Medienimpulse 2012 2013

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2012–2013 Herausgegeben von Alessandro Barberi Thomas Ballhausen Christian Berger Eva Horvatic Katharina Kaiser-Müller Christian Swertz Christine Trültzsch-Wijnen

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ISBN 978-3-7003-1902-3 Covermotiv: gerard79 / sxc Covergestaltung: tettinger.at Druck: CPI buch bücher.de


Alessandro Barberi/Thomas Ballhausen/Christian Berger/ Eva Horvatic/Katharina Kaiser-M체ller/Christian Swertz/ Christine W. Tr체ltzsch-Wijnen (Hg.)

MEDIENIMPULSE Beitr채ge zur Medienp채dagogik 2012-2013

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung. MEDIENIMPULSE 2012–2013 Mediale Impulse. Theoretische Reflexion(en) und konkrete Praxis der Medienpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Ausgabe 1/2012: Repräsentation(en) der Shoa Edith Blaschitz Die visuelle Repräsentation des Konzentrationslagers Mauthausen im österreichischen Schulbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Christian Zolles Verk(n)appte Bilder des „Holocaust“ Formale und emotionale Aspekte der Visualisierung und Revision getöteter Massen . . . . . . . . 47 Maria Ecker Über die Arbeit mit ZeitzeugInnen-Interviews bei Erinnern.at . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Astrid Messerschmidt Migrationsgesellschaftliche Geschichtsbeziehungen zum Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . 64 Michael Achenbach Rezension der DVD „Animation in der Nazizeit“ (Geschichte des deutschen Animationsfilms von Ulrich Wegenast (Kurator) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Ausgabe 2/2012: Biomacht, Biopolitik, Biomedien Wolfgang Sützl Aktivistische Brieftauben Medienaktivismus und Wissen im Zeitalter der Biomacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Petra Missomelius Körperdiskurse: Mediale Fantasmen des Postbiologischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Martin Müller Zur Tiefengrammatik des „Lebendigen“ Eine kritische Einführung zu Eugene Thackers Biomedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Wolfgang Neurath Policey, Biopolitik und Liberalismus.Vom Zugriff der Macht auf das Leben (Bios) . . . . . . . . . 107 Thomas Strasser Mind the app! Zur pädagogischen Vielseitigkeit von Web 2.0-Tools im Unterricht . . . . . . . . 116

Ausgabe 3/2012: Medienbildung im Kontext der „PädagogInnenbildung NEU“ Christian Swertz Überlegungen zur Umsetzung des Berichts „PädagogInnenbildung NEU – Die Zukunft der Pädagogischen Berufe“ im Bereich der Medienpädagogik . . . . . . . . . . . . . . 130 Gerhard Scheidl Wissensmanagement und Medienbildung Herausforderungen für die Lehrerbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

Bernhard Lahner Medienbildung in der Ausbildung – Gibt’s das? Warum der Umgang mit Medien bei Pflichtschulkindern und deren PädagogInnen auch in der PädagogInnenbildung stärker erwähnt werden sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Christian Filk Performing Media in Convergence. Konzept, Programmatik und (Hochschul-)Didaktik integraler Kompetenzprofilierung multimedialer Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Paula Pfoser/Gudrun Rath Involviert berichten. Alternative Medien und Medienaktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

Ausgabe 4/2012: Soziale und mediale Räume Valentin Dander Sich Selbst Überschreiten Heterotopologische Erkundungen am Medienkunstprojekt Zone*Interdite . . . . . . . . . . . . . . 180 Anton Tantner Nummern für Räume: Zwischen Verbrechensbekämpfung, Aneignung und Klassenkampf Eine Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Thomas Ballhausen/Günter Krenn Auf Blaubarts Spur Der Fall des Serienmörders Landru als frühes Beispiel medialisierten Expertentums und öffentlichkeitswirksamer Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Alessandro Barberi Vom Dämonischen. Zur politischen Medientheorie des Daniel Suarez Review-Essay von Daniel Suarez: Daemon. Die Welt ist nur ein Spiel (2009), Darknet (2011) und Kill Decision (2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Christian Schreger Die PROJEKTE der M2. Ein Erfahrungsbericht über 10 Jahre Medienproduktion mit Volksschulkindern . . . . . . . . . . 221

Ausgabe 1/2013: Normen und Normierungen Norm Friesen Media and Education: Mythologies Old and New . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Sascha Trültzsch-Wijnen/Daniela Pscheida Privatheit – Privatsphäre: Normative Konzepte im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Anja Klimsa Präventive Medienpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Thomas Damberger „Halbmedienkompetenz?“ Überlegungen zur kritischen Dimension von Medienkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Thorsten Fuchs Bericht zur Tagung „Normativität und Normative (in) der Pädagogik“ an der Universität Wien, 01.–02.11.2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281


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Ausgabe 2/2013: Freiwillig, selbstbestimmt, selbst organisiert? Medien­ pädagogische Zugänge in geteilten Zeiträumen Anu Pöyskö/Thomas Adrian/Renée Frauneder Identitätsarbeit, Selbstwirksamkeit, gemeinsame Erfolgserlebnisse Medien-Projektarbeit mit Video in sozialpädagogischen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Olivia Horak/Milanka Jovanovic-Tesulov/Bernhard Damisch Medienpädagogik in der offenen Kinder- und Jugend­arbeit Reflexionen aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Christian Sevcik/Jakob Rudelstorfer Medienarbeit in der Freizeitpädagogik Von der Theorie zur Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Elisabeth Eder-Janca Aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Birgit Eickelmann/Mario Vennemann/Sandra Aßmann Digitale Medien in der Grundschule Deutschland und Österreich im Spiegel der internationalen Vergleichsstudie TIMSS 2011 . . 315

Ausgabe 3/2013: Visuelle Historiografien. Comics zwischen Reflexion und Konstruktion von Geschichte(n) Christina Wintersteiger Die Lücke als Aufforderung Comic-Adaptionen von Franz Kafkas Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Chris Boge Visualizing Histories and Stories Revisionary Graphic Novels of the 1980s and 1990s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Paolo Caneppele/Günter Krenn Kurze, aber nackte Geschichte der Malerei in den Comics Milo Manaras „A riveder le stelle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Eva Horvatic Rezension: Le Moyen Age par la bande (herausgegeben von Alain Corbellari und Alexander Schwarz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Christine W. Trültzsch-Wijnen Internationale Medienpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Ausgabe 4/2013: Medialer Habitus Ralf Biermann Medienkompetenz – Medienbildung – Medialer Habitus Genese und Transformation des medialen Habitus vor dem Hintergrund von Medienkompetenz und Medienbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

Sven Kommer Das Konzept des „Medialen Habitus“: Ausgehend von Bourdieus Habitus-Theorie Varianten des Medienumgangs analysieren . . . . . 405 Norbert Meder Habitus – auch medialer Habitus – aus pädagogischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Helmut Hostnig Witz als fiktionale Textsorte Methodenvorschlag fürs Radiomachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Katharina Kaiser-Müller Rückblick auf die Fachtagung „Filmbildung im Wandel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

Kurzbiografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455


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Mit Beiträgen zur Medienpädagogik bereichert die Vierteljahrsschrift MEDIENIMPULSE seit über zwanzig Jahren das Publikationsangebot des Bildungsministeriums. Die Auswahl der medienpädagogischen Schwerpunktthemen wurde ebenso wie die Erscheinungsform der MEDIENIMPULSE stets den Erfordernissen der Zeit angepasst. Unter Susanne Krucsay, langjährige Chefredakteurin und Mastermind der Zeitschrift, wurden bildungspolitisch wichtige Themen wie Minderheitenpolitik, Geschlechterrollen und interkultureller Dialog ins Zentrum gerückt. Unter der Federführung von Chefredakteur Alessandro Barberi wurden u. a. Standards in der Medienbildung, politische Formen des Medienaktivismus, Medienethik oder kulturelle Diversität im Blick auf moderne Informations- und Kommunikationstechnologien analysiert und diskutiert. Nach 17 Jahrgängen mit 66 Heften werden die vier jährlichen Ausgaben seit September 2009 unter www.medienimpulse.at ausschließlich im Netz publiziert. Die Beiträge in den MEDIEN­ IMPULSEN sind auch online verlässliche Begleiter für LehrerInnen, aber auch für alle interessierten BürgerInnen unseres Landes. Bereits zum zweiten Mal präsentiert die Redaktion der MEDIENIMPULSE nun eine Auswahl der online erschienenen Arbeiten und Beiträge in gedruckter Form. Beim vom Bundesministerium für Bildung und Frauen herausgegebenen Querschnitt der MEDIENIMPULSE 2012– 2013 wurde seitens der Redaktion hinsichtlich der Schwerpunkte und ausgewählten Artikel darauf geachtet, dass sich didaktisch herausfordernde Themen mit Fragen nach der konkreten Unterrichtspraxis abwechseln. So steht eine medienhistorische Analyse der Repräsentation(en) der Shoah neben Diskussionen zur PädagogInnenbildung NEU. Biomacht, Biopolitik und Biomedien werden eingehend besprochen, ohne die Problembereiche der Freizeitpädagogik aus dem Blick zu verlieren. Ich wünsche der Redaktion, dass die MEDIENIMPULSE auch in Zukunft so deutliche bildungspolitische und medienpädagogische Impulse setzen wie in ihrer bisherigen Geschichte. Gabriele Heinisch-Hosek Bundesministerin für Bildung und Frauen

Foto: Astrid Knie

Vorwort



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Alessandro Barberi/Thomas Ballhausen/Christian Berger/Eva Horvatic/Katharina Kaiser-Müller/Christian Swertz/Christine W. Trültzsch-Wijnen (Hg.)

Einleitung MEDIENIMPULSE 2012–2013 Mediale Impulse. Theoretische Reflexion(en) und konkrete Praxis der Medienpädagogik Angesichts einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Wissens- und Informationsgesellschaft, deren mediale Produktionsbedingungen die menschlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen mitbestimmen, sehen sich Pädagogik, Bildungswissenschaft und konkrete Unterrichtspraxis schon seit geraumer Zeit der Notwendigkeit gegenüber, nach ihren eigenen medialen Voraussetzungen und Einbindungen zu fragen. Kaum ein Bereich des Alltags ist heute frei von (technischen) Medien, weshalb auch die Sozialwissenschaften ihre Grundlagen, Modelle, Begriffe und Theorien um jene der Medienwissenschaften erweitern müssen. Es findet sich keine Schulklasse mehr, in der Smartphones, Tabletts oder Computerarbeitsplätze keine Rolle spielen, wodurch schon auf dieser einfachen empirischen Ebene der Bereich der Medienpädagogik seine Berechtigung erhält. Als junge wissenschaftliche Disziplin ist die Medienpädagogik dabei genau durch die Frage nach den medialen Voraussetzungen der Wissenschaften – und insbesondere der Bildungswissenschaften – entstanden und insistiert dabei auf Dieter Baackes grundlegender Erkenntnis, dass Medienwelten Lebenswelten und Lebenswelten Medienwelten sind. Dieser auch analytischen Verbindung von menschlichem Leben und Medien folgt die Redaktion der MEDIENIMPULSE in all ihren Diskussionen und Tätigkeiten. Dabei steckt eine an den Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften orientierte Grundlagenforschung den allgemeinen Rahmen ab, innerhalb dessen der spezifische Problembereich des Medialen bzw. der Medienpädagogik eingelagert ist und behandelt wird. Ein beredtes Zeugnis für eben diese Ausrichtung ist der hiermit vorgelegte Sammelband MEDIENIMPULSE 2012–2013, der die in diesem Zeitraum erfolgte Arbeit von Redaktion und AutorInnen dokumentieren soll. Wie schon im Rahmen des Sammelbands MEDIENIMPULSE 2011–2012 haben wir uns dazu entschlossen, eine Auswahl der gedruckten Beiträge und Artikel unserer Online-Ausgaben entlang der Schwerpunkte zu ordnen und zu organisieren, um die jeweils geleistete Arbeit auch chronologisch lesbar zu machen. Dabei bleiben die schon mehrfach im Rahmen der MEDIENIMPULSE ausformulierten methodischen Grundsätze auch im Rahmen der hier vorgelegten Auswahl in Kraft. Denn alle Beiträge bezeugen auf unterschiedlichster Ebene eine nicht nur für die Medienpädagogik spezifische Trans- bzw. Interdisziplinarität, sondern werden der medienpädagogischen Fragestellung nicht zuletzt durch eine hohe Selbstreflexivität gerecht. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Frage nach den Medien bzw. dem Bereich des Medialen immer auch eine Frage nach den Voraussetzungen von Wahrnehmung und Erfahrung ist. Medien stellen als Zeichenträger in Geschichte und Gegenwart eben materielle Produktionsbedingungen der menschli-


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

chen Praxis dar, die eigens analysiert und medientheoretisch durchdrungen werden müssen. Dabei ist es – neben der Trans- bzw. Interdisziplinarität und der Selbstreflexivität – immer auch die empirische Kontrolle der jeweils diskutierten Annahmen und Hypothesen, die das Profil der MEDIENIMPULSE und ihrer AutorInnen ausmacht. Und so belegen die Schwerpunktsetzungen der MEDIENIMPULSE 2012–2013 ein Pendeln zwischen theoretischer Reflexion, konkreter (Unterrichts-)Praxis und empirischer Datensammlung, das in den verschiedenen Schwerpunkten und Artikeln dieses Bandes deutlich wird. Diskutieren wir so brisante und intellektuell herausfordernde Themen wie die Repräsentation(en) der Shoah, reflektieren wir an anderer Stelle sehr praktisch die Diskussionen zur PädagogInnenbildung NEU. Analysieren wir medienpädagogische Zugänge in außerschulischen Bereichen, so folgen wir doch auch dem medientheoretischen Erkenntnisinteresse, eine klare wissenschaftliche Unterscheidung zwischen medialen und sozialen Räumen treffen zu können. Stellen wir sehr konkret das Problem der Normen und Normierungen in der Medienpädagogik, so fragen wir auch nach der Brisanz von Biomacht, Biopolitik und Biomedien. Und legen wir unser Augenmerk mit einem eigenen Schwerpunkt auf ein ganz spezifisches Medium wie den Comic, so liegt uns dabei immer daran, all diese Themen und Debatten in einem allgemeinen sozialwissenschaftlichen Rahmen zu halten. Denn die Option für eine handlungsorientierte und d. i. „praxeologische“ Medienpädagogik ist nicht nur ein Charakterzug der Redaktion, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch die Beiträge der MEDIENIMPULSE und daher auch durch diesen Band. Und so haben wir auch im Umfeld der Debatten zur Medienkompetenz dem „medialen Habitus“ von Kindern und Jugendlichen breiten Raum gegeben, um den konkreten Unterricht theoretisch und praktisch zu bereichern. Es ist der Redaktion also ein eminentes Anliegen, intellektuell reizvolle Themen der Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften zu behandeln und zu diskutieren. Gleichzeitig verstehen sich die MEDIENIMPULSE aber immer auch als ein Unterstützungsmedium für LehrerInnen und (Medien-)PädagogInnen, weshalb die Praxis nicht zu kurz kommen darf. Dieses Anliegen spiegelt sich auch in der hier präsentierten Auswahl von Artikeln und Beiträgen wider, die auch entlang der Schwerpunktsetzungen den Mittelweg zwischen theoretischer Reflexion und praktischer Konkretion suchen und gehen wollen.

Ausgabe 1/2012 Repräsentation(en) der Shoah Begonnen hat die intellektuelle Reise der letzten beiden Jahre mit der ersten Ausgabe 2012 und dem Schwerpunktthema Repräsentation(en) der Shoah. Angesichts dieses Themas stand der Redaktion die Frage vor Augen, wie sich durch die mediengeschichtlichen Veränderungen der dritten industriellen Revolution die Verarbeitung, Darstellung und Erzählung eines historischen Ereignisses transformiert; und sei es eben das sensibelste Ereignis der Menschheitsgeschichte: der Versuch der Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten im Rahmen der Shoah. Deshalb lauteten in diesem Zusammenhang die Ausgangsfragen: Wie hat sich die Art und Weise, in der wir die Shoah erinnern, durch Medien verschoben? Welche Veränderungen haben die Repräsentation(en) der Shoah in den und durch die (Neuen) Medien erfahren? Edith Blaschitz diskutiert deshalb die pädagogische Vermittlung der Shoah im Medium der österreichischen Schulbücher und stößt dabei auf das Problemfeld der (medialen) Darstellung des Undarstellbaren. Dabei betont sie, dass das Medium des Bildes ob seines illustrativen Cha-


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rakters lange Zeit pädagogisch als uneindeutig galt und deshalb nicht als Quelle verwendet wurde. Insgesamt macht Blaschitz eine mediale „Verknappung“ des Bildrepertoires der Shoah aus, in der Menschen verschwinden und durch Erinnerungsobjekte ersetzt werden. Ganz in diesem Sinne geht auch Christian Zolles medialen Inszenierungen nach, wenn er beschreibt, wie Rhetoriken und Bilder der Shoah beispielsweise im Umfeld des Jugoslawienkrieges zweckentfremdet und strategisch eingesetzt wurden, um bestimmte Formen der/des Revision(ismus) in Szene zu setzen. Dabei werden immer auch alternative Repräsentationen ausgeblendet, wodurch historisch aufgeladene Bilder – ganz so wie im Medium Schulbuch nach Blaschitz – auf Verk(n)appungsprinzipien beruhen. Maria Ecker verlängert dann die Fragestellung nach den medialen Voraussetzungen der Erinnerung, wenn sie die Wahrnehmungs- und Erfahrungstransformationen analysiert, die sich durch die mediale Speicherung von Zeitzeugeninterviews in der didaktischen Vermittlung der Shoah ergeben haben. Sie berichtet von den konkreten Schwierigkeiten, die sich dem Verein „Erinnern.at“ stellten, als zwei DVDs mit Interviews über die Shoah hergestellt wurden, und kommt so auch mehrfach auf die Rolle technischer Medien (u. a. Audio- und Videorekorder, Kopfhörer oder Mikrofon) zu sprechen, welche die Art und Weise der Vor- und Darstellbarkeit der Shoah veränderten. Astrid Messerschmidt geht dann in ihrem Beitrag auf einer allgemeineren historischen Ebene der Funktion von Erinnerungsabwehr und Relativierung nach, wenn sie danach fragt, wie der sekundäre Antisemitismus nach 1945 die Vernichtungs- und Verbrechensvorgänge der Shoah durch Derealisierung (z. B. Diskreditierung der Opfer oder Täter-Opfer-Umkehr) dem Vergessen anheimgeben wollte. Einer solchen Kontinuität des Vergessens kann, so Messerschmidt, nur durch eine anamnetische Erinnerungskultur entgegengewirkt werden, die einer bleibenden medialen Verunsicherung der Repräsentation(en) der Shoah entspricht. Als Beispiel dafür, wie auch in den anderen Ressorts der MEDIENIMPULSE Schwerpunkthemen fortgesetzt werden, publizieren wir darüber hinaus eine bemerkenswerte Rezension von Michael Achenbach, der die von Ulrich Wegenast kuratierte DVD „Animation in der Nazizeit (Geschichte des deutschen Animationsfilms)“ bespricht. Denn mit dieser (nicht nur) für MedienpädagogInnen sehr nützlichen DVD werden insgesamt zwölf Filmbeispiele aus den Jahren 1937 bis 1944 präsentiert und fordern so in ihrer Materialität als historische Quellen erneut unsere (mediengeschichtliche und medienpädagogische) Erinnerung heraus. Insgesamt weisen die hier versammelten Beiträge zu den Repräsentation(en) der Shoah nicht nur eine große Sensibilität für das historische Ereignis der Shoah auf, sondern führen vor Augen, wie sich durch den Einsatz und die Funktion von Medien auf unterschiedlichsten Ebenen unsere Gedächtniskultur und unsere Erinnerung immer wieder aufs Neue verschiebt, weil jede Generation – durchaus im Sinne einer konstruktivistischen Medienpädagogik – das überlieferte (mediale) Material neu sichtet, ordnet und mediatisiert. All dies fordert auch unser politisches Bewusstsein heraus, da der eliminatorische Antisemitismus des Nationalsozialismus eine brutale und barbarische Form von Biomacht und Biopolitik darstellt, bei der sich nachdrücklich die Frage möglichen Widerstands stellt.

Ausgabe 2/2012 Biomacht, Biopolitik, Biomedien Deshalb thematisierten wir mit der zweiten Ausgabe des Jahres 2012 die Zusammenhänge von Biomacht, Biopolitik und Biomedien. Welche politische Rolle spielt die Biopolitik in der


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

Gegenwart? Und was hat es mit einem Begriff wie Biomedien überhaupt auf sich? Bemerkenswerterweise betont Wolfgang Sützl einleitend, dass der Bereich der Biopolitik nicht nur im Sinne von Unterdrückung und Herrschaft funktioniert, sondern auch widerständige und subversive Gegendiskurse binden kann. So brechen biopolitische MedienaktivistInnen die hermetische Schale des biotechnologischen ExpertInnenwissens auf und affirmieren gezielt die Unberechenbarkeit des Lebendigen, um es als taktischen Vorteil zu nutzen. Dabei kommt es gleichsam „zwischen den Arten“ zu einer Zusammenarbeit, bei der Mikroben, Insekten, Vögel oder Fliegen tatsächlich im Rahmen der sozialen Wirklichkeit kritische und subversive Rollen übernehmen können. Von einer solchen Kritik und Subversion handelt auch der Beitrag von Petra Missomelius, wenn sie die Gattung Science Fiction in ihrer politischen Dimension als Widerstand gegenüber zeitgenössischen Konzepten von Biomacht und (Bio)Technologie ernst nimmt und sich auf die Suche nach medialen Fantasmen in der Ära des Postbiologischen macht. Neben Medientechnologien sind es dabei vor allem Körperdiskurse, Körperkonzepte und Körperpraktiken, die das Imaginäre einer gegebenen Gesellschaft bestimmen. Deshalb analysiert Martin Müller die Unterscheidung von bios und techné, die auch für den Gegensatz von Leben und Computer steht, und beschreibt, wie durch die Kopplung von Informationstechnologien und Biologie die materiellen und medialen Dimensionen der Lebenswissenschaften gerade im Werk Eugene Thackers beispielgebend behandelt wurden. Thackers Begriff der „Biomedien“ dient ihm dabei u. a. zur eingehenden Analyse informationstheoretischer Denkfiguren (man denke nur an den genetischen „Code“), welche das Aufkommen der modernen Genetik und (digitalen) Biologie im Sinne einer „Performanz des Biologischen“ als „Tiefengrammatik“ begleiteten. Inwiefern bereits die Policeywissenschaften des 18. Jahrhunderts als mediale Technokratien des Lebens und mithin als Biopolitik begriffen werden können, erläutert dann der Historiker Wolfgang Neurath, indem er seine jahrelangen Forschungen zur Geschichte der Regierungsmentalität entfaltet. Er zeigt dabei, dass die historisch analysierbaren Dispositive von Medizin, Naturgeschichte, Biologie oder Cameralwissenschaften ganz spezifische Machttechnologien und Subjektivierungsweisen etablierten, die um 1800 zu einer Neustrukturierung der biopolitischen Episteme (Foucault) führten. Soweit die ausgewählten Beiträge des Schwerpunkts, die alle um die Frage nach der Medialität des Lebens kreisen. Medienpädagogisch relevant wird diese Debatte, wenn es etwa im Biologieunterricht konkret um biologische oder biologistische Wissensformen geht, die – in zum Teil illegitimer Weise – auf das Gesellschaftliche projiziert werden. Bemerkenswert ist aber dabei, dass das biopolitische Herrschaftswissen über Körperdiskurse, Körperkonzepte und Körperpraktiken subversiv unterwandert werden kann, indem biopolitische Gegenstrategien eingesetzt werden können. Denn auch in unseren Schulklassen geht es um Körperpolitiken und um „Bodys that Matter“ wie Judith Butler formulierte. Dabei ist das Auftauchen des Begriffs der „Biomedien“ im Umfeld der modernen Genetik nicht zuletzt deshalb erstaunlich, weil mit ihm auch eine Tiefenstruktur des Lebens gemeint ist, deren Herkunft wiederum auf die Geschichte der Lebenswissenschaften samt ihrer Biopolitik verweist. Darüber hinaus hat sich die Redaktion entschlossen, einen sehr praktischen Artikel in diese Ausgabe aufzunehmen: Denn im Ressort Forschung diskutiert Thomas Strasser die pädagogische Vielseitigkeit von Web 2.0-Tools im Unterricht und präsentiert eine empirische Studie, mit der u. a. der Bekanntheitsgrad verschiedener Anwendungen des Web 2.0 erhoben wurde. Der Terminus Web 2.0 wird in der Fachwelt als sogenanntes „buzz word“ – ein oft genanntes Schlagwort – gehandelt, das sich vor allem im Bereich der Pädagogik bzw. Didaktik in einer Transiti-


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onsphase weg vom temporären Hype, hin zu einem wertvollen Ansatz für Bildungsinstitutionen befindet. Strasser setzt sich deshalb nachdrücklich für einen konstruktivistischen Paradigmenwechsel im Unterricht ein.

Ausgabe 3/2012 Medienbildung im Kontext der „PädagogInnenbildung NEU“ Vom ganz konkreten Unterricht bzw. seiner medienpädagogischen Organisation handelt dann die Schwerpunktausgabe Medienbildung im Kontext der „PädagogInnenbildung NEU“. Dabei eröffnet Christian Swertz den Reigen, wenn er in systematischer Absicht an die Ergebnisse der diesbezüglichen ministeriellen Arbeitsgruppen anschließt. Er unterbreitet dabei Vorschläge für die Umstellung der Lehramtsausbildung auf die dreigliedrige Studienarchitektur. Dabei argumentiert er nachdrücklich für die Einbindung medienpädagogischer Lehrveranstaltungen in die neuen Studienprogramme und betont, dass zumindest ein medienpädagogisch qualifizierendes Angebot für die Induktionsphase zu entwickeln ist, in dem die Reflexion der eigenen (medialen) Erfahrung im Blick auf die Weiterentwicklung der eigenen Praxis mithilfe medienpädagogischer Konzepte und Theorien im Mittelpunkt stehen sollte. Auch Gerhard Scheidl setzt sich in diesem Sinne für eine intensivere Berücksichtigung der Medienbildung ein, indem er herausarbeitet, dass Wissensmanagement und Medienkompetenz in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen und deshalb beidseitig berücksichtigt werden müssen, da sie wesentliche Einflussfaktoren für die Schulentwicklung darstellen. Dabei hält er fest, dass Wissen auf Daten und Informationen beruht und mithin unabdingbar mit dem Bereich der Medienproduktion verbunden ist. Bernhard Lahner intensiviert dann diese Diskussion, wenn er einen knappen Einblick in den Ist-Zustand der Pädagogischen Hochschule für Studierende des Lehramts für allgemeine Sonderschulen im Hinblick auf medienpädagogische Ausbildungs- und Spezialisierungsmöglichkeiten gibt und dabei auch die inhaltliche Umsetzung genauer betrachtet. Dabei wird der zeitliche Umfang über die Maßeinheit des European Credit Transfer and Accumulation Systems (ECTS) analysiert. Anhand von zwei konkreten medienpädagogischen Unterrichtskonstellationen erläutert Lahner die Notwendigkeit medienpädagogischer Sensibilisierung bei SchülerInnen und LehrerInnen und fordert ein niederschwelliges Angebot. Christian Filk geht darüber hinaus mit dem letzten Beitrag dieses Schwerpunktteils der Frage nach, wie Lernende und Lehrende mit unterschiedlichen Voraussetzungen in der multimedialen Gestaltung und Produktion ausgebildet werden können, wenn Kompetenzprofile auf Komplementarität und Differenz hin ausgelegt werden sollen. Dabei dient ihm die Unterscheidung von Wissen (Knowledge), Fähigkeiten (Competence) und Fertigkeiten (Skills) dazu, einer dezidiert integralen Konzeption, Programmatik und (Hochschul-)Didaktik das Wort zu reden. Im Umfeld der für die Medienpädagogik äußerst relevanten Debatten zur Medienbildung im Kontext der „PädagogInnenbildung NEU“ stehen demnach einige kluge Vorschläge im Raum: So soll eine dreigliedrige Studienarchitektur die Reflexion der eigenen (medialen) Erfahrung stützen, um dabei Wissensmanagement und Medienkompetenz in ein wechselseitiges Verhältnis zu bringen. Dabei ist eine Sensibilisierung der SchülerInnen für medienpädagogische Fragestellungen für eine integrale (Hochschul-)Didaktik unabdingbar. Im Ressort Kultur/Kunst dieser Schwerpunktaufgabe berichten Paula Pfoser und Gudrun Rath dann eingehend und wieder sehr praktisch und konkret von ihrer selbstreflexiven Invol-


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

viertheit in das neue Kulturprojekt der Stadt Wien: die Wienwoche. Dabei betonen sie, dass kulturelle Räume wie dieser besonders wichtig sind, um die Rahmenbedingungen künstlerischer Arbeit wieder ins Blickfeld zu holen. So können Grenzen und Potenziale alternativer Medienarbeit ausgelotet und ästhetische Positionen geschärft werden.

Ausgabe 4/2012 Soziale und mediale Räume Die Ausgabe 4/2012 mit dem Thema Soziale und mediale Räume untersuchte dann – durchaus in Erinnerung an Pierre Bourdieus praxeologische Theorie des Sozialen Raums – Unterschiede und Überlappungen von Gesellschaft und Medien hinsichtlich der aktuell breit diskutierten Raumfrage. Dahingehend lotet Valentin Dander das Räumlichkeitsverhältnis des Sozialen und des Medialen anhand eines bemerkenswerten Medienkunstprojekts aus: Mit Zone*Interdite wurde ein Programm geschaffen, mit dem auf Basis breiter – von ProsumerInnen hochgeladener – Datensätze reale Militärbasen im virtuellen Raum rekonstruiert und erfahren werden können. Wer wissen will, in welchem allgemeinen geodätischen und topologischen Rahmen sich Folter in Guantanamo abspielt, kann mit Zone*Interdite in Zentralperspektive die in Wirklichkeit blutbesudelten Räume und Gebäude durchschreiten, um dabei die eigene Subjektivität zu überschreiten. Anton Tantner erweitert dann die sozialwissenschaftliche Frage nach dem Raum durch die historisierende Frage nach der Parzellierung und Lokalisierung von Menschen durch (schulische und d. h. auch universitäre) Disziplinar- und Normierungsapparate. Die historische Analyse der Zahl und des Zählens als Sozial-, Kultur- und Medientechnologie ist im Sinne einer „Archäologie der Gegenwart“ (Foucault) deshalb von Interesse, weil sie uns aktuelle Problematisierungsfelder vor Augen führt und z. B. ein besseres Verständnis der Quantifizierung, Normierung und Klassifizierung von SchülerInnen im Schul- und Klassenraum in Aussicht stellt. Thomas Ballhausen und Günter Krenn dehnen dann die Frage nach dem Raum auf das (historische) Archiv aus, wenn sie sich auf die Spur des legendären Serienmörders Landru machen und dabei den medialen Raum des Archivs öffnen, um die österreichische Rezeption dieses Falles filmgeschichtlich zu untersuchen. Ausgehend von einem Projekt der beiden Autoren am Filmarchiv Austria wird so ein Kriminalfall Wort für Wort zu einer historischen Medienpädagogik, die analysiert, mit welchen aufklärenden Polizei- und Bildungsprogrammen der mediale (Unterrichts-)Raum des Kinos dem sozialen Raum des Publikums nahegebracht wurde, um so auch die Erfahrungen in diesen Räumen mitzubestimmen. Das Verhältnis von sozialen und medialen Räume untersucht auch Alessandro Barberi, der für die LeserInnen der MEDIENIMPULSE im Rahmen seines Review-Essays die Romane des Programmierers Daniel Suarez zum Gegenstand der Analyse macht. Denn Suarez’ Erzählungen sind weit mehr als reine Fiktionen. Seine terminatorischen Inszenierungen des Endkampfs zwischen Maschinen und Menschen basieren auf äußerst realen Studien zu derzeitigen (Kriegs-)Technologien, die als politische Steuerungsmedien eingesetzt werden. Dabei betont Barberi auch die explizit antikapitalistische Strategie des Daniel Suarez, der nicht ohne Grund zum Star der Netzszene avancierte. Auf unterschiedlichen Ebenen nähern sich die Beiträge dieses Schwerpunkts mithin der wichtigen Frage nach den Unterschieden und Überlappungen von sozialen und medialen Räumen: Zeigt Dander, wie ein Raum, der real unsichtbar bleibt, durch die Virtualisierung seine Geheimnisse offenbart, so liefert Tantner ein besseres Verständnis der Quantifizierung, Normierung und Klassifizierung von (Schul-)Räumen insgesamt. Und so sind auch Archiv und


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Kino soziale und mediale Räume, in denen Medienpädagogik eine eminente Rolle spielen kann. Dass im Sinne einer Poetik oder Poetologie auch aus der Literatur Erkenntnisgewinn für die Wissenschaften erzielt werden kann, belegt die literarische Verarbeitung von sozialen und medialen Räumen bei Daniel Suarez. Wie immer finden sich in unseren Ausgaben aber auch zahlreiche themenspezifische Bezüge im Bereich Praxis: So schildert Christian Schreger ein sehr persönliches Bild seiner Erlebnisse an der M2 der Volksschule Ortnergasse sowie der Herausforderungen – aber vor allem auch der vielen Vorteile – einer aktiven Medienarbeit in Schulen. Denn mit Projektarbeit lässt sich medienpädagogisch sehr viel mehr bewegen als mit dem Umblättern von Schulbüchern …

Ausgabe 1/2013 Normen und Normierungen Mit der Ausgabe 1/2013 Normen und Normierungen nahmen wir uns eines vieldiskutierten Grundbegriffs der Medienpädagogik an. Wie weit sind (vorausgesetzte und handlungsleitende) Normen für die (medien)pädagogische Praxis konstitutiv? Wann können diese Normen in Normierungen und Disziplinierungen kippen? Wie regulieren Normen noch unsere Praktiken und Kulturtechniken? Diese Fragen hatte die Redaktion im Vorfeld dieser Ausgabe in den Raum gestellt. Norm Friesen untersucht in seinem Beitrag unterschiedliche Normierungen und Modellierungen der Sozial- und Kulturtechniken des Sprechens und Schreibens bzw. der Sprache und der Schrift, die vor allem in zwei Paradigmen erschienen sind: im rationalistischen (universalistischen und schriftzentrierten) Modell, das von Descartes bis Chomsky wirksam war und ist, und im romantischen (am Ausdruck und dem Sprechen orientierten) Modell, das wir vor allem mit Rousseau verbinden. Er rekapituliert dabei im Rekurs auf Michel Foucaults „Die Ordnung der Dinge“ das moderne Aufkommen einer schrift- und d. h. am Alphabet orientierten Medientheorie etwa bei Jacques Derrida und Friedrich Kittler und expliziert die sozialdisziplinierende und normierende Rolle der Pädagogik. Einer anderen Norm sind dann Sascha Trültzsch-Wijnen und Daniela Pscheida auf der Spur: Ihnen geht es um Normen und Normierungen im Blick auf die Geschichte und Gegenwart des privaten Lebens. Dabei zeigen sie, dass Privatheit etwa in der (publizistischen) Fotografie seit jeher eine – auch skandalöse oder verletzende – Rolle gespielt hat, und heben hervor, dass es dabei immer um normierende Mediennutzung ging und geht. Doch damit nicht genug, halten die AutorInnen anhand breiter empirischer Daten fest, dass wir es heute zwar mit Normverschiebungen und -lockerungen zu tun haben, nicht aber mit einer grundsätzlichen Auflösung von Normen und Normierungen in der Wissens- und Informationsgesellschaft. Anja Klimsa führt dann den Problembereich der Prävention in der Medienpädagogik vor Augen und betont dabei mit allem Nachdruck, dass heute nicht mehr der zu normierende, zu kontrollierende und mit Mängeln belastete Mensch im Mittelpunkt der Pädagogik steht, sondern die aktiven, emanzipierten und mündigen KompetenzträgerInnen. Angesichts der Unverbindlichkeit von Normenstandards hebt Klimsa so hervor, dass in der Trias von technologischer, normativer und handlungsorientierter Medienpädagogik einzig die Letztere – im Sinne einer praxeologischen Medienpädagogik – Möglichkeiten bietet, den Anforderungen der Medienprävention zu genügen. Daran anschließend führt Thomas Damberger den Begriff der Halb­ medienkompetenz ein, um ihn – durchaus philosophisch – an den traditionellen Normen der (Halb-)Bildung zu messen. Denn wenn nach Dieter Baacke die Medienkompetenz aus Medi-


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enkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung besteht, stellt sich die Frage, wo dabei die spezifisch kritische Dimension des Individuellen liegt. Die kritische Dimension von Medienkompetenz ist daher nach Damberger die Norm der Medienmündigkeit. Wer aber über diese mündige, individuelle kritische Dimension nicht verfügen kann, der ist im pädagogischen Sinne halbmedienkompetent bzw. medieninkompetent. Darüber hinaus zeigt Thorsten Fuchs, dass die Schwerpunkte der MEDIENIMPULSE nicht nur mit der Gattung des Artikels bespielt werden. Denn Fuchs berichtet von einer Tagung, die am 01. und 02. November 2012 am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien zum Thema „Normativität und Normative (in) der Pädagogik“ stattfand, in deren Rahmen eine ausgewiesene ExpertInnenrunde unser Schwerpunktthema diskutierte. Dabei wurde u. a. erläutert, inwiefern bildungspolitische Normen ein kritisches Intervenieren schwierig aber nicht unmöglich machen so wie die Notwenigkeit betont wurde, konkrete Praktiken in ihrer Normativität zu beschreiben. Das Thema Normen und Normierungen bindet mithin unterschiedliche Stränge der medienpädagogischen Diskussion: So stellt sich medientheoretisch und mediengeschichtlich die Frage nach der normativen Kraft eines gegebenen Mediums, sei es die Schrift, sei es das gesprochene Wort. Aber auch unsere Privatleben werden inzwischen hochgradig normiert, wodurch der Normbegriff im Sinne Foucaults mit dem der Überwachung verbunden werden kann. Nicht zuletzt deshalb dürfte sich eine handlungsorientierte Medienpädagogik mehr und mehr gegen eine normative Pädagogik durchsetzen. Dennoch tauchen Normen in der medienpädagogischen Debatte immer wieder affirmativ auf: so, wenn es um die Norm eines Kanons geht, so, wenn Bildung als Norm begriffen wird, so aber auch, wenn die Medieninkompetenz selbst als Norm gefasst wird.

Ausgabe 2/2013 Freiwillig, selbstbestimmt, selbst organisiert? Medienpädagogische Zugänge in geteilten Zeiträumen Nach den eher theoretischen Debatten zur Frage nach Normen widmete sich die Ausgabe 2/2013 Freiwillig, selbstbestimmt, selbst organisiert? Medienpädagogische Zugänge in geteilten Zeiträumen dann dem sehr konkreten, aber oft vernachlässigten Bereich der Freizeitpädagogik. Zu diesem Zweck interviewte Anu Pöyskö (Leitung) für ihren Beitrag Renée Fraueneder und Thomas Adrian (beide langjährige MitarbeiterInnen des wienXtra-medienzentrums) zu ihren Erfahrungen mit Medienprojekten im sozialpädagogischen Kontext und präsentiert die dabei ausgearbeiteten Ergebnisse. Der Fokus des Beitrags liegt darauf, wie in der Projektplanung auf die besonderen Bedürfnisse der TeilnehmerInnen Rücksicht genommen werden kann und muss. So berichten die AutorInnen davon, dass Praxiseinrichtungen in diskursiven Prozessen ihre eigenen Arbeitsprinzipien und Qualitätskriterien entwickeln. Olivia Horak, Milanka Jovanovic-Tesulov und Bernhard Damisch (2 Mitarbeiterinnen und der Leiter des Jugend- und Stadtteilzentrums Margareten/5erHaus) präsentieren dann Überlegungen zu medienpädagogischem Handeln im Feld der offenen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenarbeit exemplarisch an der Arbeit im 5erHaus. Die AutorInnen diskutieren dabei vor allem die damit verbundenen Anforderungen an (Medien-)PädagogInnen und die „außerschulische Medienpädagogik“. Durch die verstärkte Einführung ganztägiger Schulformen gibt es darüber hinaus auch mehr Freizeit innerhalb der Schule. Zur Ausbildung der in diesem Sektor tätigen Personen wurde mit Sommersemester 2012 ein Hochschullehrgang an der PH Wien gestartet. Christian


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Sevcik und Jakob Rudelstorfer (Lehrgangsleiter und Lehrgangsteilnehmer) verweisen in ihrem Beitrag auf erste medienpädagogische Überlegungen in diesem Sektor. So heben sie hervor, dass die (damalige) Offensive des bm:ukk im Bereich der „schulischen Tagesbetreuung“ nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Ausbaumaßnahmen umfasst. Denn mit der Schaffung des Berufsbildes der FreizeitpädagogIn wurde erstmals ein österreichweiter und einheitlicher Qualifikationsstandard geschaffen. Und auch Elisabeth Eder-Janca, die Leiterin des Zentrums für Medienkompetenz in Brunn am Gebirge, geht in ihrem stark an der Praxis orientierten Beitrag von den Schnittstellen zwischen Schule, Medienpädagogik und Freizeitbereich aus, wenn sie bereits einleitend das Medienkompetenzmodell Dieter Baackes rekapituliert und mit sehr konkreten und durchaus subjektiven Erfahrungsberichten ihre freizeitpädagogischen Arbeit zusammenfasst. Anhand von sechs konkreten Praxisbeispielen erläutert sie, weshalb in der Unterrichtspraxis auf die Mediennutzung besonderes Augenmerk gelegt werden sollte. Muss mithin in der konkreten Projektarbeit immer und mit allem Nachdruck auf die Lebenswelt(en) der SchülerInnen geachtet werden, so sollte gerade im außerschulischen Bereich vor allem daran gearbeitet werden, die Anforderungen möglichst genau zu beschreiben. Damit hängt auch die Schaffung des Berufsbildes „FreizeitpädagogIn“ auf das Engste zusammen. Dabei fällt es der Medienpädagogik zu, an der Modellierung der Medienkompetenz zu arbeiten, um auch die Mediennutzung besser zu begreifen. Neben dem Schwerpunkt hatte diese Ausgabe ein besonderes Juwel im Bereich Forschung zu bieten: Denn Birgit Eickelmann, Mario Vennemann und Sandra Aßmann haben die Rolle und Funktion von digitalen Medien in der Grundschule anhand der internationalen Vergleichsstudie TIMSS aus dem Jahr 2011 empirisch untersucht. So können sie die häusliche und schulische Situation zur Nutzung von digitalen Medien in der Grund- bzw. Volksschule mit einer fundierten empirischen Analyse nachzeichnen. Die AutorInnen betonen dabei nachdrücklich, dass die empirische Bildungsforschung immer auch repräsentative Daten für die Verbesserung von Bildungssystemen zur Verfügung stellt.

Ausgabe 3/2013 Visuelle Historiografien. Comics zwischen Reflexion und Konstruktion von Geschichte(n) Mit der Ausgabe 3/2013 Visuelle Historiografien. Comics zwischen Reflexion und Konstruktion von Geschichte(n) widmeten sich die MEDIENIMPULSE explizit einem Medium, das auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften lange als randständig und nicht der Rede wert erachtet wurde: der Comic. Dabei ist schon der Medienwechsel von Literatur zum Comic medienpädagogisch sehr reizvoll, weshalb Christina Wintersteiger anhand von zwei Beispielen die Verarbeitung der Person und des Werks von Franz Kafka im Medium des Comics untersucht. Sie erläutert dabei – anhand von David Zane Mairowitz’ und Robert Crumbs Kafka kurz und knapp sowie anhand von Chantal Montelliers und David Z. Mairowitz’ Franz Kafka’s The Trial. A Graphic Novel – die Entstehung des „Kafkaesken“ im Comic und erläutert wie die bildliche Konstruktion und Darstellung von literarischen Topoi im Comic die Diskussionen zu Autor und Werk Franz Kafkas intensiviert und verlängert. So „diskutieren“ und „narrativieren“ Crumb und Mairowitz eingehend die Kontexte von Kafkas Leben: die Prager Stadtgeschichte, sein Judentum und die Eckdaten seiner Biografie. Diese Frage nach der Narrativität und Historizität von Comics wirft auch Chris Boge in seinem englischsprachigen Beitrag auf, wenn er die Visualisierungen von Geschichte(n) anhand von graphic novels der 1980er- und 1990er-Jah-


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re befragt. Denn indem diese sich metafiktionaler Techniken bedienen, welche die Illusion eines ununterbrochenen Erzählflusses in einer grenzenlosen Erzählwelt (zer)stören, verweisen sie sowohl LehrerInnen als auch SchülerInnen auf die Relevanz textexterner Kontexte für ihre Entstehung sowie auf allgemeine Probleme der theoretischen bzw. reflexiven Erfassung von Historiografie. Denn auch anhand dieser Comics wird der konstruktive Charakter von Geschichte(n) mehr als deutlich. Paolo Caneppele und Günter Krenn untersuchen dann in ihrem Beitrag wie Kunst- und Filmgeschichte bei Milo Manaras in der Ikonografie von Comics verarbeitet wurden. Dabei ist es auch ihnen vor allem darum zu tun, die narrativen Formprinzipien von Comics eingehend zu diskutieren. So erinnern sie – in Text und Bild – u. a. an die Gemälde von Sandro Botticelli, die bei Manaras mehrfach zum Vorbild von Comic-Zeichnungen wurden. Sie betonen dabei nachdrücklich, dass Comics eine eigenständige reflexive Kunstform darstellen und wenden sich gegen Argumentationen, die dem Comic diesen Status aberkennen wollen. Denn in Europa entzündete sich – so Canepelle und Krenn – die Debatte rund um den Stellenwert von Comics immer schon an ihrem Verhältnis zur Kunst. Man zollte dabei dem Comic durchaus eine gewisse Anerkennung, hielt ihn aber dennoch immer wieder für minderwertig. Dieser Verwerfung des Mediums Comic stellen sich die Autoren mit ihrer Analyse dezidiert entgegen und schärfen so auch den Blick für die (kunst-)geschichtlichen und ästhetischen Dimensionen dieser Kunstgattung. Den Schwerpunktteil rundet dann eine Rezension ab, die ebenfalls von Comics handelt: Eva Horvatic hat für die LeserInnen der MEDIENIMPULSE den von Alain Corbellari und Alexander Schwarz herausgegebene Band Le Moyen Age par la bande rezensiert, der mehrfach vor Augen führt, wie eine historische Epoche, hier das Mittelalter, in Comics verarbeitet und dargestellt werden kann. Insgesamt lässt sich diese reich und schön bebilderte Ausgabe zum Thema Comics als ein Statement der Redaktion der MEDIENIMPULSE lesen: denn die Auffassung, dass Comics eine eigene, wertvolle und wichtige Kunstgattung darstellen, durchzieht alle Beiträge. Dabei steht vor allem die mehrfache Medialität (Schrift, Buch, Bild, Zeichnung etc.) des Comics vor Augen sowie auch seine Narrativität von allen BeiträgerInnen in den Mittelpunkt der Debatte gerückt wurde: Der Comic ist eben unbestreitbar ein unschätzbarer Teil der Kunst- und Mediengeschichte. Im Ressort Forschung hat Christine W. Trültzsch-Wijnen darüber hinaus einen wichtigen medienpädagogischen Beitrag eingebracht, der auch das breite Spektrum der MEDIENIMPULSE vor Augen führt. Denn Trültzsch-Wijnen hat sich die Mühe gemacht, die internationale Medienpädagogik zusammenzufassen. Die Autorin unternimmt es, verschiedene Rahmenbedingungen zu definieren, welche die Entwicklung der Medienpädagogik in einer bestimmten Kultur oder einem bestimmten Land beeinflussen können: das Mediensystem und Medienangebot, historische Entwicklungen (gesellschaftlich, politisch), das Bildungssystem, theoretische Ansätze (Wissenschaft, Kunst) und kulturelle Besonderheiten. So entsteht anhand dieser Fragestellung ein umfassender Bericht zu den verschiedenen Formen der Medienpädagogik in internationalem Rahmen.

Ausgabe 4/2013 Medialer Habitus Die letzte in diesem Band vertretene Ausgabe 4/2013 Medialer Habitus stellt dann eine Zusammenfassung langjähriger Diskussionen in der Redaktion der MEDIENIMPULSE dar und


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schließt diesen Band gebührend ab. Denn nicht zuletzt durch die wiederholte Betonung der theoretischen und praktischen Nützlichkeit von Pierre Bourdieus Bildungssoziologie im Rahmen der Medienpädagogik wird seit geraumer Zeit der „mediale Habitus“ in seinem Verhältnis zur Medienkompetenz diskutiert. Dies beginnt schon damit, dass Ralf Biermann davon ausgeht, dass die Grundbegriffe „Medienkompetenz“ und „Medienbildung“ als elementare Prozesse und Ziele von medienpädagogischen Projekten zu verstehen sind. Im Rekurs auf Bourdieus Habitus-Konzept betont Biermann deshalb vor allem die Genese und Veränderbarkeit „habitueller Muster“, die dem „medialen Habitus“ eingeprägt sind. „Medienkompetenz“ kann daher als „Dispositionsgefüge“ im Sinne von Bourdieus „kulturellem Kapital“ und „Medienbildung“ als „Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen“ konzipiert werden. Der (mediale) Habitus sorgt so über Erfahrungen für eine strukturelle Koppelung von subjektiven Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata und „objektiven“ sozialen Strukturen. Diesem Problemfeld der sozialen und digitalen Unterschiede widmet sich auch Sven Kommer, der in seinem Beitrag danach fragt, inwieweit das Habitus-Konzept als Erklärungsmuster für die empirisch beobachtbare Zementierung sozialer Ungleichheit im Schulsystem greift. Der Artikel geht dabei von dem empirischen Befund aus, dass die individuelle Ausprägung der Medienkompetenz auf das Engste mit den Ressourcen des Elternhauses verbunden ist und sich dabei die elterlichen Formen der Medienerziehung unübersehbar mit den aktuellen medialen Handlungspraxen verbinden. An der Schnittstelle von Habitus und Bildungsprozessen setzt dann auch Norbert Meder an, wenn er der Frage nachgeht, wie genau sich der Habitus im Leib eines Menschen inkorporiert und wie er sich vererbt. Denn die Pädagogik begreift mit Termini wie Haltung, Prägung, Gewohnheit oder Persönlichkeit wissenschaftliche Problembereiche, die auch das Habitus-Konzept umschreibt. Dabei versteht Meder – an Bourdieu angelehnt – den Habitus als einen relationalen Komplex von Vektoren in einem „Kräftefeld“ von Bildungs- und Sozialisationsprozessen und analysiert sehr eigenständig und fokussiert wie sich dieses „Dispositiv“ in fünf unterschiedlichen frühkindlichen Phasen herausbildet. So wird deutlich, dass es das diffuse Zusammentreffen von Wirklichkeit und Spiel bzw. spielerischer Aneignung ist, das für die Entstehung des Habitus entscheidend ist. Stehen mithin in der Diskussion und Kritik der Bourdieu’schen Bildungssoziologie Fragen nach den sozialen Ungleichheiten im Bildungssystem im Raum, so haben die AutorInnen des Schwerpunkts Medialer Habitus die Diskussion intensiv angereichert. So lässt sich Medienkompetenz als Akkumulation von Kapital beschreiben, wobei die Grenzen und Limitationen des Habitus erklären können, warum – auch in unseren Schulklassen – nicht alles von jeder/ jedem erreicht werden kann. Darüber hinaus ist die Diskussion zur Art und Weise eröffnet, wie sich der Habitus medienpädagogisch „inkorporiert“ und erst so seine Wirksamkeit entfalten kann. Aus dem Bereich Praxis bringen wir dann zum Ende hin noch einen Bericht von Helmut Hostnig, der sehr konkret die Umsetzungsmöglichkeiten und Gestaltung(en) von Witzen im Umfeld von schulischen Radioproduktionen diskutiert. Anhand eines konkreten Beispiels zeigt Hostnig, dass ein Witz als fiktionale Textsorte vielerlei textkritische Auseinandersetzungen (im Unterricht) möglich macht und so im schulischen Rahmen auch Interaktion(en) zwischen Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen ermöglicht, wenn man ihn szenisch nachstellt und im Rahmen einer „witzigen“ Medienpädagogik verwendet und einsetzt. Und um Sie, liebe LeserInnen, auch auf unsere Tagungsaktivitäten aufmerksam zu machen,


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haben wir an das Ende dieses Bandes einen Tagungsbericht gestellt. Unsere mehr als verdiente Redaktionsassistentin Katharina Kaiser-Müller fasst dabei die von den MEDIENIMPULSEN mitorganisierte Tagung „Filmbildung im Wandel“ im Filmarchiv Austria zusammen, die am 03. und 05. Oktober 2013 stattgefunden hat. Dabei widmeten wir uns eingehend den Veränderungen der Vermittlungspraxis des Mediums Film. Insgesamt meint die Redaktion auf zwei sehr produktive Jahre zurückblicken zu können, die nun mit diesem Sammelband gut dokumentiert sind. Ein Band, der uns auch zu neuen Ufern führen soll. Die erste Ausgabe der MEDIENIMPULSE 2014 ging übrigens mit dem 21.03.2014 online und befasst sich mit dem Display. Eigentlich warten wir nur darauf, dass Sie im Rahmen eines Medienwechsels auf unser digitales Display zugreifen: http://www.medien impulse.at/. Uns bleibt nur darauf hinzuwiesen, dass Sie ihre eigenen Artikel jederzeit unter www.medienimpulse.at/beitrag-einreichen hochladen können. Haben Sie dahingehend schon unsere aktuellen Calls gelesen? Wir freuen uns aber auch unabhängig davon über jeden Beitrag zur Medienpädagogik. Vielleicht finden Sie ihren Beitrag ja in der nächsten Druckausgabe wieder. Tauchen Sie aber auf jeden Fall ein in die soziale und mediale Welt der MEDIENIMPULSE, ob in der Gutenberggalaxis oder im Web 2.0 … Die HerausgeberInnen


Danksagung

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Danksagung Die HerausgeberInnen danken an dieser Stelle dem BM/BF (ehemals bm:ukk) und dabei insbesondere Julia Kopetzky, Walter Olensky und Andrea Bannert für die aufrichtige Unterstützung, ohne die dieses Buch nicht hätte realisiert werden können. Auch danken wir den MitarbeiterInnen des Verlags new academic press und dabei insbesondere Harald Knill, Peter Sachartschenko und der überaus sorgsamen Lektorin Marie-Therese Pitner für die äußerst freundliche und mehr als produktive Betreuung. Nicht zuletzt hat Brita Pohl sich um die Abstracts unserer Artikel gekümmert und sie auch ins Englische übertragen. Auch ihr gilt unser Dank.



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Edith Blaschitz

Die visuelle Repräsentation des Konzentrationslagers Mauthausen im österreichischen Schulbuch Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/405

Abstract Die Frage nach der Repräsentation von KZ-Fotos in Schulbüchern stößt in ein sehr komplexes Geflecht von Ansprüchen und Bedeutungen, die ihrerseits einem bemerkenswerten geschichtspolitischen Wandel unterliegen. Edith Blaschitz analysiert in ihrem Beitrag die Funktion von visuellen Quellen in den Repräsentation(en) des Konzentrationslager Mauthausen, indem sie u. a. den Problemkreis der „Vergegenwärtigung“ und Repräsentation der Shoah umkreist und dabei ein Authentizitätsdilemma ausmacht. Auch betont sie, dass die Bilder zur Shoah im österreichischen Schulbuch einer Verknappung unterliegen und sich die Bilderwelt zur Shoah mehr und mehr zurückzieht. Menschen verschwinden und werden durch Erinnerungsobjekte ersetzt. The visual representation of the Mauthausen concentration camp in Austrian textbooks. The issue of the representation of concentration camp photos in school textbooks reaches into an extremely complex combination of demands and meanings that are in turn subject to a striking change in the politics of memory. In her contribution, Edith Blaschitz analyses the function of visual sources in the representation(s) of the Mauthausen concentration camp by revolving around the problematic issues of “re-presentation” of the Shoah, in which she identifies a dilemma of authenticity. She also emphasizes that images about the Shoah are subject to a depletion, and that the world of images of the Shoah is withdrawing more and more. People vanish and are replaced by objects of memory.

1. Einleitung Geschichtsvermittlung ist als konstituierendes Element eines staatsbürgerlichen Bewusstseins zu sehen.1 Geschichtsbücher bedienen sich der vorherrschenden (staatlich akkordierten) Erinnerungskultur und tragen gleichzeitig zu ihrer Perpetuierung bei. Fotos im Geschichtsbuch sind somit visuelle Koordinaten für den jeweiligen Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Im Rahmen eines konkret formulierten erzieherischen Auftrages sind KZ-Fotos im Schulbuch innerhalb der 1 Im aktuellen AHS-Lehrplan wird als Zielhorizont die Ausformung eines „europäischen Selbstverständnisses“ gesehen, die Überwindung von Vorurteilen, Rassismen und Stereotypen wird explizit aus Bildungsaufgabe genannt, siehe AHS-Lehrplan „Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung“, online unter: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/11857/lp_neu_ahs_05.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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sogenannten „Holocaust Education“ zu sehen. Diese soll SchülerInnen nicht nur zu Erkenntnisgewinn über historische Ereignisse führen, sondern zugleich eine „Erziehung zur Mündigkeit“2 beinhalten. Aus geschichtsdidaktischer Perspektive soll die Arbeit mit Fotos – d. h. Analyse, Interpretation und Dekonstruktion – zum Zielhorizont des reflektierten Geschichtsbewusstseins beitragen3 bzw. gilt die Vermittlung einer „Bild(lese)kompetenz“ fächerübergreifend als wesentlich für einen kompetenten Medienumgang.4 Den aktuellen Stand geschichtswissenschaftlicher Forschung abzubilden, ist ein weiterer Anspruch der Geschichtsdidaktik.5 Um sich der Darstellung des Konzentrationslagers Mauthausen in österreichischen Geschichtsbüchern anzunähern, ist es aufgrund dieser vielfältigen Funktionen und Aufgaben notwendig, sich über den ikonografischen Charakter oder die quellenkritische Überprüfung eines Einzelbildes hinaus mit der Frage nach der visuellen Repräsentation zu beschäftigen: D. h. die verwendeten Bilder werden als Teil der gesellschaftlichen Kommunikation betrachtet und die Intentionen des Bildereinsatzes bzw. die Wechselwirkungen zwischen Bild und Betrachtenden analysiert.6 Der vorliegende Beitrag fokussiert auf die Frage, welcher „Erinnerungskultur-Bedingtheit“ bzw. welchem didaktischen „State of the Art“ die verwendeten Fotos unterliegen. Weiters wird untersucht, welche „Schlüsselbilder“ zur Darstellung des Konzentrationslagers Mauthausen verwendet wurden und werden.

