Jeremy Denk

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Etüde und Exzess Klaviermusik von Bach bis Ligeti

Wo l f g a n g S t ä h r

Wie ein Haussegen Wenn der Tag anbrach, begab sich Pablo Casals zum Klavier und spielte Bach, an jedem Morgen, ein geliebtes, in langen Jahren niemals vernachlässigtes Ritual. „Anders kann ich es mir gar nicht vorstellen“, bekannte er. „Es ist so etwas wie ein Haussegen, aber es bedeutet mir noch mehr: die immer neue Wiederentdeckung einer Welt, der anzugehören ich mich freue.“ In diesem Geist lässt sich das Leben offenbar glücklich bestehen, bis in ein hohes, biblisches Alter, wie es dem spanischen Cellisten beschieden war. Mit Dankbarkeit begann er seine Tage: mit Bachs Musik, die ihm Wegweisung war, Meditation, ein klarer Spiegel und ein Himmelszeichen. Bach legt den Grund und bezeichnet den Anfang. Als er seine Englische Suite in a-moll BWV 807 schrieb, setzte er ein Prélude an den Beginn, das weniger ein Vorspiel als vielmehr selbst bereits die Hauptsache zu sein scheint – und obendrein wie der Kopfsatz eines imaginären Konzertes klingt. Ja, der Wechsel zwischen dem Ritornell und den Episoden (symbolisch zwischen Tutti und Solisten) gemahnt unverkennbar an die Concerti der italienischen Zeitgenossen Albinoni, Torelli und Vivaldi, auf deren Spuren Bach wandelte, nicht nur dies eine Mal. Dem verheißungsvollen Präludium folgt (der Name ist Programm) die Suite der Tänze, Allemande – Courante – Sarabande – Gigue, ein seit den 1670er Jahren in

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