lang des über zwei Kilometer langen Prachtboulevards boten modernsten Wohnkomfort. Auch heute sind die Bauten an der Karl-Marx-Allee und Frankfurter Allee begehrter Wohnraum – und zugleich ein umkämpftes Feld, auf dem Interessen von Mietern und Investoren aufeinandertreffen. Thorsten Klapsch und Michaela Nowotnick haben mit Kamera und Notizbuch die Architektur der Straße sowie
MEIN STALINBAU
sozialistischen Ost-Berlin. Die »Arbeiterpaläste« ent-
Thorsten Klapsch Michaela Nowotnick
Die Stalinallee war das erste Wohnbaugroßprojekt im
Thorsten Klapsch Michaela Nowotnick
MEIN STALINBAU Eine Berliner Straße und die Geschichten ihrer Bewohner
die Geschichten und den Alltag ihrer Bewohner dokumentiert. Im Gespräch mit Alteingesessenen und Zugezogenen wird deutlich, wie sehr die deutsch-deutsche Vergangenheit bis in die unmittelbare Gegenwart wirkt.
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20 Euro [D]
ISBN 978-3-8148-0248-0
www.bebraverlag.de
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Thorsten Klapsch Michaela Nowotnick
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Wir verwenden in diesem Buch bei allgemeinen Personenbezeichnungen nach Möglichkeit geschlechtsneutrale Formen. Auch wo aus Gründen der besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit nur die in der Umgangssprache übliche männliche und/oder weibliche Form verwendet wird, sind im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich alle Geschlechter gemeint.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD -ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © berlin edition im be.bra verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2021 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Fotografie: © Thorsten Klapsch Text: Michaela Nowotnick Idee und Konzept: Thorsten Klapsch und Michaela Nowotnick Umschlag und Gestaltung: Thorsten Klapsch und typegerecht berlin Satz: typegerecht berlin Druck und Bindung: Finidr, Český Těšín ISBN 978-3-8148-0248-0 www.bebraverlag.de
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INHALT
Vorwort
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NACHBARSCHAFTSBESUCHE »Jeden Tag bin ich auf die Baustelle und hab’ jeackert.« 45 Christa und Armin Dürr »Was bleibt dann noch von Berlin?« 55 Maja Planinc und Alan Kucar mit Mali und Niki »Hier ist ganz viel Geschichte.« Manuel Salati »Leere Wohnungen verkaufen sich besser.« Ursula und Wolfgang Grabowski
63
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»Ich mag die Gemeinschaft.« Rossano Snel
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»Es ist nicht langweilig hier.« Vivian Sommer
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»Es war, als ob uns jemand auf den Kopf geschlagen hätte.« Gisela und Dieter Hechler
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»Wir sind hier als erste Neubürger eingezogen.« Rüdiger und Frank
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»Es stand ja alles leer.« Achim Bahr
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»Hier bin ich geboren und wohn‘ hier immer noch.« 129 Ingeborg Jütz (sen.) und Ingeborg Jütz (jun.) »Man hat das Gefühl, man kann sich auch wehren.« Florian Peters, Marcus Grätsch, Michael Heinke »Allet, allet waren Jenossen.« Christel und Artur Sahr »Vielleicht bin ich zur falschen Zeit hergekommen.« Cécile Wagner
139
151
161
»Ich bin ja jetzt der Methusalem.« Gerhard Hupe
171
»Es ist ein Stück Geschichte hier.« Françoise Bertrand
179
»Das Milieu, das geschützt werden soll, existiert hier gar nicht mehr.« Gudrun Prengel
187
»Früher war ich scharfer Gegner der Alleea stalina.« Bruno Flierl
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ANHANG Zeittafel
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Die Autorin / Der Fotograf
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Dank
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VORWORT
Ein älterer Herr erhebt sich von seinem Stuhl.