2. Mediale Vermittlung und das „Authentizitätsdilemma“ Obwohl die Shoah bereits in der Vergangenheit zu einem hohen Grad medial repräsentiert war, steigert das physische Verschwinden derjenigen, die aus eigener Erfahrung über die Ereignisse berichten können, die Befürchtung, die Shoah könne durch die alleinige mediale Vermittlung auf ein „beliebiges“ historisches Ereignis reduziert werden und einer Trivialisierung bzw. der Befriedigung eines a-historischen „sensation-seeking“-Bedürfnisses zum Opfer fallen.7 2 Vgl. Adorno, Theodor W. (1971): Erziehung nach Auschwitz, in: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Helmut Becker 1959–1969, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 88–104. 3 Schreiber, Waltraud (2007): Kompetenzbereich historische Methodenkompetenz, in: Körber, Andreas/ Schreiber, Waltraud/Schöner, Alexander (Hg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried: ars una, 194–235. 4 Siehe Medienerziehung. Grundsatzerlass des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur. Online unter: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/5796/medienerziehung.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). 5 Pandel, Hans-Jürgen (2011): Bildinterpretation. Zum Stand der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation, in: Handro, Saskia/Schöffmann, Bernd (Hg.): Visualität und Geschichte, Berlin: Lit, 69–87, hier: 77. 6 Vgl. Mitchell, W. J. T. (2008): Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München: Beck bzw. Hall, Stuart (Hg.) (2003): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London: Sage. 7 Siehe etwa Popp, Susanne (2003): Geschichtsdidaktische Überlegungen zum Gedenkstättenbesuch mit Schulklassen, in: Historische Sozialkunde 4/2003, 10–13, online unter: http://www.erinnern.at/ bundeslaender/oesterreich/e_bibliothek/seminarbibliotheken-zentrale-seminare/gedenkstatten-gedachtnisorte-lernorte/537_Popp%2C%20Geschichtsdidaktische%20Uberlegungen.pdf/view (letzter Zugriff: 01.04.2014). Vgl. auch Langer, Phil C./Cisneros, Daphne/Kühner, Angela (2008): Aktuelle Herausforderungen der schulischen Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust, in: Einsichten und Perspektiven, H. 1, 2008; online unter: http://192.68.214.70/blz/eup/01_08_themenheft/2.asp (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Als „problematische Popularität“ thematisiert Erik Meyer das anhaltende Publikumsinteresse an der NS-Zeit,8 charakterisiert durch die Beliebtheit von (pseudo)historischen Dokumentationen im Fernsehen und Verkaufszahlen steigernde Zeitschriften-„Hitler“-Cover. Die Problematisierung des – im Schulunterricht noch sehr erwünschten – Interesses verdeutlicht das Dilemma, vor dem die Geschichtsvermittlung und die Shoah-Pädagogik im Besonderen stehen: Authentizität gilt als das am besten geeignete Mittel, um die erwünschte Übersetzung des Erfahrungsgedächtnisses von Zeitzeugen in ein lebendiges kulturelles Gedächtnis9 zu erreichen. Dabei wird Authentizität im Sinne der von Levy und Snaider benannten „Vergegenwärtigung“ der Shoah angestrebt.10 Ohne den Zugriff auf ein persönliches Erfahrungsgedächtnis kann Authentizität allerdings nur mediengestützt erreicht werden: Interviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen, zeitgenössische Fotos – oder, wenn ein physischer Raum als Medium verstanden wird, der Besuch eines Erinnerungsortes. Gleichzeitig wird die in audiovisuellen bzw. Online-Medien betriebene Konstruktion von Authentizität über Fiktionalisierung, Einbindung von Emotionen und die Betonung der subjektiven Perspektive11 kritisch bewertet. Der Grad zwischen „erwünschter“ Authentizität und abgelehnter Medienauthentizität ist nicht immer klar erkennbar. Das „Authentizitätsdilemma“ verdeutlicht nicht nur die traditionell medienkritische Haltung der Bildungsverantwortlichen, sondern legt ein problematisches Verständnis von Authentizität offen: Solange Authentizität im Sinne eines absoluten Wahrheitsanspruches verstanden wird, d. h. den Anspruch auf den „eigentlich unmöglichen Zugriff auf die geschichtlich ‚wahre‘ Wirklichkeit“ erhebt,12 ist die „authentische“ Vermittlung der Shoah zum Scheitern verurteilt. Historische Bildung hat als Ziel, nicht nur Vergangenes begreiflich zu machen, sondern auch zur besseren Bewältigung von Gegenwärtigem und Zukünftigem zu führen.13 „Holocaust Education“ nimmt im Rahmen der Geschichtsdidaktik mit dem Ziel, Humanismus und ethische Werte zu vermitteln, einen besonderen Platz ein.14 Die Konzepte von Freiheit und Menschenwürde kennenzulernen und zu verinnerlichen oder Mechanismen von Rassismus und Antisemitismus zu erkennen und reflektiert zu überwinden, sind nur einige der erwünschten Lernziele durch „Holocaust Education“.15 Österreich orientiert sich dabei seit 2001 an den 8 Meyer, Erik (2009): Problematische Popularität? Erinnerungskultur, Medienwandel und Aufmerksamkeitsökonomie, in: Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld: transcript, 267–287. 9 Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck, 15. 10 Levy, Daniel/Snaider, Natan (2007): Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 48. 11 Meyer (2009): 283. 12 Langer/Cisneros/Kühner (2008). 13 Vgl. AHS-Lehrplan „Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung“ bzw. Hauptschule Lehrplan „Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung“, online unter: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/879/gsk_pb_hs.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). 14 Vgl. Dreier, Werner (2008): Ach ging’s nur zu wie in der Judenschul! Anregungen für eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus in einer Schule, in: DÖW Jahrbuch 2008, 166–184, hier: 168f.; weiters: Peham, Andreas/Rajal, Elke (2010): Erziehung wozu? Holocaust und Rechtsextremismus in der Schule, in: DÖW Jahrbuch 2010, 38–65, hier: 55f. 15 Siehe Empfehlungen der Task Force, online unter: http://www.holocausttaskforce.org/education/guidelines-for-teaching/how-to-teach-about-the-holocaust.html?lang=de, bzw. diesen Empfehlungen folgend http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/lernmaterial-unterricht/methodik-didaktik-1/emp-


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Empfehlungen der 1998 in Schweden gegründeten „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research“.16 „Holocaust-Pädagogik“ hat sich weg von der vielfach kritisierten „Leichenberg-Pädagogik“17 hin zur Forderung einer „personalisierten“ Vermittlung18 gewandelt. Aktive Partizipation und Diskussion sollen gestärkt werden.19 In einer Übergangsphase authentischer Zeugenschaft, d. h. in der Phase des physischen Verschwindens von Zeitzeuginnen und -zeugen, wird über die Herstellung eines persönlichen Bezugs versucht, Authentizität zu vermitteln: Dazu gehören die Recherche der Biografien von jüdischen Opfern oder Besuche von KZ-Gedenkstätten. Die Bedeutung von Geschichtsbüchern, lange Zeit das prioritäre oder gar einzige Medium historischer Wissensvermittlung, erscheint deutlich vermindert. Es wird sogar empfohlen, „Holocaust Education“ gänzlich aus dem Schultag herauszuheben.20

3. Shoah und Fotografien Fotos wird im Rahmen der Konstruktion von Authentizität ein hoher Stellenwert eingeräumt. Dabei sind in der Shoah-Forschung zwei Diskurs-Stränge auszumachen: Authentizität wird als Frage nach dem „Wahrheitscharakter“ von Bildern diskutiert sowie auch im Zusammenhang mit der/den Repräsentation(en) der Shoah bzw. der „Zumutbarkeit“ von Bildern. Erst vor vergleichsweise kurzer Zeit konnten sich visuelle Produktionen und ihre Praktiken in der Geschichtswissenschaft des deutschsprachigen Raums etablieren.21 Bilder galten aufgrund ihrer „flexiblen Verwendbarkeit und Codierung“22 und ihrer Kontextabhängigkeit als „uneindeutig“, da sie sich der „Lesbarkeit“ nach einer eindeutigen „Grammatik“ widersetzen. Die Diskussionen um die sogenannte „Wehrmachtsausstellung“ intensivierten die Beschäftigung mit historischen Bildquellen. Fotos hatten bis dahin, so auch das Fazit des Kommissionsberichts zur „Wehrmachtsausstellung“, weniger eine Bedeutung als historische Quellen, sondern einen stark illustrativen Charakter – die Erzeugung von Emotionen stand im Vordergrund.23 fehlungen-fur-die-gestaltung-von-unterrichtsstunden-uber-den-holocaust (letzter Zugriff: 01.04.2014). 16 Siehe hierzu http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/lernmaterial-unterricht/methodik-didaktik-1/empfehlungen-fur-die-gestaltung-von-unterrichtsstunden-uber-den-holocaust (letzter Zugriff: 01.04.2014). 17 Vgl. Brink, Cornelia (1998): Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin: Akademie-Verlag, 204–221. 18 Langer/Cisneros/Kühner (2008). 19 Siehe „Und was hat das mit mir zu tun?“: Perspektiven der Geschichtsvermittlung zu Nazismus und Holocaust in der Migrationsgesellschaft, Wien: Büro trafo.K; Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI); Dirk Rupnow; in Kooperation mit dem Mauthausen Memorial; und mit Unterstützung der Fondation pour la Mémoire de la Shoah, Paris, 17. –20.11.2011, online unter: http:// www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=35139 (letzter Zugriff: 01.04.2012). 20 Peham, Rajal (2010), 46. 21 Paul, Gerhard (2010): Visual History, Version: 1.0., in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010, online unter: https://docupedia.de/zg/Visual_History?oldid=77929 (letzter Zugriff: 01.04.2014). 22 Schulz, Martin (2004): Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft, München: Fink, 199. 23 Bartov, Omer et al. (2000): Bericht der Kommission zur Überprüfung der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, November 2000, online unter: http://www.his-online.de/fileadmin/user_upload/pdf/veranstaltungen/Ausstellungen/Kommissionsbericht.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Fotos wird im Rahmen der Geschichtsdidaktik eine „kompetenzfördernde Funktion“ zugesprochen,24 d. h. durch Analyse, Interpretation und Dekonstruktion von Fotos können SchülerInnen zu „Orientierungskompetenz“ gelangen. Pandel sieht die hier angesprochene „Bildkompetenz“ oder „Bildlesekompetenz“ allerdings kritisch: „Ob es sie überhaupt gibt, ist bisher nicht beantwortet“25 So verwundert es auch nicht, dass sowohl SchülerInnen als auch Lehrenden im Geschichtsunterricht kein Instrumentarium zur Bildanalyse bzw. zur quellenkritischen Auseinandersetzung zur Verfügung steht. Die Art und Weise der Analyse, Interpretation und Dekonstruktion muss somit als zufällig bezeichnet werden. Die Debatte um die Darstellung des „Undarstellbaren“ (den „Limits of Representation“ nach Saul Friedländer), d. h. die Frage, ob und welche Bilder zur Vergegenwärtigung der Shoah eingesetzt werden sollen, ist lang andauernd und kontrovers. Die Diskussion setzte in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein, als die Alliierten versuchten, die deutsche und österreichische Bevölkerung mit KZ-„Schockbildern“ aufzurütteln. Ab den späten 1970er-Jahren – nach einer langen Phase der Bilderreduziertheit und des visuellen Schweigens26 – wurden Bilder zur Emotionalisierung eingesetzt. Die Verwendung von „Schreckensbildern“, „Ikonen des Entsetzens“27 wurde später als „Leichenberg“-Pädagogik beanstandet28 und ein „Bildverbot“ diskutiert. Kritisiert wurde, dass sich die Bilder der Shoah auf einige wenige Bildikonen oder „Schlüsselbilder“ reduzieren:29 seien es die Leichenberge in den befreiten Vernichtungslagern, das Tor von Auschwitz-Birkenau mit dem Schriftzug „Arbeit macht frei“, der kleine Junge mit erhobenen Händen im Warschauer Ghetto oder das Porträt der Anne Frank.30 „It is difficult to contemplate the Holocaust without traces of familiar visual images coming to mind“, beschreibt Zlizer die Wirkung der Bilder, die für das kollektive Gedächtnis die Shoah repräsentieren.31 Kritisiert wurden zudem die Zurschaustellung und Entwürdigung von Opfern,32 ihre passive Darstellung, das Fehlen der visuellen Darstellung von Tätern und Mitläufern oder die Tatsache, dass

24 Krammer, Reinhard (2008): Historisches Lernen mit Bildern, in: Dreier, Werner/Fuchs, Eduard/Radkau, Verena; Utz, Hans (Hg.): Schlüsselbilder des Nationalsozialismus. Fotohistorische und didaktische Überlegungen, Innsbruck et al.: StudienVerlag, 43–55, hier: 48 und 51. 25 Pandel (2011): 69. 26 Vgl. Knoch, Habbo (2001): Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg: Hamburger Edition. 27 Didi-Huberman, Georges (2007): Bilder trotz allem, München: Fink, 58; vgl. auch Hamann, Christoph (2007): Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung, Herbolzheim: Centaurus,103. 28 Borries, Bodo von (1994): „Wer sich des Vergangenen nicht erinnert, ist verurteilt, es noch einmal zu erleben“, Hannover: Niedersächsische Landeszentrale für Politische Bildung in Hannover, 6; Brink (1998). 29 Brink (1998); Hirsch, Marianne (2001): Surviving Images: Holocaust Photographs and the Work of Postmemory, in: Barbie Zlizer (Hg.): Visual Culture and the Holocaust, London: The Athlone Press, 215–246, hier: 226. Zur Diskussion der Begriffe „Schlüsselbild“, „Ikone“, „Schlagbild“, siehe Hamann (2007), 41. 30 Heyl, Martin (2004): Bildverbot und Bilderfluten, in: Bannasch, Bettina/Hammer, Almuth (Hg.) (2004): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah, Frankfurt/M.: Campus, 117–129, hier: 125; siehe auch Zlizer (2001): 1. 31 Zlizer (2001): 1. 32 Heyl (2004): 129.


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die Betrachtenden zumeist dem Blick der Täter folgen.33 Ab den 1990er-Jahren wurde über private Fotos vor der Verfolgung versucht, die Wahrnehmung der Opfer als entmenschlichte, anonyme Körper im Konzentrationslager zu brechen.34 Heute kann von der Befürwortung, eines „gemäßigten“ Einsatzes von Shoah-Bildern gesprochen werden. Um der kritisierten ikonisierenden Inszenierung von Einzelbildern entgegenzuwirken („Ikonen der Vernichtung“35), wird empfohlen, unbekannte Fotos zur Darstellung der Shoah zu verwenden.36 Die Diskussionen rund um die „Wehrmachtsausstellung“ haben die „Bildikonografie des Verbrechens“ mittlerweile durch Fotos von Tätern und Tat erweitert.37 Gerade im „Limits of Representation“-Diskurs wird auf die „Ver­an­schaulichungsfunktion“ bzw. „Emotionalisierungsfunktion“38 von Fotos verwiesen. In Bildern verdichtete und zugängliche Erfahrungen können eine „leibliche Kontaktaufnahme mit der Welt“ und damit einen Prozess der Bildung durch Bilder bewirken, befindet Stenger.39 Didi-Huberman betont die Fähigkeit der Fotografie, „sich dem absoluten Willen zur Auslöschung“ zu widersetzen,40 oder mit den Worten von Knoch: „Fotografien der Tat aus der Zeit perforieren die immer wieder konstatierte Grenze der Vorstellbarkeit.“41 Die „Holocaust-Pädagogik“ hat den geschichtswissenschaftlichen Diskurs übernommen. So empfiehlt die „Education Working Group“, keine „schrecklichen Bilder“ zur Vermittlung des Holocaust einzusetzen. Schock und Abwehr würden zu keiner Lernerfahrung führen und die Opfer herabwürdigen.42

33 Vgl. Knoch (2003): 104f.; siehe auch Knoch, Habbo (2004): Technobilder der Tat. Der Holocaust und die fotografische Ordnung des Sehens, in: Bannasch, Bettina/Hammer, Almuth (Hg.): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah, Frankfurt/M.: Campus, 167–188, hier: 174; Winkler, Jean-Marie (2005): Momentaufnahmen der Erinnerungen. Fotografische Blicke und ihre Grenzen, in: Das sichtbare Unfassbare/The visible Part. Fotografien vom Konzentrationslager Mauthausen, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, herausgegeben von: BM.I – Bundesministerium für Inneres, Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Red.: Gabriele Pflug. Texte: Ilsen About, Wien: Mandelbaum, 15-21, hier: 19. 34 Brink, Cornelia (2008): „Foto | Kontext. Kontinuitäten und Transformationen fotografischer Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen.“, in: Uhl, Heidemarie (Hg.): Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts, Innsbruck et al.: StudienVerlag, 67–87, hier: 74. 35 Brink (1998). 36 Althaus, Christine/Bertschi, Mirjam/Schnell, Barbara/Utz, Hans (2008): Von der Wissenschaft in den Unterricht. Auswahl, Aufbereitung und Einsatz von Fotografien über den Holocaust, in: Dreier, Werner/Fuchs, Eduard/ Radkau, Verena/Utz, Hans (Hg.): Schlüsselbilder des Nationalsozialismus. Fotohistorische und didaktische Überlegungen, 90–100, hier: 92. 37 Hamann (2007): 152. 38 Krammer (2008): 51. 39 Stenger, Ursula (2004): Dimensionen des Bildes. Anthropologische Überlegungen mit einem Blick auf die Schoah, in: Bannasch, Bettina/Hammer, Almuth (Hg.): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah, Frankfurt/M.: Campus, 132–146, hier: 144. 40 Didi-Huberman (2007): 40. 41 Knoch (2004): 168. 42 Empfehlungen für den Unterricht über den Holocaust der „Education Working Group“, online unter: http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/lernmaterial-unterricht/methodik-didaktik-1/empfehlungen-fur-die-gestaltung-von-unterrichtsstunden-uber-den-holocaust (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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4. Die Repräsentation(en) der Shoah als Teil des nationalen kommunikativen Prozesses Die in Schulbüchern repräsentierten Gedächtnisbilder sind als Teil der kollektiven Erinnerungskultur auch konstituierender Bestandteil eines aktiven kommunikativen Prozesses. Damit gehen Fotos über die Funktion einer passiven Spiegelung von historischen Ereignissen hinaus und übernehmen eine identitätsstiftende Funktion. So wurde das Bild der Balkonszene nach Unterzeichnung des Staatsvertrags Teil des österreichischen Selbstverständnisses nach 1945. Während Bilder von Kriegszerstörung und Wiederaufbau bereits seit Gründung der Zweiten Republik in publizierte Eigendarstellungen43 und somit in den visuellen Gedächtniskanon aufgenommen wurden, fanden Shoah-Bilder lange Zeit kaum, und wenn, dann in abstrahierter Form (Gedenktafeln, Außenmauern von Konzentrationslagern), Eingang. Erst in den späten 1970er-Jahren bzw. nach dem „Bedenkjahr“ 1988, als die Mitverantwortung an NS-Verbrechen langsam öffentlicher Konsens wurde,44 setzte sich auch ein visuelles Narrativ der österreichischen Mittäterschaft und des „Tat-Ortes“ Österreich nach dem „Anschluss“ durch.45 Während in der Bundesrepublik Deutschland das Foto des menschenleeren Torhauses Birkenau-Auschwitz, das von einer Darstellung konkreten Mordens und sichtbarer Opfer absah, schon früh breit rezipiert und dem „Vermeidungsdiskurs“ untergeordnet werden konnte,46 fehlt in Österreich ein solches „Schlüsselbild“, das ein Konzentrationslager auf heute österreichischem Gebiet darstellt. Die in Geschichtsbüchern verwendeten „Ikonen der Vernichtung“ sind fremd verortet: der Junge aus dem Warschauer Ghetto, Leichen oder Überlebende aus den Konzentrationslagern Buchenwald, Auschwitz-Birkenau oder Bergen-Belsen.

5. Die „Karriere“ des Mauthausen-Bildes im österreichischen Schulbuch Die Geschichte von KZ-Fotos in österreichischen Schulbüchern – und im Speziellen die Darstellungen des Konzentrationslagers Mauthausen – ist eine vergleichsweise kurze. 1977, zwei Jahre vor der Erstausstrahlung der Serie „Holocaust“ im österreichischen Fernsehen, erfolgte der Abdruck des zu einer Bildikone der Shoah avancierten Bildes aus dem Konzentrationslager Buchenwald: Es zeigt rechts im Vordergrund einen nackten, ausgemergelten Gefangenen, während aus den rohen Holzkojen im Hintergrund ebenfalls zum Skelett abgemagerte Mitgefangene ins Bild blicken, darunter der damals 16-jährige Eli Wiesel.47 Bilder nackter, 43 Siehe etwa Bundesregierung (Hg.) (1965): Österreich. Einheit Freiheit Unabhängigkeit. Zwanzig Jahre Zweite Republik, zehn Jahre Staatsvertrag. Festgabe der Bundesregierung für die österreichische Jugend, Wien: Österreichischer Bundesverlag, Verlag für Jugend und Volk. 44 Siehe Uhl, Heidemarie (2004): „Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese: Die Transformationen des österreichischen Gedächtnisses.“, in: Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 2, Mainz: Philipp von Zabern, 481–502. 45 Vgl. Petschar, Hans (2008): „Bekannt und unbekannt. Fotografische Ikonen zum ‚Anschluss‘ Österreichs an das Dritte Reich.“, in: Dreier, Werner/Fuchs, Eduard/Radkau, Verena/Utz, Hans (Hg.): Schlüsselbilder des Nationalsozialismus. Fotohistorische und didaktische Überlegungen, Innsbruck et al.: StudienVerlag, 43–55. 46 Hamann (2007): 103. 47 Berger, Franz/Schausberger, Norbert (1977): Zeiten, Völker und Kulturen. Lehrbuch der Geschichte


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„entmenschlichter“ Körper und zu Bergen aufgetürmte, grotesk verdrehte Leichen nehmen eine Schlüsselrolle in der Darstellung der Shoah ein. Das erste „Leichenberg“-Foto aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen wurde 1989 abgedruckt.48 Fotos aus Bergen-Belsen werden in den nächsten Jahren in Schulbüchern häufig gewählt, um die Massenvernichtung in Konzentrationslagern zu visualisieren. Nachdem – nicht zuletzt durch die genannte Fernsehserie – in Österreich eine Auseinandersetzung mit der Beteiligung an NS-Verbrechen angestoßen war,49 erschien 1981 die erste fotografische Darstellung des Konzentrationslagers Mauthausen in einem Schulbuch.50 In seinem visuellen Narrativ ist das Foto noch ganz der Phase des Schweigens und der Distanzierung verhaftet, wie sie Knoch für die deutsche Visiografie der 1950er- und 1960er-Jahre analysierte.51 Es zeigt den von Mauern eingefassten Garagenhof der SS, im Hintergrund ist ein Wachtturm zu sehen und am Rande der rechten Steinmauer sind schemenhaft zwei Gestalten zu erkennen. Die rechte Mauer bzw. der entlang der Mauer verlaufende Steinweg bilden den Bildfokus. Mauer und Steinweg queren in einer Diagonale das Bild von links unten nach rechts oben und nähern sich somit dem ästhetischen Ideal des „Goldenen Schnitts“ an. Das nach 1945 entstandene Foto52 vermittelt geordnete Distanziertheit – weder Tat, Täter noch Opfer sind zu sehen. Nur die Bildlegende „Das Konzentrationslager Mauthausen in Oberösterreich“ verweist auf einen Zusammenhang mit der Shoah, visuelle Bezugnahmen fehlen. Das KZ-Bild kann in seiner strengen Bildkomposition als ästhetisch „gefällig“ bezeichnet werden. Auf derselben Buchseite wird 1981 ein Foto abgebildet, welches das kriegszerstörte Wien im Jahr 1945 zeigt: Fußgänger bahnen sich den Weg durch schuttbedeckte Straßen. Das Bild vermittelt individuelle Betroffenheit und Entbehrung. Die Metapher des „gegenübergestellten Leids“, lange Zeit bestimmend für die öffentliche Debatte („Wir alle haben gelitten“), wird hier visuell sogar verstärkt, d. h. eine höhere Gewichtung der Folgen alliierter Bombenangriffe vermittelt.

6. Darstellung von Opfern Im „Bedenkjahr“ 1988 – als nach der Affäre Kurt Waldheim und einer ausführlichen Diskussion um den 50. Jahrestag des „Anschlusses“ die Verantwortung für Verbrechen der Vergangenheit vermehrt als demokratiepolitischer Auftrag Österreichs aufgefasst wurde – findet sich ein Foto von Opfern im Konzentrationslager Mauthausen.53 Fünf kahlgeschorene Männer stehen in Reih und Glied vor der Wäschereibaracke. Das Bild ist unscharf, die Männer in abgetragenen Uniformen haben den Blick abgewandt und sehen ernst und bewegungslos in die Ferne.

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und Sozialkunde für die Oberstufe der allgemeinbildenden höheren Schulen, Für die 8. Klasse, Wien: öbv et al. – Das Bild wurde 1985 erneut abgedruckt in: Hasenmayer, Herbert et al. (1985): Aus Vergangenheit und Gegenwart, 4. Klasse AHS, Wien: Hirt. Schimper, Arnold/Hitz, Harald/Hasenmayer, Herbert/Göhring, Senta/Tuschel, Manfred (1989): Geschichte miterlebt. 8. Schulstufe, Wien: Hölzel et al. Uhl (2004): 7. Scheipl, Josef et al. (1981): Geschichte und Sozialkunde – 4. Arbeitsbuch für die 4. Klasse der Hauptschulen, Wien: Hirt/Ueberreuter, 100. Vgl. Knoch (2001). Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen: Rep. Österreich BMI IV/7, Archive, A/1/11/7/1, Sig.: A/01/11/07/01. Schausberger, Norbert/Oberländer, Erich/Strotzka, Heinz (1988): Wie? Woher? Warum? 3./4. Klasse, Wien: Österreichischer Bundesverlag, 52.


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Nur ein Mann blickt direkt in die Kamera. Es dürfte sich um sowjetische Offiziere handeln, die 1944 als sogenannte „K-Häftlinge“ (K für „Kugel“) zur Tötung bestimmt waren. Aufgenommen wurde das Foto vom lagereigenen „Erkennungsdienst“ der SS. Es ist noch kein „Schreckensbild“, wie es in späteren Jahren verwendet werden sollte. Die wahrscheinlich bevorstehende Tötung wird im Schulbuch nicht erwähnt (Bildlegende: „Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen“) und die Uniformen verweisen auf eine Involvierung in Kriegshandlungen. Zivile Opfer sind auf der nächsten Seite desselben Schulbuches zu sehen: Mit der Bildlegende „Die Juden wurden in die Vernichtungslager deportiert“ versehen, wird hier das bekannte Shoah-Bild „Der Junge aus dem Warschauer Ghetto“, in dem Frauen und Kinder mit erhobenen Händen von bewaffneten Soldaten durch die Straßen getrieben werden, verwendet. Das Bild ist geografisch nicht einordenbar, die Texte unter dem Bild befassen sich mit Auschwitz.54 Bereits ab 1981 werden die ersten „Leichenberg“-Fotos im Schulbuch verwendet, die zunächst fremd – über die Darstellung des Vernichtungslagers Bergen-Belsen55 – oder anonym56 verortet sind. 1995, d. h. einige Jahre nach dem Paradigmenwechsel durch das „Bedenkjahr“ 1988 wird das erste „Leichenberg“-Foto aus Mauthausen in einem Schulbuch publiziert. Dies zu einem Zeitpunkt, als international bereits dazu übergegangen wird, den Opfern über die Präsentation privater Fotos Individualität und Würde zurückzugeben. Auf einem offenen Wagen sind nackte, skelettierte Leichen gestapelt. „Opfer der KZs Mauthausen, 1945 nach der Befreiung durch die Amerikaner“ lautet die Bildlegende.57 Das Foto wird mit einem menschenleeren Foto aus Mauthausen und einem Foto auf der Vorderseite ergänzt, das eine lange Kolonne von JüdInnen bei der Ankunft an der Rampe in Auschwitz zeigt.58 Insgesamt werden in dieser Phase Bilder der Shoah in österreichischen Schulbüchern noch sehr sparsam eingesetzt. Kontrastierend zum beschriebenen Mauthausen-„Leichenberg“-Foto wird ab 1996 ein weiteres schockierendes Foto aus Mauthausen abgebildet: Es zeigt nackte, zum Skelett abgemagerte sowjetische Gefangene, die in mehreren Reihen vor Baracken stehen (Beschreibung siehe unten).59 Auf derselben Seite der Ausgabe des Jahres 1996 sind noch andere Fotos aus Mauthausen zu sehen: Sie zeigen Gefangene bei der Arbeit im Steinbruch und eine mit „Ein ‚Spiel‘ 54 Ebd.: 53. 55 Göbhart, Franz/Chvojka, Erwin (1981): Zeitbilder. Geschichte und Sozialkunde 8. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Wien: Ueberreuter, 109; siehe weiters Schimper et al. (1989); Ebner, Anton/Hefeter, Franz (1993): Österreich und das Weltgeschehen. Zeitgeschichte und Politische Bildung, Wien: Österreichischer Gewerbeverlag et al.; Ebner, Anton/Heffeter, Franz/Ebenhoch, Ulrich/Floiger, Michael/Tuschel, Manfred (1999): Epochen der Weltgeschichte 3. Lehr- und Arbeitsbuch für den 5. Jg. an Handelsakademien, Wien: Hölzel et al. 56 Vgl. Krawarik, Hans/Schröckenfuchs, Erlefried/Weiser, Brigitte (1991): Spuren der Zeit 7, Wien: Dorner. 57 Scheucher, Alois/Wald, Anton/Lein, Hermann/Staudinger, Eduard (1995): Zeitbilder 7, Wien: öbv, 161. 58 Ebd.: 162. 59 Lemberger, Michael (1996): Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 4, Wien: Veritas, 51. Siehe weiters Böckle, Roland/Hellmuth, Thomas/Hiebl, Ewald/Kuschnigg, Wolfgang/Tolar-Hellmuth, Karin/ Tuschel, Manfred (2004): Faszination Geschichte 3. 4. Klasse. Ein Unterrichtswerk für Geschichte und Sozialkunde an Hauptschulen und allgemein bildenden höheren Schulen, Wien: Hölzel, öbv & hpt, 51. In einem ebenfalls 2001 erschienenen Schulbuch kann das Bildmotiv nicht mit Mauthausen in Zusammenhang gebracht werden, da es mit der fehlerhaften Bildlegende „Ausrottung von Juden im Zweiten Weltkrieg“ versehen ist, siehe: Hammerschmid, Helmut/Pramper, Wolfgang (2001): GS Meilensteine der Geschichte. Geschichtsbuch für die 4. Klasse HS und AHS, Wien: Veritas, 63.


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der Nationalsozialisten: Ausgehungerte kämpfen um ein Stück Brot“ untertitelte Szene.60 Erstmals werden somit mehrere Fotos eingesetzt, die das System Mauthausen aus unterschiedlichen Perspektiven zu erfassen suchen. Parallel zur Darstellung entwürdigter und gequälter Opfer, die jeweils in einem sehr nahen Bildausschnitt zu sehen sind, wird schon ab 1991 ein Bild verwendet, das sich zum am häufigsten gewählten Bild zur Darstellung des Konzentrationslagers Mauthausen in österreichischen Schulbüchern entwickeln sollte: die „Todesstiege“ von Mauthausen61 – ein aus beträchtlicher Distanz geschossenes Foto, auf dem sich eine Kolonne von Gefangenen eine steinerne Treppe hinauf windet. Das Bild bietet Raum für unterschiedliche Interpretationen (mehr dazu siehe unten). Um sich seinem visuellen Narrativ anzunähern, bedarf es der Analyse der weiteren Fotos der jeweiligen Buchseite. Im Schulbuch von 1991 wird das Mauthausen-Foto mit zwei „Leichen-Fotos“ kontrastiert und folgt somit der Strategie der „Gleichsetzung von Leid“: Auf einem Foto sind Leichen zu sehen, die nach dem Bombenangriff auf Dresden 1945 verbrannt werden, das zweite Foto zeigt einen „Leichenberg“ aus einem nicht namentlich genannten KZ (Bildlegende: „Ein Bild des Grauens bot sich den Befreiern in den Konzentrationslagern“). In einem Schulbuch des Jahres 1998 wird die „Todesstiege“ mit nicht lokal zugeordneten, verhungernden Kindern im Konzentrationslager62 bzw. mit „Transport von Juden in Viehwaggons“63 kombiniert. Wurden Bilder der Shoah in österreichischen Schulbüchern zunächst wie ausgeführt sehr reduziert verwendet, setzte Ende der 1990er-Jahre ein „Visualisierungsschub“ ein. Viele der „Ikonen der Vernichtung“ finden sich nun: Der Junge aus dem Ghetto, die Toreinfahrt von Auschwitz-Birkenau oder die halb verhungerten Häftlinge von Buchenwald nach der Befreiung. Ab 2001, als Österreich der „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education“ beitrat, enthalten nur wenige Schulbücher keine Mauthausen-Darstellungen.64 Das Fotorepertoire der Massenvernichtung auf österreichischem Boden wird vielfältiger. Fotos der

60 Ebd. Tatsächlich dürfte es sich bei dem Foto der „Ausgehungerten“ um eine Szene nach der Befreiung handeln, siehe Hinweis Stephan Matyus, Bildarchiv. – Die Herkunft des Fotos, das ein kindliches Skelett zeigt und mit der Legende „Nach ‚medizinischen‘ Versuchen …“ versehen ist, bleibt unklar. 61 Das Bild wurde in der Ausgabe von 1991 beschnitten, im Originalfoto ist das Ende der Kolonne zu sehen, siehe Krawarik/Schröckenfuchs/Weiser (1991): Spuren der Zeit; Scheucher, Alois/Wald, Anton/ Lein, Hermann/Staudinger, Eduard (1998): Zeitbilder 7, Wien: öbv; Huber, Gerhard/Huber, Wernhild/Gusenbauer, Ernst/ Kowalski, Wolf (1998): einst und heute 4. Für den Unterrichtsgebrauch an Hauptschulen und allgemeinbildenden höheren Schulen, 4. Klasse, Wien: Dorner; Schröckenfuchs, Erlefried/Huber, Gerhard (2005): Streifzüge durch die Geschichte 7 mit Politischer Bildung, Wien: Dorner; Monyk, Elisabeth/Schreiner, Eva/Mann, Elisabeth (2010): Geschichte für alle 4. Klassen, Wien: Olympe; Beier, Leonhardt (2011): Zeitfenster 4, Wien: Hölzel. 62 Huber, Gerhard et al. (1998): 42. 63 Huber, Gerhard et al. (2003): 46. Hier sind „Leichenberge“ aus dem KZ Buchenwald auf der Vorderseite abgebildet, siehe 45. 64 Ohne Mauthausen-Bilder z. B.: Rettinger, Leopold/Weissensteiner, Fritz (2003): Zeitbilder 4, völlige Neubearbeitung auf Grund des Lehrplans 1999, Wien: öbv; Lemberger, Michael/Lobner, Georg/ Pokorny, Alexander (2004): Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 7. Nach dem Lehrplan 2002, Wien: Veritas; Achs, Oskar/Scheuch, Manfred/Tesar, Eva (2005): gestern/heute/morgen. Aus Geschichte lernen. 7. Klasse, Wien: öbv; Donhauser, Gerhard/Bernlochner, Ludwig et al. (2009): Geschichte und Geschehen 4, Wien: öbv; Netzwerk Geschichte. 4. Lehr- und Arbeitsbuch für die 8. Schulstufe, Wien: Veritas, Bildungsverlag Lemberger 2011.


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Euthanasie-Anstalt Schloss Hartheim65 und Befreite als Bildtopoi erweitern das österreichische Shoah-Bild. Befreite werden durch ein Foto aus dem „Krankenlager“ am 10. Mai66, die Darstellung einer stark abgemagerten Frau67 bzw. Frauen im Außenlager Lenzing visualisiert.68 Die weiterhin beschränkte Darstellung der Täter reduziert sich auf Angehörige der NS-Elite. So zeigt ein 2009 abgedrucktes Foto Heinrich Himmler, den Lagerkommandanten Franz Ziereis und die österreichischen NS-Größen Ernst Kaltenbrunner und August Eigruber69 – ein ähnliches Foto erscheint 2010.70 Visuelle Verweise auf niedrigrangige MittäterInnen oder „Bystanders“ fehlen. Auch nach der Produktion des Spielfilmes „Hasenjagd – Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen“ (A 1994, R.: Andreas Gruber), der die Beteiligung der Zivilbevölkerung an der sogenannten „Mühlviertler Hasenjagd“ thematisiert,71 wird eine etwaige Mittäterschaft jenseits der NS-Elite in Schulbüchern visuell ausgespart. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts verschwinden die „Schreckensbilder“ aus den österreichischen Geschichtsbüchern. Opfer werden nun auch vor ihrer Verhaftung bzw. als Befreite dargestellt. Damit wird internationalen Entwicklungen bzw. den konkreten Empfehlungen der „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education“ gefolgt. Das Foto der „Todesstiege“ kann sich jedoch als „all time favourite“ bis heute halten.72 Insgesamt werden Shoah-Abbildungen in den Schulbüchern der letzten Jahre wieder sparsam eingesetzt. Vermehrt zu finden sind Fotos von Gedächtnisorten und Gedenkstätten, so etwa das Shaoh-Denkmal am Wiener Judenplatz,73 oder von Objekten wie Häftlingsnummern bzw. -armbändern.74 In einer Ausgabe von 2011 kehrt man zur visuellen „Schweigsamkeit“ der frühen Jahre zurück: Nur ein Foto von Wartenden an der Rampe in Auschwitz wird gezeigt. Eine Abbildung von Mauthausen ist nicht mehr enthalten.75 Die Bilderreduktion ist wohl nicht nur auf internationale „Holocaust Education“-Empfehlungen zurückzuführen, authentische Vermittlung außer65 Franzmair, Heinz/Wegl, Anna/Rebhandl, Rudolf/Öhl, Friedrich/Eigner, Michael/Burda, Fred/Brunner, Karl (2005): Zeitzeichen – Zeitgeschichte und Politische Bildung 2 HAS, Wien: Trauner 2005; Franzmair, Heinz/ Willmann, Renate/Spannlang, Reinhold/Rebhandl, Rudolf/Ohl, Friedrich/Brunner, Karl (2009/2011): Zeitzeichen V HTL, Wien: Trauner. 66 Ebd.: 51. 67 Rohr, Christian/Gutschner, Peter (2007): geschichte.aktuell1 für die BHS, Wien: Veritas, 219. 68 Ebd.: 218. 69 Franzmair et al. (2009/2011), 51. 70 Heinrich Himmler, Franz Ziereis und Ernst Kaltenbrunner bei einer „Inspektion“ des Lagers, vgl. Ammerer, Heinrich/Ecker, Maria/Hammerschmid, Helmut/Steinberger, Gerlinde/Windischbauer, Elfriede (2010): Geschichte 4 live, Wien: Veritas, 64. 71 Nach dem Ausbruch von ca. 500 sowjetischen Gefangenen aus dem Konzentrationslager Mauthausen im Februar 1945 beteiligt sich die ortsansässige Zivilbevölkerung in einer dreiwöchigen „Hetzjagd“ an der Gefangennahme bzw. Ermordung der Flüchtigen. 72 Aktuellste Ausgabe mit Abdruck der „Todesstiege“: Beier, Leonhardt (2011): Zeitfenster 4, Wien: Hölzel. 73 Pokorny, Hans/Lemberger, Michael/Lobner, Georg (2009): Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 7, Wien: Veritas, 69 – das Foto wird mit Bildern von Aufseherinnen des KZ Bergen-Belsen, nach der Befreiung (ein sterbender Mann), Auschwitz (Häftlinge müssen ihre ermordeten Mithäftlingen verbrennen), Frauen suchen nach der Befreiung nach Bekleidungsstücken (ohne Ort), SS-Wachen müssen die Toten in Massengräbern bestatten zusammengestellt. 74 Beier, Leonhardt (2011): Zeitfenster 4, Wien: Hölzel, 67. 75 Vgl. Netzwerk Geschichte. 4. Lehr- und Arbeitsbuch für die 8. Schulstufe, Wien: Veritas, Bildungsverlag Lemberger 2011.


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halb der traditionellen Schulstunde zu suchen, sondern auch durch neue Forschungsansätze bedingt. „Erinnerungskultur“ als zunehmend präsentes Thema der historischen Forschung der vergangenen Jahre findet in den Schulbüchern seinen Niederschlag. Merkwürdige Spitzen treibt das schonende „Erinnern ans Erinnern“, wenn in einem Schulbuch aus dem Jahr 2010 Opfer und Tat nur noch durch Gedenksteine („Gedenktafel für Roma und Sinti“) und Fotos menschenleerer Gedenkstätten („Gedenkstätte Mauthausen als Erinnerungsort“ mit der Abbildung des Friedhofes und des ehemaligen „Sanitätslagers“, das sich im Bild als sanfthügelige Landschaft zeigt) repräsentiert werden:76 Eine „versteinerte“ und erstarrte Erinnerung, die nicht zum Ziel der „Vergegenwärtigung“ des kulturellen Gedächtnisses führen kann.

7. Mauthausen-Schlüsselbilder in österreichischen Schulbüchern:77

Abb. 1.: Häftlinge, die Steine über die „Todesstiege“ hinauftragen (Foto der SS) Bild: BMI/ Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Die Entstehungszeit der Abbildung der „Todesstiege“ datiert zwischen 1942 und 1943.78 Die Aufnahme stammt von einem Mitarbeiter des sogenannten „Erkennungsdienstes“, der 1940 in Mauthausen eingerichtet worden war.79 Die Hauptaufgabe des „Erkennungsdienstes“ bestand 76 Ebenfalls abgebildet ist das bereits genannte „Täter“-Foto, siehe Heinrich Himmler, Franz Ziereis und Ernst Kaltenbrunner bei einer „Inspektion“ des Lagers, vgl. Ammerer et. al. (2010): 64. 77 Die Identifizierung von Schlüsselbildern für diesen Beitrag wurde aufgrund des quantitativen Vorkommens in Schulbüchern vorgenommen. Untersucht wurde der Bestand der Schulbuch- und Schulschriftensammlung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur, Minoritenplatz 5, A-1014 Wien. 78 Sammlung United States Holocaust Memorial Museum, Washington, [Photograph #15622], siehe online unter: http://digitalassets.ushmm.org/photoarchives/detail.aspx?id=1056945&search=mauthausen+todesstiege&index=1 (letzter Zugriff: 01.04.2014). 79 Hinweis Stephan Matyus, Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Bildarchiv (Wien), Februar 2012.


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in der „erkennungsdienstlichen“ Erfassung neu angekommener Gefangener, in der visuellen Dokumentation von hochrangigen Besuchen, Ereignissen wie öffentlichen Hinrichtungen oder „Erschießungen auf der Flucht“, aber auch in Porträtierung des SS-Personals.80 Negative der Fotos wurden ab 1943 vor allem von spanischen Gefangenen aus dem Lager geschmuggelt.81 Fotografische Aufnahmen der Arbeitsstätten oder des Steinbruchs waren wohl dazu bestimmt, das Bild eines perfekt organisierten NS-Industriebetriebes zu präsentieren. Fotografiert wurde „nur ein bestimmter, oft bewusst inszenierter Realitätsausschnitt, der ein sauberes und glattes Bild von Mauthausen zeichnete“, analysieren Matyus und Pflug.82 Nach Aussage von Francisco Boix, einem spanischen Häftling, der im „Erkennungsdienst“ beschäftigt war, wurden die Fotos nach Berlin geschickt.83 Auf der berüchtigten „Todesstiege“, die den Steinbruch über 186 Stufen mit dem Lager verband, mussten Häftlinge der Strafkompanie, die zur Tötung bestimmt waren, Granitblöcke nach oben tragen. Viele Menschen kamen dabei, gehetzt vom SS-Wachpersonal, zu Tode. Im Konzentrationslager Mauthausen, in dem der Auftrag „Vernichtung durch Arbeit“ galt, wurden insgesamt schätzungsweise 120.000 Personen ermordet. Ob seiner sorgfältigen Bildkomposition liegt die Vermutung nahe, dass das Foto vom Leiter des „Erkennungsdienstes“ SS-Hauptscharführer Paul Ricken, einem ehemaligen Kunstlehrer, inszeniert und aufgenommen wurde.84 Das Foto zeigt eine Kolonne von Menschen, die in Fünferreihen Steine über die „Todesstiege“ schleppt. Nur die Menschen der ersten Reihe sind auch als solche erkennbar. Die ansteigende Menschenkolonne mit den auf Holzgestelle geladenen quadratischen Steinen verschmilzt optisch zu einem gerasterten Band, das sich wiederum in einer unten links beginnenden Diagonale nach oben windet. Links im Bild beobachtet ein SSMann das Geschehen, im Vordergrund arbeitet ein einzelner Mann. Formalästhetisch ist das Bild sorgfältig komponiert: Wie schon im oben besprochenen Foto des SS-Garagenhofes werden auch für dieses Foto die Regeln des „Goldenen Schnitts“ beachtet. Eine Diagonale im Bild erzeugt Raum und dadurch Spannung. Dass eine von unten links nach oben rechts aufsteigende Diagonale zudem Optimismus vermittelt, unterstreicht die Intention, das Bild eines straff organisierten, prosperierenden Wirtschaftsunternehmens zu zeichnen. Gleichzeitig entspricht die

80 Matyus, Stephan/Pflug, Gabriele (2005): Fotografien vom Konzentrationslager Mauthausen – ein Überblick, in: Das sichtbare Unfassbare/The visible Part. Fotografien vom Konzentrationslager Mauthausen; Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, herausgegeben von BM.I – Bundesministerium für Inneres, Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Red.: Gabriele Pflug. Texte: Ilsen About. Wien: Mandelbaum-Verl., 27–37, hier: 29. 81 Ebd.; siehe auch Bermejo, Benito (2007): Francisco Boix, der Fotograf von Mauthausen, Wien: Mandelbaum et al. 126. 82 Matyus, Pflug (2005): 27. 83 Aussage im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof, Nürnberg 14. November 1945–1. Oktober 1946. Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache. Nürnberg 1947. Online unter: http://www.zeno.org/Geschichte/M/Der+Nürnberger+Prozeß/Hauptverhandlungen/Vierundvierzigster+Tag.+Montag,+den+28.+Januar+1946/Nachmittagssitzung (letzter Zugriff: 01.04.2014). 84 Personen der ersten Reihe tragen keine Holzgestelle, durchgängige Fünferformation auch am Ende der Stiege, obwohl sich der Weg hier verjüngt, siehe Hinweis Matyus, Stephan: Bildarchiv. – Ein ähnliches „Arbeitsfoto“ (Häftlinge im Wiener Graben, 1941) wird ebenfalls abgebildet, Lemberger, Michael (2001): Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 4. Geschichte und Sozialkunde, Wien: Veritas.


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Anordnung dem Topos der „disziplinierten Masse“85, einem der wichtigsten Grundelemente nationalsozialistischer Ästhetik. „Was kann man jener Aufnahme hinzufügen, welche die Strafkompanie auf der für die Gräueltaten emblematischen ‚Todesstiege‘ zeigt und die zugleich Ordnung, Disziplin und Produktivität ausstrahlt“,86 beschreibt Jean-Marie Winkler die Wirkung des Bildes. Es ist das am meisten verwendete Mauthausen-Foto in österreichischen Schulbüchern. Zwischen 1991 und 2011 wird es regelmäßig abgedruckt und hält somit „zeitlos“ den unterschiedlichen, pädagogisch und gesellschaftspolitisch bedingten, Phasen des Bildereinsatzes stand.87 Obgleich die Betrachtenden den Blick der Täter einnehmen, erscheint das Dargestellte distanziert genug, um in sich verändernde Kontexte eingebettet zu werden. Meist ist das Bild im Schulbuch beschnitten, sodass der Mann im Vordergrund nicht zu sehen ist. Die Vermutung liegt nahe, dass die Wirkung des ästhetisch ausdrucksstarken Fotos für die häufige Auswahl (mit)verantwortlich ist. Das Foto kann im Unterricht als Anschauungsbeispiel zur Decodierung der NS-Ästhetik dienen, jedoch wird das Foto der „Todesstiege“ meist nur sehr klein bzw. auch beschnitten abgebildet, sodass eine sorgfältige Analyse des Bildes nicht möglich ist. Das Foto kann somit nur eine illustrative Funktion einnehmen.

8. Entwürdigte: „Leichenberg“ / „Sowjetische Gefangene“

Abb. 2: Entwürdigte Bild: BMI/ Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Zwischen 1998 und 2004 – und mit einigen Jahren Abstand noch einmal 2009 – wurden Mauthausen-„Schreckensbilder“ in österreichischen Geschichtsbüchern verwendet.88 1998 85 Brink (1998): 166. 86 Winkler (2005): 17. 87 Abgedruckt in: Krawarik/Schröckenfuchs/Weiser: Spuren der Zeit 7; Huber, Gerhard/Huber, Wernhild/Gusenbauer, Ernst/Kowalski, Wolf (1998): einst und heute 4. Für den Unterrichtsgebrauch an Hauptschulen und allgemeinbildenden höheren Schulen, 4. Klasse; Wien: Dorner; Scheucher, Alois/ Wald, Anton/Lein, Hermann/ Staudinger, Eduard (1998): Zeitbilder 7. Wien: öbv; Schröckenfuchs, Erlefried/Huber, Gerhard (2005): Streifzüge durch die Geschichte 7 mit Politischer Bildung, Wien: Dorner; Monyk/Schreiner/Mann (2010): Geschichte für alle 4. Klasse; Beier, Leonhardt (2011): Zeitfenster 4. Wien: Hölzel – Eine Nachkriegsfotografie der menschenleeren Stiege ist abgedruckt in: Scheucher, Alois/Wald, Anton/Lein, Hermann/Staudinger, Eduard (1998): Zeitbilder 7. Wien: öbv. 88 Scheucher et al. (1998).


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wird ein Foto abgedruckt, das von den US-amerikanischen Truppen unmittelbar nach der Befreiung am 5. Mai 1945 im Mauthausen-Nebenlager Gusen gemacht wurde.89 Da der KZ-Komplex Mauthausen zu den letzten Lagern gehörte, die befreit wurden, war das für Information und Kommunikation zuständige US Signal Corps für die visuelle Dokumentation ausgerüstet und vorbereitet. Zum Zeitpunkt der Befreiung waren die 20.000 Gefangenen so geschwächt, dass 2.000 Personen unmittelbar danach verstarben.90 Im Zentrum des Gusen-Fotos sind zum Skelett abgemagerte Leichen zu sehen, die auf einen offenen Wagen gestapelt wurden. Im Hintergrund befinden sich Holzbaracken, links im Bild stehen abgewandt vier Männer. „Opfer der KZs Mauthausen, 1945 nach der Befreiung durch die Amerikaner“ lautet 1998 die in Bezug auf den Entstehungsort vage gehaltene Bildlegende – der Verweis auf Gusen fehlt.91 Einzelkörper sind kaum erkennbar. Die ineinander verschlungenen Leichen mit unerträglich lang erscheinenden Armen sind von beinahe abstrakter Anmutung. Kombiniert wird das Bild in der Ausgabe von 1998 mit einer menschenleeren Nachkriegsaufnahme der „Todesstiege“. Im Originalfoto ist im Vordergrund ein mit Decken verhüllter Wagen bzw. rechts im Hintergrund ein weiterer Leichenwagen, der von einem Mann betrachtet wird, abgebildet. Auch der Boden ist von Leichen bedeckt. In den Schulbuch-Ausschnitten ist der mittlere Leichenwagen zentral und bildfüllend. Die ursprüngliche Bildkomposition geht verloren, die vom Wagen gerutschten Leichen sind kaum sichtbar – Vorder- und Hintergrund sind beschnitten. Die Schulbuchausgabe von 2009 verkürzt die Bildlegende zudem auf „Opfer im Konzentrationslager Mauthausen“.92 Ein zusätzliches Mauthausen-„Schreckensbild“ wird in Schulbuchausgaben der Jahre 2001, 2002 und 2004 verwendet, wobei es im erstgenannten Buch noch mit der fehlerhaften Bildlegende „Ausrottung von Juden im Zweiten Weltkrieg“ versehen ist.93 Auch 2001 ist der Mauthausen-Zusammenhang in der Bildlegende nicht explizit erwähnt: „Hitler: ‚Ich wünsche nicht, dass man KZ (sic!) zu Erholungsheimen macht.‘ Häftlinge im KZ“, lautet hier der Kommentar.94 Tatsächlich handelt es sich um sowjetische Kriegsgefangene, die sich nackt in drei Reihen vor einer Mauthausen-Baracke aufstellen mussten.95 Die jungen Männer sind ausgemergelt und kahl geschoren. Nur ein Mann in der ersten Reihe scheint in Richtung des Fotografen zu blicken. Die übrigen Männer senken den Blick oder richten ihn in die Ferne. Leicht gekrümmt versuchen einige Gefangene, ihre Geschlechtsteile zu verdecken. Hier nehmen die Betrachtenden den unbarmherzigen Blick der Täter ein. Die Opfer sind auf den visuellen Code des „unterlegenen Körpers“96 reduziert.

89 Ebd.: 161. 90 Einleitung: Flut der Bilder, online unter: http://www.gusen-memorial.at/db/admin/de/index_main. php?cbereich=1&cthema=4&carticle=13&fromlist=1 (letzter Zugriff: 01.04.2014). 91 Siehe auch in der Version von 2003, Lein/Weissensteiner: Zeitbilder 7. 92 Sammlung United States Holocaust Memorial Museum, [Photograph #41614], online unter: http:// digitalassets.ushmm.org/photoarchives/detail.aspx?id=1144412&search=&index=9 (letzter Zugriff: 01.04.2014). 93 Hammerschmid/Pramper (2001): 63. 94 Lemberger, Michael (2001): Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 4, Wien: Veritas, 51. 95 Visible Part (2005): 40. 96 Knoch (2001): 956f.


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Das Foto erlangte internationale Bekanntheit, da der spanische Häftling Francisco Boix, als Mitarbeiter des „Erkennungsdienstes“ maßgeblich an der Rettung der Mauthausen-Fotos beteiligt, das Foto vor dem Nürnberger Prozess erläuterte. Boix zufolge handelte es sich um eine Aufnahme aus dem Jahr 1942 und zeigte sowjetische Kriegsgefangene, die wahrscheinlich für die Exekution vorgesehen waren.97 Die Diskurse in Geschichtsforschung und Shoah-Pädagogik zeigen ab 2010 ihre Wirkung. In aktuellen Schulbuchausgaben sind keine Darstellungen von entwürdigten Opfern mehr zu sehen.

9. Befreiungsszene

Abb. 3.: Die Befreiung von Mauthausen (nachgestellt) Bild: BMI/ Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Auch im Stammlager Mauthausen traf die US-Armee am 5. Mai 1945 ein. Allerdings wurde die Befreiungsszene am 7. Mai nachgestellt und fotografisch festgehalten.98 Die spanischen Gefangenen hatten inzwischen ein Transparent mit der gedruckten Aufschrift „Los Españoles Antifascistas saludan a las Fuerzas Libertadoras“ produziert und über das Eingangstor gespannt. Donald R. Ornitz, ein ausgebildeter Fotograf, der auch den Einmarsch der US-Truppen in Buchenwald fotografiert hatte, hielt die Szene im Auftrag des US Signal Corps fest.99 Der US-Panzerspähwagen rechts im Bild, auf dem drei lächelnde Soldaten sitzen, ist von jubelnden Menschen umringt. Das Foto wird in den Schulbüchern sehr kleinformatig eingesetzt – wahrgenommen werden kann nur eine Menschenmasse: Menschen die meist mit dem Rücken zur Kamera stehen und mit erhobenen Armen die Soldaten begrüßen. Zu erkennen sind die gestreiften Häftlingsanzüge – dass auch zivil gekleidete Personen darunter sind, lässt sich nur erahnen. Die Menschenmasse bildet visuell eine Dreiecksform, die sich in den Bildraum hinein – in Richtung des Eingangstores – verjüngt. Wie schon die „Todesstiege“ ist es ein bewusst inszeniertes und kompositorisch gelungenes Foto. 97 Sammlung Fédération Nationale de Déportes, Internés, Résistants et Patriotes, Service de documentation, Paris; siehe auch Bermejo (2007), 206. 98 Visible Part (2005): 140. 99 Sammlung United States Holocaust Memorial Museum, [Photograph #68210], online unter: http:// digitalassets.ushmm.org/photoarchives/detail.aspx?id=5632&search=ornitz+mauthausen&index=4 (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Das Foto wird erst Ende der 2000er-Jahre in den Bilderkanon der österreichischen Schulbücher aufgenommen. Die Ausschnitte in den drei analysierten Büchern sind unterschiedlich gewählt: Während das Foto 2007 nur leicht am oberen Rand beschnitten wurde,100 ist 2009 das Eingangstor nur noch teilweise zu sehen. Das Transparent der Spanier, und damit ein wichtiger Teil des Mauthausen-Befreiungsnarrativs, ist nicht mehr sichtbar.101 2011 ist wieder das Originalbild zu sehen.102 Nur in der Ausgabe von 2007 wird in der Bildlegende darauf verwiesen, dass es sich um eine nachgestellte Szene handelt. Die visuellen Erzählungen über das Konzentrationslager Mauthausen sind mittlerweile vielfältiger geworden: Die Befreiungsszene wird in der Ausgabe von 2009 mit einem Täter-Foto (Himmler, Kaltenbrunner, Ziereis, Eigruber) bzw. weiteren Fotos nach der Befreiung („Krankenlager“ mit Blick auf Tote und wartende Menschen)103 oder 2007 mit dem Bild einer befreiten weiblichen Gefangenen kombiniert.104 In der Ausgabe von 2010 wird auf die Darstellung von Einzelpersonen in Mauthausen verzichtet: Neben der Befreiungsszene sind Häftlingsarmbänder bzw. eine Stoffnummer zu sehen. Auf der Vorderseite wird die bereits beschriebene „Todesstiege“ abgebildet.105

10. Fazit In österreichischen Schulbüchern wird insgesamt ein relativ verknapptes Bildrepertoire zur Darstellung des Konzentrationslagers Mauthausen verwendet. Trotz wechselnder pädagogischer und gesellschaftspolitischer Ansprüche bzw. Konstellationen können sich bestimmte Bilder als „Klassiker“ halten, so vor allem die Darstellung der „Todesstiege“. Das Foto ist „wandelbar“ und erlaubt stets neue Kontextualisierungen. Neben der „Todesstiege“ sind die weiters identifizierten Schlüsselbilder ebenfalls mit dem „Massen“-Topos verbunden. Sowohl die Befreiungsszene als auch die nun nicht mehr verwendeten „Schreckensbilder“ repräsentieren die Opfer von Mauthausen nicht als Individuen, sondern als Teil einer „Masse“. Der Rückgriff auf nur wenige Schlüsselbilder legt auch die Vermutung nahe, dass die formalästhetische Wirkung eines Bildes ein – ob bewusst oder unbewusst – (mit)entscheidendes Auswahlkriterium ist. Wenn dabei Stilelemente nationalsozialistischer Ästhetik aufgegriffen werden, bedürfen die verwendeten Bilder in Schulbüchern jedenfalls einer begleiteten Auseinandersetzung. Die Bilder des Konzentrationslagers Mauthausen haben in österreichischen Schulbüchern noch immer einen illustrativen Charakter. Fehlerhafte Bildlegenden, kleine Bildformate und ein eher willkürlicher Umgang mit Bildausschnitten sind zu bemerken, womit Fotos zur quellenkritischen Analyse und schlussendlich zur Ausbildung einer Bildlesekompetenz nicht genutzt werden können. Der Versuch Authentizität über stundenübergreifende oder außerschulische Aktivitäten zu erzeugen und damit einer befürchteten (Medien)Trivialisierung entgegenzuwirken, führt bei 100 Rohr/Gutschner (2008): 219. 101 Franzmair et al. (2009/2011): 51. 102 Beier, Leonhardt (2011): Zeitfenster 4, Wien: Hölzel, 67. 103 Franzmair et al. (2009/2011): 51. 104 Rohr/Gutschner (2007): 219. 105 Beier, Leonhardt (2011): Zeitfenster 4. Wien: Hölzel, 66f.


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der Darstellung des Konzentrationslagers Mauthausen in österreichischen Schulbüchern zu einer sich immer mehr zurücknehmenden Bilderwelt, in der Menschen „verschwinden“ und durch „Erinnerungsobjekte“ ersetzt werden.

Literatur Achs, Oskar/Scheuch, Manfred/Tesar, Eva (2005): gestern/heute/morgen. Aus Geschichte lernen. 7. Klasse, Wien: öbv. Adorno, Theodor W. (1971): Erziehung nach Auschwitz, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Helmut Becker 1959–1969, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 88–104. AHS-Lehrplan „Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung“ bzw. Hauptschule Lehrplan „Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung“, online unter: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/879/gsk_ pb_hs.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Althaus, Christine/Bertschi, Mirjam/Schnell, Barbara/Utz, Hans (2008): Von der Wissenschaft in den Unterricht. Auswahl, Aufbereitung und Einsatz von Fotografien über den Holocaust, in: Dreier, Werner/Fuchs, Eduard/Radkau, Verena/Utz, Hans (Hg.): Schlüsselbilder des Nationalsozialismus. Fotohistorische und didaktische Überlegungen, 90–100. Ammerer, Heinrich/Ecker, Maria/Hammerschmid, Helmut/Steinberger, Gerlinde/Windischbauer, Elfriede (2010): Geschichte 4 live, Wien: Veritas. Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck. Bartov, Omer et al. (2000): Bericht der Kommission zur Überprüfung der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, November 2000, online unter: http://www.his-online.de/fileadmin/user_upload/pdf/veranstaltungen/Ausstellungen/Kommissionsbericht.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Beier, Leonhardt (2011): Zeitfenster 4, Wien: Hölzel. Berger, Franz/Schausberger, Norbert (1977): Zeiten, Völker und Kulturen. Lehrbuch der Geschichte und Sozialkunde für die Oberstufe der allgemeinbildenden höheren Schulen, Für die 8. Klasse, Wien: öbv et al. Bermejo, Benito (2007): Francisco Boix, der Fotograf von Mauthausen, Wien: Mandelbaum et al. Böckle, Roland/Hellmuth, Thomas/Hiebl, Ewald/Kuschnigg, Wolfgang/Tolar-Hellmuth, Karin/Tuschel, Manfred (2004): Faszination Geschichte 3. 4. Klasse. Ein Unterrichtswerk für Geschichte und Sozialkunde an Hauptschulen und allgemein bildenden höheren Schulen, Wien: Hölzel, öbv & hpt. Borries, Bodo von (1994): „Wer sich des Vergangenen nicht erinnert, ist verurteilt, es noch einmal zu erleben, Hannover: Niedersächsische Landeszentrale für Politische Bildung in Hannover. Brink, Cornelia (1998): Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin: Akademie-Verlag, 204–221. Brink, Cornelia (2008): „Foto | Kontext. Kontinuitäten und Transformationen fotografischer Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen.“, in: Uhl, Heidemarie (Hg.): Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts, Innsbruck et al.: StudienVerlag. Bundesregierung (Hg.) (1965): Österreich. Einheit Freiheit Unabhängigkeit. Zwanzig Jahre Zweite Republik, zehn Jahre Staatsvertrag. Festgabe der Bundesregierung für die österreichische Jugend, Wien: Österreichischer Bundesverlag, Verlag für Jugend und Volk. Didi-Huberman, Georges (2007): Bilder trotz allem, München: Fink. Donhauser, Gerhard/Bernlochner, Ludwig et al. (2009): Geschichte und Geschehen 4, Wien: öbv. Dreier, Werner (2008): Ach ging’s nur zu wie in der Judenschul! Anregungen für eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus in einer Schule, in: DÖW Jahrbuch 2008, 166–184. Ebner, Anton/Hefeter, Franz (1993): Österreich und das Weltgeschehen. Zeitgeschichte und Politische Bildung, Wien: Österreichischer Gewerbeverlag et al.


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„Und was hat das mit mir zu tun?“: Perspektiven der Geschichtsvermittlung zu Nazismus und Holocaust in der Migrationsgesellschaft, Wien: Büro trafo.K; Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI) Dirk Rupnow, in Kooperation mit dem Mauthausen Memorial und mit Unterstützung der Fondation pour la Mémoire de la Shoah, Paris, 17. –20.11.2011, online unter: http://www.h-net.org/ reviews/showrev.php?id=35139 (letzter Zugriff: 01.04.2014). Winkler, Jean-Marie (2005): Momentaufnahmen der Erinnerungen. Fotografische Blicke und ihre Grenzen, in: Das sichtbare Unfassbare/The visible Part. Fotografien vom Konzentrationslager Mauthausen, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung (15–21), Hg.: BM.I – Bundesministerium für Inneres, Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Red.: Gabriele Pflug. Texte: Ilsen About, Wien: Mandelbaum.


