausgeblendet. Goebbels gab auf der Ministerkonferenz die Sprachregelung über die Ereignisse des zurückliegenden (schwarzen) 20. Mai an seine Propagandisten weiter: „Mit der Erklärung in der deutschen Sendung des Londoner Rundfunks, deutsche Fallschirmjäger hätten sich auf Kreta mit dem Fallschirm in den Bäumen verfangen und seien ‚wie die Affen abgeschossen worden‘, wollen wir uns in Deutschland nicht beschäftigen.“36 Das verstärkte Fallschirmjägerregiment 1 war derweil zwar weniger als das 2. gefährdet, vernichtet zu werden, es konnte aber nicht verhindern, dass die Briten den Flugplatz von Iraklion sogar für Zwischenlandungen nutzten; Student wollte nach wie vor den Flugplatz in die Hand bekommen, mindestens aber in den Bereich eigener Waffen bringen. Am 28. Mai hatte er zusätzlich zu zwei vier Tage vorher abgesetzten Kompanien ein komplettes, wenn auch zusammengewürfeltes Fallschirmjägerbataillon zuführen lassen.

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Doch auch diese Kräftezuführungen bewirkten nichts.

Bräuer gelang es nicht einmal, auf Tuchfühlung mit dem Gegner zu bleiben. Am 29. Mai stieß er mit seinem Regiment ins Leere – die Briten hatten sich in der Nacht zuvor unbemerkt eingeschifft. Doch nicht nur 4.000 britische Verteidiger von Iraklion entkamen über die See nach Ägypten. Trotz der Luftherrschaft hatten die Deutschen zu spät bemerkt, dass sich die meisten Soldaten Freybergs planmäßig auf Chora Sfakion zurückzogen. Offenbar waren ihre Augen zu sehr auf die Befreiung der Kameraden in Rethymnon und Iraklion fixiert, die am Monatsende bewerkstelligt werden konnte. Nur ein Teil der alliierten Verteidiger musste vor den Deutschen die Waffen strecken. Der offizielle OKW-Bericht bezifferte die alliierten Verluste auf Kreta (ohne Seestreitkräfte) mit 10.700 Briten und 5.000 Griechen als Gefangene bei rund 5.000 alliierten Gefallenen.37 Tatsächlich lagen die Verluste der britischen, neuseeländischen und australischen Truppen bei knapp 3.500 Mann, von denen lediglich etwas über 1.700 gefallen sind. Knapp 12.000 Soldaten Freybergs gerieten in Gefangenschaft, hinzu kamen rund 10.000 gefangen genommene griechische Soldaten. Die Flugzeuge des VIII. Fliegerkorps hatten, vornehmlich am 22. Mai, überdies drei Kreuzer und sechs Zerstörer der Royal Navy versenkt und mehrere Kriegsschiffe beschädigt, mehr als 2.000 Marineangehörige verloren dabei ihr Leben. Die Höhe der griechischen Gefallenen und getöteten kretischen Zivilisten ist bis heute unbekannt.

Rund 17.000 alliierte Soldaten wurden insgesamt von der Royal Navy evakuiert, was die NS-Propaganda freilich verschwieg.

Nach Abschluss der Kampfhandlungen schlug die Stunde der „Vergeltung“.38 Die angreifenden Fallschirmjäger hatten nicht mit der Gegenwehr von Zivilpersonen gerechnet. Ihr neuntes Gebot forderte – entgegen den geltenden Bestimmungen des Völkerrechts, das vorsah, im Kampf aufgegriffene Zivilpersonen den Feldgerichten zu übergeben – einem Partisanen gegen30

über kein Pardon zu gewähren, sprich: ihn zu töten.39 Bereits am ersten Angriffstag handelten Angehörige des Sturmregiments nach diesem sogenannten Gebot und erschossen kretische Zivilisten.40 Die zumeist blutjungen Fallschirmjäger glaubten sich im Recht, als sie ihre Untaten begingen, und warfen den Kretern vor, mit den Gewalttaten gegen die Fallschirmjäger angefangen zu haben. Die Verbrechen der Deutschen wurden von höherer Stelle nicht nur gefördert, sondern gefordert. Ähnlich wie bei dem bereits ausgearbeiteten Kriegsgerichtsbarkeitserlass für das Unternehmen „Barbarossa“ sollte die Truppe unter bewusster Ausschaltung der Wehrmachtjustiz freie Hand bei den „Vergeltungsmaßnahmen“ bekommen. Neben der Ermordung von Zivilisten zerstörten Fallschirm- und Gebirgsjäger ganze Dörfer. Das Vorgehen erwies sich in rein militärischer Hinsicht als Bumerang, da es viele kretische Bauern erst in die Hände der Partisanen (Andarten) trieb. Die verbrecherische Politik des Besatzungsregimes führte dazu, dass starke Besatzungsverbände hier jahrelang festlagen, so die erstklassig ausgebildete und ausgerüstete 22. Infanteriedivision.

Zu Tode gesiegt?

Kreta war im Mai 1941 erobert worden, aber die Fallschirmjäger hatten sich dabei nach dem Empfinden vieler Beteiligter wenn nicht ganz, so doch zumindest halb zu Tode gesiegt. Auch Churchill sprach von einem „Pyrrhussieg“ und behauptete sogar, dass die alliierten Inselverteidiger die Speerspitze der Wehrmacht gebrochen hätten.41 Von Kreta wurde schon bald als Grab der Fallschirmtruppe gesprochen. Diese Auffassung hält sich bis in die heutige Zeit. Ein ehemaliger Fallschirmjägeroffizier sprach 2004 sogar von einem „Selbstmordunternehmen“.42 Doch war es das wirklich?

Von den über 11.000 eingesetzten Fallschirmjägern waren gemäß einer Auswertung des Bundes Deutscher