diesem Nachmittag in einem Büro der Partei Die
Schmächtig ist er, in der Hand die Baskenmütze,
Linke eingefunden. Hier berichten Menschen
ohne die er nie das Haus verlässt. Seit mehre-
von ihren Erfahrungen, die »schon verkauft«
ren Stunden schon debattieren Bewohnerinnen
sind, wie der Prozess des Eigentümerwechsels
und Bewohner des Wohnblocks G Nord über ein
genannt wird. Bedrohlich hierbei ist, dass nicht
Rundschreiben, das die Hausverwaltung ihnen
mehr einem Eigentümer der ganze Block ge-
hat zukommen lassen. »Mitteilung über den
hört, sondern dass Wohnungen einzeln verkauft
Verkauf Ihrer Wohnung und anstehende Sanie-
werden, wodurch eine Kündigung auf Eigenbe-
rungsarbeiten«, heißt es dort. Der Block wurde
darf ermöglicht wird und die Mieterinnen und
bereits in Eigentumseinheiten aufgeteilt und
Mieter nach Ablauf von Schutzfristen jederzeit
soll nun an Investoren und Privatpersonen ver-
ereilen kann. »Enteignung! Dagegen müssen wir
äußert werden. Es ist der letzte Wohnbau an der
vorgehen«, meinen die einen. »Wir haben keine
fast drei Kilometer langen Straße, die sich sym-
Chance«, sagen die anderen. Ob Luxussanierun-
bolträchtig vom Alexanderplatz aus in Richtung
gen durchgeführt werden dürfen, fragt man sich,
Osten erstreckt: die einstige Stalinallee, heute
teurer würde es wohl allemal werden – und dann
Karl-Marx-Allee und Frankfurter Allee, oder
die drohende Kündigung, der Baulärm. Wer soll
kurz »die Allee«.
das aushalten?
Man habe sich für Besichtigungen zur Verfü-
Bislang waren die Wohnungen hier ver-
gung zu halten, so lautete die knappe Aufforde-
gleichsweise günstig, um die fünf Euro bezahlt
rung der Hausverwaltung an die Bewohnerinnen
man für den Quadratmeter im Monat. Das Wohn-
und Bewohner des Blocks. Die Volkssolidarität,
umfeld hat sich in den vergangenen Jahren kaum
eine 1945 im Ostteil Deutschlands gegründete
gewandelt, man lebt hier in weitgehend stabilen
Hilfsorganisation, hat daraufhin zu einer Infor-
Nachbarschaften, ist gut an das U-Bahnnetz und
mationsveranstaltung eingeladen. Auch wir, die
die Straßenbahn angeschlossen, Einkaufsmög-
wir selbst seit den frühen 2000 er Jahren in der
lichkeiten sind fußläufig erreichbar. Undichte
Allee leben sind durch den bevorstehenden Ver-
Fenster, defekte Fahrstühle und ein marodes
kauf beunruhigt. Gut zehn Jahre ist es her, dass
Wasserleitungssystem lassen sich da ertragen,
kaum jemand hier leben wollte und viele Woh-
zumal der Hausmeister immer ein gutes Wort
nungen leerstanden. Angst vor Verdrängung gab
für die Bewohnerinnen und Bewohner übrig-
es noch nicht und niemand von den Mieterinnen
hat. Doch die große Prachtmagistrale verbindet
und Mietern konnte sich vorstellen, dass nur we-
eben auch das Zentrum Berlins mit den frühe-
nige Jahre später der eigene Lebensraum vakant
ren Randgebieten, die nun selbst zum Innen-
werden sollte. Und so haben auch wir uns an
stadtbereich gehören. Und dieser hat sich in den
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vergangenen Jahren verändert: Zuzug und Im-
immer würden sie hier wohnen, sagen sie, also
mobiliengeschäfte führten zur ›Aufwertung der
schon immer seit den frühen 1950 er-Jahren. Viel
Wohngegend‹. Nun lohnt sich die Filetierung der
haben sie gesehen, fast ihr ganzes Leben hier
eindrucksvollen Arbeiterpaläste – auch wenn sie
verbracht. Und nun das! Ob wir einmal vorbei-
wohl rechtswidrig war, wie jemand einwirft. Aber
kommen könnten, um uns zu unterhalten, die
wer wolle im Nachhinein Klage erheben?
angedeuteten Geschichten aufzuschreiben und
Angst steht in den überwiegend älteren Gesichtern. Nur wenige Menschen unter 60 sind
vielleicht auch zu fotografieren? Kaum jemand verneint diese Frage.
dem Aufruf von Wolfgang Grabowski gefolgt, der
Und so beginnen wir, unsere Nachbarinnen
schon seit Tagen nicht müde wird, zur heutigen
und Nachbarn und ihre Wohnungen kennen-
Veranstaltung einzuladen. An den Hausbriefkäs-
zulernen. Zum Kaffee gibt es Erzählungen von
ten hatten wir uns kennengelernt, als er gerade
Krieg und Verlust, aber auch von Hoffnungen,
die Flyer aus seinem kleinen Einkaufstrolley,
die in ein neues Land gesetzt wurden, dessen
dem Hackenporsche, nahm. Auf den Dank für
Spiegel diese Straße zu sein scheint. Die Woh-
sein Engagement, antwortete er: »Ich bin nun
nungen, der intime Privatraum, stehen offen für
so alt, ich habe nichts mehr zu verlieren. Und
uns, gern wird uns Einblick gewährt, sind doch
einer muss seinen Kopf hinhalten bei solchen
viele nach wie vor stolz darauf, hier wohnen zu
Dingen, das war früher so und ist es heute auch
können. Wir werden weiterempfohlen, auf den
noch. Kommen Sie dazu, wir brauchen junge
breiten Bürgersteigen, der einstigen Flanier-
Kämpfer.«
meile vor dem Haus, wechseln wir nun öfter
Der Herr mit der Baskenmütze räuspert sich
ein Wort miteinander. Und wir beginnen, ge-
und blickt fest in die Runde: »Wir haben die
zielt weitere Bewohner der Allee anzusprechen.