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Christian Zolles

Verk(n)appte Bilder des „Holocaust“ Formale und emotionale Aspekte der Visualisierung und Revision getöteter Massen Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/410

Abstract Ausgehend von der Frage, was es bedeutet, sich auf die Suche nach dem Bild der Shoah zu machen, untersucht Christian Zolles grundlegende formale und emotionale Aspekte, die unser Sehen bzw. Wiedersehen des Völkermords begleiten. Dabei wird eingehend das Verhältnis von Sagbarkeiten und Sichtbarkeiten im Blick auf die Repräsentatio(en) der Shoah diskutiert. Es wird gefolgert, dass dabei medial-panoramatische (es ließe sich auch sagen: paranoische) Strukturen für vereinfachte Verhältnisse sorgen, in die sich jeder eingebunden fühlt. Wir schaffen es also nicht, dem (Massen)Sterben keinen Sinn zu geben. Rarefied images of the “Holocaust”. Formal and emotional aspects of the visualisation and revision of murdered masses. Starting from the question of the meaning of searching for the image of the Shoah, Christian Zolles examines fundamental formal and emotional aspects that attend our seeing or re-seeing the genocide. He discusses the relation between that which is sayable and that which is visible regarding representation(s) of the Shoah. He concludes that in this process, medial-panoramic (we might also say: paranoic) structures provide simplified conditions into which everybody feels included. Thus we cannot not invest (mass)death with meaning. Der Holocaust gähnt wie ein schwarzes Loch in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Ich habe im Laufe eines langen Lebens einiges darüber gelesen, auch ein bisschen darüber geschrieben, bin aber zu keinen Schlussfolgerungen gekommen und fand gewiss keinen Trost. Trotzdem bleibt die Hoffnung, dass weiteres Forschen, Dichten, Nachdenken und Diskutieren zu einer Erhellung führen möge über unser Tun und Lassen, das heißt, über die Möglichkeiten und Grenzen dieser unserer zwielichtigen, zweideutigen, zwiespältigen menschlichen Freiheit. Ruth Klüger, Wiener Parlamentsrede vom 5. Mai 2011

1. Das Bild des „Holocaust“ im Kosovo Im August 1992 ging die Aufnahme eines ausgezehrten bosnischen Muslimen hinter dem Stacheldrahtzaun eines serbischen Internierungslagers als Bild des Holocaust um die Welt:


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Abb. 1: Schockierendes Bild eines serbischen Internierungslagers Bild: http://iconicphotos.wordpress.com/tag/fikret-alic/ (letzter Zugriff: 01.04.2014).

Es war im Zuge einer vom britischen Nachrichtenanbieter ITN aufgetragenen Filmreportage entstanden, die Berichte von der „ethnischen Säuberung“ der bosniakischen Bevölkerung durch bosnisch-serbische Militärs und Paramilitärs während des Bosnienkriegs veri­ fizieren sollte. Gleich nach der Erstausstrahlung kam das Bild auf die Titelseiten von The Times, Daily Mail, Daily Mirror und Daily Star mit Schlagzeilen wie „The Proof“ oder ­„Belsen 92“ und ging unmittelbar in die weltweite Berichterstattung ein. Es illustrierte einen Spiegel-Beitrag über die Internierungslager mit dem Titel „Sie verhungern wie Vieh“, das Time Magazine folgte mit einem ganzseitigen Coverabdruck und der Frage „Must it go on?“ und noch ein Jahr später war in The Independent zu lesen: „Es ist das Bild einer Hungersnot, aber dann sehen wir den Stacheldraht vor seinem Brustkorb und es ist das Bild des Holocaust und der Konzentrationslager.“1 Der Balkankonflikt hatte ein eindeutiges Gesicht bekommen und die Unklarheiten, welche Seite für welche Übergriffe verantwortlich war und wie systematisch diese durchgeführt wurden, waren weitgehend bereinigt. Es zeigte sich immer klarer, dass die Weltöffentlichkeit nicht tatenlos zusehen konnte, wie sich im Herzen Europas erneut ein Völkermord anbahnte. Der blutige Bürgerkrieg bekam einen globalen Charakter, für den wie keine andere die Aufnahme des ausgemergelten Bosniaken stand, die noch 1999 den umstrittenen Kosovo-Einsatz der NATO begleiten sollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich um eben dieses Bild jedoch bereits eine rege Kontroverse entspannt. Der investigative Journalist Thomas Deichmann war im Zuge seiner Recherchen zur Entlastung des vor dem internationalen Strafgerichtshof angeklagten (und später wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen das Kriegsrecht verurteilten) Duško Tadić zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich dabei um eine Täuschung handelte.2 Nicht die 1

Baker, Frederick (1993): They can’t read the words, but the pictures give them hope, in: The Independent, 5. August, „Opinion“ (zu finden im „Article archive“ online unter: http://www.independent. co.uk [letzter Zugriff: 01.04.2014], Übersetzung C. Z.). 2 Vgl. Deichmann, Thomas (1996): „Es war dieses Bild, das die Welt in Alarmbereitschaft versetzte“


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abgebildeten Bosniaken, sondern das Nachrichtenteam sei hinter einem Stacheldrahtzaun gestanden, um von dort aus eine dramatischere Perspektive auf die Ansammlung von Flüchtlingen zu bekommen. Schließlich soll es sich bei dem Lager Trnjopole um ein Sammellager zum Schutz der muslimischen Bevölkerung vor Übergriffen extremistischer Serben, also keineswegs um ein Konzentrationslager gehandelt haben. Ohne die stattgefundenen Vertreibungen, Folterungen, Vergewaltigungen und Ermordungen im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens bestreiten zu wollen, sei maßgeblich über diese Aufnahme der falsche Eindruck entstanden, dass die Serben alleinige Urheber des Konflikts waren und es unter ihrer Führung zu einem Völkermord kam. Im Jahr 2001, also zu einer Zeit, in der international recht nachhaltig über Kriegsbegründungen debattiert wurde, erschien in der Suhrkamp-Reihe Edition Zweite Moderne die Studie Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust der Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider. Darin wird die Bedeutung des Bildes von Trnopolje, das vor allem von israelitischer Seite aus vehement mit der Shoah assoziiert wurde, für die Sensibilisierung der Weltöffentlichkeit auf dem Weg zum NATO-Einsatz bestätigt.3 Doch ganz im Gegensatz zu Deichmann, dem nach einer von ITN eingeleiteten Verleumdungsklage die weitere Veröffentlichung seines Artikels auf britischem Boden verunmöglicht wurde, befürworten die Autoren die eingetretene Entortung des Bildes. Das globale Zeitalter verlange nach derart eindeutigen Zuschreibungen, um die internationale Gemeinschaft geschlossen gegen die dunkle Seite der Moderne auftreten zu lassen, gegen die staatlich initiierten Massenmorde an ganzen Volks- und Randgruppen, die sich nach wie vor ereigneten, wie die jüngsten Beispiele Ruanda und Jugoslawien zeigten. Das kosmopolitische Gedächtnis der nun angebrochenen „Zweiten Moderne“, das die vormals nationalstaatlich ausgerichteten partikularen Interessen ablöst, müsse daher am „Holocaust“ als „Maßstab für universalistische und humanistische Identifikationen“4 geschult werden. Vermittelt soll es durch die populärmediale Aufarbeitung der nationalsozialistischen Judenvernichtung werden, wie sie über das Tagebuch der Anne Frank, die Bilder vom Eichmann-Prozess, den Fernsehfilm Holocaust oder Spielbergs Schindlers Liste erfolgt ist. Somit wird auch das Bild vom August 1992 als eine positive kollektive Imago für das globalisierte Zeitalter aufgefasst. Es repräsentiert in einem Augenblick all das, was an Verbrechen gegen die Menschlichkeit war und sein kann. Schon Jahre vor der drohenden humanitären Katastrophe im Kosovo versinnbildlichte es die Notwendigkeit eines militärischen Einsatzes der internationalen Schutztruppen gegen die Nazi-Serben. Und tatsächlich kam es 1999 zu einer Reparationsleistung ganz eigener Art: „Deutschland befreit Auschwitz im Kosovo.“5

2. Positionen, Stränge, Ebenen Wer sollte Überblick über alle Positionen, Stränge und Ebenen behalten, die sich in diesem Beispiel des Bildes des „Holocaust“ im Kosovo verdichten? Paradox mutet jedenfalls der Anspruch auf Eindeutigkeit an, den Levy und Sznaider formulieren und der genau in eine zeitge(Penny Marshall, ITN), in: Novo, 26, 16–25, online unter: http://www.novo-magazin.de/itn-vs-lm/ novo26-1.htm (letzter Zugriff: 01.04.2014). 3 Vgl. Levy, Daniel/Sznaider, Natan (2001): Erinnerung im globalen Zeitalter: der Holocaust, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 178–184. 4 Ebd.: 10. 5 Ebd.: 189. Vgl. ergänzend die Argumentation in Ulrich, Bernd (2011): Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss. Eine Streitschrift, Reinbek: Rowohlt.


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nössische Mediendisposition passt, die den Konsumenten bis zur Abstumpfung mit Symbolisierungen menschlichen Leids und Verbrechens konfrontiert.6 Im Kleinen zeigt sich hier aber, worauf die Geschichtstheorien seit Jahrzehnten hinweisen: auf die permanente Überlagerung komplexer nicht nur zeitgenössischer, sondern auch historischer Sachverhalte durch neue tragende Bedeutungen. Jeder Zuschreibung liegt eine Ausschaltung von mannigfaltigen Ereignissen und Bedeutungen zugrunde und sie folgt aktuellen „Verknappungsprinzipien“7, die ausnahmslos alles dominieren, was zur Aussage kommt. Ein großer Teil des Problems liegt zunächst darin, dass allein diese Feststellung schon direkt auf eine moralpolitische inhaltliche Ebene führt, die nur schwer zu umgehen ist: Der NATO-Einsatz diente dem Schutz einer zivilen Minderheit vor staatlich legitimierten Übergriffen; was sich in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo ohne internationalen Druck womöglich ereignet hätte, lässt sich am Massaker von Srebrenica ablesen; dem Nichteinsatz wäre der Vorwurf einer unterlassenen Hilfeleistung entgegengestanden, wie er auch den Alliierten des Zweiten Weltkriegs gemacht wurde, die bereits früher von den Konzentrationslagern hätten wissen müssen.8 Dass dem einiges abgewonnen und vieles entgegengesetzt werden kann (die Mehrseitigkeit der gewaltsamen Übergriffe, die Rolle der international verborgen unterstützten albanischen UÇK als Aggressor, die politischen und ökonomischen Interessen der NATO-Länder, das fehlende UNO-Mandat für den militärischen Einsatz), lässt sich etwa auf der Website der AG Friedensforschung der Universität Kassel nachlesen.9 An dieser Stelle soll und kann es aber nicht um die Dokumentation der Ereignisse rund um die Jugoslawienkriege gehen, sondern um die rigiden Bewertungen und Beurteilungen, die damit von Anfang an einhergingen. Der Vergleich mit der Shoah spielt dabei eine zentrale Rolle und ist aus zweierlei Gründen interessant: Einerseits, weil um beide Ereignisse ähnliche Argumentationsstrukturen festzustellen sind, die für eine permanente Wieder- oder Neusichtung der Vorkommnisse verantwortlich sind. Zum anderen, weil sich darin die Problematik jedes historischen Vergleichs zeigt: Dem eindeutigen Bild des „Holocaust“ von Levy und Sznaider, das uns die Serben als Täter präsentiert, steht etwa der Umstand entgegen, dass der Konflikt der Serben gegen die Kroaten noch von der kroatischen Kollaboration mit den Achsenmächten im Zweiten Weltkrieg aufgeladen war. Mehr anekdotischen Charakter hat die Teilnahme einer Gruppe europäischer Neonazis an den Kampfhandlungen des kroatischen Militärs.10 Wesentlich breiter diskutiert wurde die einsame Position Peter Handkes, der in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung den NATO-Einsatz mit den Worten kommentierte: „Die Nato sagt, es geht uns nicht um Geld oder Macht, es geht uns um die Sache. Wir wollen ein neues Aus6 Vgl. etwa Moeller, Susan D. (1999): Compassion Fatigue: How the Media Sell Disease, Famine, War and Death, New York: Routledge. 7 Foucault, Michel (1991): Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M.: Fischer, 34. 8 Ein Vorwurf, der auch von geschichtsrevisionistischer Seite häufig polemisch gebracht wird. Vgl. hingegen den Bericht von Jan Karski über die Begegnungen mit Franklin D. Roosevelt und den westlichen Regierungsvertretern, der in Claude Lanzmanns Shoa zwar fehlt, vor Kurzem aber in Reaktion auf Yannick Haenels Roman erstmals separat erschienen ist. 9 Vgl. die Beiträge online unter www.ag-friedensforschung.de (letzter Zugriff 01.04.2014) für die Regionen „Bosnien-Herzegowina“, „Jugoslawien“, „Kosovo“, „Serbien“ und die Themen „Kosovo-Krieg“ und „NATO – Krieg gegen Jugoslawien“. 10 Vgl. Höges, Clemens (1992): Und morgen schon tot, in: Der Spiegel, 39, 235–246, online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13682359.html (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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chwitz verhindern. Gut, jetzt hat die Nato ein neues Auschwitz erreicht. [...] Der Horror der Geschichte wiederholt sich nicht seitengleich oder spiegelbildlich. Dieser Krieg zeigt auf fürchterlich unvermutete Weise die ewige Barbarei: Nur bricht die im Jugoslawien-Krieg in grundanderer Gestalt aus als in der planen Wiederholung. Damals waren es Gashähne und Genickschußkammern; heute sind es Computer-Killer aus 5000 Meter Höhe.“11 Das Beispiel der Balkankriege soll veranschaulichen, dass wir es niemals nur mit dem Bild des „Holocaust“ zu tun haben, sondern dass sich zahlreiche unterschiedliche und einander teils widersprechende Diskursstränge darum gruppieren. Es zeigt – ohne noch auf die Position der deutschnationalen Geschichtsrevisionisten eingegangen zu sein –, dass es ein umkämpftes Feld ist, in dem auch die LeserInnen und ZuschauerInnen dazu angehalten sind, eindeutig und mehr oder weniger vehement Stellung zu beziehen, allerdings auch laufend bereit zu sein, diese abhängig von argumentatorischen Plausibilitäten zu revidieren. Dahinter zeichnet sich die grundlegende Fragilität und Anpassungsfähigkeit jeder historischen Erkenntnis ab. Die Rezeption der Shoah indes hat für sich eine eigene Geschichte, die sich anhand bestimmter „Gedächtnisrahmen“ untersuchen lässt, in denen Opfererinnerungen nach gegenwärtigen Maßstäben ihren korrekten Platz finden oder nicht.12 Wie auch am weit jüngeren Beispiel des Zerfalls Jugoslawiens zu sehen ist, gibt es einen stetigen Kampf um die Diskurshoheit über derartige Erinnerungen, der in den seltensten Fällen von den Opfern selbst geführt wird. Er folgt anderen Regeln der Öffentlichkeit, die wenig mit dem zu tun haben, was der auf der Aufnahme aus dem Lager Trnopolje zu sehende Fikret Alic erlebte,13 und sich weit hinwegsetzen über die systematische Ermordung von etwa 6 Millionen Juden im Zuge der nationalsozialistischen „Endlösung“.14

11 Winkler, Willi (1999): „Moral ist ein anderes Wort für Willkür“. Peter Handke im Interview, in: Süddeutsche Zeitung, 15. Mai, Feuilleton. Vgl. dazu, auch aufgrund der eindeutigen Positionierung, Deichmann, Thomas (Hg.) (1999): Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, Frankfurt/M.: Suhrkamp; Gritsch, Kurt (2009): Peter Handke und „Gerechtigkeit für Serbien“. Eine Rezeptionsgeschichte, Innsbruck et al.: StudienVerlag; und ders. (2010): Inszenierung eines gerechten Krieges? Intellektuelle, Medien und der „Kosovo- Krieg“ 1999, Hildesheim: Georg Olms AG. 12 Vgl. Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C. H. Beck, 153–168. 13 Das Zeugnis von Fikret Alic, dessen Abmagerung in der öffentlichen Kontroverse auch auf einen genetischen Defekt, Tuberkulose oder Krebs zurückgeführt wurde, findet sich online unter: http://www. youtube.com/watch?v=W2sO-XcI9FQ (letzter Zugriff: 01.04.2014). 14 In den Standardwerken zur Shoah wird die Zahl der jüdischen Opfer zwischen 5,6 und 6,3 Millionen angegeben. Vgl. Benz, Wolfgang (Hg.) (1996): Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, 2. Aufl, München: dtv; Gutman, Israel u. a. (Hg.) (1998): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München: Piper. Vgl. auch zuletzt Snyder, Timothy (2011): Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München: C. H. Beck, 409, wo für den Zeitraum von 1933 bis 1945 der Zahl von insgesamt 5,7 Millionen jüdischer Opfer eine ähnlich große Zahl ermordeter Nichtjuden und unter dem Stalinismus ermordeter Sowjetbürger dazugestellt wird, die alle vorwiegend aus Osteuropa stammten. Im Übrigen stellt dieses Buch ein gutes Beispiel dafür dar, dass es sehr wohl möglich ist, die Massentötungen unter dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus gleichzeitig zu behandeln, wenn hier auch auf Kosten einiger notwendiger Differenzierungen: vgl. Zarusky, Jürgen (2012): Timothy Snyders „Bloodlands“. Kritische Anmerkungen zur Konstruktion einer Geschichtslandschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60, 1, 1–31.


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3. Strukturen der Verknappung und Verkappung Mit den Opferzahlen der Shoah verhält es sich wie mit dem Opferbild: Sie soll augenblicklich und innerhalb eines Bedeutungszusammenhangs etwas repräsentieren, das sich nicht nur jeder Eindeutigkeit, sondern jeder Darstellungsmöglichkeit entzieht. Ein Satz wie der vorletzte könnte nach Saul Friedländer auch die „Einstellung eines Ausrottungsverwalters“15 erkennen lassen, der es in einem Satz schafft, von Gedanken über Diskursregelmäßigkeiten auf die planmäßige Vernichtung von mehreren Millionen Menschen zu kommen (und ebenfalls eine Brücke zu den Balkankriegen hergestellt hat). Die Satz- und Argumentationsstruktur folgt einer Gewohnheit, in die sich die Shoah nicht einbetten lässt, „unter jedem Satz stehen die gewohnten Strukturen unserer Vorstellungswelt, drängen sich vor und verschleiern die eigentliche Bedeutung der Worte“16. Es sollte nie vergessen werden, wie sehr Sprache und Sehen, Sagbarkeiten und Sichtbarkeiten einer gegenwärtigen Struktur folgen, der wir durch und durch zu folgen gewohnt sind. HistorikerInnen, die alle zeitgenössischen Zusammenhänge systematisch aufdecken, schützen „uns letzten Endes vor der Vergangenheit, dank der unvermeidlichen Auflösung der Sprache“17. Am anderen Extrem sieht Friedländer die Geschichtsrevisionisten, die mit den Quellen und Zeugnissen feilschen und eine neue Erinnerungskultur einfordern. Im Ritt über die Begriffe werden ausgehend von einigen neuen, gedrehten oder gefälschten Fakten übergreifende Zusammenhänge hergestellt und Vermutungen bestätigt, die schon lange hinter der öffentlichen Darstellung der Ereignisse geschwelt haben. Damit folgen sie einem vertrauten methodischen Prinzip, dem heutzutage kaum zu entkommen ist und das sie sowohl in Richtung Verschwörungstheorie als auch politische Propaganda zieht. Vielleicht hat Carl Christian Bry (eigtl. Carl Decke) nicht den treffendsten Begriff gefunden, mit dem er 1924 auch sein einziges Buch Verkappte Religionen betitelte,18 allerdings gelang es ihm damit, das Augenmerk vom Inhaltlichen auf die Strukturmerkmale der öffentlichen Debatten der Zwischenkriegszeit zu lenken. In ihnen sieht sich Bry von verkappten Religionen umgeben, die die Wahrheit nicht mehr jenseits, sondern hinter der Welt entdecken. Er zählt zu diesen Stimmungen, Strömungen und Richtungen, die an die Stelle des philosophischen Gedankens getreten sind, nicht nur Faschismus, Kommunismus und Theosophie, sondern auch unterschiedlichste Gebiete wie Antisemitismus, Yoga, rhythmische Gymnastik, Sexualreform, Okkultismus oder Psychoanalyse, sofern sie mit dem Anspruch auf Totalität auftreten. Denn ihnen allen ist gemeinsam, dass sie nur allzu leicht von einem Punkt ausgehend ihre Kompetenzen auf alle Wissensdisziplinen erweitern und die ganze Welt nach ihren Maßstäben ausdeuten, einschnüren und verkappen können.

15 Friedländer, Saul (1999): Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, Frankfurt/M.: Fischer, 92. Einen Überblick über Friedländers Beschäftigung mit den Repräsentationen der Shoah gibt Aschheim, Steven E. (2002): Geschichte und Erinnerung: Über Saul Friedländer, in: Düwell, Susanne/ Schmidt, Matthias (Hg.): Narrative der Shoah. Repräsentationen der Vergangenheit in Historiographie, Kunst und Politik, Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh, 15–48. 16 Friedländer (1999): 92. 17 Ebd.: 90. 18 Bry, Carl Christian (1979): Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns, mit einem Vorwort hg. v. Martin Gregor-Dellin, München: Ehrenwirth.


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Der sogenannte „Hinterweltler“19 ist nach Bry bis ins Tiefste davon überzeugt, dass die hinter dem Alltäglichen aufgefundenen, schon länger geahnten Gesetzmäßigkeiten die einzigen hinter der Welt sind und diese einmal durchdrungen haben werden. „Alle verkappten Religionen sind nicht nur Monomanie, sie wollen auch umfassende Systeme sein. Über jedem wölbt sich ein besonderer Kosmos, wie klein auch der Ausgangspunkt sein mag.“20 Jeder und jedem steht eine verkappte Totalität offen, nach der sich ihr und ihm – über pseudo- und wissenschaftliche Literatur, Zeitungen, Zeitschriften und Vereine – die Welt erklärt und diejenigen zu benennen sind, die für die Unterdrückung und das Zum-Schweigen-verurteilt-Sein verantwortlich sind. Dieser unbedingte Hang zu einer passiv erworbenen panoramatischen Weltsicht entspricht im Grunde jener Diskurseinschränkung, die Michel Foucault in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France als Doktrin bezeichnete.21 In ihr sind Individuen und Aussagetypen fest aneinander gebunden, gehen die sprechenden Subjekte emotional in dem Denken und den Argumenten auf und ist das Denken wiederum ein von der Gruppe der sprechenden Subjekte kontrolliertes. Diese doppelte Unterwerfung und Einschränkung macht jede Gruppenzugehörigkeit aus, die Individuum und Kollektiv in bestimmte Richtungen ziehen lässt. Es handelt sich dabei um eine Position, die früher oder später, kürzer oder länger alle einmal einnehmen und die sich aufgrund des Drangs nach eindeutigen Entscheidungen am deutlichsten an den politisch-propagandistischen, verschwörerischen und geschichtsrevisionistischen Standpunkten ablesen lässt, die inhaltlich nicht selten miteinander verschmelzen. Sie sind deshalb so reizvoll, weil sie geschlossene und in sich stimmige Weltanschauungen transportieren, und schießen rasch am Ziel vorbei, weil sie von einem musterhaften Punkt aus die ganze Welt zum Kampfplatz erklären. Foucault hatte bestimmt nicht die Nationalisten und Geschichtsrevisionisten, die erst recht alles einem populären Gedanken unterordnen, als Gegenbeispiel im Sinn, als er der modernen Gesellschaft eine allgemeinen Logophobie konstatierte: „[…] eine stumme Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses.“22 Eine allgemeine Angst, ungeordneten und unüberschaubaren Dingen und Aussagen gegenüberzustehen und sich nicht mit Worten vor den allerorts lauernden verdrängten Kräften schützen zu können. Die wesentliche Bedeutung der Philosophie von Foucault und vor allem auch jener von Gilles Deleuze liegt darin, aufgezeigt zu haben, dass jedes Denken und Reden in Zusammenhang mit einer bestimmten Gewalt auftritt, die die diskursiven Hierarchien und Richtungen bestimmt, und dass es eine abgrundtiefe Angst vor dem Ereignishaften, Zufälligen, Mannigfaltigen und Sinnleeren gibt, die den Menschen immer wieder aufs Neue an absolute Ideen bindet.23 19 Ebd.: 33–38. Vgl. demgegenüber auch das Kapitel „Von den Hinterweltlern“ in Nietzsche, Friedrich (1980): Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: dtv, Bd. 4, 35–38. 20 Bry (1979): 44. 21 Vgl. Foucault (1991): 28f. 22 Ebd.: 33. 23 Peter Handke erklärte seine unerlaubte Kritik am Kosovoeinsatz der NATO mehrmals ausdrücklich mit dem Anliegen, gegen die einseitige internationale Verurteilung der Serben aufzutreten, auf die


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4. Das Ausmaß eines Völkermords Zu seinem Generalthema Masse und Macht notierte Elias Canetti 1956: „Mit der wachsenden Einsicht, daß wir auf einem Haufen von Toten sitzen, Menschen und Tieren, daß unser Selbstgefühl seine eigentliche Nahrung aus der Summe derer bezieht, die wir überlebt haben, mit dieser rapid um sich greifenden Einsicht wird es auch schwerer möglich, zu einer Lösung zu kommen, deren man sich nicht schämt. [...] Das Glück, sich auf eine Ferne zu beziehen, von dem alle überkommenen Religionen zehren, kann unser Glück nicht mehr sein. Das Jenseits ist in uns: eine schwerwiegende Erkenntnis, aber in uns ist es gefangen. Dies ist die große und unlösbare Zerklüftung des modernen Menschen: Denn in uns ist auch das Massengrab der Geschöpfe.“24 Von einem richtenden Jenseits wurde die Wertung der Toten auf ein richtendes Diesseits verschoben. So trat auch die Shoah in eine Verhandlungsschleife ein, in der die Bedeutung der Judenvernichtung laufend vermessen wurde. Überlebende mussten vor dem paradoxen Hintergrund als Zeugen auftreten, die geheime nationalsozialistische Tötungsmaschinerie der Gaskammern gerade deshalb nicht bezeugen zu können, weil nur die toten Opfer das Innere der Gaskammern gesehen haben und Zeugnis ablegen könnten. Wer überlebte, hatte eben nicht gesehen.25 Erkennt man vor allem die Gültigkeit der Diagnose, die Carl Christian Bry 1924 für den öffentlichen Diskurs stellte, im Wesentlichen auch in der Nachkriegszeit und – vervielfacht und beschleunigt – in den Neuen Medien, zeigen sich die verwirrenden und unmöglichen Bedingungen der Zeugenschaft: Juden mussten die Gültigkeit ihrer Aussagen innerhalb einer diskursiven Konstellation beweisen, die die eigene Verfolgung mitgetragen hatte. Sie hatten eine Stimme und im Zirkulieren der Stimmungen einen Platz in der Öffentlichkeit zu finden, obwohl gerade diese Argumentationsstruktur dafür gesorgt hatte, dass sie, um diesmal aus Canettis Hauptwerk zu zitieren, nach dem Muster der Inflation jeglichen öffentlichen, jeglichen existenziellen Wert verloren hatten.26 von allen Seiten verübten Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen und den Blick auf die Opfer und deren Geschichten zu lenken – um dann umso vehementer eine nationalistische und revisionistische Stellung zu beziehen (etwa zum Massaker in Srebrenica), ohne die er es zu weit weniger Medienpräsenz gebracht hätte. Seine Kritik an der Kriegsberichterstattung siedelte sich in einer Region des Einschlusses und Ausschlusses, der Verhandlungen und Verurteilungen an, die für die Moderne gerade so bezeichnend ist. Darin begegnet ein nur allzu vertrauter Zug: bereitwilliger alle Fakten, die ganze Welt zu relativieren als den persönlichen Standpunkt. Bei Handke verknappte und verkappte sich die Ausnahme zur Regel. (Auch die Position von Thomas Deichmann kann im Übrigen nicht als unvoreingenommen bezeichnet werden.) 24 Canetti, Elias (1993): Aufzeichnungen 1942–1985. Die Provinz des Menschen. Das Geheimherz der Uhr, München/Wien: Hanser, 220. 25 Vgl. etwa Lyotard, Jean-François (1983): Der Widerstreit, München: Fink, 18: „‚Tatsächlich und mit eigenen Augen eine Gaskammer gesehen‘ zu haben wäre Bedingung für die Autorität, ihre Existenz zu behaupten und den Ungläubigen zu belehren. Zudem muß man beweisen, daß sie in dem Augenblick todbringend war, als man sie sah. Der einzig annehmbare Beweis für ihre tödliche Wirkung besteht darin, daß man tot ist. Als Toter aber kann man nicht bezeugen, daß man in einer Gaskammer umgekommen ist.“ Zit. n. Agamben, Giorgio (2003): Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Homo Sacer III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 31. 26 Vgl. Canetti, Elias (2003): Masse und Macht, Frankfurt/M.: Fischer, 219f: „In der Behandlung der Juden hat der Nationalsozialismus den Prozeß der Inflation auf das genaueste wiederholt. Erst wurden sie als schlecht und gefährlich, als Feinde angegriffen; dann entwertete man sie mehr und mehr; da


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Von Beginn an an der Grenze zum öffentlichen Ärgernis, waren die jüdischen Opfer vor die Aufgabe gestellt, eine logophobe Gesellschaft mit einem unvorstellbaren Ereignis zu konfrontieren, das in ihrem Zentrum stattfinden und am Rande ihres Wahrnehmungshorizonts ausgeführt werden konnte. Die Stimmen, die später Reparation und Wiedergutmachung verlangten, waren dann schon andere: mit dem Glauben verbunden, dass es eine annähernde monetäre Aufwertung der Opfer geben könne, von dem keines je vergessen sein dürfe. Das Ausmaß der Shoah wird seitdem im Großen und Abstrakten mit Millionen- und Milliardenbeträgen und im Kleinen und Anschaulichen anhand der dokumentarischen Aufarbeitung jüdischer Opferbiografien repräsentiert.27 Die undefinierbare Masse erhielt einen Wert und individuelle Gesichter, wodurch sich die Vergangenheit bannen ließ und die Gegenwart den Anspruch auf eine unantastbare Präsenz und d. i. Repräsentation aufrechterhalten konnte.28 Die treibende Unruhe der von Canetti konstatierten Massengräber in uns und unserer Gesellschaft blieb damit weitgehend unberührt. Die Konfrontation mit ihr widerspräche auch fundamental jener umfassenden modernen Denkweise, welcher die kommende Ausgabe der MEDIENIMPULSE gewidmet ist: der Biopolitik als moderne Lebensmacht, die den Tod in die Dienste des Weiterlebens gestellt hat. Für Giorgio Agamben zeigt sie ihr wahres Gesicht im Konzept des Lagerwesens, das heutzutage nicht mehr nur in Form lokaler Einrichtungen zum Tragen kommt, sondern sich auf zahlreiche Zonen des Alltags ausgeweitet hat. Neben allen anderen ließe sich der Hauptunterschied zwischen den Lagern der Deutschen und der Serben an der Zahl der in Ex-Jugoslawien stattgefundenen ethnischen Vergewaltigungen festmachen, die auf eine Entterritorialisierung, eine Entortung der „Einschreibung des Lebens“ hinweisen.29 Als vollständiger Zeuge für dieses moderne Lebensprinzip, so Agamben, könne der „Muselmann“ der KZs aufgerufen werden, an dessen Dahinvegetieren sich im Extrem zeige, welchen tiefsten Ansprüchen unsere Gesellschaft folgt.30 Man mag Agambens Schlussfolgerungen überzogen finden. Seine Bezugnahme auf den Unansehnlichsten, den Unrepräsentativsten aller Zeugen weist aber darauf hin, dass die Shoah in der einzigartigen Dimension ihrer planmäßigen und systematischen Despezifizierung, Abwertung, Ausschaltung und Vernichtung von Menschenmassen – und darin wurde die Shoah in diesem Beitrag von den unzähligen anderen Massentötungen des vergangenen Jahrhunderts unterschieden – zur großen Erzählung der Moderne hätte werden sollen. Darin hätten viel eher bestimmte Funktionsweisen unserer Gesellschaft begreifbar werden können. Stattdessen folg-

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man ihrer selber nicht genug hatte, sammelte man sie in den eroberten Ländern; zum Schluß galten sie buchstäblich als Ungeziefer, das man ungestraft in Millionen vernichten durfte. Man ist noch heute fassungslos darüber, daß Deutsche so weit gegangen sind, daß sie ein Verbrechen von solchen Ausmaßen, sei es mitgemacht, sei es geduldet oder übersehen haben. Man hätte sie schwerlich so weit bringen können, wenn sie nicht wenige Jahre zuvor eine Inflation erlebt hätten, bei der die Mark bis auf die Billionstel ihres Wertes sank. Es ist diese Inflation als Massenphänomen, die von ihnen auf die Juden abgewälzt wurde.“ Vgl. hierzu etwa den Appell bei Snyder (2011): 409f., die ungeheuren Opferzahlen aus dem Blickwinkel der individuellen Lebens- und Sterbensgeschichten zu betrachten. Vgl. hier auch die zu erwartenden Debatten rund um Broder, Henryk M. (2012): Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage, München: Albrecht Knaus. Vgl. Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 185f. Vgl. Agamben (2003): 135–139.


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ten laufende Repräsentationen, Vergegenwärtigungen eines Ereignisses, das in seiner gesamten Tragweite wohl ein verdrängtes geblieben ist.

Literatur Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Agamben, Giorgio (2003): Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Homo Sacer III, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Aschheim, Steven E. (2002): Geschichte und Erinnerung: Über Saul Friedländer, in: Düwell, Susanne/ Schmidt, Matthias (Hg.): Narrative der Shoah. Repräsentationen der Vergangenheit in Historiographie, Kunst und Politik, Paderborn u a.: Ferdinand Schöningh, 15–48. Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C. H. Beck. Baker, Frederick (1993): They can’t read the words, but the pictures give them hope, in: The Independent, 5. August, „Opinion“, zu finden im „Article archive“ online unter: http://www.independent.co.uk (letzter Zugriff: 01.04.2014). Benz, Wolfgang (Hg.) (1996): Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, 2. Aufl, München: dtv. Broder, Henryk M. (2012): Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage, München: Albrecht Knaus. Bry, Carl Christian (1979): Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns, mit einem Vorwort hg. v. Martin Gregor-Dellin, München: Ehrenwirth. Canetti, Elias (1993): Aufzeichnungen 1942–1985. Die Provinz des Menschen. Das Geheimherz der Uhr, München/Wien: Hanser. Canetti, Elias (2003): Masse und Macht, Frankfurt/M.: Fischer. Deichmann, Thomas (1996): „Es war dieses Bild, das die Welt in Alarmbereitschaft versetzte“ (Penny Marshall, ITN), in: Novo, 26, 16–25, online unter: http://www.novo-magazin.de/itn-vs-lm/novo261.htm (letzter Zugriff: 01.04.2014). Deichmann, Thomas (Hg.) (1999): Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1991): Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M.: Fischer. Friedländer, Saul (1999): Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, Frankfurt/M.: Fischer. Gritsch, Kurt (2009): Peter Handke und „Gerechtigkeit für Serbien“. Eine Rezeptionsgeschichte, Innsbruck et al.: StudienVerlag. Gritsch, Kurt (2010): Inszenierung eines gerechten Krieges? Intellektuelle, Medien und der „KosovoKrieg“ 1999, Hildesheim: Georg Olms AG. Gutman, Israel u. a. (Hg.) (1998): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München: Piper. Höges, Clemens (1992): Und morgen schon tot, in: Der Spiegel, 39, 235–246, online unter: http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-13682359.html (letzter Zugriff: 01.04.2014). Levy, Daniel/Sznaider, Natan (2001): Erinnerung im globalen Zeitalter: der Holocaust, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Lyotard, Jean-François (1983): Der Widerstreit, München: Fink. Moeller, Susan D. (1999): Compassion Fatigue: How the Media Sell Disease, Famine, War and Death, New York: Routledge. Nietzsche, Friedrich (1980): Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: dtv, Bd. 4, 35–38. Snyder, Timothy (2011): Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München: C. H. Beck.


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Ulrich, Bernd (2011): Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss. Eine Streitschrift, Reinbek: Rowohlt. Winkler, Willi (1999): „Moral ist ein anderes Wort für Willkür“. Peter Handke im Interview, in: Süddeutsche Zeitung, 15. Mai, Feuilleton. Zarusky, Jürgen (2012): Timothy Snyders „Bloodlands“. Kritische Anmerkungen zur Konstruktion einer Geschichtslandschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60, 1, 1–31.


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Maria Ecker

Über die Arbeit mit ZeitzeugInnen-Interviews bei Erinnern.at Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/412

Abstract Maria Ecker berichtet von den bisherigen Erfahrungen der Plattform erinnern.at mit der medialen Speicherung und Webverarbeitung von Interviews mit Überlebenden der Shoah, die 2008 und 2011 als DVDs erschienen sind. Dabei berichtet Ecker detailliert von den Produktionsbedingungen der Projektteams und diskutiert eingehend Probleme der didaktischen Aufbereitung von ZeitzeugInnen-Interviews im Zeitalter des Web 2.0 sowie die Rolle und Funktion von (technischen) Medien im Verlauf des Rezeptionsprozesses. While working with contemporary witness interviews at erinnern.at. Maria Ecker records the experiences of the platform erinnern.at so far, which stores and processes interviews with Shoah survivors; they were published in DVD format in 2008 and 2011. Ecker offers detailed reports on the conditions of production for the project teams and a profound discussion of problems of didactic editing of contemporary witness interviews in the age of web 2.0, as well as the role and function of (technological) media within the process of reception.

1. Einleitung

Abb. 1.: Schülerin und „medialisierter“ Zeitzeuge. Visual History Archive, Berlin Bild: Albert Lichtblau

Dieses Foto zeigt eine Schülerin, die sich am Computer ein ZeitzeugInnen-Interview ansieht. Wann und unter welchen Umständen ist dieses Interview entstanden? Wovon berichtet der Zeitzeuge, wie wirkt das auf die Schülerin? Wie lange wird sie sich mit dem Interview und der Geschichte dieses Menschen beschäftigen? Mit wem und in welcher Form wird sie sich da-


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rüber austauschen? Mit diesen und ähnlichen Fragen über den Einsatz und die Wirkung von ZeitzeugInnen-Interviews im schulischen Kontext beschäftigt sich der Verein „Erinnern.at Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart“. Er unterstützt – im Auftrag des bm:ukk – österreichische LehrerInnen in ihrem Bemühen, die Themen Nationalsozialismus und Holocaust zu vermitteln. Ein Schwerpunkt bildet dabei die Erstellung von Lehr- und Lernmaterialien. Hier wiederum lag der Fokus in den vergangenen Jahren auf der Erarbeitung von Materialien, die auf Interviews mit ZeitzeugInnen der Shoah basieren. 2008 ist die DVD „Das Vermächtnis. Verfolgung, Vertreibung und Widerstand im Nationalsozialismus“, 2011 die DVD „Neue Heimat Israel“ erschienen. Diese intensive Beschäftigung mit „medialisierter Zeitzeugenschaft“ ergab sich aus der Tatsache, dass es seit geraumer Zeit leider nur mehr selten möglich ist, ZeitzeugInnen in die Schulen einzuladen. Diese direkte Begegnung mit ZeitzeugInnen wird häufig mit Begriffen wie „authentisch“ und „auratisch“ beschrieben. Dies und die Möglichkeit, mit den ZeitzeugInnen in einen Dialog zu treten, ist durch nichts zu ersetzen. Häufig ist allerdings die Atmosphäre der Begegnung (zu) sehr von einer fast sakralen Ehrfurcht geprägt, was die Lernenden an einer „echten“ Beschäftigung mit dem Menschen und seiner Geschichte hindert. Über Medien vermittelte „Begegnungen“ lassen eine intensive, vielleicht auch unbefangenere Auseinandersetzung zu. Damit bin ich bereits mitten in den Überlegungen, die unsere Projektteams bei der Erarbeitung der oben angeführten ZeitzeugInnen-DVDs begleiteten.1 Im Folgenden wird – veranschaulicht durch Beispiele aus den beiden Projekten – eine Auswahl an Aspekten erläutert, die für uns bei der didaktischen Aufbereitung der ZeitzeugInnen-Interviews bedeutsam waren.

2. Über die Medien und deren Einfluss Im Sommer 1946 reiste der amerikanische Psychologe David Boder – im Gepäck den sehr schweren und sehr unhandlichen Prototyp eines Audiorekorders – nach Europa, um dort in Lagern von Displaced Persons (DP-Lager) Interviews mit NS-Überlebenden zu führen. Dieses Unterfangen gilt heute in vielerlei Hinsicht als Pionierprojekt. Die Kriegsereignisse lagen erst Monate zurück, auch der Audiorekorder war den Interviewten neu. „Als ich die Aufnahme zurückspulte und vorspielte, war die Verwunderung, ihre eigenen Stimmen zu hören, grenzenlos“, erinnerte sich Boder später (Ecker 2006: 28). Im Sommer 2009 reiste unser dreiköpfiges Interviewteam2 – im Gepäck das für die geplanten Videointerviews benötigte Equipment – nach Israel, um für die DVD „Neue Heimat Israel“ Überlebende der Shoah zu interviewen, die in Österreich geboren und aufgewachsen waren. Die meisten der ZeitzeugInnen hatten bereits mehrmals ihre Geschichte erzählt – auch vor laufender Kamera. Diese zwei Schlaglichter auf die Geschichte von ZeitzeugInnen-Interviews zeigen deutlich, wie sehr diese Aufzeichnungen medialen Entwicklungen und technologischen Rahmenbedingungen unterworfen sind. Wie beeinflussen sie das Interview – und unsere Rezeption? Das Su1

Projektteam „Das Vermächtnis“: Werner Dreier, Markus Barnay, Albert Lichtblau, Horst Schreiber, Irmgard Bibermann, Martin Krist, Maria Ecker. Projektteam „Neue Heimat Israel“: Werner Dreier, Markus Barnay, Albert Lichtblau, Horst Schreiber, Claudia Rauchegger-Fischer, Maria Ecker. 2 Markus Barnay, Albert Lichtblau, Karl Rothauer.


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chen eines passenden Hintergrundbildes, das Platzieren des Mikrofons, der Lichteinfall bzw. künstliche Lichtquellen, das Wechseln von Videokassetten, das Ausschalten störender Nebengeräusche wie Klimaanlage, mehrere zumeist fremde Menschen, die den Raum bevölkern – das alles und noch viel mehr hat Einfluss darauf, was wir hören und sehen und wie wir es hören und sehen. Im Sinne der didaktischen Nutzung des Videomaterials war es uns wichtig, wenigstens einen Teil dieser Rahmenbedingungen auch auf der DVD „Neue Heimat Israel“ sichtbar zu machen.

Abb. 2.: Jehudith Hübner, Interviewer Markus Barnay, Kameramann Karl Rothauer in Israel, 2009 Bild: Albert Lichtblau

Welchen direkten Einfluss haben nun Medien auf uns als RezipientInnen? Vor dem Fernseh- oder Computerbildschirm sitzend gibt es eine Reihe von Regulationsmechanismen, die ein sehr selbstbestimmtes Sehen und Hören ermöglichen. Der Pausenknopf, die Rück- und Vorspultaste, das Einstellen der Lautstärke, das Benutzen von Kopfhörern – das alles hat Einfluss darauf, wie oft und intensiv wir uns mit diesen Quellen auseinandersetzen.

3. Über die Auswahl von Interviewsequenzen Die DVD „Das Vermächtnis“ basiert auf den Interviews des USC Shoah Foundation Institute for Visual History and Education3. Gegründet von Steven Spielberg 1994 im Anschluss an den Film „Schindlers Liste“, wurden innerhalb weniger Jahre weltweit mehr als 52.000 Videointerviews mit ZeitzeugInnen der Shoah geführt. Einige hunderte Interviews aus diesem reichhaltigen Archiv weisen einen Österreich-Bezug auf. Ein Interview dauert im Durchschnitt 1,5 bis 2 Stunden. Auf einer DVD finden insgesamt 120 min. Videomaterial Platz. Das stellte unser Projektteam vor eine schwierige Aufgabe: Nach welchen Kriterien sollten aus diesen Tausenden an Interviewstunden die ZeitzeugInnen und Sequenzen ausgewählt werden? Sollten zu einzelnen Themen möglichst viele verschiedene ZeitzeugInnen zu Wort kommen oder die Lebensgeschichte weniger Menschen im Vordergrund stehen? Nach einem langwierigen Diskussionsund Nachdenkprozess entschieden wir uns schließlich für Letzteres. Auf der DVD finden sich 3

Vgl. Die Homepage des Instituts online unter: http://sfi.usc.edu/ (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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die Lebensgeschichten von 13 ZeitzeugInnen, die zu ausgewählten Themen sprechen. Die Darstellung des Lebens der ZeitzeugInnen ist nicht auf die Verfolgung reduziert, sondern beinhaltet auch die Kindheit und Jugend vor 1938 und die Zeit nach dem Überleben. Dieser an der Lebensgeschichte von Menschen orientierte Zugang spiegelt nicht nur die gängige Interviewmethode wider, sondern entspricht auch den Wünschen der ZeitzeugInnen sowie den Bedürfnissen und Interessen der SchülerInnen. Die Auswahl der Interviews drehte sich zunächst auch immer wieder um die Frage, wie „gut“ ein Erzähler/eine Erzählerin sein soll, um die SchülerInnen anzusprechen. Da aber auch wir im Projektteam auf die Erzählungen ganz unterschiedlich reagierten, geriet diese Frage zunehmend in den Hintergrund und machte der Absicht Platz, ganz bewusst unterschiedliche Erzählstile zu zeigen: nüchtern, emotional, zurückhaltend, theatralisch, unterhaltsam, humorvoll etc. Erfahrungsgemäß gibt es aufseiten der LehrerInnen und SchülerInnen oft sehr genaue (von TV-Dokumentationen geprägte?) Vorstellungen, wie jemand über seine/ihre Verfolgungserfahrungen erzählen soll, z. B. mit dem gebotenen Ernst, aber auch nicht zu nüchtern. SchülerInnen reagieren manchmal z. B. auf einen sehr humorvollen oder sehr distanzierten Erzählstil irritiert. Didaktisch gesehen können solche Irritationen aber sehr ergiebig sein, etwa wenn sie zum Anlass genommen werden, gemeinsam mit den SchülerInnen der Frage nachzugehen, warum eigentlich jemand wie erzählt und was diese Erzählungen in uns auslösen. Bei der Auswahl von Inhalten bzw. Interviewsequenzen sind auch ethische Fragen von Bedeutung. Was ist SchülerInnen welcher Altersstufe zumutbar? Aber auch: Was ist den ZeitzeugInnen zumutbar? Gibt es Sequenzen des Interviews, die zwar aufgezeichnet wurden, aber aus ethischen Gründen besser nicht veröffentlicht werden sollten? Zur Veranschaulichung ein Beispiel: In ihrem Interview schildert Sonja Waitzner die schrecklichen Zustände in Auschwitz, die sie als Kind miterlebt hat. Ihre dramatische Erzählung, ihr entrückter Blick, ihre aufgewühlte Stimme steuern auf einen Moment zu, in dem sie ihre Erzählung kurz unterbricht und sich der Interviewerin zuwendet: „How can I go on? I wish I wouldn’t have come, this is too painful.“ (USC Shoah Foundation Institute, Interview mit Sonja Waitzner, 1996.) Wir entschieden uns nach längeren Diskussionen, die Episode, die dieser Aussage vorausgeht, nicht zu verwenden. Auch für die SchülerInnen werden diese (ethischen) Fragen bezüglich der Auswahl und des Edierens von Interviews künftig relevant. Online-Programme wie z. B. IWitness (das derzeit vom Shoah Foundation Institute entwickelt wird) werden es ihnen ermöglichen, an ihren Computern sitzend aus einem ganzen Interview selbst Szenen auszuwählen, zu schneiden und daraus „ihren“ Film über ein ZeitzeugInnen-Interview zu machen, den sie anderen vorführen. (Derzeit ist der Vollzugriff auf das explizit [medien]pädagogische Portal iWtiness auf Educators, also LehrerInnen, beschränkt, die nach erfolgter Registrierung allerdings ihre Students, also SchülerInnen, einladen können.)

4. Über Länge und Funktion der Interviewsequenzen In TV-Dokumentationen sind ZeitzeugInnen-Sequenzen beliebtes „Beiwerk“, wenn es um die Illustration von Sachverhalten geht, die eben einer Sprecherin oder einem Sprecher aus dem Off verkündet wurden. Diese Sequenzen sind kurz und prägnant auf den Punkt gebracht. Alles, was die Erzählung in die Länge zieht – Schweigen, Nebensätze etc. – ist in diesem Format üblicherweise nicht erwünscht. Beim Einsatz und der Aufbereitung von ZeitzeugInnen-Inter-


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views für den Schulunterricht stehen andere Qualitäten dieser Quellen im Mittelpunkt: der Mensch und seine Erzählung (in all ihren Nuancen) und das genaue, aufmerksame Zuhören. Diese Qualitäten werden erst in längeren, ungeschnittenen Interviewsequenzen, die Schweigen, Nebensätze und -erzählungen und auch Interviewerfragen beinhalten, deutlich. Auf der DVD „Das Vermächtnis“ findet sich eine ca. 9 min. dauernde ungeschnittene Sequenz mit Richard Schoen, der über seine schrecklichen Erfahrungen während des Novemberpogroms berichtet.

Abb. 3.: Richard Schoen, Interview USC Shoah Foundation Institute, 1997 Bild: USC Shoah Foundation

Wie reagieren die SchülerInnen auf diese längeren, ungeschliffenen Erzählungen eines Menschen? Schalten sie schnell ab – buchstäblich und im übertragenen Sinne, weil das nicht ihren Sehgewohnheiten und -erwartungen entspricht? Die bisherigen Rückmeldungen auf diese Sequenz und auch meine eigenen Erfahrungen aus Workshops mit SchülerInnen zeigen, dass selbst 13- bis 14-Jährige es „aushalten“, sich mit längeren, auch über 30 Minuten dauernden Interviews eines Menschen zu beschäftigen. Wenn es nicht primär um die Kürze und Prägnanz einer Aussage geht, ist es auch leichter möglich, die Rolle des Interviewers sichtbar zu machen. Beim Einsatz von ZeitzeugInnen-Interviews wird bisher der Einfluss des Interviewenden, mit seinen/ihren Fragen, körperlichen Reaktionen auf das Gesagte etc. vernachlässigt, denn die Interviewerin oder der Interviewer ist meist weder hör- noch sichtbar. Das Zeigen der Interaktion zwischen Interviewer und Interviewten kann für uns als RezipientInnen nicht nur erhellend sein und uns wichtige Einblicke in die Entstehung dieser Quelle ermöglichen – es kann uns auch überraschen oder sehr emotionale Reaktionen auslösen, wie das folgende Beispiel zeigt, das sich auf „Neue Heimat Israel“ findet. Der Interviewer Markus Barnay befindet sich im Gespräch mit dem Zeitzeugen Gideon Eckhaus, der eben vom Tod seiner Mutter und der schwierigen Flucht ins damalige Palästina berichtet hat. Barnay versucht zum wiederholten Mal, die sehr faktische Erzählung aufzubrechen, um „mehr über ihn selbst zu erfahren und ihn nicht nur Vorträge halten zu lassen“ (Neue Heimat Israel 2011, Lernmodul „Reden und Schweigen“): Interviewer: Ich hab Sie gefragt wie Sie sich gefühlt haben, nicht. Eckhaus: Wie ich mich gefühlt habe? (…) Ja, erstens einmal hab ich Ihnen gesagt, wie ich mich gefühlt habe. Interviewer: Nein, Sie haben es nicht gesagt. Sie haben jetzt erzählt, was alles möglich war


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für Deutsche und Österreicher. Sie haben gesagt, es lässt sich schwer beschreiben. Also Sie mussten die Leute zurücklassen, das haben Sie gesagt. Sie wussten noch nichts von Auschwitz, haben Sie gesagt. Sie haben nicht gesagt, wie Sie sich gefühlt haben. Eckhaus: Ich hab Ihnen gesagt, das war sehr unangenehm. Es war scheußlich, hab ich Ihnen gesagt. Interviewer: Haben Sie Angst gehabt? Eckhaus: Wenn Sie es wissen wollen. Interviewer: Haben Sie Angst gehabt? (Interviewer und Eckhaus reden durcheinander). Eckhaus: Ja und nicht. Ich hatte Angst, dass ich meine Familie verloren habe. (...) Manchmal ist es wirklich gut, wenn man Sachen vergisst und wenn man nur auf die Zukunft denkt. Aber, wenn Sie auf mich stoßen, ich soll Ihnen sagen, wie ich mich gefühlt habe, was kann ich – erstens einmal, sehr einsam. Sehr, sehr einsam. (Neue Heimat Israel 2011: Themenvideo „Reden und Schweigen“) Die bisherigen Reaktionen der RezipientInnen auf diese Sequenz waren sehr unterschiedlich. Sie alle beziehen sich aber auf das Verhalten des Interviewers, reichen von Bewunderung über Erstaunen bis zu Unverständnis und Ärger. Während die einen meinen, sie fänden das beharrliche Nachfragen des Interviewers zwar ungewöhnlich, aber gut, stoßen sich andere an der ihrer Meinung nach zu forschen Gesprächsführung, die den Zeitzeugen in Bedrängnis bringe. Eine Tendenz ist dabei zu beobachten: Je jünger die RezipientInnen, desto positiver (weil unbefangener?) bewerten sie das Verhalten des Interviewers, je älter, desto kritischer. Wie auch immer diese Sequenz bewertet wird, sie berührt jedenfalls ein weiteren Aspekt der Arbeit mit ZeitzeugInnen-Interviews, der zuletzt kurz angesprochen werden soll: unsere Reaktionen auf das Gesehene und Gehörte. Es ist wichtig, zu thematisieren, wie es uns beim Zuhören geht, was uns wütend und traurig macht, was uns berührt – aber auch was uns unberührt lässt. Auch das ist eine legitime Reaktion, SchülerInnen sollen nicht den Eindruck haben, etwas fühlen zu „müssen“. Damit bin ich wieder beim Eingangsfoto, das eine Schülerin vor dem Bildschirm eines ­Videointerviews zeigt, angelangt. Die Fragen, die ich an das Foto stellte, beantworte ich abschließend meinen didaktischen Wünschen entsprechend so: Das Interview ist in einer Form aufbereitet, die die Schülerin zum Verweilen, zum genauen und aufmerksamen Zuhören und -sehen einlädt. Ihr stehen – am besten ins Medium integriert – Informationen rund um die Entstehung und Rahmenbedingungen dieses Gespräches zur Verfügung. Im Anschluss hat die Schülerin die Möglichkeit, sich offen mit anderen über ihre Eindrücke auszutauschen und sich eingehender mit dem Gesehenen und Gehörten auseinanderzusetzen. Das jedenfalls waren unsere Ziele bei der Erstellung der DVDs „Das Vermächtnis“ und „Neue Heimat Israel.“

Literatur Ecker, Maria (2006): „Wir waren wie betäubt“ – David Boder, 1946: Interviews mit Holocaust-Überlebenden, in: Jüdische Lebensgeschichten. Erinnertes Leben – Erzähltes Gedächtnis. Wien. Erinnern.at (Hg.) (2008): „Das Vermächtnis. Verfolgung Vertreibung und Widerstand im Nationalsozialismus“ – DVD. Erinnern.at (Hg.) (2011): „Neue Heimat Israel“ – DVD.


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Astrid Messerschmidt

Migrationsgesellschaftliche Geschichtsbeziehungen zum Nationalsozialismus Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/395

Abstract Der Beitrag skizziert die gesellschaftlichen Bedingungen einer zeitgemäßen Erinnerungsarbeit im Kontext der gegenwärtigen migrationsgesellschaftlichen Wirklichkeit und analysiert Selbstbilder in der Migrationsgesellschaft im Sinne einer Wir-Konstruktion sowie Phänomene des sekundären Antisemitismus. Auch die Gedenkpraxen in der europäischen Geschichtserinnerung an den Nationalsozialismus werden in diesen Kontext gestellt. Dabei werden migrationsgesellschaftliche Erinnerungspraktiken als multiperspektivisch angelegte Beziehungsgeschichte begriffen. Die Verfasserin argumentiert aus ihrem eigenen bundesdeutschen Kontext heraus, wobei die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den österreichischen Bedingungen noch zu diskutieren wären. Historical relations to National Socialism in migration societies. This contribution sketches societal conditions for an up-to-date work of remembrance in the context of our current experience in migration societies, and analyses self-images of migration society in the sense of a construction of an “us” as well as phenomena of secondary antisemitism. Also, the memorial practices within a European remembrance of the history of National Socialism are examined within this context. Memorial practices in migration societies are understood as multi-perspective constructs of relational history. The author argues from her own West German context; similarities and differences to the Austrian situation remain to be discussed.

1. Selbstbilder in der Migrationsgesellschaft Die Bundesrepublik Deutschland hat sich erst vor wenigen Jahren politisch dazu bekannt, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, kurz bevor sie statistisch im Jahr 2009 vorübergehend wieder zur Auswanderungsgesellschaft geworden war.1 In dieser Verspätung spiegelt sich eine

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„721.000 Menschen sind im vergangenen Jahr (2009, A. M.) in die Bundesrepublik gezogen. Das ist die gute Nachricht, denn das sind immerhin 39.000 mehr als im vergangenen Jahr. Die schlechte ist: 734.000 haben Deutschland den Rücken gekehrt. In der Endabrechnung hat also eine Kleinstadt mit 13.000 Einwohnern Deutschland verlassen“ (süddeutsche zeitung.de 26.05.2010). Das Deutsche Institut für Wirtschaft gibt an, dass pro Jahr 0,8 % der Bevölkerung Deutschland verlassen, wobei von diesen etwa 650.000 Personen die meisten einen Migrationshintergrund haben. Ein beträchtlicher Teil der Auswanderer zieht nach Österreich und in die Schweiz (vgl. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009, 663).


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Schwierigkeit im Umgang mit der inneren gesellschaftlichen Heterogenität. Dies lässt sich auf die in der politischen Kultur des Landes stark verankerte Vorstellung einer nationalen Homogenität zurückführen. Im Unterschied zu vielen anderen Nationalstaaten ist in Deutschland und Österreich die Vorstellung eines ethnisch und kulturell homogenen „Wir“ bis heute im kollektiven Gedächtnis stark verankert. Dieses Wir-Bild stellt eine nationale Gemeinschaft her und wehrt neue Zugehörigkeiten ab. Deutsche bzw. ÖsterreicherInnen können dabei weder Schwarze, noch Sinti, noch Muslime, noch Juden sein, ohne gefragt zu werden, woher sie „eigentlich“ kommen. Letzteres wird im aktuellen migrantInnenfeindlichen Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland durch Vereinnahmung zu überwinden versucht. Die penetrante Rede von der „jüdisch-christlichen Kultur“ der Deutschen verdrängt die deutsche Abwehr- und Assimilationsgeschichte gegenüber den deutschen Juden zugunsten eines unproblematischen Selbstbildes, mit dem zugleich wieder eine homogene kulturelle Identität behauptet wird. Das Jüdische wird dabei en passant vereinnahmt, ohne wirklich gemeint zu sein. Salomon Korn sieht die rhetorische Funktion dieser Bezeichnung in der Abgrenzung gegenüber den „neuen Fremden“, gegen die eine Allianz gebildet werden solle, die sich insbesondere gegen Muslime richtet (vgl. Diez 2010). Aus meiner Sicht handelt es sich um eine dominanzgesellschaftliche Vereinnahmung. Sowohl die deutsche Geschichte des Antisemitismus als auch die deutsche Geschichte des migrantInnenfeindlichen Rassismus werden dabei ausgeblendet.

2. Sekundärer Antisemitismus Als sekundär stellt sich jeder Antisemitismus nach 1945 dar, denn von da an nehmen alle antisemitischen Äußerungen, Denkmuster und Praktiken in irgendeiner Weise Bezug auf den Massenmord an den europäischen Juden und instrumentalisieren die Erinnerung an die Shoah für die Legitimation antisemitischer Auffassungen. Die Grundstruktur des sekundären Antisemitismus besteht in einem Abwehrverhältnis zum Nationalsozialismus, indem versucht wird, Geschichte dadurch abzuschließen, dass man die Opfer diskreditiert. Vorherrschend sind Praktiken der Derealisierung der Verbrechensvorgänge, deren Relativierung sowie die im sekundären Antisemitismus vorgenommene Täter-Opfer-Umkehr. Erinnerungsabwehr und Relativierungen historischer Erkenntnisse bedingen sich in diesen Abwehrpraktiken gegenseitig. Ein wirksames Instrument dieser Relativierung besteht darin, „die Opfer von damals als die Täter von heute“ erscheinen zu lassen (Holz 2005: 59). Holz sieht in dieser „Umkehrung des Verhältnisses von Täter und Opfer (...) den Kern des Antisemitismus nach Auschwitz“ (ebd.). Zwar hat der Antisemitismus nach 1945 seine rassentheoretische Begründung weitgehend verloren, dabei aber nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt (vgl. Bergmann 2004). In der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Öffentlichkeit wird Antisemitismus bevorzugt als Phänomen extremistischer Gruppierungen oder identifizierbarer Minderheiten betrachtet und erscheint dadurch als ein Problem von anderen, die nicht „wir“ sind. Für den Rassismus hat Karin Scherschel herausgearbeitet, dass diesem Ansatz ein „Unvereinbarkeitsgedanke“ zugrunde liegt, die Argumentationsfigur einer gesellschaftlichen Mitte, die zwischen Extremen existiert und sich von diesen unterscheidet (Scherschel 2006: 50). Scherschel bezeichnet das als „Täterschematismus“ (ebd.), bei dem Übeltäter identifiziert werden, die man klar von sich selbst und einer als vernünftig repräsentierten Mehrheit abgrenzen kann. Antisemiten erscheinen in diesem Schema gegenüber der zivilisierten Gesellschaft als marginalisierte Abweichler, die den Konsens der Gesellschaft nicht teilen. Während diese Abweichung bisher eher


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im Rechtsextremismus verortet wurde, wird sie neuerdings zunehmend muslimischen Migrant­ Innen zugeschrieben. Diese projektive Lokalisierung von Antisemitismus verfehlt die Gelegenheit, den aktuellen Kontext der Migrationsgesellschaft zu thematisieren. Anstatt die gesellschaftliche Situation in den Blick zu nehmen, die Antisemitismus zu einem vielfältig instrumentalisierbaren Reservoir an Fremd- und Feindbildern macht, wird über „einen Antisemitismus der Migranten“ gesprochen (Stender 2008: 284). Es kommt zu einer „verengten Beobachtungsperspektive“ (ebd.), die sich auf die Identitäten von Minderheiten fokussiert. Stattdessen wären die sozialen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, innerhalb derer antisemitische Äußerungen benutzt werden, um Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung so zu adressieren, dass sie Aufmerksamkeit erzeugen. Eine identifizierende Sicht auf den Antisemitismus als Wesensmerkmal von bestimmten Gruppen in der Gesellschaft produziert „falsche Vereindeutigungen“ (ebd.: 289) und wird der Diversität von Antisemitismus und den vielfältigen Beanspruchungen antisemitischer Muster nicht gerecht (vgl. Messerschmidt 2010). Ein identifizierender Umgang mit Antisemitismus, bei dem eindeutig unterschieden wird „zwischen antisemitischen und nicht-antisemitischen Jugendlichen“ (Schäuble/Scherr 2006: 58), verhindert den Zugang zur Selbstreflexion bei den derart Adressierten. Den antisemitischen Äußerungen von Jugendlichen liegt meistens kein geschlossenes Weltbild zugrunde, eher werden Versatzstücke aus der Kommunikation mit Erwachsenen und aus den Medien benutzt und aufgegriffen. Bildungsarbeit sollte medienkritische Zugänge eröffnen, um die Quellen infrage stellen zu können, die antisemitische Auffassungen propagieren. Wer nutzt Stereotype mit welchem Interesse und wie kommt es, dass diese Stereotype populär werden? Die Perspektive der Problematisierung richtet sich dann nicht mehr auf die Jugendlichen selbst und ihre vermeintlichen Gruppenidentitäten, sondern auf die Bezugspunkte für antisemitische Denkweisen und deren mediale und öffentlichkeitswirksame Kontexte. Der Antisemitismus derer, die auch in der dritten Generation immer noch als „Migranten“ bezeichnet werden, knüpft sowohl an den in der deutschen Gesellschaft nach wie vor vorhandenen Antisemitismus als auch an Formen von Antisemitismus an, wie sie in den Herkunftsländern ausgeprägt werden. Um Antisemitismus politisch und pädagogisch bearbeiten zu können, sind die jeweiligen Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen er auftritt. In der gegenwärtigen Gesellschaft gehören zu diesen Bedingungen neben den prekären rechtlichen und sozialen Verhältnissen, unter denen viele MigrantInnen leben, antimuslimische Ressentiments und der Einfluss islamistischer und nationalistischer Gruppen (vgl. amira 2009: 2f.). Antisemitische Auffassungen und Praktiken haben vielfältige Ausgangspunkte und erfüllen mehrere Funktionen. Sie eignen sich sowohl zur Provokation, und damit zur Differenzmarkierung, als auch zum Erzeugen von Zustimmung und werden auf einem Territorium artikuliert, auf dem die Zugehörigkeiten umkämpft sind und das durch strukturelle Ungleichheiten gekennzeichnet ist. Mithilfe von Antisemitismus werden die den Diskriminierungserfahrungen von Minderheiten zugrunde liegenden rassistischen Spaltungen in der Einwanderungsgesellschaft auch von diesen Minderheiten selbst verdrängt zugunsten einer Sichtweise, die Verursacher für die eigene Misere personifizieren und eine spezifische Gruppe dafür verantwortlich machen kann. Eigene Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen können kompensiert werden, wenn die Abwertung auf „die Juden“ projiziert wird (vgl. ebd.: 7). Für die Analyse dieser Prozesse kommt es darauf an, die Zugehörigkeitsbegrenzungen und Ungleichheitsstrukturen in den Blick zu nehmen, die in dieser Gesellschaft wirksam sind. Mit einer kontextualisierenden Perspektive werden antisemitische Auffassungen im Zusammenhang der migrationsgesellschaftli-


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chen Verhältnisse betrachtet und damit als eine Problematik repräsentiert, die alle angeht. Gelingen wird dies allerdings nur, wenn die eigene Gesellschaft als Migrationsgesellschaft anerkannt wird.

3. Europäische Dimensionen von Geschichtserinnerung Das europäische Ausmaß und die globalen Folgen der NS-Verbrechen sind wesentliche Bestandteile einer Gedenkpraxis, die nationale Selbstbestätigungen vermeidet und sich auf die Gegenwart europäischer Migrationsgesellschaften einlässt. Es handelt sich um Gesellschaften vielfältiger Zugehörigkeiten, wodurch sich verschiedene Beziehungen zur Geschichte ergeben haben. In der außerschulischen Erinnerungsbildungsarbeit, im Geschichtsunterricht und in akademischen Lehrveranstaltungen artikulieren Teilnehmende, SchülerInnen und Studierende ihre Geschichtsbeziehungen vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven: Es handelt sich um Geschichten von Partisanenerfahrungen, Geschichten von Überlebenden der Shoah, Erfahrungen aus Polen, Rumänien, Tschechien, sodass PädagogInnen und WissenschaftlerInnen herausgefordert werden, andere Geschichtsbezüge herzustellen, als sie in der österreichischen und deutschen Mehrheitsgesellschaft repräsentiert sind, und sich einzulassen auf die Gegenwart der Migrationsgesellschaft. Aus meiner Sicht hängt die Zukunft der Erinnerung davon ab, wie es gelingt, diese vielfältigen Beziehungen jeweils zum Ausdruck kommen zu lassen, ihnen Raum zu geben und viele Gelegenheiten zu schaffen, um sie zu reflektieren. Von der Intensität der Reflexion hängt es ab, inwiefern bei allen migrationsgesellschaftlichen und europäischen Differenzierungen von Erinnerung die spezifisch deutsche Verantwortung für die Folgen der massenhaften Verbrechen wahrgenommen und für wichtig genommen wird. Für eine migrationsgesellschaftliche Erinnerungsarbeit kommt es zunehmend darauf an, Vergleiche zuzulassen und dabei Kriterien für Unterscheidungen anzubieten. Mit dem Ansatz des unterscheidenden Vergleichens wird eine Gratwanderung versucht zwischen der Würdigung vielfältiger Bezüge zu zeitgeschichtlichen Erfahrungszusammenhängen einer Generation, die nach 1990 politisch sozialisiert worden ist, und einer Verdeutlichung der spezifischen Geschichte und Bedeutung des Massenmordes an den europäischen Juden. In Europa ist es in den letzten beiden Jahrzehnten in vielen Ländern zu einem „Memory Boom“ gekommen, wobei der nationalsozialistische Völkermord und die deutsche Besatzungsherrschaft in Ost- und Westeuropa im Mittelpunkt standen. Entlang der früheren Ost-West-Trennlinie Europas hat sich ein gedächtnispolitischer Streit über die Frage entwickelt, „welchen Stellenwert die politisch-kulturelle Erinnerung an die NS-Jahre im Vergleich zu der sowjetischen Hegemonialpolitik einnehmen sollte“ (Corneließen 2008). Im innerdeutschen Diskurs spiegelt sich diese Konfliktlinie wider, wenn es um die Aufarbeitung der DDR-Geschichte geht und deren Vernachlässigung gegenüber der Auseinandersetzung mit dem NS beklagt wird. Die darin implizit enthaltene Gedächtniskonkurrenz führt zu einer nivellierenden Wahrnehmung von „zwei Diktaturen“, die zur Entkonkretisierung von Verbrechensgeschichte neigt und mit dem Begriff der Diktatur eine distanzierende Haltung gegenüber beiden Geschichtszusammenhängen begünstigt. Demgegenüber fördern Bildungsprojekte, die nach den Beziehungen der Beteiligten zu den jeweiligen Herrschaftszusammenhängen und deren Folgen fragen, ein differenzierendes Nachdenken. Während in der Bundesrepublik und nach meiner Wahrnehmung auch in Österreich das


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nationale Selbstbild immer noch stark von einer abstammungsbezogenen Identitätskonzeption geprägt ist, hat sich in den westeuropäischen Nachbarländern aufgrund republikanischer Traditionen und einer erreichten Akzeptanz gegenüber der Migrationstatsache teilweise eine Öffnung hin zu einem Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaften entwickelt. Konterkariert wird diese Entwicklung von den nach 2001 in Europa vorgenommenen neuen Abgrenzungen und Spaltungen nach dem Muster einer Wir-Sie-Ordnung, die auf antimuslimische Tendenzen zurückzuführen sind. Der Menschenrechtsforscher Heiner Bielefeldt sieht darin eine „antipluralistische Engführung des Integrationsdiskurses“ (Bielefeldt 2007: 18), bei der das Sprechen über Integration dazu benutzt wird, insbesondere muslimische MigrantInnen als kulturell Fremde zu adressieren. Die Abwehr von Pluralität und Differenz steht im Gegensatz zum gesellschaftlichen Selbstbild eigener Modernität und Fortschrittlichkeit. Um diese eher unmoderne Haltung zu legitimieren, werden auf die als muslimisch identifizierten MigrantInnen Eigenschaften projiziert, die als unmodern gelten. Auf der Seite der derart Adressierten ergeben sich in Wechselwirkung damit antiwestliche Positionen, die häufig auch mit einer Abwehr der Beteiligung an der Aufarbeitung der Shoah verbunden sind, weil diese als dominanzgesellschaftliches Projekt wahrgenommen wird.

4. Migrationsgesellschaftliche Erinnerungspraktiken Aufgrund einer bisher dominierenden Selbstbezüglichkeit bundesdeutscher Erinnerungspraktiken, ist das Geschichtsverhältnis zu einem Problem nationaler Identität gemacht worden. Anstatt eines Verlustes zu gedenken, wird die historische Beschädigung des Deutschseins beklagt. Zugleich wird in dieser selbstbezüglichen, aber keineswegs selbstreflexiven Tendenz die innere Heterogenität der Nation mit ihren vielfältigen Zugehörigkeiten verdrängt. Erinnerung erscheint als etwas, das „den Deutschen“ gehört, weshalb die in den letzten Jahren intensiv geführte Auseinandersetzung um die Erinnerungskultur nur von wenigen auf die Diskussion um die Einwanderungsgesellschaft bezogen worden ist (vgl. Georgi 2000). Diejenigen, denen ein Migrationshintergrund zugeordnet wird – gleichgültig, ob sie diesen für sich selbst für relevant halten –, haben im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oft erlebt, dass ihnen ein Desinteresse unterstellt und ihnen das Gefühl vermittelt wurde, dies sei ein deutsches Thema, das nichts mit denen zu tun habe, die keine „echten“ Deutschen sind. Damit wird zum einen ein völkisches Selbstbild innerer nationaler Homogenität gepflegt. Zum anderen wird die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zu einem nationalen Projekt erklärt, wodurch die europäische und globale Bedeutung der Verbrechensgeschichte des NS und ihrer Folgen für Menschen auf der ganzen Welt ausgeblendet wird. Projekte, die den Kontext der Einwanderungsgesellschaft anerkennen, ermöglichen Anknüpfungen an die Aufarbeitung der NS-Verbrechen für Teilnehmende verschiedener nationaler und kultureller (familiärer) Hintergründe und eröffnen dadurch historisch bewusste Beziehungen zur gegenwärtigen bundesdeutschen Gesellschaft. Kennzeichnend für diese Ansätze ist das Bemühen um Perspektivenerweiterung, was den BildungsarbeiterInnen in diesem Feld abverlangt, eigene Geschichtszugänge im Verhältnis zu anderen Sichtweisen zu reflektieren. Konfliktgeladene und kontroverse Geschichtsbilder können dabei zutage treten und machen die multiperspektivische Aufarbeitung von Verbrechensgeschichte besonders anspruchsvoll. Pro-


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jekte wie der Dokumentenkoffer „GeschichteN teilen“2 thematisieren bisher wenig beachtete Geschichtsbeziehungen und wecken damit das Interesse an der Auseinandersetzung mit dem NS gerade bei jenen Gruppen der Gesellschaft, die sich im bundesdeutschen Erinnerungsdiskurs häufig als nichtzugehörig adressiert gefunden haben. Neben der multiperspektivischen Geschichtsaufarbeitung bringen derartige Projekte eine nicht zu unterschätzende Anerkennung von Mehrfach-Zugehörigkeiten in der Migrationsgesellschaft zum Ausdruck (vgl. Messerschmidt 2010). In dieser Anerkennung liegt die Chance, den Anspruch der Empathie, der in der pädagogischen Erinnerungsarbeit lange auf die Opfer der NS-Verbrechen bezogen worden ist, zu verschieben auf die heutigen Teilnehmenden von Bildungsprozessen. Sie haben einen Anspruch darauf, dass sich pädagogisch Professionelle in ihre Situation hineindenken und ihre Ausgangsbedingungen sowie ihre gesellschaftlichen Positionierungen wahrnehmen. „Eine empathische Annäherung an ‚historische Stoffe und Akteure‘ gewinnt an Überzeugungskraft, wenn Empathie nicht nur an einem wie auch immer gearteten ‚Objekt‘ geübt, sondern selber erfahren wird, also der Subjektstatus aller pädagogischen Akteure reflektiert und respektiert wird“ (Heyl 2010: 107). Mit dem Hinweis, „(...) dass meine Kinder hier zur Schule gehen und dort lernen, dass es Auschwitz gab“, begründet Doğan Akhanli sein Engagement in der historisch-politischen Bildung. Er bietet deutsch- und türkisch-sprachige Führungen am Ort des ehemaligen Gestapo-Sitzes in Köln an und beabsichtigt, „Erinnerungsarbeit in Deutschland, die ich eine ‚deutsche Erfahrung‘ nennen will, auch für MigrantInnen aus der Türkei erfahrbar zu machen“ (Akhanli 2006: 312). Akhanli geht es darum, „die NS-Geschichte nicht als deutsche Geschichte, sondern als Beziehungsgeschichte zu erzählen“ und dabei die historischen Verbindungslinien zur armenisch-türkisch-kurdischen Geschichte zu rekonstruieren, um einen „multiperspektivischen und respektvollen Umgang mit vergangenen Gewalterfahrungen“ zu fördern (ebd.). Die Wahrnehmung verschiedener Geschichtszusammenhänge soll die Sensibilität für Unterscheidungen fördern, wobei nicht auszuschließen ist, dass historisch unangemessene Gleichsetzungen vorgenommen werden. Es handelt sich um eine Gratwanderung, bei der den pädagogisch Handelnden argumentative Klarheit und gruppenbezogene Offenheit abverlangt werden. Die Impulse, die von Jugendlichen aus Familien mit Migrationsgeschichten für die Gedenkstättenpädagogik ausgehen, reflektiert Elke Gryglewski aufgrund ihrer Erfahrungen mit Gruppen in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Sie beobachtet verschiedene Motive für das Interesse am Thema Nationalsozialismus, wie die Orientierung an Menschenrechten und die Reflexion eigener Diskriminierungserfahrungen sowie das Bedürfnis, dazuzugehören (vgl. Gryglewski 2006: 301). In ihrer pädagogischen Praxis hat sich ein offensiver Umgang mit Heterogenität herausgebildet. „Es hat sich bewährt, die Gruppe von Beginn an auf ihre heterogene Zusammensetzung anzusprechen und diese als Gewinn für das Gespräch über die Geschichte des Nationalsozialismus hervorzuheben“ (ebd.: 303). Die Jugendlichen schätzen es, zu erleben, dass ihnen vielfältige Anknüpfungspunkte geboten werden, wie beispielsweise Materialien zur Türkei als Exilland oder zum Umgang mit der Rassenpolitik in verschiedenen europäischen Ländern. Dabei geht es nicht um eine Kontrastierung von Jugendlichen deutscher und nichtdeutscher Herkunft, sondern eher darum, den deutschen Erinnerungsdiskurs in der Einwanderungsgesellschaft weiter zu entwickeln und dabei unterschiedli2 Kooperationsprojekt zwischen der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz und dem Verein Miphgasch/Begegnung in Berlin.


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che Geschichtszugänge zu würdigen. Die multiperspektivische Sichtweise auf die NS-Geschichte ist für alle Beteiligten in den Besuchergruppen eher neu und anregend, sie macht ihr Geschichtsbild komplexer und verdeutlicht die internationale Dimension der Erfahrungen, die mit dem Nationalsozialismus verbunden sind. Für die Praxis historisch-biografischer Bildungsarbeit diskutiert Ulla Kux einen Ansatz, der die interkulturelle Dimension von Bildungsprozessen produktiv aufgreift und in die erinnernde Rekonstruktion von Geschichte einbezieht. Kux fordert die Akteure politischer Bildung auf, ihre Perspektiven zu prüfen. Es komme zu „Perspektivenverengungen“, wenn historische Lernprozesse, die insbesondere die NS-Geschichte thematisieren, auf ein nationales Wir beschränkt blieben (Kux 2006: 243). Wird die NS-Geschichte als „deutsche Geschichte“ repräsentiert, kommt MigrantInnen dabei nur ein Außenstatus zu. Die Autorin sieht darin „keine taugliche Gegenüberstellung für die Bildungspraxis“ (ebd.: 247) und plädiert für eine „multiperspektivisch angelegte Beziehungsgeschichte“ (ebd.: 248), die es ermöglicht, die internationale Dimension des Nationalsozialismus erfahrbar zu machen. Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft wird in diesem Ansatz nicht als Maßnahme zur Integration in ein deutsches Geschichtsbild betrachtet, sondern als Prozess migrationsgesellschaftlicher Verständigung über eine Verbrechensgeschichte, die global bedeutsam ist und auf vielfältige Weise erinnert, instrumentalisiert und beansprucht wird. Dabei steht der Begriff der Erinnerungskultur selbst zur Disposition. Wie kann die Kultur des Erinnerns so gestaltet werden, dass sie der kulturellen Amnesie, die Johann Baptist Metz als die „Stillstellung des Schmerzes der Erinnerung“ definiert, entgegenwirkt (Metz, 2000: 138)? Erst eine anamnetische Kultur fördert das Bewusstsein für die Gefahren des Vergessens, die in der vermeintlichen Gewissheit liegen, das Geschehen nun angemessen erinnert zu haben. Mit ihr entsteht keine Sicherheit im Umgang mit Erinnerung, eher eine bleibende Verunsicherung (vgl. Messerschmidt 2003: 252ff.), die in einer kritischen Erinnerungsbildung immer wieder zum Ausdruck zu bringen ist.

Literatur Akhanli, Doğan (2006): Meine Geschichte – „Unsere“ Geschichte. Türkischsprachige Führungen im NS-Dokumentationszentrum in Köln, in: Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Messerschmidt, Astrid/Schäuble, Barbara) (Hg.): Neue Judenfeindschaft? Zum pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt/M.: Campus, 310–317. amira (2009): „Du Opfer! Du Jude“ – Antisemitismus und Jugendarbeit in Kreuzberg, Dokumentation der amira-Tagung am 16.09.2008 im Stadtteilzentrum Alte Feuerwache, Berlin-Kreuzberg, online unter: www.amira-berlin.de/Material/Publikationen/54.html (letzter Zugriff: 01.04.2014). Bergmann, Werner (2004): Auschwitz zum Trotz. Formen und Funktionen des Antisemitismus in Europa nach 1945, in: Braun, Christina von/Ziege, Eva-Maria (Hg.): Das „bewegliche“ Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg: Königshausen & Neumann, 117–141. Bielefeldt, Heiner (2007): Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld: transcript. Corneließen, Christoph (2008): Erinnern in Europa, online unter: http://www.bpb.de/themen/8JVYJ2. html (letzter Zugriff: 01.04.2014). Diez, Georg (2010): Der verwandte Schmerz. Das jüdische Leben in Deutschland war lange vor allem gut für die Deutschen. Diese historische Phase geht nun zu Ende. Ein Besuch bei Salomon Korn, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. Februar 2010, 13.


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Georgi, Viola (2000): Wem gehört deutsche Geschichte? Bikulturelle Jugendliche und die Geschichte des Nationalsozialismus, in: Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Lieberz-Groß, Till (Hg.): „Erziehung nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen, Weinheim/München: Juventa, 141–162. Gryglewski, Elke (2006): Neue Konzepte der Gedenkstättenpädagogik. Gruppenführungen mit Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz, in: Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Messerschmidt, Astrid/Schäuble, Barbara) (Hg.): Neue Judenfeindschaft? Zum pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt/M.: Campus, 299–309. Heyl, Matthias (2010): Erziehung nach Auschwitz – Bildung nach Ravensbrück. Historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen, in: Ahlheim, Klaus/Heyl, Matthias (Hg.): Adorno revisited. Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute, Hannover: Offizin, 89–125. Holz, Klaus (2005): Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburg: Hamburger Edition. Kux, Ulla (2006): Deutsche Geschichte und Erinnerung in der multiethnischen und -religiösen Gesellschaft. Perspektiven auf interkulturelle historisch-politische Bildung, in: Behrens, Heidi/Motte, Jan (Hg.): Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, 241–259. Messerschmidt, Astrid (2003): Bildung als Kritik der Erinnerung. Lernprozesse in Geschlechterdiskursen zum Holocaust-Gedächtnis, Frankfurt/M.: Brandes & Apsel. Messerschmidt, Astrid (2010): Flexible Feindbilder. Antisemitismus und der Umgang mit Minderheiten in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, in: Stender, Wolfram/Follert, Guido/Özdogan, Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwisssenschaften, 91–108. Metz, Johann Baptist (2000): Das humane Gedächtnis zu schärfen. Überlegungen eines Theologen im Zeitalter kultureller Amnesie, in: Abeldt, Sönke/Bauer, Walter u. a. (Hg.): „… was es bedeutet, verletzbarer Mensch zu sein“. Erziehungswissenschaft im Gespräch mit Theologie, Philosophie und Gesellschaftstheorie, Mainz, 137–144. Schäuble, Barbara/Scherr, Albert (2006): „Ich habe nichts gegen Juden, aber …“ Widersprüchliche und fragmentarische Formen von Antisemitismus in heterogenen Jugendszenen, in: Fritz Bauer Institut/ Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Messerschmidt, Astrid/ Schäuble, Barbara) (Hg.): Neue Judenfeindschaft? Zum pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt/M.: Campus, 51–79. Scherschel, Karin (2006): Aufgeklärtes Denken und Abwertung ethnisch Anderer – historische und aktuelle Aspekte, in: Zeitschrift für Genozidforschung, Nr. 1/2006, 49–71. Stender, Wolfram (2008): Der Antisemitismusverdacht. Zur Diskussion über einen „migrantischen Antisemitismus“ in Deutschland, in: Migration und Soziale Arbeit, 30. Jg., Heft 3/4/2008: 284–290.


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Michael Achenbach

Rezension der DVD „Animation in der Nazizeit“ (Geschichte des deutschen Animationsfilms 2) von Ulrich Wegenast (Kurator) Beitrag online im Ressort Neue Medien unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/402

Abstract Die von Ulrich Wegenast kuratierte DVD hat es sich zur Aufgabe gesetzt, einen Einblick in das Animationsfilmschaffen der nationalsozialistischen Ära zu geben. Dazu werden insgesamt 12 Filmbeispiele aus den Jahren 1937 bis 1944 vorgestellt. Ein mit dreißig Seiten recht umfangreiches Booklet gibt dankenswerterweise Hintergrundinformationen zu den auf der DVD vertretenen Titeln und leistet eine prägnante Einführung in die Thematik des NS-Animationsfilms. Review of the DVD “Animation in der Nazizeit.” The DVD, curated by Ulrich Wegenast, has set itself the task of offering a glimpse into animated film creation during the National Socialist era. 12 examples of films from the years 1937 to 1944 are presented. A rather comprehensive booklet of thirty pages offers background information on the titles collected on the DVD and gives a concise introduction to the issue of NS animated film. Label: absolut MEDIEN Erscheinungsort: Berlin Erscheinungsjahr: 2011 ASIN 3898482022 Deutsch, 154 Minuten Dass Hitler und Goebbels dem Film zugetan waren, ist allgemein bekannt. Sie teilten aber auch eine gewisse Leidenschaft für den Animationsfilm und bewunderten vor allem die Filme von Walt Disney, dem ja auch eine gewisse antisemitische Grundhaltung nachgesagt wird. Und auch das deutsche Publikum liebte die Disney-Filme und stürmte die Vorstellungen. Anders als in den Vereinigten Staaten entstand in Deutschland aber nur eine recht überschaubare Anzahl an Animationsfilmen. Und im Gegensatz zu den USA, die nach ihrem Kriegseintritt Animationsfilme in großer Anzahl zur Propaganda der Kriegsanstrengungen produzierten, waren der Umfang und der propagandistische „Erfolg“ der deutschen Produktionen sehr marginal. Als Beispiel für Kriegspropaganda enthält die DVD den Film „Der Störenfried“ von 1940, der im Gewand einer Fabel klar Bezug auf den Polenfeldzug nimmt. Infanteristische Igel mit Stahlhelmen und ein Wespengeschwader mit originalen Stuka-Tönen bekämpfen den „zurückgekehrten“ Fuchs. Der Einsatz eines Volksempfängers, der anscheinend kriegsversehrte


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Hase (= Weltkriegsveteran?), der anfangs den Kampf gegen den Fuchs aufnehmen will, dann aber flüchtet, und die Beschwörung der Volksgemeinschaft böten Anlass zu weitergehender Analyse des Filmes. Jedoch muss gesagt werden, dass sowohl Handlung als auch technische Ausführung des Films gegenüber zeitgleichen amerikanischen Produktionen sehr hölzern wirken. „Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt“ (1940) mit der Figur des durch den Wald schleichenden und stehlenden Juden wird als Beispiel für Antisemitismus im Animationsfilm vorgestellt. Sein Aussehen erinnert stark an Karikaturen aus dem „Stürmer“: gebückte Haltung, langer, dunkler Kaftan, große Ohren und große, gebogene Nase kennzeichnen das NS-Propagandabild des Juden auch im Trickfilm. Ein interessantes Beispiel für NS-Propaganda ist „Die Schlacht um Miggershausen“ (1937), dessen Zweck aber weniger – wie im Booklet vermutet – die Industriealisierung und Modernisierung der Landwirtschaft sein soll, sondern vielmehr die Durchdringung des Deutschen Reiches mit nationalsozialistischer Propaganda über das Vehikel des Rundfunks. In einer militärisch durchgeführten Operation dringen Massen an Volksempfängern in die Häuser des fiktiven Ortes Miggershausen ein, der erst damit für die NS-Propaganda erreichbar wird. Die Modernisierung der Landwirtschaft ist dabei lediglich Folge der umfassenden Propagandatätigkeit mithilfe des Radios. Inhaltlich gesehen sind dabei auch die militärische „Eroberung“ und „Gleichschaltung“ eines als rückständig geschilderten ländlichen Gebietes durch Regimenter von Volksempfängern in Hinsicht auf Goebbels Meinung bemerkenswert, der die Propaganda als gleichrangiges Kriegsmittel neben den Waffengattungen der Wehrmacht verstand. An dieser Stelle sei kritisch angemerkt, dass unverständlicherweise von zwei der auf der DVD vorgestellten Filmen „aus rechtlichen Gründen (...) nur kurze, stumme Ausschnitte gezeigt“ werden. Dabei handelt es sich um den soeben genannten „Die Schlacht um Miggershausen“ und um „Hochzeit im Korallenmeer“ (ca. 1944). Dies ist umso verwunderlicher, als diese Filme im Internet ohne Probleme aufgefunden und angesehen werden können. Leider können die beiden stummen Fragmente aufgrund ihrer Kürze wenig bis nichts zum Thema beitragen. Hier wäre es besser gewesen, auf diese nichtssagenden Ausschnitte zu verzichten und dafür nach Möglichkeit anderes Material oder auch weitere thematische Aspekte in die DVD aufzunehmen. So wäre es beispielsweise interessant gewesen, etwas mehr zur Rolle des Animationsfilms in den besetzten Gebieten zu erfahren. Zwar werden Produktionen in Frankreich und den Niederlanden im Booklet kurz erwähnt, aber zum Animationsfilm in den besetzten Ostgebieten werden keine Angaben gemacht. Die Tätigkeit des Berliner Trickfilmateliers Peroff für die Zentral-Filmgesellschaft Ost hätte hier einen Anknüpfungspunkt geboten. Nach allgemeinen Erörterungen zum NS-Animationsfilm geht das Booklet auf einzelne Produktionsfirmen und zentrale Personen ein. Aufgrund seiner Unzufriedenheit mit dem Animationsfilmschaffen im Deutschen Reich gründete Goebbels 1941 die Deutsche Zeichenfilm GmbH. Ziel der Gründung war es, innerhalb der nächsten sechs Jahre einen abendfüllenden Film nach Disney-Muster zu erstellen. Trotz großem finanziellem Aufwand blieb das Ergebnis mit dem 17-minütigen Kurzfilm „Armer Hansi“ (1943) eher mager. Obwohl Goebbels angeblich zufrieden mit dem Ergebnis war, mutet der Film doch mehr wie eine Fingerübung an, um Grenzen und Möglichkeiten auszuloten. NS-Ideologie transportiert er insofern, als im Film die persönliche Freiheit als nicht erstrebenswert beschrieben wird. Der Kanarienvogel, der durch einen Zufall aus seinem Käfig hinaus in die Freiheit gelangt und dort einige Abenteuer erlebt, kehrt am Ende wieder gerne und freiwillig in die „Sicherheit“ seines Käfigs zurück.


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„Der Schneemann“ (1944) von Hans Fischerkoesen dürfte der bekannteste Animationsfilm aus der NS-Zeit sein. Und das auch zu Recht. Die Leichtigkeit der Handlung und der Ideenreichtum in der Ausführung machen ihn zum herausragendsten Beispiel auf der besprochenen DVD. Weitere Erwähnung finden die Arbeiten von Gerhard Fieber, Heinz Tischmeyer, Kurt Stordel und Hans Held, sowie die Puppenfilme der Brüder Diehl. Der außergewöhnlichste Film auf dieser Zusammenstellung ist aber wohl „Weltraumschiff I startet“ (ca. 1940). Es handelt sich dabei um eine interessante Mischung aus Aufnahmen realer Schauspieler, gemischt mit im Stoptrick-Verfahren erstellter Modellaufnahmen. Der in der näheren Zukunft spielende Streifen zeigt den ersten Flug eines bemannten Raumschiffes um den Mond herum und seine Rückkehr auf die Erde. Der Feststellung im Booklet, dass keine Hakenkreuze im Bild zu sehen sind und „es sich nicht um ein explizit deutsches Vorhaben“ handelt, sondern um das einer „internationalen Raumfluggemeinschaft“, muss aber widersprochen werden. Denn die erwähnte „Internationale Liga für Raumschiffahrt“ erweist sich eher als privates Unterstützungskomitee denn als internationale Behörde. Aus dem Zusammenhang ergibt sich aber sehr wohl, dass es sich hier um eine rein deutsche Entwicklung handelt, und deutsche Technik wird im Film mehrfach als überlegen geschildert. Zudem suggeriert der Streifen, dass ohne die deutschen Ingenieure die Rakete niemals zur Ausführung gelangt wäre. Eine erschreckend prophetische Vision, wenn man an die während des Krieges vom Heereswaffenamt energisch vorangetriebene Entwicklung der V2 oder an die Mitarbeit derselben deutschen Wissenschaftler beim US-Raumfahrtprogramm nach dem Krieg denkt. Eher unvermutet wird man durch die DVD auch auf die Existenz von abstrakten Avantgardefilmen gestoßen. Weder in ihrer Machart noch in der Musikuntermalung (teilweise Jazz) entsprachen sie dem geforderten NS-Kunstbild. Trotzdem gelang es beispielsweise „Tanz der Farben“ (1939), sich zwei Wochen lang in einem Hamburger Kino unter positiver Bewertung von Kinobesuchern und der Presse zu halten. Fazit: Die großen Pluspunkte dieser Edition sind einerseits die Beschäftigung mit einem Randgebiet des NS-Films. Andererseits ermöglichen die erhellenden Ausführungen des Booklets, die zudem noch durch zahlreiche weiterführende Literaturangaben ergänzt werden, einen guten Einstieg in das Thema und fordern zu weiterer Auseinandersetzung auf.


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Wolfgang Sützl

Aktivistische Brieftauben Medienaktivismus und Wissen im Zeitalter der Biomacht Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/429

Abstract Im biopolitischen Medienaktivismus sind eine Vielzahl von Interventionen gegen die Dispositive der Foucaultschen Biomacht entstanden. Wolfgang Sützl untersucht Widerstandsformen, die biopolitische Strategien gleichzeitig unterwandern und einsetzen. Im Rekurs auf Walter Benjamins Theorie des Autors als Produzent hebt Sützl die Möglichkeit hervor, diese auf die digitale Kultur- und Technikproduktion zu beziehen. Auch ist damit eine postfordistische Theorie des biopolitischen Kognitariats verbunden, auf dessen lebendige Ressourcen die Biomacht zugreift, um Wissen („Human Capital“) als Mehrwert abzusaugen. Im Widerstand dazu können aber aktivistische Tauben und Tulpen eingesetzt werden, um subversive Kräfte in Gang zu setzen. Activist carrier pigeons. Media activism and knowledge in the age of bio-power. Bio-political media activism has given rise to a number of interventions against the dispositifs of Foucauldian bio-power. Wolfgang Sützl examines forms of resistance that both use and subvert biopolitical strategies. In recourse to Walter Benjamin’s theory of the author as a producer, Sützl emphasizes the possibility to relate these to digital cultural and technological production. This is linked to a post-Fordist theory of the biopolitical cognitariat, the living resources of which biopower takes hold of in order to syphon off knowledge (“human capital”) as surplus value. Resisting to this, activist pigeons and tulips may be used to set subversive forces in motion.

1. Biomacht und Biopolitik Biomacht ist bei Michel Foucault jene politische Macht, die das „Leben im Allgemeinen“ vereinnahmt, „mit den Polen des Körpers auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite“ (Foucault 2010: 78): Sie zielt auf eine normalisierte Gesellschaft, in welcher die frühmoderne Disziplinierung des Körpers durch Institutionen von der modernen Regulierung der Bevölkerung überlagert wird – jener Bevölkerung, die mit dem Entstehen des modernen Staats in Europa als solche in Erscheinung tritt und sich im Zuge der Industrialisierung rasch vermehrt. Die Biopolitik ist für Foucault jene Form der Gouvernementalität, welche sich der Lebensprozesse der Bevölkerung annimmt, diese Prozesse erfasst und reguliert, sich für das Gedeihen der Bevölkerung von der Geburt bis zum Tod für zuständig erklärt – für Ernährung und Hygiene, für Gesundheitsvorsorge und Zuwanderung, für Medizin und psychotrope Substanzen. Die „Serie der Zufallsereignisse, die in einer lebendigen Masse auftauchen können“ (Foucault 2010: 73)


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soll kontrolliert und durch die Überwindung des Überraschenden und Eigenmächtigen, das dem „Leben im Allgemeinen“ anhaftet, gesichert werden. Die Biomacht, so Foucault, ist bestrebt, „leben zu machen und sterben zu lassen“, wohingegen es der früheren Form der Souveränität entspricht, sterben zu machen und leben zu lassen (Foucault 2010: 71). Im Sinne der Ausübung von Biomacht geht es also darum, das Leben als solches zu regulieren, zu steigern, zu optimieren, wobei der Tod aus dem Blickfeld verschwindet: „Streng genommen“, sagt Foucault in seiner Vorlesung vom 17. März 1976, „lässt die Macht den Tod fallen“ (Foucault 2010: 72). Weder die Drohung mit dem Tod kennzeichnet die Biomacht noch die äußere Einwirkung auf Untergebene durch einen Souverän, sondern die Bildung von Subjekten als Doppelfigur von Unterwerfung und Selbstbehauptung, wie sie Judith Butler im Anschluss an Foucault darstellt … Subjektivierung als „Rückstoß der Macht“ (Butler 2001: 12). Die Optimierung des Lebens im Allgemeinen durch die Biomacht tritt heute in vielerlei Form in Erscheinung: als Gesundheitsreform und als Impfpflicht, als biometrische Erfassung und als Organhandel, als Life Sciences und als Biotechnologie, als Immigrationspolitik und in der Form rassistischer Diskurse, die mit dem Aufkommen der Biomacht ein „grundlegender Mechanismus der Macht“ werden (Foucault 2010: 79). Als Form der Selbstregierung reicht die Biomacht vom Nahrungsergänzungsmittel bis zur „Schönheitsoperation“ und zum neuen Trend des Self-Tracking (Bethge 2012, www.quantifiedself.com), dem freiwilligen kontinuierlichen Messen und digitalen Auswerten sämtlicher Körperfunktionen mit dem Ziel, das Leben nicht seinen eigenen, sub-optimalen Vorgängen zu überlassen. Die Biomacht bleibt nicht ohne Widerspruch: In der Tat kann es laut Foucault, für den Macht ein plurales bzw. heterogenes Kräfteverhältnis ist, keine Macht ohne Gegenmacht geben. In den folgenden Abschnitten sollen einige Formen des Widerspruchs, die sich gegen Dispositive der Biomacht stellen, exemplarisch herausgegriffen werden, um so den Widerstand in seiner diskursiven Qualität und als Störung biopolitischer Technologien besser fassbar zu machen. Denn was ab den 1990er-Jahren als Medienaktivismus bezeichnet wurde, lässt sich im biopolitischen Kontext auf spezifische Formen und Techniken beziehen, welche die Biomacht in ihrer technologischen Dimension und in ihrer Wissensproduktion zu stören vermag und die ich als biopolitischen Medienaktivismus bezeichne (Sützl/Hug 2012: 7f.; vgl. dazu auch die Schwerpunktausgabe der MEDIENIMPULSE 02/2011 mit dem Titel Medienaktivismus).

2. Biohacking: Radikalisiertes Laientum MedienaktivistInnen stellen in der Praxis und in ihrer Theoriebildung die Legitimität von ExpertInnenwissen infrage. Sie erzeugen bewusst eine „unreine Theorie“ (Sützl 2007), also eine von der politischen Praxis und von den Medientechnologien „verunreinigte“ Theorie, welche sich von der geschützten und institutionell abgesicherten Theoriebildung unterscheidet, indem ExpertInnenwissen produziert wird. Diese gezielte Verunreinigung des Wissens durch seine Medien erhebt einen Anspruch auf Eigenmacht, der sich auf Walter Benjamins These vom „Autor als Produzent“ (Benjamin 2002) zurückführen lässt. Benjamin fordert in dieser Ansprache revolutionär eingestellte Schriftsteller dazu auf, die bürgerliche Produktionsmaschinerie nicht einfach zu beliefern und die eigene Autorschaft nicht getrennt von der Rolle als Produzent zu sehen. Nur wenn in die Produktionstechnik eingegriffen und diese nach radikal-sozialistischen Maßgaben verändert wird, so Benjamin, kann revolutionäres Dichten auch seinem Anspruch gerecht


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werden, die Massen gegen Kapital und Bürgertum zu mobilisieren (ebd.). Geoff Cox und Joasia Krysa (2005) wenden Benjamins Ansatz auf die digitale Kulturproduktion an, die ihrer Einschätzung zufolge nicht von der Technikproduktion getrennt werden kann. Denn durch die materielle Aufhebung der Trennung von Technik und Kultur entsteht nicht nur die Möglichkeit eines Gegendiskurses zum hegemonialen Diskurs, in weiterer Folge wird auch das ExpertInnenwissen als ein Wissen – für das entweder Kultur oder Technik zuständig ist – infrage gestellt. Im Bereich der Robotik hat zum Beispiel das Institute of Applied Autonomy unter dem Titel Contestional Robotics (http://vimeo.com/6070459[letzter Zugriff: 01.04.2014]) Projekte entwickelt, die das ExpertInnenwissen diskursiv und technologisch angreifen und genau dadurch politisch autonome Räume erschließen, etwa den legendären GraffitiWriter. Der slowenische Aktivist und Künstler Marko Peljahn erkannte diese Chancen bereits in den 1990er-Jahren und schuf mit seinem Projekt Makrolab (http://makrolab.ljudmila.org/[letzter Zugriff: 01.04.2014]) eine wegweisende Installation, welche eine Störung der sozialen Abschottung der Satelliten- und Raumtechnologie beabsichtigte. Ein ähnliches Anliegen wurde von den Autonomous Astronauts (http:// www.uncarved.org/AAA/further.html [letzter Zugriff: 01.04.2014]) vertreten, die außerdem den Einsatz von Tieren in der experimentellen Raumfahrt kritisierten. Die Vereinnahmung des Lebens durch die Ausübung von Biomacht bedient sich ebenfalls des ExpertInnenwissens, und zwar, indem sie hermetische Wissensumgebungen schafft, deren Codes für „Laien“ nicht entzifferbar sind. Im Sinne der Selbstbezeichnungen DIY-Biologie, Garage Biology, Biohacking oder Citizens Biology hat sich eine Bewegung formiert, welche den ExpertInnen-Laien-Dualismus im Bereich der Biotechnologie hinterfragt und begonnen hat, in den technischen Apparat der Biotechnologie einzudringen, um diese zu entzaubern. In Räumen des Alltagslebens wie Garagen, Küchen und Kellern sind Labors entstanden, wobei Ungenauigkeiten und Zufälligkeiten nicht länger als auszumerzende Fehler verurteilt, sondern als Ausdruck besseren, nämlich offenen Wissens propagiert wurden. Wie Beatriz da Costa bemerkt, distanzierten sich die DIY-BiologInnen auch vom „Top-Down“-Zugang der Wissenschaftskommunikation, die versucht, ExpertInnenwissen „für die Allgemeinheit verständlich“ zu vermitteln, und es so wieder­um als ExpertInnenwissen affirmiert (da Costa 2008: 376). Online-Ressourcen wie www. diybio.org beabsichtigen dagegen einen Grassroots-Zugang und fördern die Arbeit von „Laien“-Gruppen, die biotechnologisches Wissen als Allgemeingut betrachten: “Their aim is to provide non-expert citizen biologists with a collective environment and inexpensive open-source tools and protocols for biological research, which can be conducted in weird places such as garages or kitchens.” (Delfanti 2012: 163) Das Wissen über das Leben, welches im Sinne der Biomacht hervorgebracht und kontrolliert wird, kann, solange es sich als Wissen über einen Gegenstand begreift, nicht allein aus diesem natürlichen Leben selbst kommen. Vielmehr spaltet der Diskurs der Biomacht eine außernatürliche Sphäre vom Leben ab, die sich als fruchtbarer Boden für Science Fiction erwiesen hat. Diese unvermeidliche Nähe zum Außernatürlichen bezieht ihr Vokabular und ihre Ästhetik gerne aus Schöpfungsnarrativen und alten Kulten.

3. Kult der zweiten Genesis Die kultischen Untertöne der Biotechnologie ziehen sowohl den Zorn einer verunsicherten religiösen Rechten auf sich (etwa in Form des Wiederauflebens des Kreationismus oder auch der Dämonisierung von Stammzellenforschung etc.), als auch das Interesse von Medienaktivis-


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tInnen, welche die aktuelle Ausübung von Macht als Biomacht zu begreifen versuchen und ihre Interventionen dementsprechend ausrichten. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Cult of the New Eve des Critical Art Ensemble (Critical Art Ensemble 2000, http://critical-art.net/Original/cone/coneWeb/welcome/bg1.html [letzter Zugriff: 01.04.2014]). Hier werden die vielversprechende Rhetorik und die utopischen Erwartungen, die mit der Biotechnologie verbunden werden, mit einer zweiten Genesis verglichen, welche es ermöglichen soll, die Unzulänglichkeiten der ersten Schöpfung zu überwinden: Eine neue Eva ist im Entstehen, Mutter einer neuen Menschheit, neue Wunder ereignen sich: “The Second Genesis is a time of glory during which we shall be freed from the trials and tribulations suffered by humans in the First Biological Age. As we enter the Second Biological Age, we enter an age of tremendous liberation. It is a time when the impossible becomes possible, and the supernatural becomes natural. With the knowledge given to us by the New Eve, our bodies, our behavior, our psychology, and our lives are rapidly changing in miraculous and wonderful ways.” (Critical Art Ensemble 2000a)

Abb. 1: Cult of the New Eve, 2000 Bild: http://www.critical-art.net (letzter Zugriff: 01.04.2014).

Mit Flesh Machine hatte sich das Critical Art Ensemble schon 1997 für Biotechnologie als legitimen Gegenstand medienaktivistischer Interventionen interessiert (CAE 1997). Flesh Machine hatte die Vereinnahmung der menschlichen Reproduktion durch die Biomacht zum Gegenstand. Auch in diesem Fall ging es um die zweite Auflage einer alten Technologie, nämlich der Eugenik. Flesh Machine bildete den Ausgangspunkt einer Serie von biotechnologischen Projekten (siehe http://critical-art.net/Original/ [letzter Zugriff: 01.04.2014]), die neben dem menschlichen Körper auch gentechnisch verändertes Saatgut und biologische Waffen zum Gegenstand haben. Der Sammelbegriff, den das CAE für all diese Projekte verwendet, ist Contestational Biology, womit, im Unterschied zur DIY-Biologie, eine stärkere politische Akzentuierung erkenn-


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bar wird, nämlich eine direkte Subversion der Biomacht durch Störung und Umdeutung ihrer Technologien. Die Durchdringung des menschlichen Reproduktionsorganismus durch die Biomacht, insbesondere des weiblichen Körpers, steht im Mittelpunkt von Arbeiten von subRosa, einer Cyber Feminist Cell of Cultural Producers Working with Wetware (subRosa 2008). subRosa nimmt den Faden einer feministischen Technikkritik auf, die sich Mitte der 1990er-Jahre als Cyborg-Diskurs zu entfalten begann und vor allem auf Arbeiten Donna Haraways (1991) und ihres Schülers Chris Hables Grays (1995) zurückgeht. Deren Kritik richtete sich gegen die männliche und militärische Ausrichtung von Cyborg-Technologien, mittels derer der Körper, die Sinne und die Psyche an vornehmlich militärische Erfordernisse angepasst und entsprechend aufgerüstet und umgebaut werden sollten. subRosa wiederum hebt hervor, dass sich dieses biotechnologische Bestreben mit dem weiblichen Körper deshalb schwertut, weil dieser – aus männlich-militärischer Sicht – ein Produkt jener „Zufallsereignisse“ (Foucault 2010: 73) sei, auf welche die Biomacht zielt: “Historically, women’s bodies have been notoriously resistant to machinic adaptation or medical regulation. The unpredictable ebb and flow of menstrual cycles, hormones, moods, libido, weight loss or gain, metabolism, ovulation, pregnancy, gestation period, fertility, and natural birth rhythms, have severely tested scientific control and management methods.” (subRosa 1998)

Abb. 2: SmartMom Bild: http://smartmom.cyberfeminism.net/index.html (letzter Zugriff: 01.04.2014).

In SmartMom (1998) stellte subRosa eine Serie neuer Technologien vor, welche die technische Erfassung von Schwangerschaft und Geburt, ihre Überwachung und Regulierung ironisch überaffirmiert: Das SmartMom Sensate Pregnancy Dress etwa ist ein den militärischen smart tex-


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tiles nachempfundenes Kleidungsstück, das die körperlichen Funktionen der Schwangeren ständig zu überwachen – und „unverantwortliches Verhalten“ sofort zu bestrafen – verspricht: “In extreme cases, the system can even function in a disciplinary way through a system of built in shocks, or other physical punishments or restraints which are activated by the mother’s irresponsible or criminal behaviour such as drinking alcohol, eating junk foods, smoking, or taking recreational drugs.” (subRosa 1998)

4. Biopolitische Arbeitskämpfe Die Aktionen von subRosa gehören, wie auch jene des Critical Art Ensemble, zu jener Gruppe, die den ökonomischen Aspekt der Biomacht als radikale Kritik am „Pankapitalismus“ (CAE) formulieren. Hatte Foucault die Geburt der Biopolitik schon im Kontext der „liberalen Regierungskunst“ (Foucault 2010: 27ff.) verortet, so werden medienaktivistische Widersprüche und Interventionen gegen die Ausübung von Biomacht häufig mit einer Ablehnung eines neuen biopolitischen Kapitalismus verbunden, in dem das „Leben-Machen“ als Schaffung von biologischem Mehrwert praktiziert wird. Es ist nämlich im Sinne der Biomacht, auf die Steigerungsfähigkeit des Lebens zu zielen, anstatt dieses bloß zu „verschleißen oder zu verbrauchen“ (Gehring 2006: 10). Als Quelle ökonomischer Wertschöpfung wird das Leben also zum Gegenstand der politischen Ökonomie wie auch eines neuen Arbeitskampfes. Dies zeigt sich zum einen im zunehmenden Warencharakter des Lebendigen, etwa in Form von geistigen Eigentums­ titeln über Pflanzen und Tiere (Hardt und Negri 2004: 202ff.), zum anderen in Prozessen der Subjektivierung und der Kommunikation, welche das Leben als ökonomisch verwertbar konstituieren (Lazzarato 1998a). Für Maurizio Lazzarato ist biopolitische Arbeit daher gleichbedeutend mit immaterieller und postfordistischer Arbeit, einem dezentralisierten Arbeitsmodell, das eine fabbrica diffusa, eine verteilte Fabrik, entstehen lässt, die sich nahtlos in den Pankapitalismus einfügt: „Der Prozeß der gesellschaftlichen Kommunikation ist mitsamt seinem Hauptinhalt, der Produktion von Subjektivität, unmittelbar produktiv geworden: Hier wird gewissermaßen die Produktion ‚produziert‘ … Der Produktionsprozeß der Kommunikation hat die Tendenz, unmittelbar zum Verwertungsprozess zu werden.“ (Lazzarato 1998b: 58f.) Franco „Bifo“ Berardi wiederum, der in den 1970er-Jahren Aktivist des legendären Radio Alice in Bologna (Capelli 1977) war, formuliert seine Kritik am biopolitischen Kapitalismus anhand der „Seele“, welche für ihn keine spirituelle Bedeutung hat, sondern im Anschluss an Spinoza ein Sammelbegriff all dessen ist, „was der Körper tun kann“ (Berardi 2009: 21). Berardis Zugang zu Lazzaratos „immaterieller Arbeit“ ist dezidiert materialistisch – das In-Dienst-Nehmen von Sprache, Affekten, Kreativität steht für ihn für die gegenwärtige Form der Entfremdung und für die Versklavung der Seele. So entsteht das Kognitariat als Nachfolger des industriellen Proletariats, eine Subjektivität der biopolitischen Arbeit. Das Kapital, so Berardi, kann Bruchstücke menschlicher Lebenszeit kaufen und nach Belieben durch digitale Netzwerke miteinander kombinieren (Berardi 2009: 191ff.). Die arbeitenden Seelen sind daher als Arbeitskräfte prekär, das Kognitariat ist ein Prekariat.


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Abb. 3: „Monopoly“ der prekär Arbeitenden Bild: http://mayday-wien.org/ (letzter Zugriff: 01.04.2014).

Da das Prekariat in keinerlei gesellschaftlicher Form repräsentiert ist (etwa durch Gewerkschaften oder Kammern), gingen aus dem Umfeld widerständiger biopolitischer Arbeit aktivistische Formen hervor, die auf die Sichtbarmachung der Arbeitenden abzielen. Ein Beispiel dafür ist Euromayday (http://www.euromayday.org/ [letzter Zugriff: 01.04.2014]), eine Bewegung, die Anfang der 2000er-Jahre in Mailand und Barcelona ihren Ausgang nahm und neben Online-Ressourcen, Devotionalien des San Precario und einem an prekäre Arbeitsbedingungen angepassten Monopoly-Spiel eine Vielfalt aktivistischer Medien hervorbrachte. Der biopolitische Kapitalismus birgt in letzter Konsequenz auch die Chance seiner Negation. Denn die Schwächung des Werks als Original durch die zunehmende Kopierbarkeit von Gütern stellt auch für Hardt und Negri einen der Eckpfeiler der kapitalistischen Wirtschaft, nämlich das Privateigentum, infrage. „Die Reproduzierbarkeit (der immateriellen Eigentumsformen), die ihnen ihren Wert verleiht, ist genau das, was gleichzeitig ihren privaten Charakter bedroht.“ (Hardt und Negri 2004: 203) Nicht zufällig sind im Internet, dem Rückgrat der fabbrica diffusa, im aktivistischen Kontext Formen der Kollaboration und des Teilens entstanden, die sich außerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik sehr erfolgreich entwickelt haben, oft genannte Beispiele dafür sind Freie Software und Wikipedia. Es sind darüber hinaus Kulturen des Teilens im Entstehen, die jenseits von Privateigentum und öffentlicher Wirtschaft rasch wachsen und sich ausdifferenzieren (Stalder und Sützl 2001; Sützl et al. 2012). Dabei wird im Kontext der Debatte über das geistige Eigentum um jene Grenze gestritten, die verteidigt werden müsste, um in der biopolitischen Produktion das Privateigentum überhaupt aufrechtzuerhalten. Der Begriff der Piraterie nimmt in diesem Zusammenhang eine Bedeutung an, von der gesagt werden kann, dass die herkömmliche rechtliche Bedeutung des Piraten als radikalem Außenseiter sowie als „Staatsfeind und Feind der ganzen Welt“ (Hofmann 2003: 335) vom Einzug von Piratenparteien in die politischen Institutionen überlagert wird. In einer entstehenden globalen Remix-Kultur (Stalder 2009) spielen Piraten die Doppelrolle von AußenseiterInnen und ProduzentInnen, welche durch die in der industriellen Gesellschaft existierenden Macht-


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technologien nicht erreicht werden können. Anti-Piraterie-Gesetze sind schwer von einer Drosselung der Produktivität insgesamt zu trennen. Insofern die Biomacht sich durch Subjektivierungsprozesse entfaltet, stellt sich im biopolitischen Medienaktivismus die Frage, wie vorherrschende Subjektivierungsprozesse gestört werden können. In der Verweigerung von Subjektivierung besteht daher eine weitere Form des medienaktivistischen Einspruchs gegen die Biomacht und der Störung ihrer Technologien. Die vielleicht radikalste Form dieses Einspruchs manifestiert sich im „virtuellen Suizid“ – dem gezielten und unerlaubten Löschen von User-Accounts auf Social-Media-Plattformen. Denn für gewöhnlich ist das Löschen dieser Accounts durch deren InhaberInnen nicht vorgesehen; wir erinnern uns an Foucaults Charakterisierung der Biomacht als „leben machen und sterben lassen“ sowie an seine Feststellung, dass die Biomacht den „Tod fallen lässt“ (Foucault 2010: 71; 72). Umgekehrt erfordert die „kritische Desubjektivation […] die Bereitschaft, nicht zu sein“ (Butler 2001: 122). Die Affirmation der eigenen Sterblichkeit als kompromisslose Weigerung, das eigene Leben als Ort der kapitalistischen Akkumulation zur Verfügung zu stellen, gehört damit zu den wirksamsten und vielleicht verstörendsten Formen des biopolitischen Medienaktivismus. Geoff Cox (2012: 106ff.) analysiert aus dieser Sicht eine Reihe suizidaler Online-Spiele, wie etwa 5 Minutes to Kill Yourself (http://games.adultswim.com/five-minutes-to-kill-yourself-adventure-online-game.html [letzter Zugriff: 01.04.2014]) oder Suicide Letter Wizard for Microsoft Word (http://www.neural.it/nnews/suicideletterwizardforworde.htm [letzter Zugriff: 01.04.2014]). Am Direktesten greifen aber wohl jene Tools die aktuelle sich globalisierende Biomacht an, die es ermöglichen, User-Accounts auf Social-Media-Plattformen mit nur wenigen Mausklicks zu löschen, wie etwa web 2.0 suicide machine und Seppukoo. Denn Social-Media-Plattformen haben sich als perfekte Instrumente der Subjektivierung im Sinne der vorherrschenden biopolitischen Produktion etabliert: Sprache, Kommunikation, Affekte gehören zu den Rohstoffen dieser Industrie, die von den NutzerInnen kostenlos bereitgestellt werden und aus denen Mehrwert generiert wird.

5. Migration und Schönheit Infolge der Regulierung der Bevölkerung durch den Einsatz von Biomacht entsteht das Problem der Abgrenzung von Menschen nach innen und nach außen, ein Problem, das sich in der öffentlichen Diskussion im Umfeld von Migrations-, Asyl- bzw. rassistischen Diskursen manifestiert. Es werden Grenzziehungen vorgenommen bzw. bestehende Grenzen technisch aufgerüstet, die einerseits das Territorium vor den von außen kommenden „Fremden“ bewahren und andererseits im Inneren eine Homogenität sichern sollen, nach der die Verwendung des Begriffs „Bevölkerung“ verlangt und die die Regierbarkeit eben dieser sichern soll (im Unterschied etwa zum spinozianischen Begriff der Multitude, vgl. Virno 2004: 21ff.). Biopolitischer Medienaktivismus interveniert an genau diesen Grenzen, um gegen die Dispositive der Biomacht Stellung zu beziehen: Als Erstes sind hier aktivistische lokative Medien zu nennen (Guertin 2012; Oberprantacher 2012), die es ermöglichen sollen, biopolitisch definierte Grenzen leichter zu überwinden. Das Transborder Immigrant Tool des Electronic Disturbance Theater zum Beispiel bietet neu angekommenen MigrantInnen ortsbasierte Informationen, die das Durchqueren der Wüste nördlich der US-mexikanischen Grenze erleichtern. Das Tool nutzt ein billiges Mobiltelefon als Plattform für GPS-Daten und bietet Informationen über Verkehrswege, Infrastruktur und die Position von staatlichen und privaten Grenzwächtern.


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Das schweizerisch-österreichische Duo uebermorgen.com (Hans Bernhard und Lizvlx) hat ein Asylabwehramt gegründet, das der einfältigen Ästhetik und Rhetorik einer fiktiven Ministerialbürokratie nachempfunden ist. Es gibt vor, „den Menschen zum Schutze“ zu sein, indem es „wichtige Einrichtungen und die Rechte der Bevölkerung schützt“, und zwar vor Asylsuchenden (http://www.asylabwehramt.at/Seiten/Links.html [letzter Zugriff: 01.04.2014]). Zu den zahlreichen Publikationen der aktivistischen Pseudobehörde, die mit medienaktivistischen Techniken der Maskierung und Spiegelung agiert (Sützl 2011), gehören u. a. Tips and tricks on how to enhance bureaucratic burdens in the asylum process in Austria and in the Schengen Area (2010) oder ein Plakat mit verschiedenen Nasenformen, welches die Präsenz von „rassentheoretischen“ Elementen in der Asylpolitik auf den Punkt bringt (vgl. Abbildung 4). Die Vermessung des Schädels zur „Altersfeststellung“ wurde noch bis Ende der 1990er-Jahre in österreichischen Asylverfahren praktiziert (http://no-racism.net/article/362/ [letzter Zugriff: 01.04.2014]). Asylpolitik als Politik der flexiblen Innen- und Außengrenzen ist von rassistischen Diskursen insofern nicht zu trennen, als die Bevölkerung als Gegenstand der Ausübung von Biomacht nur dann konsequent definiert werden kann, wenn es ein entsprechendes Außen gibt, d. h. zum einen Territorien, die nicht dem eigenen Territorium angehören, aber auch Körper, die sich möglicherweise im Territorium befinden, aber nicht der Bevölkerung angehören. Das Außen tritt hier in Form von Normierungen der Äußerlichkeit des Körpers, also der körperlichen Erscheinung auf. Die Definition solcher Normen war bekanntlich Gegenstand der „Rassentheorie“ des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Übergang von rassistischer Politik und von Körpervermessungen zur sogenannten Schönheitschirurgie, die ebenfalls ein nicht dazu gehöriges, zu entfernendes Äußeres definiert und zu entsorgen verspricht, verläuft entsprechend reibungslos. So ist im „Schönheitslexikon“ des deutschen Arztes Darius Alamouti unter dem Eintrag „Nase“ zu lesen: „Ganz speziell die Nase ist ein Blickfang im Gesicht und ist dementsprechend Charakter-, Rassenmerkmal und Schönheitsideal in einem. Sie kann einer Person den Eindruck von edel (spitz), dumm („Kartoffelnase“) oder böse („Boxernase“) geben.“ (http://www.lexikon-derschoenheit.de/lexikon/N/nase/, Hervorhebung W.S. [letzter Zugriff: 01.04.2014]).

Abb. 4: Nasenplakat des Asylabwehramts Bild: uebermorgen.com


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6. Aktivistische Tauben und Tulpen Wenn es zutrifft, dass sich die Biomacht für Foucault auf das „Leben im Allgemeinen“ bezieht, dann bedeutet das auch das Aufweichen der Grenzziehungen zwischen den biologischen Arten durch die Technologien dieser Lebens-Macht. Im biopolitischen Medienaktivismus sind in diesem Sinne Formen entstanden, bei denen auch Tiere und Pflanzen in die vorherrschende Biomacht intervenieren, wobei die ihnen eigene „Zufälligkeit“ des Lebendigen besondere taktische Vorteile bietet. PigeonBlog (http://www.pigeonblog.mapyourcity.net/index.php [letzter Zugriff: 01.04.2014]), ein Projekt von Beatriz da Costa, Cina Hazegh und Kevin Ponto, war eine „zwischenartliche Koproduktion“ zwischen Menschen und Brieftauben, “[…] a collaborative endeavor between homing pigeons, artists, engineers, and pigeon fanciers engaged in a grass-roots scientific data-gathering initiative designed to collect and distribute information about air quality conditions to the general public.” (da Costa 2008: 377) Das Sammeln und Publizieren von Luftqualitätsdaten durch Brieftauben mag zunächst politisch harmlos wirken; das Durchbrechen von Artengrenzen, die Einbeziehung von nicht-menschlichen Arten als politische Subjektivitäten hat jedoch unter der Biomacht eine besondere politische Brisanz. Diese zeigte sich etwa im österreichischen „Tierschützerprozess“, der deutlich machte, wie empfindlich die Biomacht auf aktivistische Infragestellungen ihres Anspruchs, das Leben als solches zu regieren, reagiert (Mackinger/Pack 2011). Diese Empfindlichkeit wurde auch im Zuge der Verhaftung von Steve Kurtz deutlich, einem Mitglied des Critical Art Ensembles, der 2004 die US-Bundespolizei und Anti-Terror-Einsatzkräfte auf den Plan rief, als in seiner Wohnung Laborinstrumente und Bakterienkulturen gefunden wurden (http://www.caedefensefund.org/ [letzter Zugriff: 01.04.2014]). Das Critical Art Ensemble hatte die Biomacht als Ort kritischer Medieninterventionen schon früh erkannt und die Zusammenarbeit mit Mikroben und Insekten in Biotech-Projekten wie Cult of the New Eve (siehe oben) gesucht, aber auch das Potenzial von Kleinlebewesen für Aktionen des biologischen zivilen Ungehorsams zu nutzen gewusst. In Molecular Invasion (CAE 2002) wird etwa die Zusammenarbeit mit mutierten Fliegen in der Sabotage von Biotech-Forschungseinrichtungen angeregt. Solche Fliegen, so das Argument des CAE, kosten wenig und sind leicht erhältlich und sie machen (wie die Roboter des IAA) physisches Eindringen in die angegriffene Einrichtung durch menschliche Akteure unnötig. Sie sind in der Lage, Störaktionen auf psychischer Ebene (psychological disturbance) ohne Aufsicht und Anleitung durchzuführen. “Choose a set of mutated flies and begin a steady release of them into biotech facilities (it also works well in nuclear facilities): They can be set free in lobbies, parking garages, almost anywhere. One does not have to challenge a fortified site – the flies themselves will do the infiltration.” (CAE 2002: 102) Die Störung der angegriffenen Einrichtung durch die Fliegen setzt dabei auf typisches Sozialverhalten am Arbeitsplatz, etwa auf Trägheit, Ängstlichkeit und auf die Suche nach Ablenkung, um die Arbeitenden am Arbeiten zu hindern: “A paranoid work force is an inefficient work force.” (CAE 2002: 104) Auch das guerilla gardening, das mittlerweile mit dem Nimbus der Öko-Unschuld zu kämpfen hat, begann als eine Art biopolitischer Medienaktivismus, der die Artengrenzen überschritt und die Zufälligkeit des Lebendigen als nicht berechenbaren Unsicherheitsfaktor, als gewaltfreie „botanische Waffe“ in jener Form des „Krieges“ einsetzte, dem das Überraschende wesent-


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lich ist – im Guerilla-Krieg. Richard Reynolds (2008) definiert guerilla gardening als “illicit cultivation of someone else’s land”, als Kampf gegen Landknappheit um Freiheit des Ausdrucks und gemeinschaftlichen Zusammenhalt. In diesem Kampf werden bewusst Eigentumsrechte ebenso wie gesetzliche Bestimmungen verletzt, sodass man von einer Art biologischem zivilem Ungehorsam durch zwischenartliche Kooperationen von Menschen und Pflanzen sprechen könnte.