Straße mit aufgebaut, wir lassen uns nicht von
In der Mieterinitiative engagieren sich auch
denen vertreiben. Es ist unsere Straße.« ›Wir‹
Jüngere, viele von ihnen leben ebenfalls schon
und das bedrohliche unbekannte Gegenüber.
seit Jahren hier. Im Fahrstuhl, auf dem Gehweg
Von Vertreiben sei ja keine Rede, wirft jemand
und beim Straßenfest sprechen wir miteinan-
ein, das sei der Lauf der Dinge, die Transforma-
der. Sprechen über unsere Häuser und ihre Ge-
tion, die jede Metropole ereilen würde. Es gäbe
schichte, über das Leben in den Prestigebauten
sicherlich auch positive Seiten, Sanierung sei
eines verschwundenen Landes, die nun wieder
nicht per se schlecht. Die Anwesenden sprechen
zum begehrten innerstädtischen Wohnraum ge-
durcheinander. Nach langen Diskussionen und
worden sind.
vielen Wortmeldungen wird beschlossen, eine
Innerhalb weniger Jahre hat sich unser Um-
Mieterinitiative zu gründen, um über Bauvorha-
feld mehrmals radikal verändert. Es entstehen
ben, über Verkauf, Rechte und Pflichten zu in-
neue Formen des kurzzeitigen Wohnens, die Me-
formieren und gegebenenfalls gemeinsam han-
tropole ist für viele nur eine Übergangsstation.
deln zu können. Eine starke Gemeinschaft soll
Einige der Mieter kaufen die Wohnung, in der sie
den bislang weitgehend unbekannten anderen
leben, und versuchen, an alte Traditionen anzu-
gegenüberstehen.
knüpfen. Gemeinsam mit Alt- und Neumietern
Auf dem Heimweg kommen wir ins Gespräch
sowie mit anderen Eigentümern veranstalten sie
mit einigen Besuchern der Veranstaltung. Schon
Hausfeste und treffen sich in Cafés. Sie sammeln
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Spenden und setzen sich für den Erhalt ihres
mern, die bisweilen die Wohnungen noch nicht
Hauses ein.
einmal besichtigt haben, steigt. Die Angst vor
Bald nach der Ankündigung des Verkaufs
Kündigungen und Klagen wird zum stetigen Be-
gehen die ersten unserer Nachbarn, wollen vor
gleiter der Mieterinnen und Mieter, die zum ei-
drohendem Baulärm und Mieterhöhungen ent-
nen ›ihren Stalinbau‹ nicht verlassen wollen und
fliehen. Die Wohnungen an Karl-Marx-Allee und
zum anderen kaum eine alternative Wohnung in
Frankfurter Allee werden zu Spekulationsobjek-
der Innenstadt finden. Und plötzlich sind unsere
ten, viele von ihnen stehen leer. Manche wiede-
Hausbesuche nicht nur eine Dokumentation des
rum bieten Berlintouristen das nötige Ambiente
Vergangenen, sondern zeigen auch Veränderun-
für ein Partywochenende: »Real GDR-chic in
gen auf, die für manche einen Neuanfang bedeu-
former Stalinallee«. Und bald beginnt das, was
ten, für andere aber auch große Sorgen um das
sich in anderen Großstädten und auch in an-
Grundrecht Wohnen mit sich bringen.
deren Teilen Berlins längst vollzogen hat: Die
Einige von den Menschen, die wir besucht
Mieten steigen und sind bei Neuvermietungen
haben, sind inzwischen verstorben, andere leben
insbesondere für die untere und mittlere Ein-
nicht mehr hier. Doch auch ihre Geschichten
kommensschicht kaum noch bezahlbar. Abmah-
sind Teil dieses einzigartigen Gebäudeensemb-
nungen flattern ins Haus und der Druck seitens
les und sollen auf den folgenden Seiten erzählt
der Hausverwaltungen sowie von Neueigentü-
werden.
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