7. Schluss Für die Medienpädagogik lassen sich m. E. aus dieser unvollständigen Analyse von biopolitischem Medienaktivismus eine Reihe von praktischen Schlüssen ziehen. So müssen sich WissensproduzentInnen die Frage stellen, inwieweit sie „ExpertInnenwissen“ generieren oder aber die Trennung von ExpertInnen- und Laienwissen überwinden wollen. Insofern diese Wissensproduktion von Medientechnologien abhängt, stellt sich die Frage nach der Gestaltung dieser Technologien. Aus dem medienaktivistischen Umfeld kommen dazu Anstöße zur theoretischen und technischen Überwindung der Trennung zwischen AutorInnen- und Produzent­ Innenfunktion, aber auch zur Überwindung der institutionalisierten Trennung von Kultur und Technik überhaupt. Medienaktivistische Interventionen gegen die Biomacht können deren kultartigen diskursiven Formationen ebenso sichtbar machen wie ihre sexistischen und rassistischen Ausformungen. Die Auseinandersetzung mit Medienaktivismus im medienpädagogischen Kontext könnte so dazu beitragen, Medienpädagogik auch als Beitrag zur politischen Bildung zu begreifen. Dass die Frage der Medien immer auch eine Frage von Arbeit ist, und zwar ganz besonders unter biopolitischen Bedingungen, dürfte ebenfalls für die Medienpädagogik relevant sein und einen kritischeren Zugang zu Social Media und ihren Alternativen fördern. Die Frage der Legitimität von Grenzziehungen, am Äußeren des Territoriums sowie am Körper, ist ebenfalls eine Frage, die sich durch die Auseinandersetzung mit aktivistischen Medien erschließen lässt, ebenso wie die Grenzziehung zwischen den Arten. Eine Medienpädagogik, die diese Auseinandersetzung ernst nimmt, nähme freilich selbst aktivistische Züge an und stieße damit rasch an institutionelle, disziplinäre und gesellschaftliche Grenzen. Dies könnte auch als Anregung dazu gelesen werden, Medienpädagogik als medienkritische Pädagogik der Befreiung in der Nachfolge von Paolo Freire (2002) oder bel hooks (1994) zu denken.

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Petra Missomelius

Körperdiskurse: Mediale Fantasmen des Postbiologischen Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/424

Abstract Vorstellungen vom postbiologischen Körper reichen bis hin zu Fantasmen, die den Menschen durch technische Schöpfungen verbessern, upgraden oder gar ersetzen wollen … Petra Missomelius untersucht diese Biopolitik anhand von Maschinenmenschen, digitalen Gestalten und filmischen Visionen. Dabei betont sie, dass Körperbilder von Medien transportiert werden und gleichzeitig in kulturelle und gesellschaftliche Kontexte eingebunden sind. Körperkonzepte und Körperpraktiken werden so auf die Phänomene der Identität und der Subjektivierung bezogen und u. a. in ihren filmischen Repräsentationen untersucht. Der Artikel betont abschließend, dass für die Medienbildung die medial geprägte Wesensbestimmung des Menschen ein zentrales Thema darstellt. Body discourses: Media fantasies of the postbiological. Visions of the postbiological body reach all the way to fantasies aiming to improve, upgrade or even replace human beings by technological creations … Petra Missomelius examines these biopolitics by studying machine men, digital figures and film versions. In doing so, she emphasizes that body images are transported by the media, but are at the same time integrated into cultural and societal contexts. Body concepts and body practices are thus related to phenomena of identity and subjectivization and examined, amongst others, in their representations in film. In conclusion, the essay stresses the central role of a determination of human nature shaped by the media.

1. Einleitung Dieser Essay1 betrachtet Technik-Körper-Konfigurationen im Spannungsfeld alter und neuer Fantasmen von der Überwindung des Biologischen. Vor und nach der Jahrtausendwende ist die Neuordnung der Verhältnisse zwischen Technik und Körper als komplexe Thematik in zahlreichen Ausstellungen, Tagungen und Publikationen manifest.2 Dies wirft die Frage auf, ob aktuell kursierende Körperkonzepte eindeutig einer historischen

1

Überarbeitete und aktualisierte Fassung des Aufsatzes „Mediale Fiktionen des postbiologischen Körpers“ (2009). 2 Einige Beispiele: Ausstellungen wie Zukunft des Körpers und die Filmreihe Leben erfinden im Frankfurter Filmmuseum, Gunter von Hagens Körperwelten (zuletzt Körperwelten. Eine Herzenssache, 2012) und die Ausstellung Echte Körper in Kassel 2011, die interdisziplinäre Tagung Der perfekte Körper in Salzburg 2010 sowie die Publikationsreihe KörperKulturen im Transcript Verlag.


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Entwicklung zuzuordnen und ob Kontinuitäten in der medialen Verhandlung dieser Körperkonzepte festzustellen sind. Der enge Zusammenhang zwischen Körper- und Mediendiskursen wird deutlich, wenn man bedenkt, dass Erzählungen über artifizielle Körper auch immer Geschichten über die Entstehungsbedingungen von Körperkonzepten und der Macht durch sowie über Körper sind (Foucault 1978). Bereits in der Literatur sowie im Film, und nicht erst mit der elektronischen Telepräsenz und der virtuellen Realität, wurden Möglichkeiten außerkörperlicher Erfahrung ausgelotet. Medientechnologien wiederum definieren sich stark über die Wechselwirkungen mit dem menschlichen Körper und hierdurch mit den Körperkonzepten, die in diesen zum Ausdruck kommen. Der Körper und seine Verortung im medialen Dispositiv spielt eine zentrale Rolle in der Konzeption visueller Apparate (Hick 1998). Auf inhaltlicher Ebene transportieren Medien Körperbilder und sind damit eingebunden in kulturelle und gesellschaftliche Kontexte. Einerseits etablieren sie Normen, während sie andererseits Körper ausstellen, die außerhalb dieser liegen, und exponieren deren Monstrosität (vgl. Ochsner 2008; Schumacher 2008). Der Mensch als Homo Inermis, als Mängelwesen, ist eine Mitte des vergangenen Jahrhunderts postulierte Diagnose des Anthropologen Arnold Gehlen (Gehlen 1961). Anknüpfend an die Formulierung des Mängelwesens Johann Gottfried Herders bildet dies bei Gehlen die (genetische) Grundlage für die Bedürftigkeit des Menschen nach Institutionen, die eine stabilisierende Funktion übernimmt sowie die Rechtfertigung dafür ist, dass er zur Naturbeherrschung gezwungen sei. Die Reizüberflutung, welcher der Mensch im Gegensatz zum Tier nicht gewachsen sei, habe zur Überlastung geführt. Daraufhin habe der Mensch als Prometheus eine Art „zweite Natur“ eine Kultur mit stabilisierenden Institutionen, Normen und Werten entworfen. Diese bereits in den 1960er-Jahren umstrittene Position scheint erneut an Aktualität zu gewinnen, beobachtet man die derzeitige von den Neurowissenschaften ausgelöste Diskussion um die „Programmiertheit“ des Menschen (vgl. hierzu auch Missomelius 2011) und den prekären Status des biologischen Körpers. Der Diskurs um Maschinenmenschen entbrennt, so Randi Gunzenhäuser (2006: 10), sofern kein gesellschaftlicher Konsens über die Norm des Menschlichen besteht. In solchen Zeiten erweisen sich Körper und deren Wahrnehmungen als trügerisch. Eine Unterscheidung zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem wird problematisch. Angesichts der oft betonten Dichotomie Natur versus Technik ist zu beachten, dass die Natürlichkeit der Natur hingegen selbst schon als ein nachträglich aus der Kultur heraus entstandener Entwurf des Menschen zu verstehen ist (vgl. Haraway 1995).

2. Manipulationen am Menschlichen (Körper und Geist) Wenden wir uns zunächst dem Verhältnis von Körperkonzepten und Körperpraktiken im Feld der Subjektivierung und Identität zu. Dem Individuum scheint sich ein großer Gestaltungsspielraum hinsichtlich seines eigenen Körpers zu offenbaren. Deshalb müsste es heute nicht „Kleider machen Leute“ heißen, sondern „Körper machen Leute“. In der Selbstgestaltung kommen sowohl die eigene Verantwortlichkeit sowie die Machbarkeit gegenüber dem eigenen Körper zum Tragen. Der Mensch arbeitet (ob am Maschinenmenschen oder an seiner eigenen Biomasse) beständig an der Perfektionierung und Überschreitung der Natur. Eine Form der individuellen Körpergestaltung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Schmücken des Körpers mit anorganischen Materialien wie Tattoos, Piercings, Implanta-


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ten3 und Brandings4. Das neue Interesse an diesen zum Teil auf alten Traditionen aufbauenden Techniken der Körperverzierung ist eingebunden in eine Form der Selbstdarstellung. Sie haben zumeist dekorative Funktion und werden zur Steigerung der Attraktivität eingesetzt. Schmerzhaft und langfristig sind darüber hinaus die jüngst populär gewordenen operativen Eingriffe der Schönheitschirurgie und der plastischen Chirurgie in die Unversehrtheit des biologischen Körpers. Die Arbeit am Selbst wird besonders in zwei Doku-Fernsehserien zum „Körper-Upgrading“ medial inszeniert und hat zu einigen kontroversen Diskussionen geführt (Villa 2008). Es handelt sich um die Formate The Swan – Endlich Schön (Pro 7, 2004) sowie Spieglein, Spieglein … (VOX, 2008). Diese medialen Events rund um zu optimierende Biomasse sind auffallend geprägt von medialen Vorbildern, wobei die TeilnehmerInnen dieser Shows implizit soziale Zugehörigkeit und Anerkennung anstreben. Schrittweise werden sie im Verlauf der Sendungen auf ihren Körper reduziert, „der als Austragungsort der Ablösung vom alten und der Instituierung des neuen Selbst inszeniert wird“ (Strick 2008: 205). Dieser Körper erscheint als Ansammlung von zu korrigierenden Fehlern und Baustellen. Der Kritik an der Selbstgestaltung des Menschen tritt der Publizist Jens Heisterkamp entgegen. Die Kenntnis des genetischen Codes, der biologischen Gesetze, die jedes Detail der menschlichen Erscheinungsform festlegen, eröffne dem Menschen neue Dimensionen zur „Selbstbestimmung“, welche das Recht beinhalte, „Zufall durch Selbstschöpfung abzulösen“ (Heisterkamp 1989: 265). Er geht so weit, eine bessere Zukunft für die Menschheit zu prognostizieren: „Mehr Wissen und mehr Gemeinsinn – die Gentechnik liefert die Mittel, das, was bisher nur Ideal war, wirklich Fleisch werden zu lassen und diese bessere Menschheit zu schaffen.“ (Heisterkamp 1989: 266). Als ein Gebot für den Menschen des 21. Jahrhunderts, seine Kreativität zur Optimierung der eigenen Gattung zu nutzen, bezeichnen Bioethiker diese Situation (Siep 2006: 22). Schließlich biete die persönliche Verfügung über den eigenen Körper zumindest theoretisch die Möglichkeit, sich von gesellschaftlichen Ordnungsdiskursen zu distanzieren, und offeriere somit auch die Möglichkeit zur Selbstermächtigung. In ihrer 1995 veröffentlichten Schrift Life on Screen: Identity in the Age of the Internet widmet sich Sherry Turkle den subjektverändernden Aspekten der Digitalisierung, z. B. in Bezug auf das mögliche Spiel mit Geschlechtsidentitäten. Mithilfe von Avataren, virtuellen Körpern in (online-)Rollenspielen, agieren die SpielerInnen in der Spielwelt. Diese teilweise frei gestaltbaren digitalen Stellvertreter fungieren als virtuelle Agenten des individuellen Biokörpers. Ein Teil der Faszination, die von Computerspielen ausgeht, basiert auf der Möglichkeit, durch ein selbst erschaffenes imaginäres Ich unversehrt Zugang zu virtuellen Welten zu erlangen. Der Avatar als stellvertretender Körper vermittelt so zwischen imaginärer Computerwelt und dem Selbst der Spielerin/des Spielers: Sie/Er ist es, die/der im Cyberspace agiert (vgl. Funken 2000; Adamowsky 2000). Diese Computerspiele führen verschiedene Medienentwicklungen zusammen: einerseits Texte der fantastischen Literatur, andererseits Elemente des Comic sowie Spielkonzepte. Als grundlegendes Kriterium der Nutzung digitaler Medienangebote im Vergleich zu traditionellen Formen wird die Interaktivität der NutzerInnen mit dem Medieninhalt angeführt.

3 Unter die Haut implantierter Schmuck oder etwa das Einsetzen von „Vampirzähnen“. 4 Das Einbringen von Ziernarben (Muster, Schriftzüge) in die Haut.


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Diese Vorstellung von Interaktivität unter Zuhilfenahme von Bruno Latours Interobjektivitätsbegriff (2001) kritisch zu betrachten, scheint mir ein lohnenswertes Unterfangen. Latour verleiht den Techniken in seiner Interobjektivitätstheorie den Status von Aktanten.5 Nach Latour rahmt, strukturiert und stabilisiert Technik. Mit der Interaktivität rückt der Aspekt mehrerer aktiver technischer und nicht-technischer Instanzen in den Mittelpunkt. Menschen gehen stärkere Verbindungen mit menschlich handelnden und flexiblen Technologieeinheiten ein. Die elaborierte Gestaltung der Schnittstellen, welche sich darum bemüht, mehrere Sinneskanäle anzusprechen, bringt zudem ein steigendes „Involvement“ mit sich. Das Handlungsnetz zwischen Menschen, Objekten und Techniken wird enger und verflochtener, während Aktivität und Interaktivität nicht mehr isoliert zuzuordnen sind. In der Vermischung der Aktivitäten ist nicht mehr unbedingt eindeutig vom Handeln des Menschen und dem Funktionieren der Technik zu sprechen. Es kann von einem „verteilten Handeln“ im Sinne des Soziologen Werner Rammert gesprochen werden, eine verteilte „Handlungsträgerschaft“, indem Technologien durch ein „Mit-Handeln“ und menschliche Akteure durch ein „Mit-Funktionieren“ gekennzeichnet sind (2003). Was bedeutet dies für den Menschen? Man kann dies durchaus im Sinne Kittlers als Anpassung des Menschen an die Technologie begreifen: der Mensch, der selbst zur informationsverarbeitenden Maschine wird. Dies führt beispielsweise zu Bildungsstandards, die kommunizieren, in welchem Zeitraum welche Kompetenzen angeeignet sein müssen. Diese wiederum legen die permanente (Eigen-)Kontrolle nahe und führen nicht selten zur Einschätzung als defizitär im Gestus des lebenslangen Lernens. Die Angleichung des Menschlichen an das Technologische führt zur Betrachtung des Menschen als „Leistungsmaschine“ und bringt Entwicklungen wie die (Selbst-)Optimierung von Körper und Geist bis hin zum Hirn-Doping und zum Neuro-Enhancement mit sich.

3. Maschinenmenschen und digitale Gestalten Motivgeschichtlich reichen verschiedene Traditionen des künstlichen Menschen zurück bis in die Antike (vgl. Kreimeier 2000, Kuni 2005, Orland 2005). Der „künstliche Mensch“ be­ gegnet uns sowohl in historischen wie in zeitgenössischen literarischen Texten, über visuelle Darstellungen bis hin zur populären Science Fiction (Gendolla 1992). Gendolla macht deutlich, dass bereits bei den mechanischen Automaten des 18. Jahrhunderts die Maschine als Modell gesellschaftlichen Funktionierens fungiert. Die Verbindung von Mensch und avancierter Maschine resultierte in verschiedenen Ausprägungen: vom Automaten über den Roboter bis hin zum Cyborg (Brooks 2002). Der Robotik-Forscher Hans Moravec imaginiert eine elaborierte Version der universellen Roboter der vierten Generation. Ihnen werde es gelingen, den Menschen zu übertreffen: Sie werden über dessen Kompetenzen verfügen und ihre eigenen Nachkommen entwerfen. Der erdgebundenen Menschheit, so Moravecs Überlegungen, solle es dann nur sehr eingeschränkt möglich sein, sich selbst dem Roboter anzugleichen. Wünsche der Mensch dies doch, so müsse er die Rechte, als menschliches Wesen zu leben, abgeben. Hans Moravec propagiert mit seinen Mind Children (Moravec 2001) den Upload des individuellen menschlichen Gehirns auf eine 5 Der Begriff Aktant, der aus der Semiotik stammt, erlaubt es, auch nicht-menschliche Beteiligte an Interaktions- und Austauschprozessen zu betrachten.


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andere Hardware, wodurch es möglich sein werde, seinen „Heimatkörper“ zu verlassen. Moravec lehnt eine biologische Optimierung des Menschen ab, da dieser noch immer auf Proteine als Grundbausteine angewiesen sei, diese jedoch in nichtirdischen Umwelten ungeeignete Materialien darstellten, da sie zu empfindlich gegenüber Umwelteinflüssen sind. Er prophezeit intelligente Computersysteme, die sich immer stärker der Kontrolle des biologischen Menschen entziehen und neben der realen Welt auch den Cyberspace und den Weltraum besiedeln werden. Der Mensch, welcher sich einer neurotechnologischen Aufrüstung als Cyborg sperrt, werde als aussterbende Spezies zurückbleiben. Neben der genetischen Reproduktion des Menschen spricht man zunehmend von der Verbreitung von Memen. Darunter versteht man menschliche Ideen, Gedanken und Wörter. Hans Moravec formuliert dies so: „Unsere Kultur wird vornehmlich noch von menschlichen Geschöpfen getragen, aber mit jedem ablaufenden Jahr gewinnen Maschinen, die ein Hauptprodukt unserer Kultur sind, eine größere Bedeutung für ihre Bewahrung und Erweiterung.“ (Moravec 1996: 29) Techno-Meme, so heißt es, verbreiteten sich aktuell durch Kopieren – dies sei als erste Stufe des Replikationsvorganges zu verstehen. Derzeit sei eine gewisse Variation im Kopiervorgang zu erwarten: ein Selektionsprozess im Vorgang der Selbstreplikation dieser technischen Meme, der Teme. Die Evolutionstheoretikerin Susan Blackmore schätzt diese Entwicklung skeptisch ein. Die Menschheit wisse nicht, welche Evolution sie mithilfe von Computern und Internet angestoßen habe (Blackmore 2009). Der gute alte lebende Meme-Mensch werde obsolet, sein Überleben sei für die weitere Evolution nicht von Belang. Um seine Wettbewerbsfähigkeit, d. h. sein Denkvermögen und seine Leistungsfähigkeit, zu steigern, greife der altmodische Biomensch auf verschiedene Wirkstoffe zurück. Auch vor der Nutzung elektronischer Implantate schrecke man nicht zurück, um die Kontrolle über die Teme zu behalten. Noch brauchen diese den Menschen, bevor sie in der Lage sind, sich selbst zu reproduzieren. Dies wäre der Augenblick, in dem der „natürliche“ Mensch entbehrlich würde (vgl. auch Fröhlich 1997).

4. Filmische Visionen Eine deutliche Analogisierung von Biologischem und Technischem setzt mit der Verbreitung der Computertechnologie ein: Der digitale Rechner wird mit der Metapher eines zentralen Nervensystems beschrieben, im Internet ein globales Gehirn visioniert, das aus der engen Verknüpfung vieler Menschen durch Computernetze entsteht (z. B. Rosnay 1997). Hieraus folgt, dass der Mensch, wenn er in seiner Funktionsweise durchaus einer Maschine ähnelt, sogar durch eine bessere ersetzt werden könnte. Diese Annäherungen von Technik und Körper schließen an die Überlegungen des kanadischen Kommunikationswissenschaftlers Marshall McLuhan an, der Medien als Erweiterungen des menschlichen Körpers begriff (McLuhan 1964). Dessen Begeisterung für diese Entwicklung können die französischen Medientheoretiker Jean Baudrillard (1989) und Paul Virilio (1996) jedoch keineswegs teilen: Basierend auf einem natürlich gegebenen, intakten Körper führen sie einen Verlustdiskurs, in dem sie eine fortschreitende Verkrüppelung des menschlichen Körpers konstatieren. So thematisierte gerade die Gattung Science Fiction Gesellschaftsstrukturen weniger im Hinblick auf die Zukunft als vielmehr in Relation zur Gegenwart. Insofern ist Science Fiction in ihrer politischen Dimension als Widerstand gegenüber zeitgenössischen Konzepten von Biomacht und Technologien lesbar.


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Auch der Film Blade Runner (1982) versetzt die BetrachterInnen in das Los Angeles des Jahres 2019. Es handelt sich um die filmische Adaption der literarischen Vorlage Do Androids Dream of Electric Sheep? (1968) von Philip K. Dick. Als Sklaven der Menschen gehaltene Roboter lehnen sich auf und fordern das Recht zur Selbstbestimmung ein. Die sogenannten Blade Runner fungieren als Androidenkiller in einer Welt voller im Labor generierter menschlicher und tierischer Körper. Mithilfe von Wahrnehmungs-, Überwachungs-, Medien- und Gentechnologien werden die Körper der Erdbewohner rigoros diszipliniert. Erkennungskriterium der Replikanten ist eine körperliche Eigenschaft: Sie sind mit einem Verfallsdatum (Sterblichkeit) versehen. Der Markt für Arbeits- und Kampfmaschinen boomt, die Kolonialisierung des Weltalls wird mit ihrer Hilfe angestrebt. So selbstverständlich die Nutzung der Replikanten zu sein scheint, wirft sie doch erhebliche moralische und ethische Fragen auf. Der Film demonstriert, dass Konventionen der klassischen Moderne zur Regelung der Verbindung zwischen symbolischer Ordnung und sozialer Wirklichkeit nicht mehr greifen. Der erste Terminator-Film (1984) setzt auf „stahlharte Muskeln“ und zelebriert, ähnlich wie Robocop (1987), den Roboter mit einem Körper aus Stahl als Kampfmaschine. Diese Form der filmischen Inszenierung von männlicher Körperlichkeit wird als „hard body“ bezeichnet und spiegelt die gesellschaftliche Situation der USA unter Ronald Reagan wider. Der „hard body“ (Terminator I – III: Arnold Schwarzenegger) ist gekennzeichnet durch Willensstärke, Arbeitskraft und Motivation (vgl. Hißnauer/Klein 2002). Sein Gegenpart ist der „soft body“, der verweichlichte Bürokrat, der Versager und Außenseiter. In der Inszenierung des „hard body“ kommt auch eine Abneigung gegen die Bedrohung durch Technologie zum Ausdruck. Der Held muss sich zumeist gegen einen technologisch überlegenen Feind zur Wehr setzen. Doch bereits im zweiten Teil weicht der „hard body“ dem technologisch flexiblen Typus des Gestaltwandlers. Terminator II (1991) ist ein intelligenter Replikator, ein Cyborg. Er besteht aus einem quecksilberartigen Metall, mit dem er sein Aussehen morphen kann. Filmästhetisch ist er u. a. auf der akustischen Ebene durch ein synthetisches Geräusch, ein metallisches Surren, gekennzeichnet, das zum Leitmotiv wird. In Teil III Rebellion der Maschinen (2004) ist der klassische Superheld machtlos: Der Tag des Jüngsten Gerichts lässt sich nicht mehr aufhalten. Der Protagonist des Terminator Salvation (2009) verschreibt seinen Körper einem Cybergenetik-Projekt und wird zum genetisch designten Infiltrations-Cyborg, einem Mensch-Maschine-Verschnitt, der einen Terminator-Körper mit menschlicher Haut, Hirn und Herz verbindet. Schließlich spendet er am Ende des Films heldenhaft sein menschliches Herz zur Rettung eines anderen. Zahlreiche Filme thematisieren Probleme von Differenzierung, wie in Gattaca (1997), wo zwischen „Valids“, nach Maß angefertigten Lebewesen, und „Invalids“, die auf altmodisch natürliche Weise gezeugt wurden, unterschieden wird, oder The Matrix Trilogy (1999 bis 2003), wo Alltagswirklichkeit nur noch simuliert ist, was somit eine filmische Umsetzung von Jean Baudrillards Simulationsgesellschaft darstellt. „Natürliche“ und programmierte Wirklichkeit ist in eXistenZ (1999) nicht mehr unterscheidbar: Die digitale Welt des Computerspiels eXistenZ scheint fleischgewordene Wirklichkeit, die eine vollständige Immersion in den Datenraum erlaubt, sodass die verkabelten Protagonisten organische Bestandteile der Spielhandlung werden. In A. I. – Künstliche Intelligenz (2001) sind die schlauen Androiden kaum noch von den Menschen zu unterscheiden und in Surrogates – Mein zweites Ich (2007) leben die biologischen Menschen im Jahr 2054 als Operator isoliert in ihren Wohnungen und dösen im Pyjama vor sich hin, während humanoide Roboter, künstliche Nachbildungen der Menschen, ihre Aufgaben in der Welt ferngesteuert wahrnehmen.


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5. Fazit Der Mensch scheint in Zeiten fortwährender Entschlüsselung des menschlichen genetischen Codes in den Diskussionen um Experimente mit embryonalen Stammzellen und der Möglichkeit des Klonens sowie in den Erkenntnissen der Neurowissenschaften eine Kluft zu empfinden zwischen seinen biologischen Anlagen und den Schöpfungen seines Geistes. Der Gleichklang zwischen Körper und Geist bricht zusammen und der Mensch erscheint als Zwitterwesen, teils biologisch, teils kulturell. Die zunehmend blockierenden und als lästig empfundenen Beschränkungen der Biologie sollen anhand technischer Entwicklungen überwunden werden, um sich dieser Bindung zu entledigen. Der Körper in den Visionen der Überwindung der Biologie wird über das Phänomen der Grenzziehung zwischen dem Ich und anderen verhandelt, welches sich über die Körpergrenzen definiert. Diese sich entwickelnde biotechnologische Macht, die als Selbstentfaltung erscheint, vereint Körper und Technologie. Wie Randi Gunzenhäuser darlegt, ermöglicht die Durchlässigkeit der Körpergrenzen auch eine zunehmende Einflussnahme durch mediale Konfigurationen (Gunzenhäuser 2006). Wie aus den vorausgegangenen Ausführungen deutlich wird, ist für die Medienbildung die medial geprägte Wesensbestimmung des Menschen zentrales Thema. Dieses erfordert eine geisteswissenschaftliche Perspektivierung der Forschungsdiskurse der Biotechnologie. Die Epistemologien biotechnologischer Wissensproduktionen (etwa durch Bildgebungsverfahren), die neue Möglichkeiten des Eingreifens in die Wirklichkeit eröffnen, sind hierbei deutlich als Produktivkräfte auszumachen, welche nicht zuletzt der Legitimation weiterer Vorgehensweisen dienen. In der Vermittlung medial unterfütterter Diskursivierungen von Körperkonzepten ist demnach die Sensibilisierung für die Tragweite von Mensch-Maschine-Schnittstellen sowie die Rolle technischer Codes von weitreichender Bedeutung.

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Martin Müller

Zur Tiefengrammatik des „Lebendigen“ Eine kritische Einführung zu Eugene Thackers Biomedien Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/431

Abstract Martin Müller untersucht eingehend die Rolle der technischen und medialen Dimensionen der Lebenswissenschaften und führt so anhand von Eugene Thackers Begriff der Biomedien vor Augen, dass auch Dinge und Materialitäten handlungstheoretisch gefasst werden können. Dabei werden Technologien wie etwa Online-Gendatenbanken, Gen-Synthesizer, DNA-Computer, molekulare Speicher und Proteinchips diskutiert. Biomedien erscheinen dabei als Medienkonstellationen, in denen sich das „Leben selbst“ auf andere, vielleicht neue Weise zu vermitteln und zu zeigen vermag. Biomedien, so hält der Artikel fest, stellen überaus wichtige Grenzgänger zwischen Lebens- und Informationswissenschaften dar. On a deep grammar of life. A short introduction to Eugene Thacker’s biomedia. Martin Müller examines the role of technical and media dimensions of life sciences and, using Eugene Thacker’s concept of biomedia, shows that objects and materialities, too, can be conceptualized with action theory approaches, discussing technologies like online gene databases, gene synthesizers, DNA computers, molecular storage and protein chips. Biomedia thus appear as media constellations in which “life itself ” is able to articulate and show itself in a different, possibly new way. Biomedia, the essay maintains, represent an immensely important crossover between life and information sciences. „Leben“ ist nichts historisch Übergreifendes mehr und auch keine lebensweltlich unverzichtbare oder biographische Kategorie, sondern eben jenes hochmoderne Konstrukt, das uns in Gestalt von Biowissenschaft, Biomedizin und Biodaten begegnet – und unter modernen biotechnischen Bedingungen tatsächlich über seine eigene Form der Wertschöpfung verfügt. Petra Gehring

1. Einleitung Die scheinbar rasanten Entwicklungen biotechnologischer Disziplinen generieren ein großes massenmediales Interesse. Jedoch erscheinen komplexe Themenfelder primär als Domäne der Bioethik, welche zumeist im Eilverfahren über Legitimation und Verbot biotechnologischer Prozeduren entscheiden muss. Eine kritische Diskussion über die techni-


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schen und medialen Dimensionen der Lebenswissenschaften gerät dabei zumeist ins Hintertreffen. Bei genauem Hinsehen gilt jedoch: Egal ob Molekularbiologie, Genomforschung oder die zurzeit kontrovers diskutierte Synthetische Biologie – die Lebenswissenschaften setzen für die Bearbeitung ihrer Forschungsgegenstände auf den massiven Einsatz von technischen Apparaturen und (Medien-)Technologien. Technologien wie etwa Online-Gendatenbanken, Gen-Synthesizer, DNA-Computer, molekulare Speicher und Proteinchips scheinen tradierte Ordnungen von Natur und Technik hinter sich zu lassen. Die Rationalität biologischer Disziplinen erschöpft sich nicht mehr in der Analyse des Funktionierens und der Organisation „natürlicher Prozesse“. Das Paradigma der gegenwärtigen Lebenswissenschaft zeichnet sich vielmehr durch Kulturtechniken des Re-Kombinierens und des Re-Designs aus, welche in Computeranwendungen stattfinden. „Das Erkenntnisinteresse konzentriert sich immer mehr auf das Engineering der Natur – und nicht auf ihre Repräsentation.“ (Weber 2011: 104) Ganz offenkundig haben Medientechnologien einen beträchtlichen Anteil an dieser Umschichtung – man denke nur an die alltagssprachliche Wendung vom computergestützten „Lesen und Schreiben des Lebens“ durch die Genomforschung oder die Kopplung von Informationstechnologien und Biologie, wie sie die Bioinformatik suggeriert. Die „Lebenswissenschaften, die aufgrund der rasanten Fortschritte der Genomforschung zunehmend zu Informationswissenschaften werden“ (Rajan 2009: 13), bilden somit eine Herausforderung für medien- und kulturwissenschaftliche Auseinandersetzungen und Interventionen. Bis auf wenige produktive Ausnahmen, beispielsweise ein Sammelband über Medienaktivismus und Biopolitik (siehe Sützl/Hug 2012), steht die deutschsprachige Diskussion noch am Anfang. Es erscheint deshalb sinnvoll, einen Blick auf den nordamerikanischen Diskurs zu riskieren. Für eine intensive Auseinandersetzung mit der medialen und philosophischen Dimension der Lebenswissenschaften steht das Werk von Eugene Thacker. Zentral erscheint darin der Begriff der Biomedien. Im Folgenden soll Thackers Konzept – unter der Zielsetzung, fünf Hauptcharakteristika des Biomedienbegriffs offenzulegen – diskutiert werden.

2. Charakteristika von Eugene Thackers Biomedienbegriff Was sind Biomedien? Diese Frage zieht sich durch das Werk des US-amerikanischen Philosophen und Medientheoretikers Eugene Thacker. Besonders hervorzuheben sind zwei Monographien: Biomedia aus dem Jahr 2004 und The Global Genome, erschienen 2005. Zum eigenen methodischen Vorgehen: Selbstverständlich ist es in diesem Artikel nicht möglich, den Begriff der Biomedien nach Thacker erschöpfend darzustellen oder eine Reihe analytischer Wiedersprüche herauszustreichen. Mein bescheidenes Ziel ist es vielmehr, eine Reihe von Charakteristika des Biomedienbegriffs zu listen. Charakterisieren heißt hierbei einen Gegenstand in Fällen zu kennzeichnen, in denen die Definition offen für Interventionen, Einwände und Modifikationen ist. Im Sinne eines Close-Readings wird Eugene Thacker fast durchgehend zu Wort kommen. Ich habe mich nicht gescheut, längere Passagen zu zitieren. Sehr gerne hätte ich den (im Folgenden angeführten) Biotechnologien und Disziplinen eine detailliertere Schilderung zukommen lassen, leider lässt das Format des Artikels dies aber nicht zu. Selbstredend ist im Folgenden von Thackers Verständnis der Biomedien die Rede. Biomedien sollen deshalb als Diskursfigur verstanden werden und nicht als Faktum. Um einige Argumente von Thacker zu verdeutlichen, habe ich noch Zitate von TheoretikerInnen wie Jutta We-


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ber oder Nikolas Rose eingeflochten, welche sich nicht im ursprünglichen Sinne auf Thackers Biomedien beziehen, aber thematisch passend erschienen. Der vorliegende Text unterscheidet vier Diskursebenen: Die erste ist die biowissenschaftliche Wissensproduktion selbst. Die zweite ist Thackers Begriff der Biomedien, welcher sich als ein konzeptioneller und kritischer Diskurs auf die Biowissenschaften bezieht. Diese bildet die zentrale Ebene meines Textes. Die dritte Ebene besteht aus den Kommentaren anderer Sekundärdiskurse zur Biowissenschaft, welche Thackers Argumente verdeutlichen sollen. Die vierte Ebene ist meine eigene, welche eigentlich erst im Fazit zum Vorschein kommt. Die folgenden Charakteristika werden durch kurze Überschriften eingeleitet. Es handelt sich dabei freilich um Thackers Thesen.

3. Biomedien operieren auf der Ebene von Codes Schon in der Genetik der 1950er-Jahre sei der klare Einschlag kybernetischer und informationstheoretischer Denkfiguren nicht zu übersehen (vgl. Fox Keller 2001). Die Molekularbiologie sowie die biotechnologischen Diskurse haben ihr Verständnis von Leben bis in die Alltagssprache hinein zu prägen vermocht – insofern das „Leben selbst“ als Information zu verstehen sei; man denke nur an Redewendungen von den DNA-Basenpaaren als (Quell-)Code oder an die Rede vom Genom als dem Buch des Lebens. “In fact, in its current state, we can describe biotech not as an exclusively ‘biological’ field, but as an intersection between bio-science and computer science, an intersection that is replicated specifically in the relationships between genetic ‘codes’ and computer ‘codes’.” (Thacker 2004: 2) Insofern bilde die angewandte Äquivalenz von DNA-Codes und Computercodes die Möglichkeitsbedingung, um von Biomedien überhaupt sprechen zu können, so Thacker. Oder in den Worten der Philosophin Petra Gehring: „Namentlich die neue Universalität des Genom-Paradigmas besteht genau darin, Stofflichkeit und Zeichencharakter, Substanz und ,Bedeutung‘ aneinander zu binden, so dass letztlich alles am Leib ineinander übersetzbar erscheint. Noch die individuelle Außenansicht – die Physiognomie – kann digitalisiert und mit der genetischen Tiefengrammatik verrechnet werden und wäre dann tatsächlich im Wortsinn biometrisch ,lesbar‘.“ (Gehring 2006: 32) Anders gewendet: In der Sicht- und Arbeitsweise der Molekularbiologie und der Genomforschung sei Leben im Format eines molekularen Codes nicht mehr zwangläufig an ihre substanzhaften, organischen TrägerInnen gebunden (Menschen, Tiere, Pflanzen etc.). Der DNACode sei ein ähnlicher, egal ob er sich in einer Zelle im Organismus oder als Sequenz auf einem Computerspeichermedium befindet. Thacker behauptet: “Because biomedia are predicated on the concept of a genetic code, a concept that stiches together bios and techné, there is no premordial, biological life that is subsequently technologized and rendered into genetic code. In molecular biology the notion of the genetic code implies both a material and an immaterial dimension: the DNA molecule is understood to exists as simultaneously a wet, organic, material compound and a dry, technical, immatrial quantity. In biomedia the genetic code is equally a living compound in the cell, a biological sample in a test tube, and a sequence of code in database.” (Thacker 2010: 123) In der Wendung “understood to exists as simultaneously” liegt der erste Schritt zum Verständnis von Biomedien. Zudem sei in dieser operationellen Äquivalenz die Möglichkeit zur Austauschbarkeit von biologischen und Computercodes gegeben: “[...] there exists some fundamental equivalency between genetic ‘codes’ and computer


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‘codes’ or between the biological and digital domains, such that they can be rendered interchangeable in terms of materials and functions.” (Thacker 2004: 5)

4. Austauschbarkeit und Arbeit mit Codes In der Wendung “rendered interchangeable” liegt das zweite Charakteristikum von Biomedien. Die Codes aus zwei vermeintlich ontologisch verschiedenen Bereichen, aus bios und techné, aus Natur und Computer, könnten zwischen beiden Bereichen hin und her gespielt werden. So würden sich erweiterte Möglichkeitsräume zur Arbeit mit „Materialien“ und „Funktionen“ ergeben; die Biologie öffne sich der Intervention durch Computermedien und vice versa. So könnten Arbeitsweisen, welche die Computer ermöglichen – also (Kultur-)Techniken des Rechnens, Speicherns, Prozessieren etc. –, auf die molekulare Ebene des Biologischen ausgeweitet werden. Thacker postuliert: “This enables a wide range of techniques to be performed on DNA as a genetic code: the code can be sequenced, copied or replicated, stored in a plasmid or a database, uploaded, downloaded, mathematically analyzed, visually modeled, and rewritten either in a computer (bioinformatics software) or in the wet lab (genetic engineering). Many of these operations are cornerstones of molecular biology research, as well as the development of drug and diagnostics in the biotech industry.” (Thacker 2010: 124) Was sich Thacker unter der Austauschbarkeit von Codes vorstellt, möchte ich an zwei entgegengesetzten Diskursen aus den biotechnischen Disziplinen skizzieren. Das sind die Bioinformatik und das Biocomputing. Ein zentrales Arbeitsfeld der Bioinformatik ist die automatische, standardisierte DNA-Sequenzanalyse. Ein Weg, um DNA- und Protein-Sequenzen zu studieren, ist das standardisierte Erkennen von Verwandtschaften („Homologien“) einzelner Sequenzen. Die Anwendungen finden nicht in vitro, sondern in silico statt. Es bedarf keines Labors im klassischen Sinne, sondern lediglich eines Computers, welcher über eine Reihe von speziellen Softwareprogrammen verfügt. Das Programm hat Zugriff auf eine große Datenmenge schon bekannter Sequenzen, welche in web-basierten Genbanken gespeichert sind. Zwischen der Eingabe der gesuchten Sequenz und dem Ergebnis liegen eine Reihe von Rechenschritten, welche hier nicht weiter besprochen werden können. Die Sequenzierung ist in der Praxis meist hoch automatisiert und standardisiert. Erkenntnisziel des Sequenzierungsvorganges ist es, ein 3-D-Modell der „errechneten“ Sequenz zu modellieren und die Daten mit Kommentar in die Datenbank hochzuladen. Die „gefundenen“ Sequenzen werden beispielsweise der Entwicklung neuer Medikamente zugrunde gelegt. In diesem Fall ist es üblich, Sequenzen patentieren zu lassen. (Thacker 2005: xvi; sowie Rajan 2011: 15). Das viel beachtete Humangenomprojekt, das von 1990 bis April 2003 das menschliche Genom offiziell entschlüsselt haben will, verdankt seine Arbeitserfolge größtenteils den Sequenzierungsmethoden der Bioinformatik. Bemerkenswert ist dabei, dass die Erkenntnisproduktion biologischer Gegenstände nicht im „wet-lab“ geleistet wird, sondern an Computern, im „dry-lab“, modelliert werden. Obwohl der Rechenprozess technologisch ist, ist der Output biologisch.


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Abb. 1: Sequenz vom menschlichen Genom, Open-Source Gendatenbank Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=bQyoQHeQWqc&list=PL76D7EE6A6A8AC1C3&feature=plcp (letzter Zugriff: 01.04.2014)

Eine entgegengesetzte (Medien-)Logik des Austauschs lässt sich beim Biocomputing erkennen, “where DNA molecules or the base pair complementarity of A-T and C-G are used to perform computation in a test tube, as the bio-logic is repurposed as a computer”. (Clough 2008: 9) In diesem Sinne wird der „Quellcode“ der Basenpaare, also A-T und C-G für Rechenzwecke benutzt. Es gibt eine Reihe von Beispielen und Technologien: DNA-Sequenzen werden auf die Oberfläche eines Computerchips (auch DNA- oder Proteinchips genannt) aufgetragen. Dabei werden die Sequenzen mit dem Chip zusammengeschaltet, um Rechenaufgaben zu übernehmen. Der Chip wird dann in ein Reagenzglas mit einer hohen Anzahl von DNA-Sequenzen getaucht. Der Chip zeichnet die Sequenzbildungen auf, welche sich dabei auf seiner Oberfläche konstellieren. Ein anschließender Scan der Oberfläche kartografiert die „Nachbarschaftsverhältnisse“ und lässt noch unbekannte Sequenzen sichtbar werden. Eine andere Forschungsrichtung des Biocomputing ist das biomolekulare Computing oder DNA-Computing. Dort versucht man, technische Hardware-Komponenten wie etwa der traditionelle Speicher durch einen molekularen Speicher zu ersetzen; “a ‘computer’ can, theoretically, be made of any material, as long as certain principles (e.g. a storage device, a read program, a write program) are fulfilled” (Thacker 2004: 4). Das Biocomputing beschäftigt sich also mit der Nutzbarmachung von Molekülen und Proteinen als Computertechnologie. Dieser Ansatz steht jedoch noch ganz am Anfang. Doch was haben diese Technologien im Hinblick auf die Biomediendiskussion gemeinsam? Thacker erklärt: “Even though the output of each technique is quite different, they both highlight the centrality of the biological, and its capacity to be instrumentalized into designed contexts. Whether it be the use of biological data in protein prediction (bioinformatics or computational biology), or the use of biological function for nonbiological purposes (biocomputing or biological computing), the emphasis is less on ‘technology’ as a tool, and more on the technical reconditioning of the ‘biological.’”(5) In diesem Zitat klingt ein weiteres Charakteristikum an. Biomedien erlauben Design-Anwendungen im Biologischen, so Thacker.


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5. Biomedien ermöglichen die Steigerung des Biologischen durch Re-Designs Biomedien eröffnen Möglichkeiten der Rekombinatorik, so Thacker. Das ist eine Denkfigur, die sich die Bioinformatik, das Genetic Engineering und seit Neuestem die Synthetische Biologie zunutze machen. Man könnte Thacker so verstehen: Die Genomforschung hat ein Wissen über den Aufbau und die Funktionsweisen von (molekularen) Lebensprozessen hergestellt. Obwohl dieses Wissen nicht komplett ist, lassen sich schon bekannte Sequenzen miteinander auf neue Weise konfigurieren. Biomedien ermöglichen also die Neukombination von Bekanntem. Damit gemeint sind qualitative Steigerungen biologischer Körper durch quantitative informatische Anwendungen. Durch die Austauschbarkeit von Codes und Materialien wird das Biologische offen für Design-Anwendungen. “In some instances, we can refer to this as a ‘lateral transcendence’, or the recontextualization of a ‘body more than a body’.” (6) Oder wie die Mediensoziologin und Wissenschaftsforscherin Jutta Weber es formuliert: „Es geht weniger um die Erschaffung zweiter (oder dritter) Naturen als um die ‚Optimierung‘ der Natur, ihre Konvertierung und Perfektionierung mit technowissenschaftlichen Mitteln. In dieser neuen Technorationalität ist die Natur zum Werkzeugkasten geworden und die Welt zu einem Ort vielfältiger Kombinatorik und des Re-Designs, in der die Evolution durch Tinkering neue Wege der Entwicklung und Investition auslotet – mit Organismen als evolvierenden, parallel verteilten Netzwerken.“ (Weber 2011: 104) Auch auf dieser Ebene wird nicht ganz klar, wie weit diese Öffnung für Design-Anwendungen reicht. Aber warum konzipiert Thacker Biomedien als Medien? Worin liegt das Medienspezifische? Sind die Biotechnologien nicht einfach nur Werkzeuge im klassischen Sinne? Sind sie nicht einfach techné, mit denen bios umgearbeitet wird?

6. Biomedien sind mehr als Werkzeuge Warum wendet sich Thacker gegen die Vorstellung, die Biotechnologien seien lediglich Werkzeuge, mit denen sich der Mensch als Verlängerung seines Willens das Biologische „zu-handen“ macht? Thacker erklärt: “It is this assumption, and the twofold logic that extends from it, that characterizes the concept of ‘biomedia’. Put briefly, ‘biomedia’ is an instance in which biological components and processes are technically recontextualized in ways that may be biological or nonbiological. Biomedia are novel configurations of biologies and technologies that take us beyond the familiar tropes of technology-as-tool or the human machine interface.” (Thacker 2004: 5) An anderer Stelle schreibt Thacker, Biomedien seien nicht einfach ein Zusammenschluss von Computertechnologien, welche die DNA bearbeiten oder die biologische Komponenten top-down manipulieren. In den Rhetoriken der technowissenschaftlichen Disziplinen vom Leben als Baukasten, von genetischer Ingenieurskunst und von der Entschlüsselung des Genoms schwinge zweifellos eine gewisse technikdeterministische Asymmetrie mit. Sicherlich arbeiteten auch viele Biotechnologien entlang dieser Logik. Biomedien unterschieden sich aber graduell von Werkzeugen, da das Leben in letzter Instanz nicht „zu fassen“ sei, so Thacker.


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7. Biomedien sind Rahmungen, in denen sich das Leben selbst neu vermitteln kann Man könne sich Biomedien eher als einen technischen Rahmen vorstellen, welcher eher ermöglicht als zwingt, “such that biological life is able to demonstrate or express itself in a paticular way. In a sense, biomedia do nothing more than to articulate contexts and conditions through which the genetic codes appears as such.” (Thacker 2010: 123) Oder wie es die Soziologin Patricia Clough ausdrückt: Ein Biomedium (nach Thacker) ist ein „technological framing that enables biology to perform in novel ways beyond itself, while remaining biological“. (Clough 2008: 9) An anderer Stelle postuliert Thacker: “[...] what we find with biomedia is a constant, consistent, and methodical inquiry into this technical-philosophical question of ‘what a body can do’. The apparent paradox of biomedia is that it proceeds via a dual investment in biological materiality, as well as the informatic capacity to enhance biological materiality. In some instances, we can refer to this as a ‘lateral transcendence’, or the recontextualization of a ‘body more than a body’.” (Thacker 2004: 6) Man könnte Thacker paraphrasieren: Biomedien sind Medienkonstellationen, in denen sich das „Leben selbst“ auf andere, vielleicht neue Weise zu vermitteln und zu zeigen vermag. Man könnte sogar sagen, dass Leben selbst handelt. Das Biologische im biotechnologischen Diskurs sei also auf technische Mittel – wie etwa Rechner, Speicher, Scanner etc. – angewiesen. Jedoch implizieren Biomedien immer auch Medienpraxen, so Thacker: “Biomedia can be ‘things’ such as DNA chips or genome databases, but they can also be ‘acts’ such as sequencing of a DNA sample.” Daraus leitet er ab: “[...] biomedia ask us to consider media things as inseparable from acts of mediation. Biomedia therefore require understanding biological ‘life itself ’ as both a medium and as a process of media.” (Thacker 2010: 123) Ein Punkt, den Thacker nicht müde wird zu betonen, ist die Frage nach der Materialität. Die bioinformatische Sichtweise lege vielleicht nahe, dass sich biologische Körper auflösen, gar immateriell werden. Thacker widerspricht: Kennzeichen und Surplus der Biomedien sei der Umstand, dass sich das Biologische auf „rekontextualisierter“ Ebene zeigen könne, ohne letzt­ lich weniger biologisch zu sein. Im Gegenteil: Die Performanz des Biologischen will Thacker als Performanz biologischer Körper verstanden wissen, welche in ihrem biologischen Status gesteigert werden: “[...] the investment in bioinformatics is not purely digital or computational, but a dual investment in the ways in which the informatic essence of DNA affords new techniques for optimizing DNA through novel software, which in turn makes possible the development of techniques for enhancing the biological body via new compounds (pharmacogenomics), new therapies (stem cell therapy), or new diagnostics (patient-specific disease profiling). Biomedia is only an interest in digitization inasmuch as the digital transforms what is understood as biological.” (Thacker 2004: 6) Eine Einschätzung, die auch Nikolas Rose teilt: “[...] the new molecular enhancement technologies do not attempt to hybridize the body with mechanical equipment but to transform it at the organic level, to reshape vitality from the inside: in the process the human becomes, not less biological, but all the more biological.” (Rose 2007: 20) Letztlich gibt Thacker zu Protokoll: “Biomedia, then, are media in the truest sense of the term, providing the conditions for the biological to exist as biological.” (Thacker 2010: 123)


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8. Rück- und Ausblick An dieser Stelle möchte ich die aufgezählten Charakteristika noch einmal kurz zusammenfassen. In Thackers Verständnis haben die Biomedien ihre Orte in den Lebens- und Informationswissenschaften; sie sind gleichsam Grenzgänger zwischen beiden Gebieten. Die Bedingung ihrer Möglichkeit ist eine molekulare Auffassung des Lebens als Information. Diese ermöglicht die Austauschbarkeit von DNA-Codes und Computercodes. So können auch Materialien und Anwendungen von einem Bereich in den anderen übertragen werden. Für das Verständnis von Leben als solchem hat das weitreichende Konsequenzen: Lebensprozesse können durch Biomedien rekontextualisiert, rekombiniert und redesigned werden. Jedoch sind Biomedien keine Werkzeuge im klassischen Sinne. Sie richten das „Biologische“ vielmehr in einem technologischen Rahmen ein, jedoch liegt es am „Biologischen“, ob es sich neu vermitteln will, ob eine Performanz eintritt oder nicht. Biomedien sind deshalb technische Konstellationen von Medientechnologien und biologischen Komponenten. Sie sind jedoch auch Medienpraxen, in denen das „Leben selbst“ zum Akteur wird, ohne seinen Status als biologisches Leben zu verlieren. Dieser Artikel begreift sich als Diskussionsgrundlage. Jedoch sollen an dieser Stelle noch einige theoretische Unschärfen des Biomedienkonzepts angesprochen werden. Meines Erachtens verbleibt Thackers Biomedienbegriff auf der Ebene von Postulaten. Thacker behauptet zwar, dass Biomedien vermitteln, dass sie prozessieren, dass sie einen Raum stiften, dass sie eine Mitte bilden, in denen sich das „Biologische“ neu vermittelt. Das Spezifische und das Singuläre der Biomedien wird zwar immer wieder angedeutet, Thacker gelingt es aber nicht, dieses In-Aussicht-Gestellte durch eine fundierte Analytik einzuholen. Das könnte mit einem zentralen Moment zusammenhängen: Leider arbeitet Thacker nicht genau heraus, wie genau die postulierte Äquivalenz von biologischem Code und Computercode verfasst sein könnte. Zudem bleibt unklar, wie weit die postulierte Austauschbarkeit der Codes geht. Dabei bleibt es fraglich, ob die Codes so einfach zwischen den Bereichen hin und her gespielt werden können, wie es Thacker suggeriert. Problematisch sind auch einige Setzungen: das „Biologische“ oder „life itself“ und seine Performance werden in den Originalschriften nicht definiert. Ungeklärt bleibt auch das Kräfteverhältnis von intentionalen Kontrollformen (der lebenswissenschaftlichen Prozeduren) und der Unverfügbarkeit des „Lebendigen“. Zuletzt lässt Thacker offen, warum er die „Neuvermittlung“ des „Biologischen“ immer als eine positive Steigerung – also als Optimierung – konzeptualisiert. Im Dunkeln bleiben hier letztlich der Wertekatalog und der Standpunkt von dem aus Thacker spricht. Man kann Thacker auch etwas wohlwollender lesen: Mit den Gedanken zur „Performanz des Biologischen“ werden (meines Erachtens) weitreichende epistemologische, ontologische und handlungstheoretische Problemstellungen angesprochen. Im Zuge der Science and Technology Studies sind Handlungstheorien entworfen worden, welche Handlungsinitiative bzw. Agency nicht nur auf den Bereich der Menschen begrenzen. Vielmehr seien auch Dinge in der Lage, Handlungen in heterogenen Netzwerken anzustoßen. Bruno Latour hat das u. a. an Louis Pasteurs Milchsäurebakterien zu zeigen versucht (Latour 1993 sowie Barad 2012). Dort wird den Bakterien eine eigene Performanz attestiert. Aus dieser Denkrichtung ließe sich eine Frage an Thacker adressieren: Sind die Biomedien ein historisches Novum (das behauptet Thacker jedenfalls) oder arbeitet die Biologie nicht schon länger mit Biomedien, insofern man diesen Begriff dann überhaupt verwenden möchte.


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Letzten Endes können an dieser Stelle eine Reihe von Fragen formuliert werden, welche über diesen Artikel hinausreichen. Inwiefern kann Thackers Biomedien-Medienbegriff an eine kritische Tradition der deutschsprachigen Medienforschung anknüpfen? Welche medientheoretischen und -soziologischen Implikationen finden sich in diesem Ansatz? Inwiefern lässt sich das Konzept für kritische Interventionen im Diskursfeld gegenwärtiger Biopolitik produktiv machen?

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Wolfgang Neurath

Policey, Biopolitik und Liberalismus. Vom Zugriff der Macht auf das Leben (Bios) Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/432

Abstract Wolfgang Neurath beleuchtet die Debatten zur Biopolitik aus historischer Perspektive und zeigt auf, wie das Foucaultsche Konzept der Gouvernementalität von der Policey des 18. Jahrhunderts bis hin zum aktuellen (Neo)Liberalismus seine Macht keineswegs verloren hat. Dabei weist Neurath nach, dass die Gesundheitspolitik historisch gesehen zu einem eigenen Bereich der Politik wurde, der die Sorge um das Wohl der Bevölkerung als ökonomisches, sicherheitstechnisches und vor allem zivilisatorisches Interventionsfeld des Lebens begreift. In der Verlängerung des Lebens und im damit verbundenen Zugriff auf den bios nimmt die innere Konfiguration der Policey Machttechnologien vorweg, die dann im Zeitalter des (Neo)Liberalismus ausgebaut und intensiviert werden. Police, biopolitics and Liberalism. On the grasp of power on life (bios). Wolfgang Neurath highlights debates on biopolitics from a historical perspective and shows how Foucault’s concept of governmentality has by no means lost its power, from the police of the 18th century up to current (Neo-)Liberalism. In doing so, he demonstrates that from a historical viewpoint, health policy has developed into a separate field of politics which understands the care for the population’s well-being as an economic, security-technological and most importantly civilizing field of intervention of life. In the extension of life and in the grasp on the bios connected to it, the inner configuration of the police anticipates technologies of power which have been expanded and intensified in the age of (Neo-)Liberalism.

Die Kunst des Regierens ist gerade die Kunst, die Macht in der Form und nach dem Vorbild der Ökonomie auszuüben. Michel Foucault Wenn Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist (Foucault), dann formuliert die moderne Biopolitik neue Standards und Normen in der Regierung des Einzelnen und des Lebens ganzer Populationen. Dieser Artikel untersucht diese historische Entwicklung der Erziehung bzw. der Zivilisierung, die späterhin im Sinne der Züchtung des Lebens zum Kennzei-


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chen der Modernität im Sinne aufgeklärter Gouvernementalität wurde, um dann in den modernen (Neo)Liberalismus einzugehen.1

1. Zur Geschichte der Policey In den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ erwähnt Georg Wilhelm Friedrich Hegel ganz selbstverständlich die Gesundheit im Rahmen der Aufzählung der Gegenstände der Polizierung: „Sie (die Polizey, W. N.) hat für Straßenbeleuchtung, Brückenbau, Taxation der täglichen Bedürfnisse sowie für die Gesundheit Sorge zu tragen.“2 Schon im 18. Jahrhundert erscheint neben der ökonomischen Regulierung und der Herstellung wie Erhaltung von öffentlicher Sicherheit die Gesundheit als politisches Ziel der Polizey. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden diesbezügliche Programme zur Errichtung eines öffentlichen Gesundheitssystems in allen europäischen Ländern publiziert. Ein erstes Periodikum wird dabei speziell auf Probleme der Gesundheitspolitik antworten: Dr. Johann Christian Scherfs „Archiv der medicinischen Polizey und der gemeinnützigen Arzneykunde“ (Leipzig 1783–1787). Das wohl berühmteste Monument eines solchen Programms ist aber das „System einer vollständigen medizinischen Polizey“3 von Johann Peter Frank. Frank hatte die aktuelle Handhabung der Regierungsgeschäfte und das Archiv der Polizey- und Cameralwissenschaft einer grundsätzlichen Kritik unterzogen, da sie den Wert der Gesundheit der Bewohner für den Staat nicht erkannt und gewürdigt hatten. Selbst die Ausrichtung aller Gesetze und Verordnungen, die auf eine Förderung der Population zielen und ein demografisches Wachstum der Population erwarten lassen, werden – so Frank – nutzlos sein und daher nur wenig zu einer Prosperität aller und jedes Einzelnen beitragen, wenn keine öffentliche Hygiene eingeführt wird. Die Polizey – so Franks Kritik – hat die Effekte der Bevölkerungsvermehrung ebenso wenig wie die Auswirkungen der Bequemlichkeit und die pathologischen Effekte der Zivilisierung selbst gesehen. Je dichter die Bevölkerung und je höher ihre Zivilisiertheit, desto stetiger das Wachstum der Krankheiten, die jenseits einer scheinbaren und sichtbaren Glückseligkeit die 1

Der Begriff der Gouvernementalität wurde von Michel Foucault im Zuge der Debatten zu „Überwachen und Strafen“ entwickelt. Er stellt diese neue „Forschungsrichtung“ zum ersten Mal im Rahmen der Vorlesungen von 1978 und 1979 am Collège de France vor. Mithilfe des Konzepts der Gouvernementalität soll der Zusammenhang zwischen verschiedenen Modi des Macht-Wissens und Subjektivierungsweisen analysiert werden. Verschaltungen von Macht- und Herrschaftstechniken werden so als „Technologien des Selbst“ analysiert und freigelegt: vgl. Foucault, Michel (1993): Technologien des Selbst, in: Martin, Luther/Gutmann, Huck/Hutton, Patrick (Hg.): Technologien des Selbst, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 24–60. 2 Hegel, Georg W. F. (1986): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, in: Hegel, Georg W. F. (1986): Werke 7, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 385. 3 Franks Medizinalpolizey erschien in sechs Bänden und drei Supplementbänden; Frank, Johann Peter (1786): System einer vollständigen medizinischen Polizey, dritte verbesserte Auflage, mit einigen Zusätzen von F. August v. Wasserberg, erster bis zweiter Band, Wien 1786; dritter Band, Wien 1787; vierter Band (ohne Zusätze), Wien 1790; fünfter Band, Tübingen 1813; sechster Band, Teil I und II, Wien 1817; III. Theil, Wien 1817; Supplement-Bände zum System einer vollständigen medicinischen Polizey: erster Band, Tübingen 1812; zweiter Band, Leipzig 1825; dritter Band, Leipzig 1827.


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Grundfesten des Staates wie der Gesellschaft unterhöhlen. Die Sorge um die Zukunft der Staaten erlaubt es, die Tatsache herauszustellen, welch förderlichen Einfluss „die Arzneywissenschaft auf das Wohl der Staaten haben kann“.4 Da der Begriff der „Policey“ im Zeitalter der Aufklärung ein anderes Begriffsprofil aufweist als heute, sei er kurz erläutert: der Term „Policey“ oder „Polizey“ taucht wahrscheinlich erstmalig im 15. Jahrhundert im Zusammenhang mit den spätmittelalterlichen Stadtverordnungen auf und bezeichnet zunächst die Regierung oder Verwaltung der Städte im Sinne einer guten Ordnung des Gemeinwesens. Seit dem 15. Jahrhundert bezeichnet dieser Begriff unter anderem alle Institutionen, Praktiken und Interventionen, welche die innere Sicherheit gewährleisten. Und so ist auch noch für Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771) der positive Zusammenhang zwischen Herrschaftsdauer und Verwaltungsleistung vollständig evident. Die „Policey“ wird damit zu einer zivilisatorischen Instanz schlechthin, die der Wildheit der Dinge und Verhältnisse eine bestimmte Anordnung und Ökonomie abringt und diese gleichzeitig hervorbringt. Eine Bedeutungsausweitung vollzieht sich vor allem durch die Verschiebung des Begriffs der „Politea“ bzw. „Politie“, sodass Polizei nunmehr den neuzeitlichen Staat als solchen bezeichnete. „Zu der Bedeutung Policei = Staat ist noch festzuhalten, daß auch die im Italien der Renaissance entstehenden Traktate ,Di Stato‘ deutsch in dieser meist mit dem Wort ,Policei‘ wiedergegeben werden. Das Wort Staat (stat), obwohl vorhanden, eignet sich für eine solche Wiedergabe nicht, weil es entweder noch einen ganz allgemeinen, unpolitischen Sinn (,in gutem stat und wesen erhalten‘) hatte oder speziell den Staatshaushalt, den ,Etat‘ meinte. So erscheint z. B. Boteros ,Della ragione di Stato‘ in der deutschen Übersetzung als ,Anordnung guter Policeyen und Regiments‘; aus Machiavellis ,Principe‘ wird Machiavellis ,Policei‘.“5 Eine semantische Erweiterung erhält der Begriff der „Polizey“ noch im Kontext der christlichen respektive protestantischen Staatslehre (vor allem als Reaktion auf die aristotelische Färbung des Begriffs): „Polizey“ bedeutet hier so viel wie Ständeordnung und mithin die Distinktion der verschiedenen Stände innerhalb des Gefüges des Staates. Die „Ordnung“ oder das „Regiment“ eines Gemeinwesens hängt dabei für die Polizeilehre des 16. und 17. Jahrhunderts in erster Linie von der moralisch-sittlichen Beschaffenheit der Untertanen ab. Eine moralische Lebensführung ist dabei das Fundament, auf dem jegliche Ordnung ruht.

2. Der Gesundheitszustand der Bevölkerung als Operationsbereich der Policey Gerade an der zeitgenössischen Gesundheitspolitik kann abgelesen werden, was die Rolle und Funktion der Polizeywissenschaft ausgemacht hat. Denn der eigentliche Endzweck der Medizinalpolizey ist die Verbesserung und Verlängerung des Lebens der Population: „Die medicinische Polizey ist daher, so wie die ganze Polizeywissenschaft, eine Vertheidigungskunst, eine Lehre die Menschen und ihre thierischen Gehülfen wider die nachtheiligen Folgen größrer Beysammenwohnungen zu schützen, besonders aber deren körperliches Wohl auf eine Art zu befördern, nach welcher solche, ohne zuvielen physischen Uebeln unterworfen 4 Frank, Johann Peter (1784): System einer vollständigen medicinischen Polizey, Erster Band, Zwote, verbeserte Auflage, Mannheim VI. 5 Mair, Hans (1986): Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München: dtv, 100.


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zu seyn, am spätesten dem endlichen Schicksale, welchem sie untergeordnet sind, unterliegen mögen.“6 Die Erhaltung und Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung muss vor allem zu einem Gegenstand vorbeugender Ordnung und gleichzeitig zu einem Objekt jeglicher Regierungstätigkeit werden. Die gouvernementale Vernunft setzte ihre Interventionen bislang nur, wenn der Tod in Gestalt einer Seuche die Regierung aus ihrem Amt (officium) zu drängen suchte. Die autoritativen Interventionen der Staats- oder Stadtregierungen wie Kordons, Spitalsstiftungen, Medikamentenausgaben, Quarantänemaßnahmen, Gründung und Beiziehung von Ärztekollegien waren weitestgehend anlassbezogen. „Kaum sieht man, daß sich jemand anders, als Aerzte, um das edle Kleinod der allgemeinen Gesundheit in vielen Gegenden bekümmere; bis auf einmal eine tödliche Seuche ihr Haupt in die Höhe hebt: dann schreiet alles, was sich weniges Ansehen geben will, über die Saumseligkeit der Polizey: Diese hingegen giebt sich jetzt, um Hülfe zu schaffen, mehr vergebliche Mühe, und verwendet mehr Geld in einer Woche, als von beyden nöthig wäre, dem Uebel durch kluge Ordnung vorzubeugen. Es ist beynahe mit den Gesundheits-Anstalten alsdann wie mit den Feuerspritzen beschaffen, die man, wenn ein Dorf brennt, erst flicken und wieder zurecht richten lassen muß; das Feuer erlöscht selbsten ehe sie ankommen; aber das Dorf liegt in Asche.“7 Die Krankheiten verrichten jedoch ihr Werk auch in Zeiten, in denen sie nicht über die Schwelle der Sichtbarkeit treten, und betreiben ihr unaufhaltsames Geschäft der Verringerung der gesellschaftlichen Kräfte. Frank wird unterhalb der allgemeinen Krankheitszeichen einem Prozess auf die Spur kommen, der Ursachen wie Orte der Krankheiten in den jeweiligen Zivilisationen auffindet. Die Analyse des Gesundheitszustandes bzw. der Krankheitsverursachung in zivilisierten Ländern wird deshalb den Raum der Nosologie verlassen müssen, um eine Neustrukturierung der Episteme (Foucault) vorzunehmen. Sie beginnt mit der Befragung des Erkenntnistableaus und wird in der Tiefe erst die Prozesse erkennen und lokalisieren, die Krankheitszeichen hervorrufen. Diese Analytik der Krankheiten findet ihre Referenz in der Roussauschen Zivilisationskritik. Dort eröffnet die hypothetische Konstruktion eines Naturzustandes Raum für einen Bewertungsmaßstab, der hypothetisch im Namen eines natürlichen und gesunden Vollmenschen geschaffen wurde, um die Verheerungen des Gesellschaftszustandes bewerten und beurteilen zu können: „Wenn man an die gute Lebensweise des Wilden denkt, wenigstens derer, welche nicht durch unsere starken Spirituosen ruiniert sind, und wenn man weiß, daß sie fast keine anderen Krankheiten als Verwundungen und Altersschwäche kennen, ist man nun zu sehr zu glauben geneigt, daß man leicht die Geschichte der menschlichen Krankheiten schreiben könnte, indem man der unserer zivilisierten Krankheit folgt.“8 Für Frank deutet sich die Notwendigkeit der ärztlichen Kunst jedoch bereits mit den ersten Anzeichen der Zivilisierung an, die es erlaubt, die Krankheit insgesamt in natürliche und künstliche zu trennen. Die natürlichen Krankheiten sind für Frank in gewisser Weise konstante Phänomene, die für jede Gattung spezifisch sind, daher auch für den Menschen. Die künstlichen Krankheiten haben im Gegensatz dazu eine eigene historische Individualität, da sie an 6 Frank: System, 5. 7 Ebd.: IXf. 8 Rousseau, Jean-Jacques (1983): Schriften zur Kulturkritik (Die zwei Diskurse von 1750 und 1755), 4. erweiterte Auflage, franz.–deutsch, 99f., Hamburg: Meiner.


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Kultur und Ausprägung der Zivilisation gebunden sind. Sie ordnen sich nicht mehr nach der Linéeschen Taxonomie, sondern finden sich entlang einer sozialen Topologie angeordnet. Ihr Auftreten, ihre Häufigkeit, ihre klassenspezifische Verteilung und ihre Häufung an spezifischen geografischen wie sozialen Orten sind nunmehr vom gesellschaftlichen Leben und der jeweils herrschenden Regierungskunst abhängig. Die Observation der künstlichen Krankheiten wird es ermöglichen, über den Zustand der Zivilisation insgesamt zu sprechen, über diejenigen Kräfte, die eine Fortentwicklung der Menschheit ermöglichen, und über diejenigen, die das Gegenteil bewirken: Krankheit und Gesundheit finden sich nun insgesamt im Sozialen distribuiert, an bestimmte Regionen, Kräfte, Verhaltensweisen und an die Ausübung von Herrschaft gebunden. Die Gesellschaft insgesamt und die Regierenden im Besonderen produzieren in gewisser Weise erst die künstlichen Krankheiten, indem sie die regulative Balance, die von der Natur im Naturzustand noch selbst geleistet wurde, immer erst herstellen müssen.

3. Von Ärzten und medizinischen Diskursen der Policey Gesundheit wird neben Ordnung und Reichtum zu einem Maßstab des Zivilisationsfortschritts und des Weiteren findet sich die Krankheitsverursachung an das Verhalten der Individuen gebunden, das damit als Interventionsfeld geöffnet ist. Nur der Arzt, der die Ursachen des mangelhaften Gesundheitszustandes der Bevölkerung kennt und die Ursachen der dauerhaften Schwächungen festzustellen weiß, wird der Regierung die Mittel in die Hand geben, nicht nur für manifest Kranke in der Gesellschaft zu sorgen, sondern auch den – vielleicht nur noch scheinbar – Gesunden zu einem längeren und besseren Leben zu verhelfen. Im Projekt einer medizinischen Polizey wird sich nicht nur die Medizin als Informant der Regierung anbieten, sondern es wird zum Tausch zweier konstitutiver Formen von Klugheit kommen. Der Medizin wird die volle Bedeutung für den Staat erst dadurch verliehen, dass sie von zwingenden Maßnahmen begleitet wird: Ärztliche Kunst als prophylaktische, die die Gesundheit des Einzelnen und aller erhält, verbessert und verschiedensten Krankheiten vorbeugt, kann sich nur entfalten, wenn sie vom Ort der Regierung aus agiert. Die Polizeywissenschaft wiederum wird erst die Lektion der Medizin durchlaufen müssen, um das Wohlleben der Allgemeinheit und die Stärke des Staates zu begründen und zu erhalten.9 Den allgemeinen Nutzen einer Medicinalpolicey hat Frank durch den hypothetischen Vergleich zweier Länder illustriert, von denen das eine „mit den geschicktesten Praktikern hinlänglich versehen, hingegen aller von einer medizinischen Polizei zu erwartenden Vorteile beraubt wäre, das andere im Gegenteil, zwar keine Heilkünstler aufzuweisen, allein, diesem Mangel bloß ausgenommen, der angemessensten Gesundheitsanstalten sich zu freuen hätte“. Und er schlussfolgert daraus, „daß unter diesen zwei Reichen das letztere, sowohl an Menge als an gesunder dauerhafter Beschaffenheit seiner Einwohner dem anderen unstrittig den Rang abgewinnen würde“.10 Die ärztliche Kunst innerhalb einer umfassenden Regierungskunst wird erst dann wirksam, wenn sie nicht bloß reaktiv zum Einsatz gelangt, sondern immer schon in weiser Voraussicht 9 Schon Ernst Cassirer hat die Produktivität der ärztlichen Kunst mit ihrem Dreischritt Diagnose–Prognose–Therapie als abendländische Technik der Politik bei Machiavelli aufgezeigt: vgl. Cassirer, Ernst (1985): Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt/M.: Fischer, 201f. 10 Frank: System, Vorrede.


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die beständige Weiterentwicklung und Neuformierung ihres Gegenstands im Blick hat, für den sie durch Regelungen einen permanenten Schutzraum herzustellen bemüht ist. Sie muss ihren Platz innerhalb des praktischen Wissens und der angewandten Techniken finden, die der Regierungsklugheit ihre Ausbreitung und Durchsetzung erlauben. Ihr Nutzen wird sich vervielfältigen, wenn dieses Wissen und diese Techniken nicht allein einer obersten Regierungsinstanz überlassen sind, sondern für all diejenigen zum Imperativ werden, die in irgendeiner Hinsicht Regierung ausüben, auch wenn sie selbst einer Regierung unterstehen. Über den allgemeinen Nutzen eines so entfalteten hygienischen Regimes lässt sich berichten: „Es ist in der That Verdienst um die unterste Classe der Menschen, daß Hausmütter des Mittelstandes den Geschmack an Reinlichkeit in Kleidern und Wäsche, wie auch in der Art zu essen, mehr als vorhin, angenommen. Die Pest ist daher unter uns nur noch dem Nahmen nach bekannt. Auch andre epidemische Krankheiten sind nicht mehr so tödtend. Die Fleckfieber und Ruhren raffen nicht mehr so viele Menschen hinweg, wenn sie da sind; sie kommen auch nicht mehr so häufig zum Vorschein, als vor diesem. Jede reinliche Hausmutter ist daher eine Patriotin, indem sie in ihrem Zirkel die Volksmenge befördert.“11 So sehr der Wert des Lebens aller und jedes Einzelnen zu einer Angelegenheiten des Staates werden soll, so sehr wird er auch zu einem allgemeinen Ziel jedes Regierungsdispositivs. Eine herausragende Stellung nimmt nun das Kind ein – egal ob als Teil eines sozialen Verbandes oder als Vereinzeltes –, da es eine besondere Aufmerksamkeit und besondere Praktiken erheischt und diesen Interventionen auch eine höhere Dringlichkeit zukommt. Die Staats- oder Stadt-Regierung ist gegenüber allen Kindern, die auf ihrem Territorium geboren wurden, von vornherein in eine besondere Verpflichtung eingetreten, die ihr einerseits erlaubt, im Namen des Kindes Interventionen in einen Verband zu setzen, aber sie gleichzeitig auch nötigt, die Lebensbedingungen der erziehenden Personen so zu gestalten, dass das mögliche Potenzial der Kinder sich wirklich entfalten kann. Die Ermöglichung der physischen und sittlichen Erziehung des Kindes wird zum ersten Endzweck dieser vorher schon angesprochenen „inneren Vertheidigungskunst“, die den Kräften der Bevölkerung eine permanente qualitative Steigerung verordnet.

4. Programmatik und Soziotechnik der Policey Die programmatische Ausrichtung der Medizinalpolizey wird sich dabei vor allem entlang bestimmter soziotechnischer Linien entwickeln: Erstens stehen die Reform der medizinischen Ausbildung und die Unterwerfung aller „heilenden Berufe“ unter die Autorität des Staates und damit der universitären Medizin auf dem Programm. Es geht um die Erfassung und Kontrolle aller Berufsgruppen, die in irgendeiner Weise mit der Gesunderhaltung oder Heilung des Volkes zu tun haben – Apotheker, Ammen, Chirurgen, Bader etc. Die Berufsausübung selbst wird deshalb an staatliche Diplome gebunden, da zünftische Titel verschwinden sollen. Die Durchstaatlichung der „heilenden Berufe“ führt erst die Unterscheidung zwischen der „Kurpfuscherey“ und der legal und legitim ausgeführten heilenden Geste ein. 11 Krünitz, Johann Georg (1779): Ökonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, und der Kunstgeschichte, in alphabetischer Ordnung; Berlin 1757–1737, 642, 17.


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Zweitens geht es um eine grundlegende Neukonstitution der Spitäler und Kliniken und schließlich um die Reform der gesamten Wohlfahrtspolitik des Staates: Bislang waren medizinale Maßnahmen in ein Ensemble von allgemeinen Unterstützungsmaßnahmen für Arme und Bedürftige integriert. Dieses System von Unterstützungen (Förderungen und Kontrollen) wird nun dekomponiert und entlang von spezifischen Segmenten neu geordnet. Es entsteht ein exklusives Feld von Wissensformen, Techniken, Institutionen und spezialisierten Praktiken, welche nichts anderes zum Ziel haben als die Verbesserung der Gesundheit. In der gesamten Wohlfahrtspolitik, vor allem im Gesundheitswesen, wird ein unterentwickeltes Feld der Politik erkannt, welches sich nicht durch eine einfache Vervielfältigung der Anstalten oder singuläre Initiativen verbessern lässt. Zur Disposition steht die Behandlung einer eigenen Klasse der Bevölkerung, die in Anwendung traditioneller Befürsorgungstechniken nicht nur dem Staat Kräfte und Stärke entzieht, sondern das Leben der anderen permanent in Unordnung bringt. Damit wird sie das erste und privilegierteste Objekt für ein staatliches Regime, sozusagen ein Rohstoff, der sich durch nichts weiter auszeichnet als durch die Möglichkeiten, die ihm noch abzugewinnen sein werden. Die obersten Regierungen sind angehalten, spezifische Anstalten, harte Segmente zu bilden, die eine jeweils differenzierte „Traktierung“ dieser „sozialen Pest“ ermöglichen, um den prinzipiellen Wert für die Glückseligkeit aller anzuerkennen. Dies wird der Rohstoff für alle gouvernementalen Träume sein, die eine vollständige Polizierung der Bevölkerung als Endzustand des polizeylichen Projektes erträumen wird. Die Gesundheitspolitik wird also zu einem eigenen Bereich der Politik, der die Sorge um das Wohl der Bevölkerung als ökonomisches, sicherheitstechnisches und vor allem zivilisatorisches Interventionsfeld des Lebens begreift.

5. Der Neoliberalismus der Policey Was im 18. Jahrhundert auftaucht, ist also das Leben der Bevölkerung, wie Foucault mehrfach erläuterte: „Sicher, es ist nicht das erste Mal, daß das Problem, daß die Sorgen hinsichtlich der Bevölkerung, nicht nur im politischen Denken allgemein auftauchen, sondern auch im Inneren der Techniken, der Verfahren der Regierung selbst.“12 Und dieses Leben wird eben durch eine Regierungs- und Machttechnik in Regie genommen, die den Namen Polizey erhält. Sie soll das Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen sowie zwischen den Menschen und den Dingen zum Stützpunkt gouvernementaler Praktiken und Techniken werden lassen. Bernhard Siegert zeigt die produktiven Verschaltungen anhand der postalischen Ökonomie: „Denn seit der durch von Justi begründeten höchst folgenreichen Theorie des Portos können hohe Staatseinkünfte nicht mehr als Repräsentationen hoher Post-Taxen definiert werden, sondern allein als Funktion der Masse umlaufender Sendungen, deren Anwachsen zu regulieren vorrangige Aufgabe des Portosatzes ist. Dadurch wird die alte Proportion von Profit und Porto mit einem Schlag reziprok. (...) Damit erhält das Porto einen radikal neuen Status. Statt primär eine Abgabe an den Staat (wie im 17. Jahrhundert), wird das Porto von nun an vor allem eine Existenz-Technik sein. Auf der Basis der voranschreitenden 12 Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesungen am Collége de France 1977–1978, hg. von Michel Sennelart, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 103.


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Alphabetisierung Mitteleuropas wird es die Rolle des Portos nicht mehr sein, einen möglichst großen Nutzen aus einer gegebenen und unbefragbaren Zirkulation von Diskursen zu ziehen, sondern diese Diskurse allererst hervorzubringen.“13 Man sieht mithin, dass die Anreizung und Entfaltung des Lebens – in diesem Fall die Produktion von Diskursen – den Nutzenkalkülen der Zirkulation vorangeht. Die Gesundheitspolitik wird also zu einem eigenen Bereich der Politik, der die Sorge um das Wohl der Bevölkerung als ökonomisches, sicherheitstechnisches und vor allem zivilisatorisches Interventionsfeld des Lebens begreift. Über die produktive Anordnung der Medizin werden politische Linien eröffnet, die sich auch in der Analytik der Sicherheitsmechanismen des Liberalismus auffinden lassen. Die Sicherheitstechnologien repräsentieren aber einen anderen Typ der Normalisierung, da sie nicht von einer definierten Ordnung als Norm ausgehen, sondern von empirischen Größen, die als Normales fungieren. Statt die Realität an einer präskriptiven und idealen Ordnung auszurichten, nimmt die Sicherheitstechnologie die Realität selbst als Norm: als statistische Verteilung von Häufigkeiten, als Krankheits-, Geburten- und Todesraten etc. „Die Entwicklung von Sicherheitsmechanismen ist Foucault zufolge eng an das Aufkommen der liberalen Gouvernementalität im 18. Jahrhundert gekoppelt. Zwar steht die Freiheit des Individuums und seine Rechte gegenüber dem umfassenden Regelungsanspruch des absolutistischen Staates im Mittelpunkt liberaler Reflexion. Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, daß Freiheit lediglich eine äußere Grenze für das Regierungshandeln markiert.“14 Wir sehen also, dass die liberale Freiheit von Anfang an einer Reihe von Sicherheitsdispositiven unterstellt wird, und somit werden die gesellschaftlichen Prozesse selbst zu Gefährdungen des Lebens Einzelner und von Kollektiven, die nach Interventionen nicht mehr im Namen der Wohlfahrt des Staates, sondern im Namen der Freiheit des Individuums selbst erfolgen. „Zum Abschluß der Vorlesungsreihe diskutiert Foucault die Weiterentwicklung der frühliberalen Positionen im 20. Jahrhundert. Seine Analyse konzentriert sich auf zwei unterschiedliche Formen des Neoliberalismus: den deutschen Nachkriegsliberalismus und den US-amerikanischen Liberalismus der Chicagoer Schule. Foucault arbeitet vor allem zwei Differenzen gegenüber den frühliberalen Konzeptionen heraus. Die erste besteht in einer Neudefinition des Verhältnisses von Staat und Ökonomie. Die neoliberale Konzeption dreht die frühliberale Konfiguration um, die durch die historische Erfahrung mit einem übermächtigen absolutistischen Staat geprägt war. Anders als in der klassisch-liberalen Rationalität definiert und überwacht der Staat nicht länger die Marktfreiheit, sondern der Markt wird selbst zum organisierenden und regulierenden Prinzip des Staates. Der Neoliberalismus ersetzt ein begrenzendes und äußerliches durch ein regulatorisches und inneres Prinzip: Es ist die Form des Marktes, die als Organisationsprinzip des Staates und der Gesellschaft dient.“15 Damit löst die „Oikodizee“, die Joseph Vogl nicht müde wird zu beschreiben, die „Soziodizee“ ab und verspricht als unsichtbare und ordnende Macht buchstäblich alles zu regulieren 13 Siegert, Bernhard (1993): Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751–1913, Berlin: Brinkmann und Bose, 63f. 14 Lemke, Thomas (2001), Gouvernementalität, in: Kleiner, M. S. (Hg.): Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt/M.: Campus, 108–122, zit. nach der Online-Version der Einleitung, hier: 6: http://www.thomaslemkeweb.de/publikationen/Gouvernementalit%E4t%20_Kleiner-Sammelband_.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). 15 Ebd.: 7.


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und sämtliche übergeordneten Instanzen auf- und abzulösen. Denn angeblich bringt dieses Kollektivsubjekt des Marktes auch noch Ordnung und Ausgleich hervor. Demgegenüber wird es notwendig sein, über diese Ordnung hinauszugehen: „Das moderne Finanzsystem samt seinen Institutionen und cash flows sollte also vom Ende der Oikodizee her gedacht und auf ein Gebiet hin geöffnet werden, dass sich durch die Wirksamkeit kontingenter Ereignisse, historischer Zeiten und Fristen charakterisiert.“16 Auf der anderen Seite des Finanzkapitals eröffnet sich mithin die Möglichkeit, dem Neoliberalismus bzw. einem undemokratischen Regieren etwas entgegenzusetzen und mit neuen Formen der Vergemeinschaftung der Policey und der Gouvernementalität zu entgehen.

Literatur Cassirer, Ernst (1985): Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt/M.: Fischer. Foucault, Michel (1993): Technologien des Selbst, in: Martin, Luther/Gutmann, Huck/Hutton, Patrick (Hg.): Technologien des Selbst, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 24–60. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesungen am Collége de France 1977–1978, hg. von Michel Sennelart, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Frank, Johann Peter: System einer vollständigen medizinischen Polizey, dritte verbesserte Auflage, mit einigen Zusätzen von F. August v. Wasserberg, erster bis zweiter Band, Wien 1786; dritter Band, Wien 1787; vierter Band (ohne Zusätze), Wien 1790; fünfter Band, Tübingen 1813; sechster Band, Teil I und II, Wien 1817; III. Theil, Wien 1817; Supplement-Bände zum System einer vollständigen medicinischen Polizey: erster Band, Tübingen 1812; zweiter Band, Leipzig 1825; dritter Band, Leipzig 1827. Hegel, Georg W. F. (1986): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, in: Hegel, Georg W. F.: Werke 7, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Krünitz, Johann Georg (1779): Ökonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, und der Kunstgeschichte, in alphabetischer Ordnung; Berlin 1757–1737, 17. Lemke, Thomas (2001): Gouvernementalität, in: Kleiner, Marcus S. (Hg.): Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt/M./New York, 108–122. Campus, die Einleitung findet sich online unter: http://www.thomaslemkeweb.de/publikationen/Gouvernementalit%E4t%20_Kleiner-Sammelband_.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Mair, Hans (1986): Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München: dtv. Neurath, Wolfgang (2000): Regierungsmentalität und Policey. Technologien der Glückseligkeit im Zeitalter der Vernunft, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (2000), 4, Wien: Turia & Kant, 11–33. Rousseau, Jean-Jacques (1983): Schriften zur Kulturkritik (Die zwei Diskurse von 1750 und 1755), 4. erweiterte Auflage, franz./deutsch, Hamburg: Meiner. Siegert, Bernhard (1993): Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751–1913, Berlin: Brinkmann und Bose. Vogl, Joseph (2010): Das Gespenst des Kapitals, Berlin/Zürich: diaphanes.

16 Vogl, Joseph (2010): Das Gespenst des Kapitals, Zürich: diaphanes; vgl. dazu auch: Buras, Piotr (2011): Bloß keine neue Geldreligion. Interview mit Joseph Vogl, in: Frankfurter Rundschau, 28. September 2011, online unter: http://www.fr-online.de/kultur/kapitalismuskrise-bloss-keine-neue-geldreligion,1472786,10907460.html (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Thomas Strasser

Mind the app! Zur pädagogischen Vielseitigkeit von Web 2.0-Tools im Unterricht Beitrag online im Ressort Forschung unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/419

Abstract Der vorliegende Beitrag behandelt das Phänomen Web 2.0 im bildungstechnischen Kontext. Der Terminus Web 2.0 wird in der Fachwelt als sogenanntes „buzz word“ – ein oft genanntes Schlagwort – gehandelt, das sich vor allem im Bereich der Pädagogik bzw. Didaktik in einer Transitionsphase weg vom temporären Hype, hin zu einem wertvollen Ansatz für Bildungsinstitutionen befindet. Die große Anzahl an täglich erscheinenden Web 2.0-Applikationen bedarf konkreter Ansätze, um diese Informationsflut zu filtern und zu begutachten. Nur so können letztendlich bestimmte Web 2.0-Anwendungen für den Unterricht empfohlen werden. Durch eingehende Analyse bestehender Literatur zum Thema „Web 2.0 & Bildung“ und aufgrund der langjährigen praktischen Erfahrung des Autors als (E-Learning-)Lehrer werden Charakteristika bildungstechnischer Web 2.0-Anwendungen in einem wissenschaftstheoretischen und in einem Best-Practice-Kontext herausgearbeitet. Der empirische Teil der Arbeit versucht, die im Theorie- und im Best-Practice-Teil erläuterten Spezifika von Bildungs-Apps mittels Online-Fragebögen für deutschsprachige PädagogInnen in einen messmethodischen Zusammenhang zu bringen. Mind the app! On the pedagogical versatility of Web 2.0 tools in teaching. The contribution addresses the phenomenon of Web 2.0 within the education technology context. The term Web 2.0 is treated as a so-called “buzz word” in professional circles – an often quoted key word – that experiences, especially in the field of pedagogics or didactics, a transitional phase from a temporary hype to a valuable approach for education institutions. The great number of Web 2.0 applications published daily needs concrete approaches in order to filter and review this flood of information. This is the only way, in the end, to recommend certain Web 2.0 applications for teaching. Based on the author’s long-standing practical experience as an (e-learning) teacher and an intense analysis of existing literature on the issue of “Web 2.0 & education”, characteristics of education-technological Web 2.0 applications are elaborated in a context of epistemology and best practices. The empirical part of the essay attempts to merge the specifics of education apps elaborated in the theory and best practice sections into a measuring methodology context, using online questionnaires for German-speaking educators.

1. Ausgangslage und Forschungsinteresse Mit dem von der EU geförderten Konzept des Lifelong Learning und der konstant zunehmenden Technologisierung in vielen Lebensbereichen (Stichwort: Smartphones, Social Media


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etc.) besteht ein legitimer Anspruch, sich mit sogenannten – im internationalen Diskurs so titulierten – New Learning Technologies, also Neuen Lerntechnologien, im pädagogischen Kontext auseinanderzusetzen. Als Folge wird der Medienpädagogik im Allgemeinen und der Didaktik der Neuen Lerntechnologien im Speziellen immer mehr Bedeutung beigemessen (vgl. Strasser 2011b). Eine stetig wachsende Anzahl an wissenschaftlichen Publikationen über Neue Medien, vor allem im bildungstechnischen bzw. schulischen Kontext, zeigt dies deutlich (vgl. Baumgartner 2006, 2008; Kerres 2006; Dewe/Weber 2007; Reinmann 2008; Strasser 2011b: 13, Strasser 2012b). Der Unterricht mittels E-Learning bzw. Blended Learning im klassischen Sinne (Verbindung von klassischen Präsenzstunden mit dem Einsatz von neuen, digitalen Medien, vgl. Dewe 2007: 73) kann mittlerweile als relativ populärer methodischer Ansatz angesehen werden, der aber noch immer stark polarisiert. Durch die Schärfung des Konzepts des Blended Learning konnte die originäre Skepsis einiger ExpertInnen entschärft werden, nach welcher der Computer die eigentliche Lehrkraft ersetzen würde. Blended Learning versucht, bewährte didaktische Ansätze des Präsenzunterrichts mit innovativen Ideen aus dem Bereich des E-Learning zu verbinden. In Anbetracht des grundsätzlichen Konzepts von Blended Learning wird in der modernen Didaktik bei virtuellen Unterrichtsszenarien daher von einem zusätzlichen und supportiven Ansatz für den Regelunterricht ausgegangen, mit dem das Stigma des Computers als Rationalisierer invalidiert wird (vgl. Strasser 2011b: 13). Im 21. Jahrhundert ist ein sich immer mehr elaborierender Trend zu zuverlässigen und versatilen Web 2.0-Anwendungen erkennbar (vgl. Kerres 2006; Baumgartner 2006, 2008), die als additive, vor allem den Unterricht bereichernde Komponenten des allgemeinen Konzepts des Blended Learning angesehen werden sollten. Der Begriff Web 2.0 wurde von den „Internet-Pionieren“ Tim O’Reilly und Dale Dougherty im Herbst 2004 eingeführt und repräsentiert eines der wichtigsten Konzepte im Bereich der Educational Technology. O’Reilly selbst stellt eine relativ konzise Definition des „buzz word“ Web 2.0 zur Verfügung: “Web 2.0 is the network as a platform, spanning all connected devices; Web 2.0 applications are those that make the most of the intrinsic advantages of that platform: delivering software as a continually updated service that gets better the more people use it, consuming and remixing data from multiple sources, including individual users, while providing their own data and services in a form that allows remixing by others, creating network effects through an ‘architecture of participation’, and going beyond the page metaphor of Web 1.0 to deliver rich user experiences.” (http://radar.oreilly.com/2005/10/web-20-compact-definition.html [letzter Zugriff: 01.04.2014]). So gesehen kann Web 2.0 als Metapher angesehen werden (vgl. Reinmann 2010: 74): Es steht für eine verbesserte Version eines Programms. Web 2.0 ist die neuere Version des „alten“ Internets (Web 1.0). Der Fokus liegt dabei aber nicht auf einer hauptsächlich technologischen Entwicklung des Internets, sondern vielmehr auf einem Paradigmenwechsel hinsichtlich des Einsatzes des World Wide Webs (vgl. Strasser 2011a: 137). Die Vision Web 2.0 bezeichnet vielmehr „[…] eine veränderte Haltung der NutzerInnen gegenüber dem Internet, die sich insbesondere durch eine aktivere Teilhabe und durch die konsequente Verwendung der technischen Möglichkeiten auszeichnet“ (Reinmann 2008 in Gaiser 2008: 1). Die Internet-UserInnen von heute laden nicht nur Content aus dem Internet herunter, sie laden auch ihre Ideen und Konzepte als Mitglieder einer großen Community hoch und stärken so das Prinzip des „sharing“,


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des Teilens. Sie werden von passiven Consumern zu aktiven Prosumern (producer + consumer) (vgl. Schaffert et. al. 2008: 2). Wikipedia oder YouTube demonstrieren explizit, wie Mitglieder der Community ihr Wissen hochladen bzw. zur Verfügung stellen können und wie dieses Wissen durch andere TeilnehmerInnen dieser Community verarbeitet, adaptiert, modifiziert oder sogar verbessert werden kann. Die Zeiten, in denen IT-Maniacs das Web dominierten, indem sie ihr Wissen mit AmateurInnen nicht teilten, sind vorbei. Menschen, die etwas wissen, die eine kreative Idee haben, ein innovatives Produkt entwickeln oder lediglich etwas zu sagen haben, können ohne große Probleme Web 2.0-Communities wie Facebook, Twitter, Flickr etc. beitreten, um dieses Wissen mit der ganzen Welt zu teilen. Indem man seine kreativen Impulse in der Gemeinschaft publik macht, können andere TeilnehmerInnen Feedback geben, um die eigenen (intellektuellen) Outcomes zu adaptieren, zu modifizieren bzw. zu verbessern. Diese bi- bzw. multilateralen kreativen Produktionsprozesse bestimmen den Paradigmenwechsel im Internet: „das Netz sind nicht sie“, aber „das Netz sind wir“ oder „du bist das Internet“ (vgl. Strasser 2012b). Dieser konstruktivistische und durchaus kollaborative Ansatz könnte vor allem für den Bildungskontext relevant sein. Die Rolle von Neuen Medien vor allem bei jüngeren LernerInnen sollte nicht unterschätzt werden. Der Gebrauch des Computers und unterschiedlicher Web 2.0-Anwendungen wie Facebook oder Flickr können als vitaler Teil im Leben vieler junger Menschen fungieren – Web 2.0 ist Teil eines „teenage zeitgeist“ (vgl. Strasser 2012b). Durch die Omnipräsenz bestimmter Web 2.0-Anwendungen können sich viele junge Leute mit diesem Phänomen identifizieren, ohne sich dessen konstruktivistischer Lernkomponenten tatsächlich bewusst zu sein. Web 2.0 ist „[…] längst nicht mehr nur als medialer Hype oder kurzfristiger Trend aufzufassen. Die Technologie-Giganten Microsoft und Google sowie die großen Medienkonzerne liefern sich ein Milliarden-Duell um die Gunst [von Web 2.0] und sozialer Netzwerke und multimedialer Plattformen wie Facebook oder YouTube.“ (Baumgartner et al. 2008: 1) Die Frage, wie nun solche Web 2.0-Applikationen im bildungstechnischen Kontext bzw. im Unterricht eingesetzt werden können, drängt sich vor allem für die Medienpädagogik auf. „Selbst ErziehungswissenschaftlerInnen, die häufig neuen Technologien sehr reserviert gegenüberstehen, sind begeistert von den neuen Möglichkeiten.“ (Baumgartner 2006: 1)

2. Theoretische Verortung 2.1 Rollenverständnis Eine eingehende Analyse des akademischen Diskurses zum Thema Web 2.0 im Bildungskontext lässt die Vermutung zu, dass es durch den Einsatz dieser Neuen Lerntechnologien zu einer Redefinition bzw. Neuadjustierung des Unterrichts im Allgemeinen kommen kann. Kerres (2006 in: Gaiser 2008: 3) erkennt ein Verschwimmen von „klar definierter Rollenabgrenzung zwischen Lehrenden und Lernenden“ beim Einsatz von Web 2.0-Applikationen in unterrichtlichen Situationen. Web 2.0 im Bildungskontext verschreibt sich einer egalitären konstruktivistischen Neuadjustierung der klassischen Lehrperson. Kontroversielle, dem Prinzip des Web 2.0 explizit entgegenstehende, monodirektionale Wissensvermittlungsstrategien der Lehrkraft ganz im Sinne des Nürnberger Trichters sind im unterrichtlichen Web 2.0-Kontext obsolet. Es erscheint hier als durchaus legitim, zu konstatieren, dass frontaler Wissensinput mögli-


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cherweise im klassischen Präsenzunterricht noch funktionieren kann, die Lehrkraft im Blended-Learning-Szenario (hier Arbeiten mit Web 2.0-Tools) hingegen bewusst auf einen Paradigmenwechsel gegen das oft noch allgemein gültige, theresianisch anmutende LehrerInnenbild pochen soll (vgl. Strasser 2011a: 194). Beim konstruktivistischen Ansatz und somit auch beim Blended Learning ist: „[…] nicht mehr von Lehrsystemen, sondern von Lernumgebungen die Rede, nicht mehr von Instruktion, sondern von autonomem Lernen, nicht mehr von Lernkontrolle, sondern von Unterstützung und Coaching“. (Weidenmann 1993: 10) Folgende Grafik resümiert den Paradigmenwechsel im Rollenbild der Lehrkraft.

Abb. 1: Wandel der Lernparadigmen Diagramm: Weidenmann in: Gaiser 2008: 5

2.2 Web 2.0-Prinzipen/Charakteristika Generell kann festgehalten werden, dass das Web 2.0 nach folgenden Prinzipien funktioniert (vgl. Schiefner/Kerres 2011: 4): „Ko-Orientierung und kollektive Intelligenz; Partizipation und Dynamisierung; Interaktion und Kommunikation sowie Authentizität.“ Diese Prinzipien unterstreichen explizit einen kollektiv-partizipatorischen Interaktionsprozess bei unterschiedlichen Web 2.0-Performanzen. In konzeptueller Verbindung mit dem in Kapitel 2.1 erwähnten shift im Rollenverständnis der Lehrperson (vgl. Strasser 2011a: 173), ergeben sich verfolgenswerte didaktisch-pädagogische Überlegungen für den Einsatz dieser Applikationen im Unterricht, vor allem in Anbetracht des bestehenden akademischen Diskurses, dass generell beim Einsatz von Web 2.0-Applikationen „[…] die fehlende Integration in adäquate didaktische Konzepte“ (Baumgartner 2006 in: Gaiser 2008: 4) festgestellt wird. Es kann davon ausgegangen werden, dass das „Web 2.0 durch die Prinzipien Selbstorganisation, Selbstkontrolle, Kooperation, neue Lerner-/Lehrerrollen und Heterogenität gekennzeichnet sei“. (Gaiser 2008: 6) In Anbetracht der Unmenge an neuen Web 2.0-Applikationen, die täglich im Internet veröffentlicht werden, bedarf es vor allem für den bildungstechnischen Kontext einer gefilterten, fokussierten Charakterisierung von Lerntools 2.0. Selbst technophile Lehrkräfte sind sich einig, dass nicht alle Web 2.0-Anwendungen im Unterricht Platz finden können bzw. sollen. Gründe dafür können u. a. sein: • Manche Tools sind technisch viel zu anspruchsvoll (z. B. komplizierte Anmeldeprozesse, unübersichtliche Navigation etc.). • Manche Tools nehmen keine curricular-adäquate Stellung im Bildungskontext ein (d. h.


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Anwendungen, die aus pädagogischer Sicht unbrauchbar sind, z. B. politisch inkorrekte Seiten, Seiten mit anzüglichen Werbungen etc.). • Tools sind kostenpflichtig (vgl. Heckmann/Strasser 2012: 39). Web 2.0-Anwendungen erfahren im Allgemeinen den größten Mehrwert, wenn diese im Blended Learning-Kontext appliziert werden, das bedeutet, dass neue Lerntechnologien im Unterricht nie isoliert bzw. „inselhaft“ (vgl. Downes 2007 in: Ehlers 2011: 59), sondern symbiotisch (d. h. curricular miteinander verbundene Präsenzstunden mit Web 2.0-Sequenzen) eingesetzt werden sollen.

3. Praktische Applikationsszenarien von Web 2.0-Anwendungen Dieses Kapitel widmet sich vor allem den praktischen Einsatzmöglichkeiten von Web 2.0-Anwendungen im Unterricht. Vorrangiges Ziel ist es, die pädagogische Versatilität bzw. die technologische Redundanz der Anwendungen explizit herauszuarbeiten. Die Best-Practice-Beispiele sind bewusst fachunspezifisch gewählt, um das multidimensionale Applikationspotenzial von gewissen Web 2.0-Anwendungen zu unterstreichen.

Ein Beispiel: Kollaboratives Schreiben mit Edupad (www.edupad.ch) Edupad ist ein effektives Web 2.0-Tool, das die kollaborative Schreibkompetenz in Echtzeit unterstützt. Im Klassenverband bzw. in dislozierten Telelearning-Szenarien können unterschiedliche Textsorten live erarbeitet werden (vgl. Strasser 2011a: 155). Kollaboratives Schreiben erfährt bei bildungstechnischen Web 2.0-Anwendungen einen regelrechten Boom. Allein die Anzahl an unterschiedlichen kostenlosen Anbietern (piratepad.net, typewith.me, sync.in etc.) lässt vermuten, dass großes Interesse an kollaborativem Arbeiten zum Beispiel in der Bildungscommunity (Schulen, Hochschulen etc.) besteht.

Abb. 2: Oberfläche von Edupad, Screenshot

Entweder von zu Hause aus oder gemeinsam im Computerraum können SchülerInnen gemeinsam an einem Text in Echtzeit arbeiten. In diesem Falle handelt es sich um eine Abenteuergeschichte im Fach Deutsch, jedoch kann die Anwendung für unterschiedlichste Fächer eingesetzt werden: • Fremdsprachen: Märchen, Abenteuergeschichte, Brief etc. • Geografie und Wirtschaftskunde: Verfassen von Merktexten zu Städten, Gebieten etc. • Mathematik: Lösen von Textaufgaben, Formulierung von Merktexten


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• Geschichte und Sozialkunde: Verfassen von Zusammenfassungen bzw. Merktexten zu historischen Persönlichkeiten, Ereignissen etc. • Allgemein: Plattform für Feedbacksequenzen zum Unterricht, für Projekte etc. Diese evidente Materienungebundheit könnte explizites Merkmal einer Web 2.0-Anwendung für den Unterricht sein, da es grundsätzlich darum geht, dass die Lehrkraft ein technisch nicht anspruchsvolles Tool für den eigenen Unterricht didaktisiert, d. h. aufbereitet. Ausgehend von der technischen Komponente kann festgehalten werden, dass viele kollaborative Textproduktionsapplikationen ein hohes Maß an Simplizität offerieren. Um eine Unterrichtssequenz mit dieser Anwendung initiieren zu können, muss die Lehrkraft lediglich die URL www.edupad.ch besuchen und durch einen einfachen Mausklick ein neues „pad“ (Oberfläche) generieren. Um die URL für die SchülerInnen zu vereinfachen, kann die Lehrkraft ein simples URL-ending wählen (z. B. http://www.edupad.ch/abenteuergeschichte [letzter Zugriff: 01.04.2014]), um dieses dann den SchülerInnen zur Verfügung zu stellen (URL auf Tafel schreiben, per Mail schicken, link auf backchannel-Programm wie www.todaysmeet.com posten), damit alle TeilnehmerInnen am virtuellen Schreibprozess teilnehmen können. Die technischen Features wie „Meilensteine“ (zur Speicherung des Textes vgl. Abbildung 2) bzw. „timeslider“ (zur Rekapitulation der Textentstehungsphase in Echtzeit vgl. Abbildung 2) muten sehr intuitiv und selbsterklärend an. Von pädagogischer Seite her kann grundsätzlich konstatiert werden, dass einige konstruktivistische Komponenten bei diesem Tool explizit im bildungstechnischen Kontext zur Anwendung kommen. Der Aspekt der Kreation ist eindeutig durch das Verfassen einer Textsorte bzw. eines Texttypus gegeben. SchülerInnen und LehrerInnen können – basierend auf curricularen Vorgaben – ihrer verschriftlichten Kreativität freien Lauf lassen. Die Kollaboration spielt eine der vordergründigsten Rollen bei dieser Anwendung. Ganz im Sinne einer konstruktivistischen Zusammenarbeit (vgl. Strasser 2011a: 147) wird ein Text von vollkommen gleichwertigen TeilnehmerInnen (d. h. die Lehrkraft agiert nicht als Korrektor, sondern als supportiver Coach) gemeinsam in Echtzeit verfasst. Das pädagogische Prinzip der Kommunikation spielt bei dieser Anwendung eine durchaus prominente Rolle. Während die SchülerInnen gemeinsam mit dem Coach in Echtzeit an einem Text arbeiten, können supportive Kommunikationsszenarien im Chatbereich forciert werden, in denen das Klassenteam nach speziellen Begriffen, Vokabeln, Formulierungen, Jahreszahlen etc. fragt und davon grundsätzlich ausgehen kann, dass die konstruktivistisch eingestellte Lerncommunity Antworten liefert. Die Modifikationsperformanzen nehmen bei dieser Applikation einen wichtigen Platz ein, da im Verband an Verbesserungsvorschlägen bzw. Adaptionen des gemeinsam formulierten Textes gearbeitet werden kann. Um das Prinzip der Modifikation adäquat im Sinne der pädagogischen Komponenten von Web 2.0-Anwendungen für den Unterricht zu applizieren, sollte explizit darauf hingewiesen werden, dass der Terminus Modifikation im supportiv-konstruktivistischen Lernsetting kaum etwas mit einer bloßen Korrektur der LehrerInnen oder SchülerInnen zu tun hat, sondern vielmehr mit reflektierten Feedbackstimuli, die zu einer eventuell besseren oder curricular zielgerichteten Formulierung einer Textpassage beitragen können. Das Prinzip der Reflexion innerhalb des bildungstechnischen Kontextes von Web 2.0-Applikationen korreliert sehr stark mit jenem der Kommunikation bzw. der Modifikation. Es geht hier in erster Linie um einen supportiv-konstruktiven Reflexionsprozess (vgl. Strasser 2011a: 85), der in erster Linie den curricularen, aber auch interpersonalen Diskurs innerhalb des Ar-


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beitsprozesses fördern soll. Ein wertschätzendes Reflexionsszenario könnte mithilfe der „timeslider“-Funktion (vgl. Abbildung 2) im Klassenteam etabliert werden, da man als Lehrkraft bzw. Coach mit dem „punktuellen Revue-passieren-Lassen der Textproduktion“ (d. h. der Text wird Schritt für Schritt im angepassten Tempo nachbesprochen) gezielt auf gut gelungene Formulierungen bzw. Recherchen reflektiv-wertschätzend eingehen kann. Die Anwendung kann per se mittels einfachem link-sharing bzw. Versenden von Einladungen zur Partizipation an der Textproduktion disseminiert bzw. multipliziert werden. Basierend auf diesem Best-Practice-Beispiel kann bei Edupad eindeutig von einer für den Unterricht geeigneten Web 2.0-Anwendung ausgegangen werden, da einerseits keine evidente technische Komplexität und Kostenpflichtigkeit erkennbar ist (vgl. Kapitel 2.2) und eine Vielzahl an konstruktivistischen Komponenten für eine Web 2.0-Applikation im bildungstechnischen Kontext explizite Anwendung finden.

4. Methode LehrerInnenfragebogen Um das in Kapitel 1 formulierte Forschungsinteresse in einem messmethodischen Kontext zu platzieren, wurde vom Autor ein LehrerInnenfragebogen entwickelt, der in digitaler Form (d. h. Onlinebefragung mit Google Docs) disseminiert wurde. Die Entscheidung, ein digitales, asynchrones Erhebungstool für diesen Artikel zu verwenden, fiel relativ leicht, da der Einsatz eines Web 2.0-Umfragewerkzeugs (GoogleDocs) für dieses Forschungsthema als authentisch eingestuft werden kann. Ferner ermöglichte die logistisch bzw. infrastrukturell unkomplizierte Einladung zur Teilnahme mittels Linkversendung in communitybasierten Netzwerken (vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz mittels Twitter, Facebook, eMail-Verteiler etc.) einen response von 85 Personen innerhalb einer kurzen Zeitspanne von drei Wochen. Da der Fragebogen von den LehrerInnen allein ausgefüllt werden musste, war darauf zu achten, dass die Formulierungen der Fragen nachvollziehbar gestaltet wurden. Es gilt somit die Annahme, dass die/der TeilnehmerIn die Frage so versteht, wie sie verstanden werden soll. Porst (2009) erwähnt hier zwei Dimensionen, wie eine Frage verstanden werden könnte. Zum einem gibt es das semantische Verständnis. Für eine Frage im Fragebogen bedeutet das, dass die TeilnehmerInnen sich darüber klar sein müssen, was eine Frage oder ein Begriff „heißen“ soll. Daneben gibt es das pragmatische Verständnis, wonach sich der Teilnehmer die Frage stellt und „das semantische Verhältnis … was der Forscher eigentlich wissen will“ (Porst 2009 in: Schnorr 2011: 50). Im Fall des hier konzipierten Fragebogens war zu erwarten, dass die meisten TeilnehmerInnen den Begriff Web 2.0 kannten (Zielgruppe: deutsche, österreichische und schweizerische E-Learning-Community), sodass ein Begleittext bzw. eine Ausfüllhilfe nicht vonnöten waren. Der Fragebogen teilte sich in vier Multiple-Choice-, drei Single-Choice- und zwölf offene Fragen auf.

5. Ergebnisse Im folgenden Kapitel werden auszugsweise Ergebnisse der Umfrage präsentiert, die vor allem für die bildungstechnische Komponente von Web 2.0-Anwendungen eine große Relevanz haben.


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5.1 Bekanntheitsgrad Web 2.0-Tools In der Umfrage kristallisierten sich vor allem zwei im Fragebogen vorgegebene Web 2.0-Anwendungen heraus. Wenig überraschend nehmen das Videoportal YouTube und die Online-Enzyklopädie Wikipedia die Plätze 1 und 2 ein. Die Tatsache, dass 69 % der Befragten noch zusätzliche Web 2.0-Tools (zu denjenigen, die im Fragebogen vorgegeben wurden, vgl. Abbildung 3) angaben, lässt auf eine beachtliche Anzahl von sich bereits im Einsatz befindlichen Apps schließen. Beim Punkt „Other“ wurden vor allem die Anwendungen GoogleDocs, GoogleMaps und Doodle (d. i. ein Online-Umfragetool) erwähnt.

Abb. 3: Bekanntheitsgrad diverser Web 2.0-Anwendungen Diagramm: Thomas Strasser

5.2 Mehrwert von Web 2.0-Anwendungen im Unterricht Vor allem im Hinblick auf die Forschungsfrage der „pädagogischen Vielseitigkeit“ von Web 2.0-Anwendungen sollten folgende offene Fragen des Fragebogens genauer betrachtet werden: „Kompetenzen und Web 2.0. Bitte halten Sie im Allgemeinen fest, welche Kompetenzen bei den SchülerInnen grundsätzlich durch den Einsatz von Web 2.0-Tools gefördert werden. Gibt es einen Mehrwert? Gibt es konkrete Beispiele?“ Eine genauere Betrachtung der offenen Antworten zeigt folgendes Bild: Die befragten LehrerInnen vermuten eine Steigerung vor allem im Bereich der Medienkompetenz bei SchülerInnen (z. B. kritischer Umgang mit Neuen Medien), im kritischen Umgang mit Informationen, aber auch im Bereich von gruppendynamischen, kollaborativen Arbeitsformen. Durchgehend wurden von den LehrerInnen auch die Aspekte Kreativität, Reflexion und Eigenständigkeit erwähnt. Es entsteht somit der subjektive Eindruck, dass die Lehrenden genau jenen Mehrwert bzw. jene Komponenten bei der SchülerInnenarbeit erwähnen, die im Artikel bei bestimmten


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Web 2.0-Anwendungen (u. a. Reflexion, Kommunikation, Kreation, Kollaboration) herausgearbeitet wurden.

5.3 Technische Versiertheit und Web 2.0 Die folgende offene Frage zielt vor allem auf eine mögliche Beantwortung der Forschungsfrage, welche Rolle die Technik beim Einsatz von Web 2.0 spielt: „Technische Versiertheit und Web 2.0. Welche technischen skills im Allgemeinen sind Ihrer Meinung nach beim Einsatz von Web 2.0 bei den SchülerInnen und LehrerInnen vonnöten?“ Auffällig bei dieser Frage ist die relativ explizite Kongruenz einiger Antworten. So konstatieren fast 50 % (43 Personen) der befragten LehrerInnen, dass sowohl bei SchülerInnen als auch bei LehrerInnen lediglich Grundkenntnisse (z. B. surfen, navigieren, Passwörter merken, hochladen etc.) nötig sind, um mit Web 2.0 im Unterricht arbeiten zu können. Ein möglicher Grund für die subjektiv wahrgenommene „Einfachheit“ vieler Web 2.0-Tools könnte möglicherweise darin bestehen, dass Mehrfachnennungen zur „intuitiven, einfachen Bedienerfreundlichkeit“ vieler Web 2.0-Tools erfolgten. Elf der Befragten erwähnten das „learning-by-doing“-Prinzip bzw. den „Willen, Neues auszuprobieren“ bei Web 2.0, was bedeuten kann, dass viele Applikationen einfach ausprobiert werden können, ohne dabei großen technischen bzw. softwarespezifischen Schaden anzurichten. Durch die Mehrfachnennungen von „nur Grundkenntnisse“, „Einfachheit“ bzw. „Ausprobieren“ ist klar ersichtlich, dass die technische Komponente beim Arbeiten mit Web 2.0-Anwendungen für viele der befragten LehrerInnen als eher nebensächlich erachtet wird.

5.4 Alter der Befragten Die Auswertung des Alters der Lehrkräfte, die relativ konstant Web 2.0-Applikationen einsetzen, setzt ein klares Zeichen zur Enthebelung klassischer Stereotypen vor allem im Technologiebereich: Die ungerechtfertigte und seit Jahren falsch konstatierte Annahme, dass es vor allem die jüngeren LehrerInnen sind, die sich dem Einsatz von neuen Lerntechnologien verschreiben, wird mit einer weiteren Studie falsifiziert (vgl. EUROPEAN SCHOOLNET STUDIE 2011). In der untenstehenden Auswertung ist klar ersichtlich, dass die Anzahl an Lehrkräften, die verstärkt Web 2.0-Tools im Unterricht anwenden, sukzessive mit dem Alter steigt. Vorsichtig formuliert könnte dies bedeuten, dass das bekannte Bild der technologiefeindlichen älteren LehrerInnen mittlerweile ein kolportiertes Klischee ist. Die Auswertung dieser Zahlen lässt einen weiteren Schluss zu: Aufgrund der evidenten pädagogischen und weniger technischen Features von Web 2.0-Anwendungen (vgl. Kapitel 2.2.) trauen sich immer mehr ältere KollegInnen zu, mit einfachen, aber durchaus effektiven Tools zu arbeiten.


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Abb. 4: Altersschnitt von LehrerInnen, die Web 2.0 im Unterricht verwenden Diagramm: Thomas Strasser

6. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick Basierend auf den vom Autor vorgestellten Charakteristika von Web 2.0-Anwendungen, kristallisieren sich folgende Forschungsinteressen heraus: Wie äußert sich die pädagogische Vielseitigkeit von Web 2.0-Anwendungen konkret im Unterricht bzw. welche Rolle spielt die Technik beim Gebrauch dieser pädagogischen Tools? Im Bereich der pädagogischen Vielseitigkeit konnte mithilfe eines Fragebogens festgestellt werden, dass sich die Antworten der Lehrkräfte mit den im praktischen Kontext dargestellten pädagogischen Komponenten von Web 2.0-Anwendungen für den Unterricht vor allem im Bereich Eigenständigkeit, Kommunikation und Kollaboration größtenteils decken (vgl. dazu die pädagogischen Komponenten von Edupad: Reflexion, Modifikation, Kreation, Kollaboration, Multiplikation, Kommunikation). Abgesehen von der Tatsache, dass bestimmte Web 2.0-Applikationen fachspezifische Kompetenzen fördern können (z. B. Textproduktion im Sprachunterricht mit Edupad, vgl. Kapitel 3), liegt eine weitere explizite Forschungseinsicht im Bereich der allgemeinpädagogischen Vielseitigkeit von einigen Web 2.0-Anwendungen vor. Es sind hauptsächlich die unterschiedlichen Arbeits- und Sozialformen bzw. kollaborativen Muster, die mit Web 2.0 gefördert bzw. gefordert werden. Durch eine konsequente Applikation von bestimmten (sozial-)konstruktivistischen Komponenten im Blended Learning-Kontext, kann ein paradigmentechnischer Wechsel im Unterricht erfolgen. Das in den Umfragen oft genannte Prinzip der Kollaboration impliziert hier das größte, aber zugleich auch diffizilste Potenzial. Kollaboration im Web 2.0-Kontext bedeutet den Abbau von klassischen LehrerInnenrollen. Web 2.0-Lernszenarien benötigen keine klassischen, monodirektionalen WissensvermittlerInnen, keine allwissenden MentorInnen und keinen Nürnberger Trichter, sondern vielmehr einen communicative collaborator (vgl. Strasser 2011: 193). Die Kollaboration im virtuellen Kontext erfolgt auf dem Prinzip der hierarchischen Entvertikalisierung (vgl. Strasser 2011: 144), d. h. LehrerInnen und SchülerInnen arbeiten auf einem hierarchisch egalitären Niveau, niemand ist der Master oder Mentor, sondern alle sind gleichwertige TeilnehmerInnen, die ihren Lernprozess mithilfe kommunikativ-kollaborativer Elemente (d. h. eben Reflexion, Kommunikation, Kollaboration, Modifikation, Multiplikation, Kreation) bestimmter bildungsfördern-


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der Web 2.0-Applikationen intensivieren können, ohne sich dabei zu sehr auf technische Details zu konzentrieren.

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Ausgabe 3/2012 Medienbildung im Kontext der „PädagogInnenbildung NEU“


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

Christian Swertz

Überlegungen zur Umsetzung des Berichts „PädagogInnenbildung NEU – Die Zukunft der Pädagogischen Berufe“ im Bereich der Medienpädagogik Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/454

Abstract Arbeitsgruppen der zuständigen Ministerien haben Vorschläge für die Umstellung der Lehramtsausbildung auf die dreigliedrige Studienarchitektur entwickelt. Im Beitrag von Christian Swertz werden Vorschläge zur Einbindung medienpädagogischer Lehrveranstaltungen in die neuen Studienprogramme entwickelt. Reflections on the implementation of the report “PädagogInnenbildung NEU – The future of pedagogical professions” in the field of media pedagogics. Working groups, established by the responsible ministries, developed proposals to establish the BA/MA/PhD structure in teacher training programs. Based on these proposals, suggestions to establish media education in the curricula are made.

1. Die ExpertInnenberichte Den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen bilden zwei Berichte: In einem ersten Schritt wurde zwischen Herbst 2008 und Frühjahr 2010 von einer Gruppe unter der Leitung von Härtel ein Bericht erarbeitet, der unter dem Titel LehrerInnenbildung Neu im März 2010 vorgelegt und im September 2010 in einer überarbeiteten Fassung publiziert wurde (Härtel u. a. 2010). Diese Gruppe wurde von den zuständigen MinisterInnen (Schmied, bm:ukk, und Töchterle, bm:wf ) gemeinsam eingesetzt und hat in einer Reihe von sogenannten „Stakeholder-Konferenzen“ einen zumindest teilöffentlichen Diskurs initiiert, dessen Ergebnisse von der Gruppe gesondert berichtet wurden. Darüber hinaus haben einzelne Mitglieder der Gruppe Expertisen erarbeitet (Hopmann u. a. 2010), die im September 2010 veröffentlicht wurden. Im Frühjahr 2011 wurde dann eine neue Gruppe eingesetzt, ohne dass Angaben zu den Gründen für die weitreichenden personellen Änderungen gemacht wurden. Von dieser Gruppe wurde unter der Leitung von Schnider im Juni 2011 der Bericht PädagogInnenbildung NEU vorgelegt (Schnider u. a. 2011). Dieser Bericht stellt im Wesentlichen eine gekürzte Konkretisierung des Berichts von 2010 dar und nimmt in diesem Sinne insbesondere bezüglich der Begründungen ausdrücklich Bezug auf den älteren Bericht. Allerdings sind mit dem neuen Bericht Änderungen vor allem im institutionellen Bereich verbunden. Während die zunächst vorgeschlagene „Clusterlösung“ weggefallen ist, wurden konkrete Anforderungen an die Trägerinstitutionen, die berufsqualifizierende pädagogische Studien an-


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bieten wollen, neu formuliert und dabei nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine berufspraktische Expertise gefordert. Den Kern des von den Gruppen entwickelten Ansatzes bilden vier Entscheidungen: 1. Viergliedrige Struktur aus Bachelor, Induktionsphase, Master und Doktorat 2. Vierjähriger Bachelor mit 240 CP (Kreditpunkte) und einjähriger Master mit 60 CP 3. Einheitlicher bildungswissenschaftlicher Kern für alle pädagogischen Berufe 4. Differenzierung der Studien entlang des Alters der Zielgruppen Diese Entscheidungen beinhalten eine weitgehende Änderung gegenüber der bisherigen Praxis. Formal veranlasst wurden die Berichte durch das Regierungsprogramm, in dem wiederum die Umstellung der Lehramtsausbildung auf die Bologna-Architektur und die anstehende Pensionierungswelle im Schulbereich als Anlass genannt werden (Regierungsprogramm 2008– 2013: 211). Der konkrete Auftrag an die Gruppen wurde allerdings nicht veröffentlicht. Es kann nur vermutet werden, dass die Ergebnisse verschiedener internationaler Vergleichsstudien die politische Entscheidung für eine weitreichende Reform mit beeinflusst haben. Zum Zeitpunkt der Entwicklung der hier vorgelegten Überlegungen kann noch nicht abgeschätzt werden, inwiefern die Berichte auch tatsächlich umgesetzt werden. Zwar sind zahlreiche Entwicklungen bekannt (etwa zur Dienstrechtsreform oder zur Schaffung tertiärer Bildungsinstitutionen in Anlehnung an das Konzept), die zur Umsetzung beitragen können. Allerdings sind diese Entwicklungen noch nicht abgeschlossen, während andere Entwicklungen (etwa der auch politisch motivierte Konflikt zwischen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen oder die fehlende Umsetzung der Empfehlungen in Gesetze) die Realisierung erschweren. Als Grundlage einer Interpretation aus medienpädagogischer Sicht können hier nur die veröffentlichten Berichte herangezogen werden. Es ist allerdings anzunehmen, dass die momentane Offenheit des Prozesses Gestaltungsspielräume lässt, die eine Umsetzung von Vorschlägen ermöglichen wird.

2. Anmerkungen zu den ExpertInnenberichten Die Weiterentwicklung der Ausbildung von PädagogInnen in Österreich ist zunächst zu begrüßen, weil die derzeitige Situation der Qualifizierung für eine pädagogische Tätigkeit in schulischen und außerschulischen Handlungsfeldern auch aus medienpädagogischer Sicht nicht befriedigend ist. Die Absicht, eine „Gesamtkonzeption zur Aus- und Weiterbildung für pädagogische Berufe“ (Schnider 2011: 5) zu erstellen, ist auch im Blick auf die gesellschaftliche Verankerung professioneller medienpädagogischer Praxis ein aussichtsreiches Unterfangen. Hervorzuheben ist dabei, dass die Konzeption als Prinzip die Orientierung an der Bildung junger Menschen im Blick auf die Zukunft in den Mittelpunkt rückt (Härtl 2010: 6). Erst daran anschließend wird das Anliegen, gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen, genannt. Damit ist das Konzept grundsätzlich an der Bildung des Menschen orientiert. Nützlichkeitsüberlegungen werden angemessen berücksichtigt, aber nicht unangemessen überhöht. Durch die explizite Bindung des Konzepts an den Bildungsbegriff aus dem österreichischen Schulgesetz von 1952 scheint allerdings unterschätzt zu werden, dass die im Bericht genannten Veränderungen im „Medien- und Informationsumfeld“ der letzten 60 Jahre nicht ohne Auswirkungen auf die Konzeption des Bildungsbegriffs geblieben sind (vgl. dazu etwa Meder 1998; Marotzki/Nohl/Ortlepp 2003; Sesink 2004). Dazu seien hier nur der Pluralitäts- und der Re-


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flexionsbegriff als Stichwörter genannt. Allerdings besteht in der Bildungswissenschaft kein breiter Konsens über die Interpretationen der genannten Entwicklungen. Die grundsätzliche Orientierung an der Bildung des Menschen und die grundlegende Berücksichtigung medialer Entwicklungen sind auch aus medienpädagogischer Sicht jedenfalls zu begrüßen. Hervorzuheben ist das Anliegen der Gruppen, eine pädagogische Ausbildung für alle pädagogischen Berufe zu etablieren. Damit betrifft das Konzept nicht nur den schulischen Bereich, sondern auch die Elementarpädagogik sowie insbesondere auch den außerschulischen Bereich. Da Medienpädagogik in Österreich derzeit vor allem im außerschulischen Bereich institutionalisiert ist, kann mit der Einrichtung der PädagogInnenbildung NEU auch ein wichtiger Schritt zur Professionalisierung der außerschulischen medienpädagogischen Praxis gesetzt werden. Die davon zu erwartende Förderung professionellen medienpädagogischen Handelns im schulischen und außerschulischen Bereich ist zu begrüßen. Die Berichte der Gruppen sehen neben der Einrichtung eines pädagogischen Kerns für alle pädagogischen Berufe vor, dass Institutionen, die eine PädagogInnenbildung anbieten, Lehre und Forschung miteinander verbinden und alle vier Stufen (BA, Induktionsphase, MA, PhD) anbieten. Die mit der Verbindung von Lehre und Forschung verbundene Absicht ist es, die Zusammenarbeit der derzeit in Pädagogischen Hochschulen und Universitäten arbeitenden Menschen zu fördern und einen Austausch im Interesse einer gegenseitigen Bereicherung unter Berücksichtigung der jeweiligen Profile anzuregen. Dieser Ansatz entspricht der medienpädagogischen Tradition, theoretische Konzeptionen, empirische Beobachtungen und praktische Erfahrungen eng aufeinander zu beziehen, und ist daher zu begrüßen. Des Weiteren sehen die Berichte für die PädagogInnenbildung NEU die Verbindung von Forschung und Lehre für die Lehrenden der tertiären Bildungseinrichtungen, die entsprechende Studienprogramme anbieten wollen, zwingend vor. Das ist zumindest teilweise auch für die Studierenden der Fall. Das mit ca. 10 CP ausgestattete Modul „Gestaltung und Evaluation von Bildungsprozessen“ legt dafür wenigstens einen Mindeststandard fest. Eine darüber hinausgehende forschende Tätigkeit der Studierenden ist allerdings nicht vorgesehen. Damit ist klar, dass die Fähigkeit, wissenschaftliche Bachelor- oder Masterarbeiten anzufertigen, nicht vermittelt wird. Das machen auch die für die Masterprogramme vorgesehenen Vertiefungen deutlich, die ausschließlich auf praktische, nicht aber auf forschende Tätigkeiten gerichtet sind. Damit wird das Konzept einer forschungsgeleiteten Lehre insofern eng geführt, als zwar die Lehrenden an tertiären Bildungseinrichtungen auch Forschende sein sollen, die Studierenden als zukünftige Lehrende aber kaum dazu in die Lage versetzt werden sollen, eine forschungsbasierte Weiterentwicklung der eigenen Lehre zu betreiben oder die Strukturen im Feld der bildungswissenschaftlichen Forschung so zu erfassen, dass eine gelingende Theorie-Praxis- Transformation zu erwarten ist. Wenn die Orientierung an der Bildung des Menschen nicht nur für SchülerInnen, sondern auch für die Studierenden gelten soll, sollte dieses Desiderat behandelt werden.

3. Verortungen der Medienpädagogik Medien spielen, und das muss hier nicht weiter begründet werden, in den menschlichen Lebenswelten eine zentrale Rolle. In den Berichten kommen nun Medien und die Medienpädagogik auf den ersten Blick nur am Rande vor. Die Positionierung der Medienpädagogik in den Berichten entspricht aber bei genauerer Betrachtung einerseits der derzeitigen, im fachwissen-


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schaftlichen Diskurs erwünschten Positionierung der Medienpädagogik und stellt andererseits gegenüber dem aktuellen Stand in vielen Fällen eine Erweiterung dar. Dass die Verortung der Medienpädagogik der fachwissenschaftlich erwünschten Verortung entspricht, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass das Konzept für die PädagogInnenbildung NEU in hohem Maße erstens auf einen gemeinsamen pädagogischen Kern und zweitens auf Schul- und Flächenfächer bezogen ist. Ein Verständnis von Medien als notwendige und daher zum Kern gehörende Elemente jeder pädagogischen Tätigkeit kommt im fachwissenschaftlichen Diskurs zwar immer wieder vor, kann aber auch in der Medienpädagogik nicht als breiter Konsens angesehen werden. Daher kann nicht erwartet werden, dass die Medienpädagogik in einem Konzept für alle pädagogischen Berufe als Kern der Bildungswissenschaft einfach so mit angesprochen wird. Und Medienkunde ist in Österreich als Schulfach weder breit etabliert, noch kann die Forderung nach der Einrichtung eines solchen Schulfachs als medienpädagogischer Konsens ausgewiesen werden. Daher kann die Medienpädagogik auch nicht als Unterrichtsfach angesprochen werden. In der medienpädagogischen Praxis wird derzeit Media- und Informationliteracy sowohl in Schulen als auch im außerschulischen Bereich als Querschnittsmaterie vermittelt. Das Verständnis der Vermittlung von Media- und Informationliteracy als Querschnittsaufgabe ist auch eine im fachwissenschaftlichen Diskurs breit akzeptierte und in vielen europäischen Ländern etablierte Praxis (Swertz/Fessler 2010). Der Ansatz einer Positionierung als Querschnittsmaterie ist mit dem vorliegenden Konzept der PädagogInnenbildung NEU sehr gut vereinbar. Das kann einfach erreicht werden: Um Medienpädagogik als Querschnittsmaterie zu etablieren, müssen passende Module medienpädagogisch bespielt werden. Dazu ein Beispiel: Der Bereich „Kommunikation, Organisation, Teamarbeit und Selbsterfahrung“, der mit ca. 10 CP zentral im pädagogischen Kern angesiedelt ist, erfordert es (aus medienpädagogischer Sicht: offensichtlich), Kompetenzen zur Anwendung und Reflexion der Funktionen von Medien – angefangen vom vertraulichen Gespräch bis zur Groupware – für die Kommunikation, Organisation, Teamarbeit und Selbsterfahrung zu vermitteln. Damit ist Medienpädagogik bereits im für alle pädagogischen Berufe verbindlichen Kern berücksichtigt. Ein zweites Beispiel ist der Bildungsbereich „Ästhetik und Gestaltung“ im Bachelorprogramm für den Elementar- und Primarbereich. Es ist klar, dass hier auch die Gestaltung von Medien wie Internetseiten, Radiosendungen, Videoproduktionen und Computerspiele im Sinne der handlungsorientierten Medienpädagogik zu berücksichtigen ist. Neben der Berücksichtigung der Medienpädagogik als Querschnittsmaterie nennt das Konzept für die PädagogInnenbildung NEU Medienpädagogik ausdrücklich als einen der Schwerpunkte, der also in allen Lehramtsstudien anzubieten ist. Der angegebene Umfang von 30 CP überschreitet dabei nicht nur das in aktuell vorliegenden Lehramtsstudienprogrammen vorhandene Angebot bei Weitem, sondern entspricht beispielsweise dem Umfang des früheren Schwerpunkts Medienpädagogik im Diplomstudium der Bildungswissenschaft an der Universität Wien und reicht insofern aus, um zentrale medienpädagogische Bereiche abzudecken. Damit ist nicht nur ein erheblicher Ausbau medienpädagogischer Lehrveranstaltungen vorgesehen, sondern durch die ausdrückliche Nennung ist Medienpädagogik auch gefordert, Angebote zu setzen. Bedarf nach solchen Angeboten wird darüber hinaus nicht nur dadurch entstehen, dass medienpädagogische Lehrveranstaltungen sich bei Studierenden in der Regel großer Beliebtheit erfreuen, sondern auch dadurch, dass in Schulen Funktionsträger mit den entsprechenden Kompetenzen (E-Learning-Beauftragte, Schulbibliothekare) vorgesehen sind. Medi-


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enpädagogische Angebote werden damit zu einem Standortvorteil für tertiäre Bildungsträger werden. Nur am Rande erwähnt wird in den Berichten der Gruppen der Weiterbildungsbereich. Infrage kommende Anbieter sollen jedenfalls nicht nur Bachelor- und Masterstudien sowie eine Begleitung an der Induktionsphase anbieten, sondern auch Weiterbildungsangebote bereithalten. Inhaltlich werden die Weiterbildungsangebote nicht weiter bestimmt. Damit ist die Medienpädagogik im Blick auf die Weiterbildung also ebenso wenig angesprochen wie alle anderen bildungswissenschaftlichen Disziplinen. Es ist aber klar, dass Weiterbildungsangebote zu setzen sind. Ein entsprechendes medienpädagogisches Angebot im Sinne des lebenslangen Lernens zu entwickeln bzw. bestehende Angebote weiter zu realisieren, wird damit zu einer Aufforderung an die im tertiären Bereich medienpädagogisch tätigen Menschen. Ein Thema, das die Medienpädagogik unstrittig als einen ihrer Kerne ansieht und dessen Relevanz auch breit akzeptiert wird, berücksichtigen die vorliegenden Berichte allerdings nicht: Das ist der Bereich der Mediendidaktik. Zwar könnte optimistisch unterstellt werden, dass Mediendidaktik in den Fachdidaktiken mit berücksichtigt wird. Aber auch in diesem Fall würden nur diejenigen erreicht, die den Bachelor für die Sekundarstufe zwei absolvieren. Es gibt allerdings durchaus die Möglichkeit, Mediendidaktik in den Themenbereichen des Kerns zu platzieren. Das muss in der Umsetzung der Konzepte allerdings von medienpädagogischer Seite auch ausdrücklich gefordert und durchgesetzt werden. Nicht ausdrücklich genannt werden in dem Konzept für die PädagogInnenbildung NEU Studienprogramme, die für eine pädagogische Tätigkeit im außerschulischen Bereich qualifizieren. Mit dem Anspruch, einen Kern für alle pädagogischen Berufe zu bestimmen, ist aber klar, dass auch alle außerschulischen pädagogischen Handlungsfelder, von der Erwachsenenbildung bis zur Sozialpädagogik, zu berücksichtigen sind. Aus dieser Sicht fehlt allerdings der Altersbereich der über 19-Jährigen, um den die derzeitige Einteilung zu erweitern ist. Mit den beiden vorgeschlagenen Erweiterungen ist neben den im Bericht der ExpertInnenkommission exemplarisch genannten Bachelor- und Masterprogrammen an weitere Curricula, etwa für „Jugendarbeit“ und „Erwachsenenbildung“, zu denken. Dabei sind ein Bachelorprogramm für Jugendarbeit sowie die ebenfalls erforderliche Begleitung der Induktionsphase mit der vorgesehenen Einteilung in Altersbereiche ohne Weiteres vereinbar. Wird darüber hinaus berücksichtigt, dass die vorgesehenen Bachelorprogramme 240 CP – also 8 Semester – umfassen und damit im Umfang nahezu den früheren Diplomstudien entsprechen, ist deutlich, dass auch der Umfang des Studiums durchaus ausreichend ist, um ein hohes Ausbildungsniveau zu erreichen. Aus dieser Sicht könnte es schon genügen, den Bezug auf Schulfächer durch einen Bezug auf für die Jugend- und Sozialarbeit relevante Themen zu ersetzen, um eine Struktur zu erhalten, in der Medienpädagogik ebenso ausführlich berücksichtigt werden kann wie etwa Sozialpädagogik, interkulturelle Pädagogik etc. Darüber hinaus bietet insbesondere der Vorschlag der ExpertInnenkommission zur Einrichtung von institutionenübergreifend angebotenen Studienprogrammen die Möglichkeit, ein Studium der Medienpädagogik zu etablieren, da in Österreich kein Standort über die nötigen Ressourcen verfügt, medienpädagogische Studien im Umfang von bis zu 75 CP allein anzubieten. Es ist allerdings festzustellen, dass auch im Falle einer institutionenübergreifenden Kooperation die in Österreich vorhandenen medienpädagogischen Ressourcen im tertiären Bereich nicht ausreichen, um medienpädagogische Angebote für die Lehramtsausbildung im erforderlichen Umfang zu realisieren. Daher wird es erforderlich sein, weitere mit Promotionsrecht ver-


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sehene Professuren für Medienpädagogik so einzurichten, dass jeder tertiären Einrichtung, die eine Lehramtsausbildung anbietet, die benötigten Ressourcen zur Verfügung stehen. Als wesentlicher Nachteil der von den ExpertInnenkommissionen vorgeschlagenen Struktur ist allerdings noch einmal an die nicht vorgesehene forschungsmethodische Qualifikation zu erinnern. Die Bachelor- und Masterprogramme, die im Rahmen des Konzepts der PädagogInnenbildung NEU eingerichtet werden können, sind in hohem Maße berufsorientiert. Eine wissenschaftliche Qualifikation im Sinne einer Forschungskompetenz wird jedenfalls nicht vermittelt. Damit kann möglicherweise erreicht werden, dass die österreichische PädagogInnenausbildung in den pädagogischen und fachbezogenen Anforderungen im europäischen Spitzenfeld angesiedelt ist (Schmidl 2011: 10). Für den Übergang zu einer weiteren wissenschaftlichen Qualifizierung (PhD) erscheint die vorgeschlagene Struktur allerdings als ebenso problematisch, wie Lehramts- und Fachhochschulstudiengänge das bisher auch waren. Damit sind aus medienpädagogischer Sicht für die PädagogInnenbildung NEU Lehrveranstaltungen und Curricula für folgende Bereiche zu konzipieren: 1. Medienpädagogik als Querschnittsmaterie im Lehramtsstudium 2. Medienpädagogik als Schwerpunkt im Lehramtsstudium 3. Medienpädagogische Weiterbildungen 4. Medienpädagogik als Schwerpunkt in einem zu entwickelnden Curriculum „Jugendarbeit“ Es ist sinnvoll, diese Konzepte so flexibel zu konzipieren, dass eine lokale Profilbildung orientiert werden kann. Gleichzeitig ist es aber im Interesse der Professionalisierung erforderlich, einen gemeinsamen Kern zu identifizieren. Dazu kann hier lediglich ein Diskussionsvorschlag gemacht werden.

4. Medienpädagogische Orientierungen Bereits 2008 wurde vonseiten des Europäischen Parlaments die Forderung nach Medienerziehung als Bestandteil der LehrerInnenausbildung bzw. nach Medienerziehung an Schulen und Universitäten gestellt (Europäisches Parlament 2008). Allen europäischen BürgerInnen soll es ermöglicht werden, “to access the media, to understand and critically evaluate different aspects of the media and media content and to create communications in a variety of contexts”, wie in der „Declaration of Brussels for Lifelong Media Education“ 2011 spezifiziert wird. Ziel der Forderungen zur „Medienkompetenz in der digitalen Welt“, die als Voraussetzung für eine wettbewerbsfähige und integrative Wissensgesellschaft bezeichnet wird, ist „der selbstbewusste Mediennutzer“. Allerdings bleibt dieser Ansatz mit der Orientierung an der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, der auch der selbstbewusste Mediennutzer untergeordnet wird, hinter dem Stand der medienpädagogischen Diskussion insofern deutlich zurück, als eine Reflexion der damit zum Ausdruck kommenden neoliberalen Position nicht vorgesehen ist. Dagegen rückt der Grundsatzerlass Medienerziehung für Österreich (bm:ukk 2012) die „Heranbildung kommunikationsfähiger und urteilsfähiger Menschen“ in den Mittelpunkt. Die Orientierung in der Gesellschaft, die konstruktiv-kritische Haltung gegenüber vermittelten Erfahrungen, die kreative Medienproduktion und nicht zuletzt die Weiterentwicklung der Demokratie werden explizit als Ziele genannt. Damit rückt ein reflexiver Mediengebrauch im Sinne eines rezeptiven und produktiven Umgangs mit Medien in den Mittelpunkt. Der


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Grundsatzerlass unterscheidet dabei im Sinne das medienpädagogischen Fachdiskurses zwischen einem Unterricht mit Medien und einem Unterricht über Medien. Der Unterricht mit Medien wird als Mediendidaktik bezeichnet; der Unterricht über Medien als Medienkompetenzvermittlung. Der Medienbegriff selbst wird im Grundsatzerlass allerdings nicht geklärt. Eine Abgrenzung im Sinne von Medien als Massenmedien oder Medien als Neue Medien macht keinen Sinn, wenn der Unterricht mit Medien in pädagogischen Handlungsfeldern in den Umfang des Medienbegriffs eingeschlossen werden soll. Erforderlich ist daher ein allgemeiner Medienbegriff. Werden Medien als Gegenstände, die von Menschen als Zeichen verwendet werden, verstanden, ist klar, dass pädagogisches Verhalten im Sinne einer Verständigung über kulturelle Gehalte ohne Medien nicht möglich ist. Dieser Ansatz erlaubt es, die beiden genannten Perspektiven (Mediendidaktik und Medienkompetenz) vor dem Hintergrund des fachwissenschaftlichen Diskurses aufeinander zu beziehen: Da jede pädagogische Handlung immer Medien verwenden muss, ist es jederzeit möglich, auf die mit der Verwendung des jeweiligen Mediums verbundenen Funktionen und Strukturen hinzuweisen. Eine Reflexion des Mediengebrauchs kann aber auch durch eine Variation der verwendeten Medien, also durch Medienvielfalt, erreicht werden. An dieser Stelle treffen sich medienpädagogische Überlegungen mit Prinzipien der Allgemeinen Didaktik. In diesem Sinne wird hier der Vorschlag gemacht, in die zu konzipierenden Lehrveranstaltungen, Module und Curricula die Vermittlung von Mediendidaktik und Medienkompetenz zu integrieren. Wenn dabei die Handlungsorientierung als medienpädagogisches Prinzip in den Mittelpunkt gerückt wird, ist es nicht erforderlich, zwischen den Kompetenzen, die die SchülerInnen erwerben sollen, und den Kompetenzen, die die Lehrenden erwerben sollen, systematisch zu unterscheiden. Denn ebenso wie die Lehrenden die Kompetenzen erwerben sollen, Medien zum Zwecke der Verständigung reflexiv zu rezipieren und zu produzieren, sollen die Lernenden die Kompetenzen erwerben, Medien zum Zwecke der Verständigung reflexiv zu rezipieren und zu produzieren. Es geht also darum, Media- und Informationliteracy (Swertz/Fessler 2010) in der PädagogInnenbildung so zu vermitteln, dass die Lehrenden Medien zur Mitteilung von Wissen reflektiert so verwenden können, dass die Lernenden das mitgeteilte Wissen ebenso erwerben wie die Kompetenz zur reflektierten Rezeption und Produktion von Medien. Dem entspricht eine Positionierung medienpädagogischer Inhalte als Querschnittsmaterie. Diese Positionierung ist zum einen im Sinne eines Prinzips zu verstehen. Jede pädagogische Tätigkeit (Diagnostik, Beratung, Unterricht, Leitung, Teamarbeit etc.) muss durch die Wahl eines Mediums spezifiziert werden. Fernunterricht, um das plakativ zu sagen, ist nicht das Gleiche wie Präsenzunterricht. Dabei bilden Medien in vielen Fällen den Hintergrund, während andere Themen im Vordergrund stehen. In den Fällen, in denen Medien thematisch sind (insbesondere Medientheorie, Mediendidaktik, Medienkompetenz und Mediensozialisation), stehen Medien im Vordergrund und im Hintergrund. Nur im diesem Fall macht es Sinn, von medienpädagogischen Lehrveranstaltungen zu sprechen, und auf diese gilt es sich zu konzentrieren.

5. Realisierung In den im Folgenden entwickelten Überlegungen werden die politisch gesetzten strukturellen Rahmenbedingungen nicht berücksichtigt, da die derzeitige politische Konstellation es nicht erwarten lässt, dass die für die erstrebenswerte Kooperation der verschiedenen Institutio-


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nen erforderlichen Strukturen geschaffen werden. Stattdessen wird es erforderlich sein, dass die notwendige Zusammenarbeit durch die im Feld Tätigen, also auf professioneller Ebene, hergestellt wird – was durchaus als Vorteil gesehen werden kann. Die durch die Akteure im Feld erzeugten und erzeugbaren strukturellen Bedingungen sind also zu berücksichtigen. Dazu ist ein akkordiertes Vorgehen erforderlich, das innerhalb der bestehenden Kooperationsstrukturen entwickelt werden kann. Ein solches Vorgehen ist auch erforderlich, um die adäquate Positionierung von Medienpädagogik in der Praxis durchzusetzen. Es ist jedenfalls nicht zu erwarten, dass sich eine Etablierung von Medienpädagogik in der intra- und interinstitutionellen Konkurrenz im tertiären Bereich schlicht ereignet. Erforderlich ist ein Konzept für die Verortung medienpädagogischer Lehrveranstaltungen in den vier oben identifizierten Bereichen: 1. Medienpädagogik als Querschnittsmaterie im Lehramtsstudium 2. Medienpädagogik als Schwerpunkt im Lehramtsstudium 3. Medienpädagogische Weiterbildungen 4. Medienpädagogik als Schwerpunkt in einem Curriculum „Jugendarbeit“ Hier werden Überlegungen zu den ersten beiden Bereichen entwickelt, da die Bereiche drei und vier derzeit noch nicht akut sind. Dabei ist zu bedenken, dass für die genannten Themen in den Papieren der Kommissionen nur ungefähre und keine genauen CP-Angaben gemacht werden. Das ist naheliegend, weil die Umsetzung in Curricula die Berücksichtigung institutioneller Spezifika erfordert. Daher werden im Folgenden keine Angaben zu den CP gemacht. Sinnvoll erscheint aber die Entwicklung von Curricula, die eine Verbindung unterschiedlicher Expertisen ermöglichen, d. h. dass die Inhalte in Form einer Lehrveranstaltung angeboten werden können, die in Verbindung mit anderen Lehrveranstaltungen dann das Themenfeld abdeckt. Welches Format diese Lehrveranstaltung hat (Vorlesung, Proseminar) und in welchem CP-Umfang diese angeboten wird, muss an die institutionellen Spezifika angepasst werden. Dazu werden hier die in Schnider (2011) genannten Themenfelder mit den in Härtel (2010) genannten Kompetenzen verbunden. In der differenzierteren Darstellung in Härtel (2010) sind zahlreiche Bezüge zu medienpädagogischen Themen vorhanden, die im Blick auf medienpädagogische Themen interpretiert werden können. Medienkompetenz und Mediendidaktik sind dabei im oben genannten Sinn als für alle Lehrveranstaltungen relevant mitgedacht.

5.1 Medienpädagogik als Querschnittsmaterie im Lehramtsstudium Hier ist zunächst zu unterscheiden zwischen dem gemeinsamen pädagogischen Kern und den thematisch einheitlich, aber nach beruflichen Einsatzfeldern differenzierten Angeboten (Schnider 2011: 6). Für den gemeinsamen pädagogischen Kern erscheint es sinnvoll, medienpädagogische Angebote im Blick auf allgemeine Aufgaben zu setzen: 1. Bildung und ihre Organisation: Verstehen und Gestalten von Informations- und Kommunikationstechnologien zur Organisation von Bildungsinstitutionen • Die Funktion von Informations- und Kommunikationstechnologien zur Entwicklung von Bildungseinrichtungen einschätzen und Anwendungssoftware zur Organisation und Präsentation von Bildungseinrichtungen auswählen zu können


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• Daten- und Persönlichkeitsschutz als rechtliche und administrative Regelung kasuistisch anwenden zu können • Die Funktion von Medien in der „Institutionenentwicklung als datengestützten Prozess analysieren und in den Kontext eines eigenen Entwicklungsprojektes bzw. eigener Erfahrungen einordnen können“ (Härtel 2010: 46), d. h. insbesondere die Relevanz für Informations- und Kommunikationstechnologien für die Erzeugung und Interpretation von Daten und die Entwicklung von Institutionen zu verstehen und gestalten zu können • Die mit der Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien verbundenen typischen „Steuerungsprobleme und Konfliktzonen des Bildungssystems auf eigene Handlungssituationen beziehen und daraus Folgerungen für die eigene Professionalität ziehen zu können“ (Härtel 2010: 46) 2. Kommunikation, Organisation, Teamarbeit, Selbsterfahrung • Den „Umgang mit den neuen Medien“ (Härtel 2010: 45) für die Kommunikation, Organisation, Teamarbeit und Selbsterfahrung gestalten zu können • Die Bedeutung von Medien für die Konstitution von und den „Umgang mit unterschiedlichen Kulturen, differenten Anspruchshaltungen und heterogenen Erwartungen“ (Härtel 2010: 45) zu kennen und gestalten zu können • Medien- und „Kommunikationsmodelle in ihrer Relevanz für die eigenen Kommunikationen im System“ (Härtel 2010: 45) zu kennen und den Umgang mit Medien und Kommunikationen gestalten zu können 3. Studium generale: Gesellschaft und Wissenschaft • Die Bedeutung von Medien für die Informations- und Wissensgesellschaft kennen und auf Bildungsinstitutionen beziehen zu können • Eine kritisch-reflexive Haltung in gestaltender Absicht zu Medien zu entwickeln Für die thematisch einheitlichen, aber nach beruflichen Einsatzfeldern differenzierten Angebote erscheinen folgende medienpädagogische Angebote sinnvoll: 1. Erziehungs- und bildungswissenschaftliche Grundlagen • Die Bedeutung von Medien und Medientheorien für die Konstitution von Bildungsanthropologien kennen und „ihr kritisches Potential als Hintergrund eigenen Handelns nutzen zu können“ (Härtel 2010: 44) • Multidisziplinäre medienbezogene „Beschreibungsmodelle des Phänomens ‚menschliches Lernen‘ in den eigenen Beobachtungen der lernenden Adressaten nutzen zu können“ (Härtel 2010: 44) 2. Gestaltung und Evaluation von Bildungsprozessen • Die Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien für „neue Formen von Evaluation und Rechenschaftslegung im Bildungswesen auf das eigene Handlungsfeld hin beurteilen“ (Härtel 2010: 46) und gestalten zu können 3. Schule und pädagogische Qualität • Medienbezogene „Qualitätskriterien und dafür relevante Einflussgrößen als zentrale Orien-


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tierungsmaßstäbe eigenen professionellen Handelns berücksichtigen zu können“ (Härtel 2010: 46) • Den Beitrag mediendidaktischer Konzepte und Erkenntnisse für die Qualitätsentwicklung von Bildungsinstitutionen berücksichtigen zu können • Den Beitrag der Vermittlung von Media- und Informationliteracy als Querschnittsaufgabe für die Qualitätsentwicklung von Bildungsinstitutionen berücksichtigen zu können Neben dem pädagogischen Kern sollen die Bachelorstudien in Curricula differenziert werden, die sich am Alter der Zielgruppe orientieren. Dazu ist eine Differenzierung in den Elementar- und Primarbereich sowie den Sekundarbereich vorgesehen. Diese werden dann wieder in den Elementarbereich, den Primarbereich, den Pflichtschulbereich und die Oberstufe so unterteilt, dass jeweils altersgruppenspezifische gemeinsame und institutionenspezifisch differenzierte Bereiche entstehen. Eine genaue Verortung medienpädagogischer Angebote hängt dabei in hohem Maße von den jeweils verfügbaren Ressourcen und gewählten curricularen Strukturen ab. Daher wird hier nur die Unterscheidung nach Altersbereichen berücksichtigt. Die Integration medienpädagogischer Angebote in den Bildungsbereichen des Elementar- und Primarbereichs ist im Blick auf die Bildungsbereiche zu differenzieren. Eine Integration bietet sich nicht für alle, aber zumindest für einige Bereiche an. 1. Elementar- und Primarstundendidaktik • Medien in den Bildungsbereichen einsetzen und gestalten zu können • Den SchülerInnen die Kompetenz zur Gestaltung von Medien vermitteln zu können 2. Schwerpunkt in einem Bildungsbereich • Im Bereich Werte und Gesellschaft die Fähigkeit zur Medienkritik im Kontext der Wissensund Informationsgesellschaft vermitteln zu können • Im Bereich von Sprache und Kommunikation die Fähigkeit, Medien zu lesen und sich mittels Medien zu verständigen, vermitteln zu können • Im Bereich Ästhetik und Gestaltung SchülerInnen die Fähigkeit zur kreativen Gestaltung von Medientechnik und Inhalten vermitteln zu können Die Integration medienpädagogischer Angebote in den Bildungsbereichen des Sekundarbereichs kann, wie eingangs begründet, nicht über die Fächer, sondern allenfalls über die Fachdidaktik erfolgen. Eine genauere Spezifikation erfolgt in den Konzepten der ExpertInnen nicht, da die Sinnhaftigkeit der Trennung zwischen Fach und Fachdidaktik bezweifelt wird. Wohl aus diesem Grund wird lediglich sehr allgemein „Fachdidaktik als Schlüssel für fachliche Lern- und Erkenntnisprozesse“ (Härtel 2010: 35) bestimmt. Dass Medien dabei eine nicht unwesentliche Rolle spielen, ist evident. Schwieriger ist die Integration, die wegen der Breite der zu berücksichtigen Fächer und der hohen Abhängigkeit mediendidaktischer Arrangements von den Strukturen des Fachs von medienpädagogischer Seite nicht geleistet werden kann. Daher gibt es zwei Optionen: Entweder werden medienpädagogische Überlegungen vonseiten der Fachdidaktiken integriert oder es wird eine Veranstaltung zur „Einführung in die Medienpädagogik für Lehramtsstudierende mit Schwerpunkt Sekundarstufe“ entwickelt, in der allerdings fachspezifische Besonderheiten nicht berücksichtigt werden können. Für die erste Variante wäre aus medienpädagogischer Sicht die Zusammenarbeit mit den fachdidaktischen Zentren zu su-


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chen. Die zweite Variante wäre auf der Ebene der Studienprogrammleitungen zu implementieren. Wünschenswert erscheint eher die erste Variante, weil die Verbindung zwischen Wissensdomäne und Medienverwendung für die Studierenden anschlussfähiger ist und Transferprobleme reduziert werden.

5.2 Medienpädagogik als Schwerpunkt im Lehramtsstudium Für die Konzeption des Schwerpunkts Medienpädagogik ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Schwerpunkt altersspezifisch konzipiert ist. Hier ist also zwischen einem Schwerpunkt für den Elementar- und Primarbereich und einem Schwerpunkt für den Sekundarbereich zu unterscheiden. Bei Schnider (2011: 12) ist dabei der Schwerpunkt für den Elementar- und Primarbereich mit 30 CP angegeben, für den Sekundarbereich mit 15+15 CP, was darauf hinweist, dass zwei Schwerpunkte gewählt werden können. In Härtl (2010: 52) werden allerdings für beide Bereiche Vertiefungen im Umfang von mindestens 30 CP genannt. Daher ist von 30 CP auszugehen. Die hier vorgeschlagene Struktur greift auf unveröffentlichte Konzepte zurück, die von der Kommission Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft unter Beteiligung von Aufenanger, Herzig, Hugger, Niesyto, Sesink, Swertz und de Witt entwickelt worden sind. Vorgeschlagen wird eine Aufteilung in drei Gebiete: 1. Grundlagen der Medienpädagogik 2. Medienentwicklungen und Medienwelten 3. Handlungsfelder der Medienpädagogik Diese Struktur erscheint für die Entwicklung einer Vertiefung im Bereich Medienpädagogik in den genannten Programmen sinnvoll. Mit einer genaueren Spezifizierung sind vor dem Hintergrund der hier entwickelten medienpädagogischen Orientierung zwei Herausforderungen verbunden: Zum einen hängt die Auswahl der Inhalte, die im Schwerpunkt angeboten werden, von den Inhalten ab, die im Kernbereich bereits vermittelt werden. Zum anderen erscheint es sinnvoll, die Inhalte auch auf die Anforderungen des Feldes zu beziehen: In österreichischen Schulen gibt es als Funktionen derzeit E-Learning-Beauftragte und/oder SchulbibliothekarInnen. Aus medienpädagogischer Sicht machen die Trennung dieser Funktionen und die häufig anzutreffende Einschränkung auf Verwaltungsfunktionen (etwa: Ausleihsystem, Schulserververwaltung) wenig Sinn. Daher ist eine Integration der genannten Funktionen anzustreben. In diesem Sinne wird hier vorgeschlagen, die Inhalte im Schwerpunkt im Blick auf Medienbeauftragte zu konzipieren, die nicht nur als E-Learning-Beauftragte und SchulbibliothekarInnen, sondern auch als mediendidaktische ExpertInnen beratend tätig werden und ihre Angebote auf die Vermittlung von Media- und Informationliteracy hin ausrichten können. Für die vorgesehenen 30 CP sind damit, ohne dass hier die Funktion der Medienbeauftragten schon als spezifiziert vorausgesetzt werden kann, folgende Bereiche als vorerst sinnvoll zu berücksichtigen: 1. Grundlagen der Medienpädagogik • Die Grundbegriffe (Medienkompetenz, Medienbildung, Mediensozialisation, Identitätsbildung) und den Gegenstandsbereich der Medienpädagogik erläutern und auf die eigene pädagogische Tätigkeit beziehen zu können


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• Medienpädagogische Evaluationsmethoden für die eigene pädagogische Tätigkeit (insbesondere auch im Bereich des E-Learning und der Schulbibliotheken) anwenden zu können • Intra- und interdisziplinäre Bezüge der Medienpädagogik zu kennen und in der Genese und Anwendung medienpädagogischer Erkenntnisse (insbesondere auch im Bereich des E-Learning und der Schulbibliotheken) berücksichtigen zu können 2. Medienentwicklungen und Medienwelten • Pädagogische Medientheorie erläutern und in der eigenen Tätigkeit berücksichtigen zu können • Theorien der Medien (gesellschaftliche Medienentwicklung, Medienkultur) erläutern und vermitteln zu können • Befunde der Medien- und Kommunikationsforschung (Medienbildung, Mediennutzung, Medienwirkung, Mediensozialisation) erläutern und vermitteln zu können 3. Handlungsfelder der Medienpädagogik • Die Gestaltung und Produktion von Medien (insbesondere im Bereich des E-Learning und der Schulbibliotheken) anregen und anleiten zu können • Lehr- und Lernprozesse mit Medien (insbesondere im Bereich des E-Learning und der Schulbibliotheken) gestalten zu können • Die eigene mediale Erfahrung reflektieren und die Fähigkeit zur Reflexion der medialen Erfahrungen anregen zu können

6. Schlussbemerkung Die Angaben bezüglich des Masterstudiums differieren zwischen den beiden Konzepten der ExpertInnenkommissionen erheblich. Im neueren Konzept sind eine Begleitung der Induktionsphase im Umfang von 30 CP und eine Masterarbeit im Umfang von 30 CP vorgesehen. Dabei ist – nicht zuletzt im Sinne der praxisbezogenen Weiterentwicklung der Medienpädagogik – anzustreben, dass auch Themen im Bereich der Medienpädagogik für Masterarbeiten vergeben werden. Es ist allerdings nicht sinnvoll, die Wahl von Medienpädagogik als Schwerpunkt im BA vorauszusetzen, weil zum einen damit die intendierte Durchlässigkeit des Programms unterlaufen wird und zum anderen insbesondere in der Induktionsphase erhebliche Veränderungen der individuellen Planungen auftreten können. Erforderlich ist es daher, zumindest ein medienpädagogisch qualifizierendes Angebot für die Induktionsphase zu entwickeln, in dem die Reflexion der eigenen Erfahrung im Blick auf die Weiterentwicklung der eigenen Praxis mithilfe medienpädagogischer Konzepte und Theorien im Mittelpunkt steht. Wegen der fehlenden forschungsmethodischen Qualifikation der Studierenden wird eine Begleitung von Masterarbeiten vor allem eine zumindest rudimentäre Einführung in medienpädagogische Forschungsmethoden und eine Beratung der Studierenden zum Gegenstand haben müssen. Medienpädagogische Weiterbildungen und die Medienpädagogik als Schwerpunkt in einem Curriculum „Jugendarbeit“ können perspektivisch an die hier vorgestellten Überlegungen angeschlossen werden. Für die Jugendarbeit wäre etwa im Schwerpunkt der Bezug zum Feld auszutauschen; die fachliche Struktur könnte gleich bleiben. Weiterbildungsprogramme könnten an die vorgeschlagene Struktur anschließen bzw. darauf aufbauen.


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Es bleibt abschließend vorzuschlagen, dass eine erfolgreiche Absolvierung des Basis- und des Kerncurriculums Medienpädagogik durch ein Zertifikat der OEFEB-Sektion Medienpädagogik bestätigt werden sollte. Das macht die Entwicklung von Bildungsstandards für die Medienpädagogik in der Ausbildung für pädagogische Berufe erforderlich. Diese können dann zum einen für die Qualitätssicherung herangezogen werden und zum anderen in den für die Durchsetzung medienpädagogischer Interessen erforderlichen Diskussionen als Argumentationshilfe verwendet werden. Damit kann die Umsetzung der PädagogInnenbildung NEU einen wichtigen Beitrag für die Vermittlung medienpädagogischer Kenntnisse und Fertigkeiten in der Lehramtsausbildung leisten.

Literatur bm:ukk (2012): Medienerziehung. Grunsatzerlass des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur, online unter: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/5796/medienerziehung.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Europäisches Parlament (2008): Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zu Medienkompetenz in der digitalen Welt, online unter: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A6-2008-0461+0+DOC+XML+V0//DE (letzter Zugriff: 01.04.2014). Härtel, Peter/Greiner, Ulrike/Hopmann, Stefan/Jorzik, Bettina/Krainz-Dürr, Marlies/Mettinger, Arthur/ Polaschek, Martin/Schratz, Michael/Stoll, Martina/Stadelmann, Willi (2010): LehrerInnenbildung NEU. Die Zukunft der pädagogischen Berufe. Die Empfehlungen der ExpertInnengruppe, online unter: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/19218/labneu_endbericht.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). High Council for Media Education, Brussels Declaration on Lifelong Media Education (2011): online unter: http://www.declarationdebruxelles.be/en/declaration_accueil.php (letzter Zugriff: 01.04.2014). Hopmann, Stefan/Greiner, Ulrike/Fischer, Roland/Grossmann, Ralph (2010): Ergänzende Expertise zu LehrerInnenbildung NEU – Die Zukunft der pädagogischen Berufe, online unter: http://www. bmukk.gv.at/medienpool/19694/expertise_lehrerinn.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Marotzki, Winfried/Nohl, Arnd-Michael/Ortlepp, Wolfgang (2003): Bildungstheoretisch orientierte Internetarbeit am Beispiel der universitären Lehre, online unter: http://www.medienpaed.com/03-1/marotzki03-1.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Meder, Norbert (1998): Neue Technologien und Erziehung/Bildung, in: Borelli/Ruhloff (Hg.): Deutsche Gegenwartspädagogik. Band III, Hohengehren: Schneider-Verlag, 26–40. Regierungsprogramm 2008–2013: Gemeinsam für Österreich, online unter: http://www.austria.gv.at/ DocView.axd?CobId=32965 (letzter Zugriff: 01.04.2014). Sesink, Werner (2004): In-formatio: Die Einbildung des Computers. Beiträge zur Theorie der Bildung in der Informationsgesellschaft, Münster: Lit-Verlag. Schnider, Andreas/Fischer, Roland/Härtel, Peter/Hopmann, Stefan/Koenne, Christa/Niederwieser, Erwin/Wurstmann, Cornelia (2011): PädagogInnenbildung NEU. Die Zukunft der pädagogischen Berufe. Empfehlungen der Vorbereitungsgruppe. Endbericht. Juni 2011, Wien: bm:ukk und bm:wf, online unter: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/20840/pbneu_endbericht.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Swertz, Christian/Fessler, Clemens (2010): Literacy. Facetten eines heterogenen Begriffs, online unter: http://www.medienimpulse.at/articles/view/272 (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Gerhard Scheidl

Wissensmanagement und Medienbildung Herausforderungen für die Lehrerbildung Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/453

Abstract Die Querschnittsthematik „Medienbildung“ stößt auf eine immer noch fachzentrierte Ausbildung und Schulpraxis. Mögliche Lösungen könnten Überlegungen aus dem Wissensmanagement bieten, wie Gerhard Scheidl in seinem Beitrag auf verschiedenen Ebenen erläutert. Denn in der Wissens- und Informationsgesellschaft ist eine eingehende Konzeptualisierung von Wissen und Wissensentwicklung vonnöten. Deshalb unterschiedet Scheidl vier Formen der Wissensübertragung: Sozialisation, Externalisierung, Kombination und Internalisierung werden bei der Konstitution des Wissens immer wieder durchlaufen und bilden eine Wissensspirale. Medienbildung ist daher nachdrücklich als Querschnittsmaterie in alle Schularten zu implementieren. Knowledge management and media education. Challenges for teacher training. The crossover issue of „media education” is confronted with a still subject-centred training and practice at school. Possible solutions may come from reflections from knowledge management, as Gerhard Scheidl explains on several levels in his essay. In a knowledge and information society, a profound conceptualization of knowledge and the development of knowledge are necessary. Therefore, Scheidl differentiates between four forms of knowledge transmission: socialization, externalization, combination and internalization are undergone again and again in the constitution of knowledge, and form a spiral of knowledge. Media education therefore has to be emphatically implemented as a crossover issue in all school types.

1. Einleitung „Wenn Medien sich verändern, verändert sich die Gesellschaft“, philosophierte der Gesellschaftstheoretiker und Literaturkritiker Walter Benjamin im Jahr 1905 (vgl. media-TREFF). Es liegt jedoch nahe, dass in den komplexen Gefügen der sozialen Gesellschaftsstrukturen auch der Umkehrschluss durchaus Gültigkeit hat. Festzustehen scheint: Gesellschaft verändert sich in Abhängigkeit ihrer medialen Möglichkeiten und technologischen Rahmenbedingungen. Wenn nun die Schule die Aufgabe hat, junge Menschen zu verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft heranzubilden (vgl. §2 SchOG), dann steht in dieser Wechselwirkung der Veränderungsdynamik aber auch außer Zweifel, dass sich – um für die „Gesellschaft von morgen“ gerüstet zu sein – auch Schule verändern bzw. weiterentwickeln muss. Davon ist in weiterer Folge natürlich auch die LehrerInnenbildung betroffen, die sich nun der Herausforderung zu


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stellen hat, dass die Schule von morgen, auf die sie vorbereiten soll, nicht dieselbe sein soll wie die Schule von heute. Besonderes Augenmerk ist dabei auf jenen Aspekt zu legen, dass Inhalte und Kompetenzen, die für die LehrerInnenbildung definiert werden, zumindest eine Generation lang wirksam sein müssen (vgl. BM.W.F.: 6). Das bedeutet, dass in verantwortungsvoller Weise Entwicklungen erkannt werden und in reflexiver Weise in Curricula ihren Niederschlag finden müssen, damit nicht fortgeschrieben wird, „was seit Jahrzehnten und Generationen Usus war und ist“ (BM.W_F.: 7). Der vorliegende Beitrag soll den hohen Stellenwert der LehrerInnenbildung für die Schulentwicklung herausarbeiten und zeigen, dass Medienbildung dabei eine wesentliche Rolle zu spielen scheint. Es soll aber auch verdeutlicht werden, dass die Förderung der Medienbildung allein für die Personal- und Organisationsentwicklung eines (Hoch)Schulstandorts nicht ausreichend ist, sondern in Verbindung mit Modellen des Wissensmanagements gedacht werden muss. In einem ersten Schritt werden zum besseren Verständnis und zur Klarlegung der Ausgangslage zunächst relevante Begrifflichkeiten erläutert. In einem zweiten Schritt wird auf Basis theoretischer Grundüberlegungen und unter Rückgriff auf eine Trendstudie abgeleitet, dass Wissensmanagement und Medienbildung wesentliche Einflussfaktoren für die Schulentwicklung darstellen. In einem dritten Schritt werden Unterscheidungskriterien der Wissensarten dargelegt, die in einem vierten Schritt konkret in ein Modell des Wissensmanagements einfließen. Exemplarisch für die Umsetzung dieses Wissensmanagementmodells in Verbindung mit Medienbildung werden in einem fünften Schritt Strategien der Implementierung von Medien am Beispiel der LehrerInnenbildung an der Pädagogischen Hochschule Wien dargelegt. Wesentlich für die Entwicklung zukünftiger Bildungsinitiativen im Allgemeinen und der Schulentwicklung im Speziellen scheint allerdings auch zu sein, Trends der gesellschaftlichen Entwicklung mitzudenken. Aus diesem Grund wird in einem sechsten Schritt versucht, Anforderungen von Bildungsmaßnahmen für die „Gesellschaft von morgen“ herauszuarbeiten. Abschließend werden daraus in einem siebenten Schritt Aufgaben für die LehrerInnenbildung abgeleitet.

2. Begriffsklärung Folgt man dem „Endbericht LehrerInnenbildung NEU“ über die Zukunft pädagogischer Berufe, nimmt die LehrerInnenbildung für die Schulentwicklung einen hohen Stellenwert ein (vgl. BM.W_F.: 6). In diesem Artikel wird Schule in ihrer Gesamtheit als Organisation betrachtet; es wird also auch der Fokus auf Prozesse gerichtet, die außerhalb des Unterrichts liegen, die aber natürlich indirekt wieder auf die Qualität der Lehre rückwirken. In diesem Sinne werden in diesem Text innerhalb der Organisation Schule der Teilbereich der Verwaltung (Planung bzw. Steuerung und Kontrolle von notwendigen Arbeitsabläufen, die das Funktionieren des Systems gewährleisten) und der Teilbereich Lehren und Lernen unterschieden. Wenn es nun auf der einen Seite in der Verwaltung um die Optimierung struktureller Abläufe und auf der anderen Seite im Unterricht um die Bewahrung, Verteilung und Schaffung von Wissen geht, dann scheint es lohnend zu sein, Methoden des Wissensmanagements genauer zu analysieren. Wissensmanagement umfasst im Verständnis des vorliegenden Artikels alle möglichen human- und technikorientierten Interventionen und Maßnahmenpakete, um die Wissensproduktion, -reproduktion, -distribution, -verwertung und -logistik in einem Unternehmen optimieren zu können. Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Mobilisierung der individuellen und


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kollektiven Wissensbestände bzw. auf den Lernprozessen zur Veränderung und Verbesserung der Wissenspotenziale der im System arbeitenden Personen. Reimann (2005: 5) sieht den Nutzen von Wissensmanagement in pädagogischen Kontexten in der Chance, deutlich zu machen, welchen Einfluss Organisationen und deren Subsysteme auf psychologische und pädagogische Prozesse nehmen können. Methoden des Wissensmanagements können hier unterstützen, die Beziehungen zwischen Organisationen, Teams und Individuen zu erkennen. Die operative Umsetzung dieser Ansätze erfolgt einerseits mit traditionellen Leistungen und Angeboten (z. B. Bibliotheken, Medienstellen, Informatikdienste), andererseits durch die Implementierung von lokalen und webbasierten Angeboten in virtuellen Lern- und Arbeitsumgebungen. Die Explikation von Wissen mit unterschiedlichen Medien und in unterschiedlichen Modalitäten bedingt in der Konsequenz einen reflektierten Umgang mit Medien und aus diesem Grund wird in diesem Artikel Medienbildung als ein Schlüsselbegriff der Lehrerbildung verstanden. Es wird in diesem Text von einem Begriff der Medienbildung ausgegangen, der junge Menschen zu einem reflektierten Umgang mit Medien führt und es ihnen dadurch möglich macht, fundierte Entscheidungen selbstständig treffen zu können. Der Medienbildungsbegriff geht daher über die reine Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus. Er erfasst sowohl die mediale Gestaltung unseres Alltags als auch die Anforderung an Kommunikationsfähigkeiten, die medienvermittelt an uns gestellt sind, sowie den reflektierten Umgang mit kulturellen Aspekten unseres Lebens. Medienbildung wird dabei als das Ziel medienpädagogischen Handelns gesehen, zu dessen Erreichen Medienkompetenz als Bündel von Fähigkeiten ausgebildet werden muss (vgl. Schorb 2009). Medienkompetenz wird in diesem Artikel als die Schrittfolge auf dem Weg zur Medienbildung verstanden. Die Europäische Union (2012) definiert Medienkompetenz in Verbindung mit digitalen Medien als die Fähigkeit, „diese Medien zu nutzen, die verschiedenen Aspekte der Medien und Medieninhalte zu verstehen und kritisch zu bewerten sowie selbst in verschiedenen Kontexten zu kommunizieren“.

3. Wissensmanagement und Medienbildung als Einflussfaktoren für die Schulentwicklung Wird von Wissensmanagement gesprochen, dem vor allem technische und ökonomische Parameter zugeschrieben werden, so treten häufig die Bedenken auf, dass Wissensmanagement in hohem Maße von radikalem Effizienzdenken begleitet wird und dass im Kampf zwischen Humanität und Effizienz stets zugunsten der Wirtschaftlichkeit entschieden wird (vgl. Reimann 2005, 7). Pädagogische Ansätze scheinen in krassem Widerspruch zu diesen Ausprägungen zu stehen. Sieht man jedoch Wissensmanagement und Medienbildung als zwei Trägersäulen in der LehrerInnenbildung, die miteinander sehr eng in Verbindung stehen, werden mit dem Begriff der „Bildung“ im Humboldtschen Sinne all jene Aspekte ins Spiel gebracht, die dem Wissensmanagement fehlen. „Bildung“ ist mehr als die reine Aneignung von Wissen. Vielmehr wird Bildung als Prozess der Individualisierung verstanden, durch den Menschen ihre Persönlichkeit ausbilden, im Bezugsystem ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Welt ihren Standort definieren und schließlich Lebens- und Handlungsorientierung gewinnen können. In diesem Spannungsfeld ökonomisch motivierter Anforderungen der Gesellschaft einerseits und pädagogischen Zielen und Wertehaltungen andererseits lassen sich jedoch für das


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Wissensmanagement und die Medienbildung eine Reihe von gemeinsamen Themenbereichen identifizieren, welche die heutige Gesellschaft mit sich bringt: Zunahme an Information und Wissen, Neue Informations- und Kommunikationstechnologien, Wissen als Produktionsfaktor und schließlich Wissen als Wettbewerbsfaktor im Kontext der Globalisierung (vgl. Mandl 2008, 4). Zudem führt Reimann (2005: 9) die „Wissensvermittlung mit medialer Kommunikation“ und die „Aneignung von Wissen als lebenslange Aufgabe“ als zusätzliche gesellschaftliche Tendenzen an. Diese Umstände führen dazu, dass Medien einen zentralen Stellenwert in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen einnehmen und nicht nur auf den Umgang mit Wissen, sondern letztlich auch auf die Entstehung von Wissen Einfluss haben. Niederschlag finden die oben angeführten Aussagen in der Trendstudie „MMB Learning Delphi 2011“, die den Aspekt „Weiterbildung und Digitales Lernen heute und in drei Jahren: Mobile und vernetzte Strukturen im Aufwind“ behandelt. 76 ExpertInnen aus dem Bildungsbereich in Deutschland, Österreich und der Schweiz sollten beurteilen, welche Lernformen in den nächsten drei Jahren eine zentrale Bedeutung erhalten werden. 92 Prozent der Befragten messen Blended Learning-Angeboten, also einer Mischung aus traditionellen Präsenz-Lernformen und digitalem Lernen, die größte Bedeutung bei. An zweiter Stelle rangiert die 2011 neu aufgenommene Kategorie „Mobile/Apps“. Mobile Lernapplikationen gelten bei etwa drei Vierteln (76 %) der Befragten als Erfolg versprechende Lerntechnologie (vgl. Lutz 2011: 1). Bei der Frage nach den wichtigsten E-Learning-Trends der Zukunft messen 59 % der Befragten dem „Mobile Learning“, 41 % dem „Social Learning“ und 27 % dem „Game Based Learning“ Bedeutung bei (vgl. Lutz 2011: 4). Darüber hinaus gibt die Studie Auskunft darüber, dass bei der zukünftigen Entwicklung von Weiterbildungsmaßnahmen „Cloud Computing“, „Software as a Service“ (Nutzung von Diensten ohne eigene Hausinfrastruktur) und die Nutzung von „Open Source Lernplattformen“ (z. B.: Moodle) Bedeutung haben werden (vgl. Lutz 2011: 5). Bei der Bewertung der Faktoren, die in den nächsten drei Jahren die Personalentwicklung beeinflussen können, stimmen 88 % der ExpertInnen zu, dass Wissen der älteren Mitarbeiter besser genutzt werden sollte (vgl. Lutz 2011: 6). Folgende Dinge scheinen auf Basis der Aussagen der ExpertInnen ableitbar: Wissen, das in Unternehmen in unterschiedlichen Formen vorhanden ist, kann unter Verwendung digitaler Medien angemessen strukturiert, dokumentiert und gesichert werden, wobei zu beachten ist, dass das erfahrungsbasierte Wissen (Fähigkeiten und Kenntnisse) erfahrener Mitarbeiter in diesem System nicht vernachlässigt wird. Im Sinne einer Neuorganisation von Schule scheint es daher notwendig, auch jene Rahmenbedingungen zu schaffen, damit relevantes Wissen in adäquater Weise den Personen, die in den Schulen arbeiten (SchülerInnen, LehrerInnen, MitarbeiterInnen der Verwaltung), zur Verfügung gestellt werden kann. In diesem Zusammenhang scheint nun deutlich zu sein, dass Wissensmanagement und Medienbildung als wesentliche Einflussfaktoren für die Schulentwicklung zu betrachten sind. Um Möglichkeiten der Umsetzung anzudenken, scheint eine Klärung des Wissensbegriffs notwendig.

4. Daten – Informationen – Wissen Wissen basiert auf Daten und Informationen. Daten bestehen aus einer Folge sinnvoll kombinierter Zeichen, die erst durch Zuweisung von Bedeutung zu Informationen werden. Diese erzeugten Informationen erreichen als Nachricht einen Empfänger, der durch den Inhalt neue


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Erkenntnisse und eine Veränderung seines Denkens erlangt. Nach Szlavich/Wittmann (2002: 16) führt die individuelle Vernetzung der Informationen zu Wissen, das aus Erfahrungen, Wertvorstellungen, Kontextinformationen und Fachwissen einen Rahmen zur Beurteilung und Eingliederung neu erlangter Informationen bildet. Informationen werden erst dann zu Wissen, wenn sie auf dem Hintergrund von Vorwissen interpretiert und Bestandteil der persönlich verfügbaren Handlungsschemata werden. Nach Probst et al. (1997: 44) ist Wissen die Gesamtheit der Kenntnisse und Fähigkeiten, die Individuen zur Lösung von Problemen einsetzen. Wesentlich ist, dass Wissen im Gegensatz zu Daten und Informationen immer an Personen gebunden ist. Im Bereich der Wissensarten führen Szlavich/Wittmann (2002: 8) die Formalisierbarkeit, die Wissensträger, den Inhalt und den Ursprung von Wissen als Unterscheidungskriterien an. Für die weitere Betrachtung in diesem Artikel seien die Unterscheidungskriterien Formalisierbarkeit und Wissensträger näher beschrieben. Der Bereich Formalisierbarkeit unterscheidet zwischen implizitem und explizitem Wissen. Explizites Wissen ist bereits in irgendeiner Form kodiert, sodass es kommuniziert werden kann. Die Informationen können durch den Einsatz von Medien mehreren Personen zugänglich gemacht werden. Somit ist dieses Wissen teilbar, strukturier- und standardisierbar. Wesentlich ist, dass explizites Wissen sprachlich oder grafisch repräsentiert werden kann. Diese Repräsentation ist bei implizitem Wissen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Nach Szlavich/Wittmann (2002: 9–10) ist implizites Wissen ein „durch Kopieren und Imitation im Sozialisierungsprozess erworbenes Wissen, das in den Erfahrungen, Tätigkeiten und Einstellungen eines jeden Individuums verankert ist“. Da diese nur schwer kodifizierbar und kommunizierbar sind, wird diese Wissensart auch als tacit knowledge (d. h. still, stillschweigend) bezeichnet. Der Bereich der Wissensträger unterscheidet zwischen individuellem und kollektivem Wissen. Individuelles Wissen integriert sowohl implizites als auch explizites Wissen und ist personengebunden. Es wird von Individuen zur Lösung von Problembereichen und Aufgabenstellungen eingesetzt. Zu beachten ist allerdings, dass die Summe von explizitem und implizitem Wissen, über das die einzelnen Organisationsmitglieder verfügen, per se noch kein organisatorisches Wissen darstellt. Organisatorisches Wissen entsteht erst aus der koordinierten Zusammenarbeit der Organisationsmitglieder. Dieses Wissen kann nur durch kooperative und kollektive Lernprozesse herausgebildet, der Organisation nützlich gemacht werden und ist in Organisationseinheiten (z. B.: Institute, Arbeitsgruppen, Abteilungen) sowie in Prozessen, Routinen, Normen und Praktiken verankert. Die Einbettung der individuellen Kenntnisse und Wissensbestände in spezifische „organisatorische Settings“ ist Voraussetzung, um aus dem Wissen der einzelnen Organisationsmitglieder organisatorisches Wissen zu entwickeln. Dieses kollektive Wissen kann ebenfalls explizit oder implizit ausgeprägt sein. Zu den Grundproblemen des Wissensmanagements gehört die Überführung von implizitem in explizites Wissen. Denn erst wenn Wissen in irgendeiner Form dokumentiert vorliegt, ist es über einzelne Personen oder Personengruppen hinaus organisationsweit nutzbar.

5. Wissensentwicklung – das SECI-Modell Wissensmanagement, im Verständnis dieses Beitrags, umfasst humane, technische und organisatorische Aspekte und befasst sich mit Erwerb, Entwicklung, Transfer, Speicherung und Nutzung von Wissen mit dem Ziel, eine „lernende“ Organisation zu schaffen. Dabei ist ein be-


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

deutender Teil der Wissensgenerierung in Unternehmen die Wissensentwicklung. Nach Nonaka und Takeuchi wird Wissen durch Interaktion zwischen explizitem und implizitem Wissen geschaffen und erweitert (vgl. Szlavich/Wittmann: 11). Sie gehen von der Annahme aus, dass – damit organisatorisches Wissen kreiert werden kann – das individuelle implizite Wissen der Organisationsmitglieder einen dynamischen Übertragungsprozess durchlaufen muss. Dazu kombinieren sie im „SECI-Modell“ explizites und implizites Wissen zu vier verschiedenen Formen der Wissensübertragung: Sozialisation, Externalisierung, Kombination und Internalisierung (vgl. Nonaka: 73ff.)

Sozialisation Als Sozialisation wird die Übertragung von implizitem Wissen in implizites Wissen, also die direkte Weitergabe von Erfahrungswissen zwischen Personen durch Beobachtung, Nachahmung und praktische Erfahrung bezeichnet. Dabei kommt es zu einem Transfer gemeinsamer mentaler Modelle und technischer Fertigkeiten. Der Wissenstransfer erfolgt meist ohne Sprache (vgl. Szlavich/Wittmann: 11).

Externalisierung Als Externalisierung wird die Umformung von implizitem, personengebundenem Erfahrungswissen in explizites, personenunabhängiges Faktenwissen mittels Sprache bezeichnet. Dieses explizite Wissen kann dann die Form von Metaphern, Analogien, Konzepten, Hypothesen oder Modellen annehmen. Zu beachten ist, dass diese Umwandlung allerdings immer nur teilweise möglich ist. Diese Diskrepanz zwischen impliziertem Wissen und der nicht vollständig möglichen sprachlichen Umsetzung, fördert die Reflexion über den Inhalt und verlangt intensive persönliche Kommunikation (vgl. Szlavich/Wittmann: 11).

Kombination Die Zusammenfassung von verschiedenen expliziten Wissenseinheiten zu einem Wissenssystem wird als Kombination bezeichnet. Der Austausch und die Kombination von Wissen erfolgen bei Personen über Medien wie Dokumente, Meetings, Telefongespräche oder Computernetzwerke. Auch die Umstrukturierung, Sortierung, Hinzufügung, Kombination und Katalogisierung von explizitem Wissen – wie zum Beispiel in Datenbanken – kann ebenfalls zu neuem Wissen führen (vgl. Szlavich/Wittmann: 12).

Internalisierung Die Überführung von explizitem Wissen in implizites Wissen wird als Internalisierung bezeichnet. Dies geschieht, indem Individuen oder Gruppen Handlungsroutinen erlernen, die vorher explizit ausformuliert waren und in der Folge in der Praxis erprobt werden. Auch die Dokumentation in Diagrammen, Dokumenten oder Handbüchern unterstützt diesen Vorgang (vgl. Szlavich/Wittmann: 12). Die vier Formen der Wissensübertragung werden zyklisch immer wieder durchlaufen. Je häufiger diese Wissensspirale durchlaufen wird, desto komplexer wird das organisatorische Wissen, das in organisatorischen Routinen und Regeln verkörpert wird. Der Vorteil liegt nun darin, dass diese dem Unternehmen selbst dann noch zur Verfügung stehen, wenn einzelne Wissensträger das Unternehmen verlassen. Personen können immer nur ihr individuelles implizites


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Wissen mitnehmen, nicht aber das kollektive, aufeinander abgestimmte Regel- und Routinewissen.

6. Umsetzungsmöglichkeiten für die Schulentwicklung: LehrerInnenbildung an der PH Wien In Anlehnung an die bisherigen Ausführungen ist für die Schulentwicklung ableitbar, dass Wissensmanagement nur dann erfolgreich ist, wenn es gelingt, Wissensformen nicht nur miteinander zu kombinieren, sondern auch in Sozialisations-, Externalisierungs- und Internalisierungsprozessen zu übertragen. Explizites und implizites Wissen müssen der Organisation erhalten bleiben, auch wenn Individuen diese verlassen. Individuelles Wissen kann dann zu kollektivem Wissen erweitert werden, wenn es in formalen und informalen Regeln und Routinen gespeichert ist. In der operativen Umsetzung wurde auf Basis des SECI-Modells an der Pädagogischen Hochschule Wien das Modell „campusPLUS“ geschaffen. Es vereint virtuelle und reale Lernund Arbeitsumgebungen für SchülerInnen, Studierende und Lehrende und schafft durch mediale Angebote Raum für Innovation und Kreativität. Durch den Einsatz von online Tools aus dem Bereich der Open-Source-Welt (z. B.: Moodle, Mahara) werden konkret die Ansprüche erfüllt, in denen Wissen externalisiert und der Community zur Verfügung gestellt werden kann. Für Forschungsaufgaben gibt es Open Source Tools für quantitative und qualitative Problemstellungen und Referenzmanagementsysteme für die Dokumentation und Verwaltung unterschiedlicher Medienquellen. Besonders hervorzuheben ist das Projekt des „podc@mpus“ – einer Plattform, auf der online Audio- und Videobeiträge abgerufen werden können, die im Rahmen der Lehre und Fortbildung, in der Berufspraxis, aber auch im Rahmen des Campuslebens entstehen. Unter dem Motto „SchülerInnen, Studierenden und Lehrenden eine mediale Stimme geben“ werden hier – speziell für den pädagogischen Bereich – interessante Vorträge, Einzelveranstaltungen, Beiträge aus Politik, Wissenschaft und Forschung als Audio- und Videodateien zur Verfügung gestellt. Die Beiträge können für die Lehre und Forschung sowie für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit genutzt werden. Diese Verfügbarkeit zielt auch auf die Ausgabe an Mobile Devices ab, womit auch die technische Grundlage für Mobile-Learning-Projekte vorhanden ist. Mobile Devices sind eine der Schnittstellen von virtuellen Lernumgebungen zum Präsenzunterricht in realen Lehr- und Lernumgebungen. In diesem Sinne wird an der Praxisvolksschule das Projekt „MobileMediaPoints“ durchgeführt, in dem Tablet-PCs und Notebooks eingesetzt werden. Eine weitere Möglichkeit, an der Gestaltung der medialen Welt zu partizipieren, stellt der „e.Key“ dar. Ziel der e.Key-Initiative ist die Erschließung der Möglichkeit, Programme und Daten unabhängig vom Arbeitsplatz (und den damit verbundenen unterschiedlichen Softwareinstallationen und Zugangsberechtigungen) ständig im persönlichen Zugriff zu haben. Die Programmsammlung stellt auf einem USB-Stick eine Auswahl von Werkzeugen zur Verfügung, mit deren Hilfe Medienobjekte (z. B.: Texte, Bilder, Audios, Videos) erstellt, bearbeitet und dargestellt werden können. Die Arbeit mit interaktiven Whiteboards ermöglicht den Lehrenden u. a., die Entstehung eines komplexen Tafelbildes zu dokumentieren und den SchülerInnen bzw. Studierenden online zur Nachbereitung des Unterrichts zur Verfügung zu stellen.


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

Sieht man die LehrerInnenbildung als einen wesentlichen Motor für die Schulentwicklung, scheint es aber auch unbedingt notwendig, neben der theoretischen Rechtfertigung, diese Angebote zur Verfügung zu stellen, auch entsprechende didaktische Szenarien zu entwickeln.

7. Von der Wissensgesellschaft zur Netzwerkgesellschaft Folgt man den Ergebnissen einschlägiger Fachstudien (vgl. KIM-Studie 2010: 69; JIM-Studie 2011: 64), nimmt die Nutzung digitaler Medien bei Kindern und Jugendlichen stetig zu und es scheint ein Trend erkennbar, dass junge Menschen immer früher in ihrer Kindheit Erfahrungen mit vernetzten digitalen Medien machen. Kinder und Jugendliche eignen sich selbstständig Medienangebote an, werden Mitglied in verschiedenen Communities und nutzen die Möglichkeiten, als „Prosumer“ sowohl digitale Inhalte zu produzieren und im Netz zu publizieren als auch als Konsument an den unterschiedlichsten Inhalten zu partizipieren. Die Art und Weise des Umgangs und der Nutzung dieser medialen Angebote führt zu einer Veränderung der Kommunikationsstrukturen und eröffnet neue Wege für die Beschaffung von Informationen, den Zugriff auf Wissensstrukturen und führt dadurch auch zu anderen Möglichkeiten des Lernens. Allerdings dürfen neben den positiven Effekten mögliche Gefahren nicht übersehen werden. Die Ergebnisse der Studien führen natürlich in weiterer Folge zu der Fragestellung, welche Maßnahmen im Bereich der LehrerInnenbildung gesetzt werden können oder müssen, um im Sinne einer Allgemeinbildung Kinder und Jugendliche auf die Teilnahme an der „Gesellschaft von morgen“ vorzubereiten. Die Herausforderung besteht nun darin, abschätzen zu können, wie denn so eine Gesellschaft aussehen könnte und welche Anforderungen an die Individuen dieser Gesellschaft gestellt werden. Betrachtet man die heutige Gesellschaftsform, so wird diese in unterschiedlichen Artikeln und Texten entweder als „Informationsgesellschaft“ oder als „Wissensgesellschaft“ bezeichnet. Beide Begriffe werden häufig auch als Synonyme benutzt. Die Konzepte entstammen dem analytischen Instrumentarium der Sozialwissenschaften und bezeichnen eine neue Phase in der Entwicklung fortgeschrittener industrieller Gesellschaften, bei der die zuvor auf Eigentum und Arbeit basierenden Verhältnisse durch eine neue Gesellschaftsformation abgelöst werden (vgl. docupedia 2012). Prinzipiell bezeichnen „Wissensgesellschaft“ und „Informationsgesellschaft“ zwei Facetten moderner Gesellschaftsformen. Während die „Informationsgesellschaft“ eine in Alltag und Berufsleben auf Informationstechnik basierende Gesellschaft ist, liegt in der „Wissensgesellschaft“ das Hauptaugenmerk auf Erwerb und Nutzung von Wissen durch Individuen für die Gemeinschaft, vorwiegend in Unternehmen und basierend auf modernen Informationstechniken. Als eine theoretische Erweiterung des oben erwähnten Begriffes der „Informationsgesellschaft“ führt Castells (2003) den Begriff der „Netzwerkgesellschaft“ ein. Begründet wird dieser Ansatz dadurch, dass digitale Medien die Infrastruktur der vernetzten Gesellschaft bilden und das Netzwerk zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden ist und nicht wie bisher nur gesellschaftliche Teilbereiche verändert. Castells (2003: 191) kommt zu dem Schluss, dass Unternehmungen im Zuge der Globalisierung nur konkurrenzfähig bleiben, wenn sie ihre Organisationsstrukturen verändern. Netzwerkunternehmen zeichnen sich durch flache Hierachieebenen, Teamwork und Prozess- statt Aufgabenorientierung aus. Diese Organisationsstrukturen sind darüber hinaus dezentralisiert, kollaborativ und nicht-proprietär, d. h. anstatt den persönlichen Besitz an einem Informationsprodukt in den Vordergrund zu stellen, wird dieses als Gemeineigentum betrachtet. Aber auch


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das Material der Produktion selbst, die Software und das Wissen, das dabei zum Einsatz kommt, ist bereits Gemeineigentum. Die gemeinsame Nutzung von Ressourcen und Produkten zwischen geografisch verteilten und lose verbundenen Individuen, die miteinander kooperieren, ohne von Marktsignalen oder Befehlen von Managern angetrieben zu werden, charakterisiert diesen neuen Produktionsmodus (vgl. Medosch 2011: 38). Legt man die Annahmen über die Netzwerkgesellschaft den Anforderungen für Bildungsmaßnahmen zugrunde, so kann abgeleitet werden, dass das Zugänglichmachen von Wissensstrukturen unter Nutzung moderner Technologien ein entscheidendes Kriterium der zukünftigen Gesellschaft sein wird. Das bedeutet, dass die Mitglieder der Gesellschaft fähig sein müssen, sowohl auf Wissensbestände zuzugreifen, als auch selbst einer Community Inhalte zur Verfügung stellen zu können. Darüber hinaus müssen die Individuen in der Lage sein, sich flexibel in einer zunehmend international orientierten Arbeitswelt zu organisieren und sich gezielt passende Tätigkeitsfelder zu suchen. Das bedeutet, dass Bildung über die Erstausbildung und Weiterbildung am Arbeitsplatz hinausgehen muss. Vielmehr sind Maßnahmen zu etablieren, die den Individuen eine Weiterbildung und Höherqualifizierung im Rahmen des lebenslangen Lernens ermöglichen. Dazu ist es zusätzlich notwendig, die Lernenden bei der Entwicklung ihrer Autonomie adäquat zu fördern. In diesem Sinne ist es Aufgabe des Bildungssystems, einerseits der bildungsinteressierten Bevölkerung entsprechende Bildungsangebote anzubieten, andererseits sind Maßnahmen zu setzen, bildungsferne Bevölkerungsschichten von der Notwendigkeit der Weiterbildung zu überzeugen.

8. Aufgaben für die LehrerInnenbildung Vor dem Hintergrund der Annahmen über die Netzwerkgesellschaft und den damit verbundenen Forderungen an das Bildungssystem liegen die Aufgaben der LehrerInnenbildung bezüglich der Arbeit mit Medien auf der Hand: Eine medienpädagogische Grundbildung muss einerseits als verbindliches Angebot für alle Studierenden pädagogischer Berufe (z. B.: Pädagogische Hochschulen, Universitäten, Fachhochschulen, Akademien für Sozialarbeit, Bundesbildungsanstalten für Kindergartenpädagogik) etabliert werden, andererseits sind Medien als Vehikel für Inhalte und Methoden zu betrachten, mit deren Hilfe fachliche Informationen „transportiert“ werden können. Es ist daher unumgänglich, innerhalb der Fachdidaktiken und Fachwissenschaften entsprechende medienpädagogische Angebote zu stellen. Nicht zu vergessen sind die humanwissenschaftlichen Fächer, in denen ebenfalls medienpädagogische Fragestellungen thematisiert werden müssen. Medienbildung ist demnach als Querschnittsmaterie über alle Schularten einerseits und alle Fachbereiche andererseits zu betrachten und muss sich daher auch als Organisationseinheit im Organigramm einer Hochschuleinrichtung widerspiegeln. Leider klafft in vielen Bereichen zwischen den oben formulierten Aufgaben der LehrerInnenbildung bezüglich der Medienarbeit und der tatsächlichen Umsetzung an den Bildungsinstitutionen noch eine große Lücke. Das Dilemma der Medienbildung besteht institutionell darin, kein eigenes Schulfach zu sein, aber gleichzeitig SchülerInnen dabei zu unterstützen, „medienkompetent“ im Sinne einer „Schlüsselqualifikation“ zu werden. „Schule von heute“ ist strikt nach Fächern strukturiert. Wenn sich jedoch – wie oben angeführt – auf Basis der vernetzten digitalen Medien die Gesellschaft strukturell verändert, dann wäre es an der Zeit, auch


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über eine strukturell veränderte Schule nachzudenken, in der Medienbildung und Wissensmanagement einen fest verankerten Platz einnehmen.

Literatur Bax, Miriam: Bildung – Was ist das eigentlich?, online unter: http://www.bildungsxperten.net/wissen/ was-ist-bildung/ (letzter Zugriff: 01.04.2014). BM.W_F (Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung) Endbericht LehrerInnenbildung NEU – die Zukunft pädagogischer Berufe (2010), online unter: http://www.bmwf.gv.at/fileadmin/user_ upload/aussendung/lehrerinnenbildung-neu/Endbericht-2010.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Castells, Manuel (2003): Das Informationszeitalter 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen: Leske+Budrich. Europäische Union, Medienkompetenz in der digitalen Welt, online unter: http://europa.eu/legislation_ summaries/information_society/strategies/am0004_de.htm (letzter Zugriff: 01.04.2014). JIM-Studie 2011: Jugend, Information, (Multi-)Media, online unter: http://www.mpfs.de/fileadmin/ JIM-pdf11/JIM2011.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Jusline: §2 SchOG – Aufgabe der österreichischen Schule, online unter: https://www.jusline.at/index.php?cpid=ba688068a8c8a95352ed951ddb88783e&lawid=90&paid=2 (letzter Zugriff: 01.04.2014). KIM-Studie 2010: Kinder + Medien, Computer + Internet, online unter: http://www.mpfs.de/fileadmin/ KIM-pdf10/KIM2010.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Lutz, P. Michel (2011): Weiterbildung und Digitales Lernen heute und in drei Jahren: Mobile und vernetzte Szenarien im Aufwind. Ergebnisse der Trendstudie, MMB-Institut für Medien- und Kompetenzforschung, online unter: http://www.mmb-institut.de/monitore/trendmonitor/MMB-Trendmonitor_2011_II.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Mandl, Heinz (2008): Wissensmanagement. Skriptum der Universität München. Media-TREFF: http://www.media-treff.de/index.php/2007/12/17/wenn-sich-die-medien-verandern-verandert-sich-die-gesellschaft/ (letzter Zugriff: 01.04.2014). Medosch, Armin (2011): Lernen in der Netzwerkgesellschaft, Wien: bm:ukk. Nonaka, Ikujiro/Takeuchi, Hirotaka (1997): Die Organisation des Wissens, Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen, Frankfurt/Main: Campus. Probst, Gilbert et al. (1997): Wissen managen: Wie Unternehmen ihre wertvollste Ressource optimal nutzen, Wiesbaden: Gabler. Reinmann, Gabriele (2005): Wissensmanagement und Medienbildung – neue Spannungsverhältnisse und Herausforderungen, online unter: www.medienpaed.com/05-1/reinmann2.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Schorb, Bernd (2009): Gebildet und kompetent. Medienbildung statt Medienkompetenz?, in: Medien + Erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik, 53. Jahrgang, Nr. 5, 50–56, München: kopaed. Szlavich, Michaela/Witmann, Ulrike (2002): Grundlagen des Wissensmanagements (Seminararbeit bei Gastprofessor Dr. Kurt Bauknecht am BWZ der Universität Wien), online unter: http://www.dke.univie.ac.at/extern/bi_ws20012002/ss2002/Grundlagen-KM.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). Wiater, Werner (2002): Bildung als Aufgabe der Schule, in: Apel, Hans Jürgen/Sacher, Werner (Hg.): Studienbuch Schulpädagogik, Bad Heilbrunn: Klinkhardt/UTB, 289–306.


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Bernhard Lahner

Medienbildung in der Ausbildung – Gibt’s das? Warum der Umgang mit Medien bei Pflichtschulkindern und deren PädagogInnen auch in der PädagogInnenbildung stärker erwähnt werden sollte Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/443

Abstract Der folgende Beitrag gibt einen knappen Einblick in den Ist-Zustand der Pädagogischen Hochschule für Studierende des Lehramts für allgemeine Sonderschulen im Hinblick auf medienpädagogische Ausbildungs- und Spezialisierungsmöglichkeiten. Dabei wird der zeitliche Umfang über die Maßeinheit des European Credit Transfer and Accumulation Systems (ECTS) analysiert, mit dem vorrangig der zeitliche Aufwand für Ausbildungseinheiten definiert wird, wobei in der Folge die inhaltliche Umsetzung genauer betrachtet wird. Abschließend werden zwei konkrete medienpädagogische Erfahrungen in der konkreten Unterrichtspraxis thematisiert. Media education in training – Does this exist? This essay offers a short insight into the present state of the University of Teacher Education for future teachers at general Sonderschulen (special schools) regarding options of media education and specialization. The schedule is analysed via the European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS), which mainly defines the time requirements for training units, and based on this, the implementation of content is examined more closely. In conclusion, the author addresses two concrete media pedagogical experiences in concrete teaching practice.

1. Medienpädagogik im derzeitigen Ausbildungsangebot der PH Im Rahmen des Bachelorstudiums für das Lehramt für allgemeine Sonderschulen (Gesamtumfang 180 ECTS-Punkte)1 werden maximal 13,5 ECTS Punkte mit curricularem Bezug zur Medienpädagogik ausgewiesen (vgl. PH Wien 2009). Das Curriculum ist in insgesamt 30 Module aufgeteilt. In Modul 2, 8, 20 und 24 werden Lehrveranstaltungen zum Thema Medienpädagogik & Einsatz moderner IKT (Informations- und Kommunikationstechnologien) angeboten, wobei die Module 2 und 8 im ersten Studienabschnitt (1. und 2. Semester) angesiedelt sind. Grundlagen: Einsatz digitaler Medien lautet der Titel und wird als Übung im Umfang von 1 Ein Leistungspunkt nach dem European Credit Transfer System (ECTS) entspricht einem Arbeitsaufwand von in etwa 25 Stunden vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/European_Credit_Transfer_System#Credit_Points (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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1,5 ECTS-Punkten mit 13 Präsenzterminen zu je eineinhalb Stunden und individuellen Online-Aufgaben abgehalten. Die Inhalte sind dabei sehr unterschiedlich und – wie in vielen Lehrveranstaltungen – von der vortragenden Person abhängig. In meiner Gruppe konnten wir Weblogs, Radiobeiträge, Filme und Ähnliches produzieren, darüber diskutieren und reflektieren, wie wir solche Projekte im schulischen Rahmen gestalten könnten. Meine KollegInnen in der Parallelgruppe berichteten, dass sie sich die ganze Zeit mit MS-Office beschäftigten, Tabellen verlinken, Fotos ins Power Point laden usw. Zum Abschluss durften meine KollegInnen noch eine Prüfung im genannten Office-Paket ablegen. Also ein Computerführerschein auf „Hochschulniveau“. Im zweiten Studienabschnitt werden im Rahmen der „Individuellen Studienschwerpunkte“ in Form der beiden Seminare Medienpädagogik und Projekte mit digitalen Medien zwei Wahlfächer mit 2 mal 6 ECTS-Punkten angeboten. Ganz umsonst bekommt man diesen medienpädagogischen Überschuss also nicht. Dafür muss ein/e angehende/r SonderpädagogIn unter anderem auf Seminare wie Pädagogik für Verhaltensauffälligkeiten, Unterricht in mehrsprachig und kulturell heterogenen Klassen, Auftrittskompetenz, Gender- und Diversitymanagement, Freizeitpädagogik, Professionelles Selbstmanagement, Sexualpädagogik, Politische Bildung und anderes mehr verzichten. Die Mehrzahl der Studierenden setzt daher aus studientechnischen Gründen keinen medienpädagogischen Schwerpunkt. Die theoretisch absolvierbaren 13,5 ECTS-Punkte schrumpfen meist auf 1,5 (Pflicht-)ECTS-Punkte. Medienpädagogische Anknüpfungspunkte finden sich auch in fachdidaktischen Lehrveranstaltungen sowie in den Schulpraktischen Studien. Dies hängt jedoch sehr stark von den Kompetenzen und Interessen der Lehrenden, der PraxisbetreuerInnen und der PraxislehrerInnen ab. Nach meinen Erfahrungen werden die Chancen, medienpädagogische Fragestellungen aufzugreifen, in der Praxis nur in geringem Maße wahrgenommen. So besuchte ich in meiner bisherigen Schulpraxis vom ersten bis zum vierten Semester insgesamt sechs Klassen in unterschiedlichen Schulen: Dabei thematisierte nur ein einziger Lehrer spezifisch medienpädagogische Fragestellungen. Ähnliches geschieht in der Fachdidaktik: In nur einem einzigen Seminar gab es praktische Medienarbeit, die vom Verfassen schriftlicher Texte oder von Ähnlichem abwich. Im Volks- und Hauptschulbereich stellt sich die Situation nach meinen Informationen ähnlich dar. Leider fehlen in diesem Bereich entsprechende Forschungen. Ich vermute, dass einerseits fehlende medienpädagogische Kompetenzen von LehrerInnen, andererseits aber auch ein Mangel an Interesse seitens der Studierenden Gründe für diesen Status quo sind.

2. „PädagogInnenbildung NEU“ – Modell der ÖH-Bundesvertretung Die „PädagogInnenbildung NEU“ (vgl. PBN 2011) bietet indes eine Chance, diese Mängel in der PädagogInnenbildung zu beheben. Als Studierendem sind mir auch die Positionen der Österreichischen HochschülerInnenschaft sehr wichtig. Die ÖH Bundesvertretung hat als Diskussionsbeitrag ein eigenes Modell der zukünftigen PädagogInnenbildung publiziert (vgl. Modell der ÖH BV 2012). Die ÖH geht davon aus, dass das Grundstudium mit einem „gemeinsamen pädagogischen Kern“ im Umfang von 60 ECTS-Punkten beginnen sollte. Nach dieser „Kernausbildung“ können sich Studierende entscheiden, ob sie das Grundstudium mit der „Elementar- und Primärpädagogik“ oder mit der „Sekundarpädagogik mittels Fächerkombination“ abschließen. Dieses Grundstudium sollte einen erhöhten Praxisanteil und mindestens 30 ECTS-Punkte zur indivi-


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duellen Wahlfächereinteilung bieten. Insgesamt wird das Grundstudium mit 180 ECTS-Punkten absolviert und sollte gleich in das Vertiefungsstudium mit 120 ECTS-Punkten übergehen (anders als der Vorschlag der Vorbereitungsgruppe, vgl. PBN 2011). Die Vertiefung beginnt mit der „Elementar- und Primärpädagogik“ oder der „Sekundarpädagogik mittels Fächerkombination“. Vorteilhaft empfinde ich die mindestens 60 ECTS-Punkte zur freien Wahl und mit individueller Schwerpunktsetzung. Die ÖH-Bundesvertretung bezieht sie in diesem Fall vor allem auf gesellschaftskritische Auseinandersetzungen. Aus dem gesellschaftskritischen Kontext spricht die ÖH-Bundesvertretung die „Diversität unter PädagogInnen“ sowie das „soziale Ansehen pädagogischer Berufe“ an. Mit dem Diversitätskonzept hofft die ÖH, immer mehr StudentInnen von unterschiedlichem Alter, Geschlecht und soziokulturellem Hintergrund für den LehrerInnenberuf zu gewinnen. Man hofft darauf, dass das Bildungssystem damit mehr auf die Heterogenität unserer Gesellschaft eingehen kann. Die Aufwertung des „sozialen Ansehens pädagogisch Tätiger“ ist ein Kernthema in der gesamten Diskussion. Die ÖH kritisiert die mangelnde Infrastruktur für PädagogInnen an den Schulstandorten, die schlechte Bezahlung sowie die niedrige Attraktivität in Form eines beruflichen Umstiegs. Die ÖH-Bundesvertretung fordert darüber hinaus, dass die „PädagogInnenbildung NEU“ mit dem neuen LehrerInnendienstrecht zusammengedacht werden muss. Da ein fünfjähriges tertiäres Bildungsangebot für zukünftige PädagogInnen entstehen wird, ist es aus Sicht der Studierenden nicht nachvollziehbar, dass diese beiden wichtigen und wegweisenden Themen unabhängig voneinander verhandelt werden.

3. Medienbildung durch Sensibilisierung Der Umgang mit Medien ist ein sehr vielfältiges Thema, das nicht in wenigen Zeilen abgehandelt werden kann. In meinem zukünftigen Arbeitsalltag stelle ich mir aus heutiger Sicht viele spannende und fächerübergreifende Diskussionen mit SchülerInnen im Alter von 6 bis 14 Jahren vor, in denen die Medienpädagogik berücksichtigt wird. So sollen Teile meines Unterrichtsprinzips vor allem die Nutzung der Medien in der Erlebniswelt der Kinder und Jugendlichen ansprechen. Werden Medien überhaupt genutzt? Wenn ja, welche? Analoge (Zeitung, Zeitschriften etc.) oder digitale (Internet, TV etc.)? Zur Informationsbeschaffung, zur Freizeitbeschäftigung oder aufgrund von sozialer Anerkennung? Wie werden das Internet, soziale Netzwerke oder ein Wiki genutzt? Diese und viele andere medienpädagogische Fragestellungen gehen mir bereits heute durch den Kopf. An der Pädagogischen Hochschule sind Studierende ab dem zweiten Semester einmal pro Woche in einer Praxisschule tätig. Im Team (meist zwei Studierende und eine PraxislehrerIn) werden regelmäßig die Inhalte der kommenden Woche besprochen, in der die Studierenden Kinder und Jugendliche mit medienpädagogischen Thematiken konfrontieren. Übrigens erfährt man in den Pausen von den SchülerInnen sehr vieles über ihren medialen Lebensalltag. Immer wieder erzählen sie von ihren Facebook-Kommunikationen nach der Schule, wobei während der Schulstunden für solche Diskussionen sehr wenig Platz eingeräumt wird. Gründe dafür sind die starke Auslastung der LehrerInnen am Schulstandort (sprich: Personalmangel), aber auch fehlendes Interesse.


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4. Medienpädagogische Erfahrungen im Unterricht Abschließend möchte ich auf zwei Erfahrungen zu sprechen kommen, die ich bei der Anwendung medienpädagogischer Didaktiken machen konnte. Bis dato konnte ich zwei Mal Ideen der Medienbildung in die konkrete Unterrichtspraxis einbringen: 1. In einer kooperativen Mittelschule speicherte ich Leseübungen mit einem Aufnahmegerät und konnte so mit einigen Kindern experimentieren. Die Aufnahmen wurden nur intern verwendet und nicht veröffentlicht (da man für die Veröffentlichung die Einverständniserklärung der Eltern braucht). Im Konkreten lief die Arbeitsteilung so, dass ich mit einer Kleingruppe im Nebenraum ein kleines „Aufnahmestudio“ aufbaute. Ein Kind suchte sich aus dem aktuellen Buch eine Passage aus und las, ein anderes Kind war für die Technik – also die Aufnahme – zuständig und das dritte Kind produzierte mit Körperinstrumenten das Intro und Outro der gewählten Lesepassage. Danach wurde gewechselt. Die Kinder dieser Klasse waren soziologisch betrachtet sehr heterogen und meiner Einschätzung nach eher benachteiligten Gesellschaftsgruppen zuzuordnen. Die Aufnahmen funktionierten aber wunderbar und danach hörten wir uns das Gelesene gemeinsam an. Erstaunlich für mich waren die Reaktionen der Kinder, nachdem sie sich selbst gehört hatten: „Was, das bin ich?“, „So blöd höre ich mich an?, „Oida, ich muss mehr üben, das ist ja grauenhaft!“ (Zitate aus meinem Gedächtnisprotokoll wiedergegeben). Diese Erfahrungen waren für mich, aber auch für die Kinder sensationell und ließen sich mit geringem Aufwand wiederholen. Und genau darin besteht der wichtige Beitrag von Medienbildung und Medienpädagogik: einen persönlichen Reflexionsprozess der SchülerInnen und LehrerInnen in Gang zu setzten, der punktuell mit dem Einsatz technischer Hilfsmittel einhergeht. Diese medienpädagogische „Übung“ kann mithin als sehr erfolgreich betrachtet werden, wäre jedoch ohne mein Interesse nicht entstanden. 2. In einer anderen Schule förderten die konkret vorhandenen Rahmenbedingungen den Diskurs über Medien. Die Klasse, mit der ich hier arbeiten konnte, war Mitglied der Wiener Radiobande und produzierte laufend Radiosendungen und Trickfilme. In dieser Schule konnten die SchülerInnen und Studierenden bereits ein medienpädagogisches Angebot nutzen und wurden dabei auf unterschiedliche Weise professionell begleitet. Meistens wurden jedoch auch hier die vorhandenen Anknüpfungspunkte für medienpädagogische Reflexion im Unterricht nicht ausreichend genutzt. Weder für die LehrerInnen noch für die PraxisbetreuerInnen war Medienpädagogik ein zentrales Thema. Und so belegen beide Praxiserlebnisse den Umstand, dass – wie oben beschrieben – eine medienpädagogisch durchsetzte Praxis stark von den Kompetenzen der LehrerInnen und dem jeweiligen Interesse der Studierenden abhängig ist.

5. Fazit Aus all den genannten Gründen setze ich sehr stark auf die neue PädagogInnenbildung. Nicht nur in den Strukturen der tertiären Ausbildung sollen Spielräume für medienpädagogisch interessierte Personen entstehen; viel wichtiger ist meiner Ansicht nach eine breite medienpädagogische Sensibilisierung, die es erlaubt, dass Medienbildung nicht unbedingt draufstehen muss, aber trotzdem drinnen ist. Denn Medienbildung – und mit ihr auch Medienpädagogik – ist für die meisten Menschen bereits Teil des Alltags, ob in Werbung, Fernsehen, Zeitung oder Internet. Wie diese Sensibilisierung in Zukunft erreicht werden kann, liegt außerhalb


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meines Kompetenzbereiches. Für mich steht dennoch fest, dass ein niederschwelliges Angebot – vom Beginn der Ausbildung bis zum Ende der Fortbildung – notwendig sein wird, um das Bewusstsein für die medienpädagogische Durchsetzung der Unterrichtsprxis zu erhöhen.

Literatur Modell der ÖH BV 2012: „Zukünftige PädagogInnenbildung: Ein Modell der ÖH Bundesvertretung 2012“, online unter: http://www.oeh.ac.at/fileadmin/user_upload/pdf/Presse/Paedagog_innenbildung_NEU.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). PBN 2011: „PädagogInnenbildung NEU – Die Zukunft der pädagogischen Berufe“: Empfehlungen der Vorbereitungsgruppe Juni 2011, online unter: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/20840/pbneu_ endbericht.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). PH Wien 2009: Studienkommission der Pädagogischen Hochschule Wien: Curriculum für das Bachelor-Studium: Lehramt an Allgemeinen Sonderschulen, online unter: http://www.phwien.ac.at/fileadmin/Benutzerdateien/Menuepunkt_Ausbildung/Menuepunkt_Ausbildung_APS/Curricula/Curriculum_ASO_2008-09-StuKo_01maerz2009.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Christian Filk

Performing Media in Convergence. Konzept, Programmatik und (Hochschul-)Didaktik integraler Kompetenzprofilierung multimedialer Produktion Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/463

Abstract Der Beitrag hat sich zum Ziel gesetzt, Lernende und Lehrende für das kompetente Interagieren in konvergierenden Medienumgebungen auszubilden. Dies erfolgt durch ein integrales sowohl fachwissenschaftlich als auch fachpraktisch fundiertes Konzept mit aufeinander abgestimmten individualisierbaren Kompetenzprofilen und flexibilisierten Produktions-Workflows. Das zu entwickelnde integrale Strukturmodell verdeutlicht, welche curricularen Kompetenzen vermittelt werden müssen und wie diese im Einzelnen miteinander zusammenhängen. Das Hauptanliegen des Beitrags besteht darin, Lernende und Lehrende mit unterschiedlichen Voraussetzungen durch die Entwicklung von auf Komplementarität und Differenz hin abgestimmten Kompetenzprofilen in der multimedialen Gestaltung und Produktion auszubilden. Um der sachlich gebotenen Komplexität und Professionalität digitaler Produktions- und Wertschöpfungsketten Rechnung zu tragen, wird zum einen zwischen „Wissen“ (Knowledge), „Fähigkeiten“ (Competence) und „Fertigkeiten“ (Skills) beziehungsweise zum anderen zwischen „Netz-“, „Narrations-“, Produktions-“ und „Marktkompetenz“ unterschieden. Performing Media in Convergence. Concept, objectives and (university) didactics of integral competence profiling in multi-media production. This essay aims to train learners and teachers to competently interact within converging media environments, effected via a concept based in subject-specific as well as practical approaches with synchronized competence profiles and flexible production workflows that can be adapted individually. The integral structure model to be developed highlights which curricular competencies have to be taught, and how they interconnect individually. The main concern of the contribution is to train learners and teachers with different previous qualifications by developing competence profiles in multimedia design and production that are synchronized regarding complementarity and difference. In order to accommodate the necessary complexity and professionalism of digital chains of surplus value and production, we differentiate between “knowledge”, “competence” and “skills” on the one hand and “net”, “narration”, “production” and “market competence” on the other hand.

1. Einleitung Die strukturellen Umbrüche von der überkommenen Industriegesellschaft hin zu einer sich globalisierenden wissensbasierten Gesellschaft (Barba et al. 1998; Giesecke 2002, 2007; Filk 2010)


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verändern nachhaltig die seit Jahrzehnten etablierten Kultur- und Lerntechniken, Formen der Wissensvermittlung und -aneignung sowie Medien-, Computer- und Social-Networks-Kompetenzen, also Media und Computer Literacy (Surowiecki 2004). Die medienwissenschaftliche beziehungsweise -pädagogische Curricularisierung hat der aktuellen interdisziplinären Erforschung der spezifischen Prämissen, Positionen und Perspektiven in (hoch-)schulischen und außer(hoch)schulischen Erziehung- und Bildungskontexten, die konkret aus diesen vorgängigen Transformationsprozessen resultieren, Rechnung zu tragen (Perelmann 1992; Filk/Schauer 2012). Mithin avancierten Medien – neben der klassischen ersten, zweiten und dritten (Familie, [Hoch-]Schule, Peers) – zu einer weiteren vierten Sozialisationsinstanz. Doch gerade an diskursiven Grenzen und Übergängen der mittlerweile anerkannten Sozialisationsinstanzen von Kindern und Jugendlichen – Familie, Schule, Hochschule, Freunde und Medien (Hurrelmann et al. 2008) – zeichnen sich mitunter massive Brüche und Gefälle hinsichtlich der praktischen Bedeutung und der zielgerichteten Nutzung elektronischer Medien – insbesondere Social Media – ab. Aus verschiedenen Gründen haben gerade die Institution Schule und ihre medienpädagogische Profession nicht selten das Nachsehen hinsichtlich einer sinnvollen Ausfüllung der Handlungsrollen (Produktion, Konsumtion [Rezeption], Distribution und Weiterverarbeitung) mit Social Media oder Social Networks. An dieser Stelle setzten meine Überlegungen an; sie sind im interdisziplinären Diskurs zum einen der empirischen Mediennutzungsforschung Jugendlicher und zum anderen der medienpädagogischen Forschung zur Prosumention Jugendlicher (situiert-adaptierte Mediennutzung) verortet. Das forschungs- und gestaltungsleitende Augenmerk der sich ausdifferenzierenden Wissenschaftsdisziplin und -kultur Medienpädagogik (vgl. Abbildung 1: Systematik der Medienpädagogik) richtet sich auf curriculare Anpassungen, Wandlungen institutioneller Lehr-/Lernprozesse, Weiterentwicklung der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, reflexive und praktische Medienkompetenzen von SchülerInnen sowie infrastrukturelle Standardisierungen. Dabei sollen neben profilbildenden Akzentuierungen im Bereich Medienkompetenz und -performanz die Bedingungen, Vollzüge und Wirkungen des grundlegenden Wandels von Kulturtechniken, Wissensvermittlung und Medienkompetenz curriculums- und lehrplanübergreifend ausgewertet werden (Wermke 1997) – im Sinne einer sich verändernden Wissensordnung und -kultur inner- und außerhalb von etablierten Forschungs-, Wissenschafts-, Bildungs- und Erziehungsinstitutionen (Baacke 1997; Moser 2006; Schorb 1995; Tulodziecki 1992). Im Ensemble interdisziplinärer und modularer Forschungs- und Lehransätze vermitteln Medienforschung und -pädagogik, meiner Auffassung nach, gestützt auf einen integralen (hochschul)didaktischen Ansatz (mit Komponenten von Problem-based Learning, Projektstudium, E-Learning/Blended Learning, kooperativem und selbstorganisiertem Lehren und Lernen (Filk 2003) ein auf Komplementarität und Differenz hin ausgerichtetes Curriculum (Knowles 1975). Dabei gilt es, einen gemeinsamen identitätsstiftenden Beitrag – insbesondere durch eine enge fächerüberschreitende Zusammenarbeit – für mehr Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Vielfalt in Bildungsprozessen und Schulsystemen, Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Umwelt zu leisten, so wie es der tertiäre Bildungssektor – in Form weltoffener Hochschulen – in einer sich vernetzenden Gesellschaft vorbildlich programmatisch vertreten sollte.


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Abb. 1: Systematik der Medienpädagogik Diagramm: Christian Filk

Mit der sich beschleunigenden Entwicklung konvergierender digitaler Medien gehen zyklische, interdisziplinär vernetzte, offen partizipatorische Arbeitsorganisationen und Workflows einher. Bedingt durch die Maximen visueller, gemeinschaftsbezogener und partizipativer Mediennutzung bedarf es einer dezidiert integralen Konzeption, Programmatik und (Hochschul-) Didaktik konvergenter Kompetenzprofilierungen in Aus- und Weiterbildung, Forschung und Entwicklung, Wirtschaft und Gesellschaft, um den großen Anforderungen und Herausforderungen der gesamten digitalen Produktions- und Wertschöpfungskette angemessen begegnen zu können: angefangen von der Idee über Konzeption und Produktion bis hin zu Distribution, Verwertung und Archivierung medialer Inhalte.

2. Kulturwissenschaftliche, medientheoretische und pädagogische Implikationen sowie Konfundierungen Dem Zusammenleben mit und in konvergierenden Medienumgebungen werden durchaus visionäre Momente zugeschrieben. So könne es möglich werden, eine wissensbasierte Gesellschaft als Kultur und als komplexes Informationssystem mit dialogischen Netzwerken und multimedialen Systemen zu gestalten. Dabei käme es vor allem auf eine Förderung des Dialogs, synästhetischer Informationsverarbeitung, dezentraler Vernetzungsstrukturen sowie multimedialer, modularer Wissensdarstellungen an (Giesecke 2002). Mit Blick auf integrale Kompetenzprofilierung multimedialer Produktion erachte ich eine medientheoretische, kulturwissenschaftliche sowie pädagogische Konfundierung des interdisziplinär und integral angelegten Forschungs- und Lehrkontexts für unabdinglich (Filk 2003, 2009). Aus den interdisziplinären Forschungsdiskursen resultieren meiner Überzeugung nach


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• theoretisch-historische Einsichten, • normative und empirische Befunde sowie • konkrete und aktivierende Gestaltungsoptionen zur individuellen und kooperativen Nutzung moderner Kulturtechniken und Wissensmedien, zur Anwendung innovativer Formen der Wissensvermittlung und -aneignung sowie zu adäquaten reflexiven und praktischen Medien- und Computerkompetenzen in gesellschaftlichen, politischen, soziokulturellen, wirtschaftlichen und technischen Strukturen und Institutionen. Angesichts des vorgängigen Problemhorizonts halte ich es für angezeigt, hinsichtlich Konzeption und Programmatik sowie hinsichtlich der (Hochschul-)Didaktik konvergenter Kompetenzprofilierungen in der multimedialen Produktion einen Ansatz mit reflexiver Mediensystematisierung zu vertreten, der Dependenz-, Zirkulations- und Konkurrenzrelationen von Medien sowie ihre Integration in situierte Medienkonfigurationen untersucht. Dabei ist es mir wichtig, analytisch einen dreifach differenzierten Medienbegriff (Luhmann 1997; Filk 2009) zu unterscheiden, nämlich: • sinnliche Wahrnehmungsmedien (wie Raum, Zeit und die fünf Sinne), • semiotische Kommunikationsmedien (wie Bild, Sprache, Schrift und Musik) sowie • technische Verbreitungsmedien (wie Stimme, Buch, Radio, Film, Fernsehen und Computer). Einen problemorientierenden Zugriff auf die medienpädagogischen Felder Medienkompetenz und Medienperformanz gewährt der in den 1990er-Jahren begonnene Diskurs des sogenannten „Kulturalitätsparadigmas“. Unter der Chiffre Kulturalität (Frühwald et. al. 1991; Böhme/Matussek/Müller 2000; Filk 2011a) vollzieht sich eine Umschreibung der überkommenen Geisteswissenschaften zu „Kulturwissenschaften“. Im Kontext der traditionellen geisteswissenschaftlichen Prämissen wurde der Status von ‚Medien‘ hinsichtlich Epistemologie, Perzeption, Performanz, Imagination und Effekt sowohl unter synchronen als auch unter diachronen Aspekten zunehmend als prekär begriffen. Dieser Befund zog eine gegenläufige Bewegung nach sich: Auf der einen Seite erfuhr das mediale Moment eine beachtliche Aufwertung, mehr noch: es geriet sogar zum Reflexionshorizont einer jedweden gesellschaftlichen, kulturellen Selbstverortung (Luhmann 1997; Schmidt 2000); auf der anderen Seite stürzte die ungebrochene Konjunktur medienfokussierter Forschungs- und Wissenschaftsdiskurse (Güdler 1996) – nicht zuletzt Medienwissenschaft und -pädagogik – immer wieder in tiefe Definitions-, Legitimationsund Identitätsmiseren (Filk 2003, 2009). Eingedenk dieser medientheoretischen und kulturwissenschaftlichen Explikationen plädiere ich für eine reflexiv-praktische Medienaneignung (Schorb 1995; Schell 2003; Filk 2003). Diese postuliert, dass die aktive Auseinandersetzung von Individuen mit Medien bewusst geschieht. Zwei Aspekte sind dabei wesentlich: Erstens werden Individuen der Medien praktisch als eines kognitiv-mentalen Vorgangs gewahr – sie unterscheiden Formen und Angebote –; zweitens werden Individuen der Medien reflexiv ansichtig als eines Erkenntnisvorgangs – sie gebrauchen Medien als „Mittler“ und „Mittel zur Kommunikation“ (Schorb 1995). Diese Präliminarien haben Auswirkungen auf die Termini Medienkompetenz und Medienperformanz. Die Persönlichkeitsgenese, die individuelle und kollektive Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen, wird verstanden als Prozess der aktiven Auseinandersetzung mit verschiedenen sozialen, kulturellen, medialen und (syn)ästhetischen Umwelten (Filk/Simon


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2010). Kommunikationsstrukturen und -prozesse gelten als integrales Moment in den individuellen und kollektiven Lebens- und Erfahrungswelten von Heranwachsenden. Alltägliche Kommunikationsstrukturen und -prozesse erzeugen semiotische, symbolische und ästhetisch-stilistische Referenzsysteme, die konstruktiv, autonom und kreativ perzipiert, (re-)produziert und variiert werden (Bachmair 1996; Thiedecke 1997; Schell 2003).

Abb. 2: Mediensozialisation und Sozialisationsinstanzen Diagramm: Demmler

Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) ermöglichen neue Szenarien der produktiven und flexiblen Wissensvermittlung und -aneignung. Da sogenannte intelligente medien- und/oder computerunterstützte Arrangements prinzipiell Lehr- und Lernprozesse bzw. Arbeits- und Sozialprozesse unabhängig von räumlichen und zeitlichen Restriktionen mit sowohl vereinten als auch verteilten Aktanten und Gruppen gestatten, eröffnen sich innovative Perspektiven sowohl für das individuierte Lernen und Arbeiten als auch für das kooperative Lernen und Arbeiten (Koschmann 1996; Schwabe/Streitz/Unland 2001). Die Zugänglichkeit und das Teilen von Wissen stellen Erziehungs-, Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen vor große Herausforderungen. Immer mehr offene Bildungsinhalte sind über das Internet frei zugänglich und verfügbar. Vor diesem Hintergrund sind Personen, Gruppierungen und Institutionen im Schulsystem mit der Frage konfrontiert, ob und gegebenenfalls wie sich aus freien Bildungsinhalten Nutzen ziehen lässt (Atkins/Brown/Hammond 2007). Das diese beeindruckende Entwicklung tragende Konzept, offene Lehr-/Lerninhalte über das Internet frei und unentgeltlich anzubieten, ist für eine Gesellschaft, die durch einen hohen komplexen Organisationsgrad, eine hohe funktionale Arbeitsteilung und eine weitgehende marktkonstitutive Kommerzialisierung charakterisiert ist, alles andere als gewöhnlich (Brown/ Adler 2008). Bildungseinrichtungen bauen Zutrittsbarrieren ab, Lehrende und Lernende stellen ihre Wissensbestände uneingeschränkt und gratis zur Verfügung.

3. Medienkompetenz und Medienperformanz Das Zusammenführen dieser medientheoretischen, kulturwissenschaftlichen und pädagogischen Aspekte erstreckt sich von der Theorie und Methode über Pilotierung und Implementation bis hin zu didaktischen und curricularen Empfehlungen. Ein verständlicher Transfer wesentlicher Erkenntnisse und Erfahrungen aus der anwendungsorientierten Forschung für die relevanten Zielgruppen in Schule und Hochschule sowie in der (außer)schulischen und (außer)


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betrieblichen Aus- und Weiterbildung nimmt sich als vordringlich aus. Dies gilt umso mehr, als diese Klientel Gefahr läuft, strukturell von diesen Entwicklungen abgekoppelt zu werden – mit zum Teil dramatischen Folgen und Konsequenzen für eine wissensbasierte Gesellschaft und Wirtschaft (Filk 2003). In historischer Sicht sind die gängigen Systematiken und Terminologien von Medienkompetenz – verwiesen sei exemplarisch auf Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Noam Chomsky, Jürgen Habermas, Oskar Negt, Alexander Kluge sowie Dieter Baacke – durchaus umstritten. Begreift man Medienkompetenz als Disposition (Potter 1998), so gilt Medienkompetenz als Kontinuum und nicht als Kategorie. Sie muss entwickelt werden und ist multidimensional angelegt: kognitiv, emotional, ästhetisch und moralisch. Der Zweck von Medienkompetenz wird hier in der Kontrolle über Interpretationen gesehen. Nach einem anderen instruktiven Begriff wird Medienkompetenz als Zielbestimmung aufgefasst und in drei different-komplementäre Kompetenzen unterschieden (Baacke 1997; Tulodziecki 1992): • Wahrnehmungskompetenz: Strukturierungs-, Interpretations- und Differenzierungsfähigkeit, • Nutzungskompetenz: Rezeptionssteuerungs-, Auswahl- und Kommunikationsfähigkeit sowie • Handlungskompetenz: Produktions-, Gestaltungs- und Veröffentlichungsfähigkeit. Der Begriff der „Medienperformanz“ korrespondiert weithin mit der Handlungskompetenz, mithin Produktions-, Gestaltungs-, Veröffentlichungsfähigkeit.

Abb. 3: Erweiterte Medienkompetenz Tabelle: Wermke 1997

Der Begriff der Medienkompetenz bedarf im schulischen Institutionskontext der Differenzierung (vgl. Abbildung 3: Erweitere Medienkompetenz). Allgemeine Medienkompetenz wird, für sich betrachtet, als problematisch eingestuft, da solche Ansätze ästhetische Mediencharakteristika vernachlässigen, die Verbindung von Kreativität und Gestaltung (zu) wenig akzentuieren und nicht selten eine Verselbstständigung der Medienpraxis gegenüber der Reflexion zulassen. In einer erweiterten Medienkompetenz kommt der Ästhetik besondere Bedeutung zu, insbesondere der Auseinandersetzung mit (syn-)ästhetischen Umwelten/Milieus, mit intermedialen Analysen von Kodes, Genres, Sujets und Schemata sowie geschlechts-, milieu- und szenespezifischen Medienästhetiken (Baacke/Röll 1995; Bachmair 1996; Filk/Simon 2010; Lecke 1999; Wermke 1997). Auch die Kreativität wird in der erweiterten Medienkompetenz einschlägig thematisch: Dabei geht es um Ausdruck, Ausleben und Aufarbeiten durch kreative Mediennutzung, um Perzeption und Reflexion kreativer, narrativer Medienschemata sowie um


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kreative Medienproduktion und -rezeption. Hier liegt die definitorische Nähe zum Terminus Medienperformanz auf der Hand. Schließlich ist noch der Begriff Reflexion in der erweiterten Medienkompetenz bedeutsam: Sinnliche Wahrnehmung und Synästhesie fungieren als „reflexive Orientierung“. Durch Reflexion werden mediale Phänomene kontextualisiert und strukturiert, was praktisch-reflexive Urteilsfähigkeit, einschließlich Medien- und Sozialethik impliziert. Die Dimension/Prozess-Relationen können unter den Aspekten Fächerorganisation, curriculare Modelle, Fächersynergien und persönliche Modalitäten im schulischen Unterricht systematisiert und modularisiert werden (Wermke 1997). Die universitäre Vermittlung von Medienkompetenz und Medienperformanz basiert vor allem auf der mediendidaktischen Kompetenz von LehrerInnen (Abbildung 4: Mediendidaktische Kompetenz) und kann folgendermaßen definiert werden: „Fähigkeit, Lehr-/Lernsituationen […] zur Vermittlung von Medienkompetenz sinnvoll zu planen und durchzuführen bzw. zu begleiten“ (Wermke 1997). In quantitativer Hinsicht erfordern Auswahl- und Erklärungsfunktionen einen Wissensüberschuss bei theoretischen Konzepten, historischen Zusammenhängen und Analyseverfahren, in qualitativer Hinsicht, neben Sachkenntnis, auch Vermittlungskompetenzen, bezogen auf: Unterrichtsorganisation, curriculare Kontinuität, LehrerInnen/SchülerInnen-Interaktion und Fächer-Synergie. Für didaktische Prozesse haben Medienperspektive, Fächerperspektive und Integrationsperspektive hohe Relevanz (Wermke 1997)

Abb. 4: Mediendidaktische Kompetenz Tabelle: Wermke 1997

Insbesondere für die praktische Ausbildung ist die priorisierte Zielsetzung zu formulieren, dass LehrerInnen ein neues professionelles (Selbst-)Verständnis ausbilden und verankern können, das über die reine Addition medienpädagogischer Kenntnisse und Medienkompetenzen hinausweist. Medienkompetenz und Medienperformanz sind elementare Bestandteile des beruflichen Leitbildes für eine Schule in Gegenwart und Zukunft (Spanhel 1997; Wermke 1997).

4. Konzeption und Programmatik konvergenter Kompetenzprofilierungen multimedialer Produktion Ausgehend von den vorstehenden Begrifflichkeiten und Anwendungen bedarf es einer integralen Konzeption, Programmatik und (Hochschul-)Didaktik konvergenter Kompetenzprofilierungen in der multimedialen Produktion mit Folgen und Konsequenzen in und für Ausund Weiterbildung, Forschung und Entwicklung, Wissens- und Techniktransfer. Der Beitrag hat sich zum Ziel gesetzt, Lernende und Lehrende für das kompetente Interagieren in konver-


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gierenden Medienumgebungen auszubilden. Dies erfolgt durch ein integrales sowohl fachwissenschaftlich als auch fachpraktisch fundiertes Konzept (vgl. Abbildung 5: Strukturmodell integraler Medienkompetenzprofilierung) mit aufeinander abgestimmten individualisierbaren Kompetenzprofilen und flexibilisierten Produktions-Workflows. Mittlerweile ist die Durchdringung individueller und kollektiver Lebenswelten mit allgegenwärtigen Informations- und Kommunikationstechnologen längst Fakt. Getrieben durch den technischen Wandel wachsen Medien heute zusammen. Mithin wird von technischer Konvergenz gesprochen. Nach wie vor werden selbstverständlich Audio-, Bild- und Textinhalte produziert. Sie lassen sich aber einfacher kombinieren und werden auch zunehmend nicht mehr allein über klassische sequenzielle und monodirektionale Kanäle verbreitet, sondern können, dank der Netztechnologie(n), auch in gemischter Form, bidirektional und interaktiv über verschiedene Endgeräte, wie etwa Computer und Smartphones, distribuiert werden. Hatten sich in der Medienproduktion über viele Jahre weithin lineare, hierarchisch strukturierte Arbeitsabläufe mit genau definierten Kompetenzen und klar voneinander abgegrenzten Aufgabengebieten bewährt (Berg/Kiefer 1992, 1996), so fordert die Dynamik der sich rasant beschleunigenden Entwicklung konvergierender digitaler Medien zyklische, interdisziplinär vernetzte, offen partizipatorische Arbeitsorganisationen und Workflows ein. Aufgrund des Umstands, dass die Herstellungskosten (Kostendegression digitaler Content-Produktion) von ehemals sehr aufwendigen Produktionsumgebungen deutlich sinken (Zerdick et al. 2001; Schumann/Hess 2009), wird der Einstieg ins Mediengeschäft für kleinere Unternehmen und für Einzelpersonen, die bislang vom Marktgeschehen ausgeschlossen waren, wesentlich erleichtert. Doch ungeachtet dessen scheinen Gesellschaft und Wirtschaft nach wie vor auf die tradierte Logik und Logistik ihrer überkommenen Betriebsabläufe und Branchen-Netzwerke zu setzen (Giesecke 2002). Hinzu kommt, dass sich die Bedienung von inhaltsgenerierenden und ausspielenden Anlagen einfacher gestaltet, wodurch es möglich wird, dass beispielsweise JournalistInnen, die bis dato lediglich geschrieben haben, in Zukunft auch selbst Film-, Foto- und Audiobeiträge (zum Beispiel Video-Journalismus und Citizen Journalism) produzieren und distribuieren können. Für diese Entwicklung setzt sich der Begriff der ökonomischen Konvergenz durch. Nicht zuletzt erleben wir durch die skizzierte technische und ökonomische Konvergenz und durch die damit verbundenen neuen Potenziale der Kommunikation einen soziokulturellen Wandel. Dieser ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass in sozialen Netzwerken Medienproduzierende und -konsumierende nicht mehr trennscharf zu unterscheiden sind, sondern in der Tendenz nur noch situativ beschrieben werden können (Döring/Thielmann 2008). Demnach kommt es auf eine Förderung des Dialogs, synästhetische Informationsverarbeitung, dezentrale Vernetzungsstrukturen sowie multimediale, modulare Wissensdarstellungen an. Die Imperative und Modelle der Buch- und Industriekultur sind allerdings zu entmythologisieren, monosensuelle Informationsgewinnung, monomediale Speicherung und lineare Informationsverarbeitung sowie hierarchische und interaktionsarme Vernetzung sind zu relativieren (Giesecke 2002). Für diesen Trend schlage ich den Terminus kulturelle Konvergenz vor.


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Abb. 5: Strukturmodell integraler Medienkompetenzprofilierung Diagramm: Christian Filk

Basis bildet für das Strukturmodell integraler Medienkompetenzprofilierung eine ausgeprägte Netzkompetenz. Das digitale Netz – wie immer es jetzt oder künftig genannt wird (Internet, Web 2.0 u. a.) – ist die technische Voraussetzung aller modernen Kommunikationsformen (Ceruzzi 1998). Lernende und Lehrende sollten verstehen, wie ein digitales Netz funktioniert. Sie müssen in der Lage sein, Medienprodukte in bestehende, netzbasierte Plattformen einzupflegen und auszuspielen. Lernende und Lehrende sollen aber auch selbst bis zu einem gewissen Grad konvergente Plattformen konzipieren, programmieren oder managen können. Mit der Option, die Informatikkenntnisse zu vertiefen, erhalten sie die Möglichkeit, sich in die relevanten Technologien weiter einzuarbeiten. Damit lernen sie, interaktive Web-Applikationen zu modellieren, zu adaptieren und zu administrieren. Zunächst stehen das praxisorientierte und visuelle Erlernen von Algorithmen und einfachen Programmierungen (mit der Entwicklungsumgebung Processing) im Vordergrund. Grundlegende Konzepte von HTML, CSS und Javascript werden vermittelt und Authoring-Werkzeuge eingeführt, die weitere interaktive Inhalte für das Web bereitstellen. Zur Netzkompetenz gehören auch die Grundlagen zu Client-Server-Architekturen, IP-Adressen, Internet, Protokollen und vernetzten Systemen. Zudem fokussiert sich das Curriculum auf objektorientierte und relationale Datenbanksysteme, SQL als Anfragesprache und PHP als server-seitige Skriptsprache für dynamische Web-Inhalte. Ein besonderes Augenmerk ist auf Web 2.0 und die Anwendung von Web-Applikationen zu legen, die nach den Prinzipien von Web 2.0 (User-generated Content, Netzwerke, Wikis, Blogs usw.) funktionieren (Münker 2009). In diesem Zusammenhang sind interaktive Medien in ihrem jeweiligen digitalen Umfeld von Bedeutung. Dabei ist Technologie-Monitoring ein zentrales Anwendungsgebiet und erklärt vor allem neue Technologien im Medien-, Mobile- und Internet-Umfeld. Digitalisierung, Formate, Ausgabekanäle, Distributionstechniken und Speichersysteme spielen hier eine wesentliche Rolle, um neu entstehende Medienwelten zu vermitteln.


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Produktionskompetenz setzt in allen Genres Narrationskompetenz (Storytelling) voraus. Kompetent Geschichten mit Text, Bild und Ton erzählen zu können, ist eine relativ neue Herausforderung. Nur wenige konnten es bisher. Die Gutenberg-Ära (Giesecke 2002) war medial sequenziell und arbeitsteilig: JournalistInnen und LiteratInnen schrieben. FotografInnen und MalerInnen produzierten Bilder. ModeratorInnen und SchauspielerInnen sprachen. Multimedia-Produzierende müssen alles gleichzeitig können. Sie erzählen Inhalte mit Text, Bild und Ton und arrangieren diese crossmedial (Kracke 2001). Dafür bietet sich der Begriff narrative Konvergenz geradezu an. Damit Lernende und Lehrende diese Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen können, genügt es nicht, die Gesetzmäßigkeiten der deutschen Sprache (Grammatik, Orthografie, Stilistik etc.) zu kennen. Es reicht auch nicht, sich die Theorie von stehenden und bewegten Bildern anzueignen. Es geht vielmehr darum, sich sprachliche, visuelle und auditive Narrationsfertigkeiten (Skills) anzueignen. Solche Fertigkeiten können nur durch stetes Üben erlangt werden. Lernende und Lehrende müssen die deutsche Sprache während des ganzen Studiums aktiv trainieren. In allen Sujets und Formaten werden Erzählungen und Geschichten geschrieben und gesprochen, medienspezifisch aufbereitet und auf unterschiedliche (situierte) Zielgruppen ausgerichtet (Grüner 2007). Der gleiche Sachverhalt gilt für den Umgang mit visueller Kommunikation. Lernende und Lehrende müssen nicht nur Bilder unterschiedlicher Art betrachten und beurteilen können, sie müssen sich darüber hinaus visuell ausdrücken können. Dadurch unterscheiden sie sich wesentlich von traditionellen JournalistInnen, die vornehmlich schreiben und das Bild als Illustration zum Textbeitrag verstehen. Die Fertigkeit des Visualisierens erweitert die sprachliche Fertigkeit deutlich. Man kann auch von der Fertigkeit des Skizzierens sprechen. Lernenden und Lehrenden soll die Fertigkeit vermittelt werden, sich zeichnerisch verständlich machen zu können. Der Ansatz ist innovativ weiterzuführen, indem multimedial Produzierende lernen, Storyboards zu skizzieren, Informationsgrafiken zu entwerfen, Konzepte zu entwickeln, zu fotografieren und zu filmen. Zweierlei soll sichergestellt werden: Erstens wird durch das Üben des Skizzierens das Auge geschult und es lernt, Bilder zu sehen und zu beurteilen, Foto und Video zu kadrieren und zu schneiden. Zweitens können Lernende und Lehrende sich mit der Fertigkeit des Skizzierens – formal und inhaltlich – rasch und verständlich ausdrücken, sodass sie ihre Ideen den SpezialistInnen aus Grafik-Design, Film und Fotografie oder auch den EntscheiderInnen respektive ManagerInnen leichter vermitteln können. Lernende und Lehrende können eine visuelle Verhandlungsbasis leicht, schnell und situativ schaffen. Kurzum: Sie werden kommunikativ und anschlussfähig. Mit modernen Endgeräten, wie zum Beispiel einem Smartphone, kann eine Skizze sehr rasch und ohne größeren Aufwand fotografiert und damit elektronisch zugänglich gemacht werden. Mit der Narrationskompetenz schaffen wir die Voraussetzung, damit Handelnde sich eine multimediale Produktionskompetenz aneignen können. Lernende und Lehrende sollen Audio-, Bild- und Textbeiträge produzieren und kombinieren können. Sie sollen die Eigenarten der auf dem Stand der Zeit gängigen Ausspielkanäle (mithin deren medialen Eigensinn) kennen und beim Produzieren angemessen berücksichtigen können. Denn jedes Medium bestimmt auch, wie damit kommuniziert werden kann. Ein guter Text etwa ist für ein Online-Format anders formuliert und strukturiert als für eine Print-Adaption. Diese Herleitung macht deutlich, dass die – klassisch verstandenen – Ausspielkanäle zwar


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immer noch wichtig sind und es auch bleiben werden, aber, insbesondere vom Workflow her gedacht, eine nachgeordnete Position einnehmen. Lernende und Lehrende, die sich eine solide Narrations- und Produktionskompetenz angeeignet haben, sind grundsätzlich in der Lage, Ausspielkanäle zu bedienen, und dies unabhängig davon, wie diese sich (weiter)entwickeln. Selbstredend kommt den Eigengesetzmäßigkeiten dieser Vertriebswege keineswegs eine unbedeutende Stellung zu, weshalb sie von Lernenden und Lehrenden gekannt werden müssen. Da sich aber die digitale, multimediale Welt weiterhin verändern wird (Filk 2009), wissen wir heute nicht, wie genau Ausspielkanäle in Zukunft aussehen werden. Kaum jemand hätte vor zehn Jahren ein iPhone voraussagen können. Lernende und Lehrende müssen also zeitgemäße und neue Kanäle bespielen und in ihre Arbeit integrieren können. Netz-, Narrations- und Produktionskompetenz funktionieren letztendlich nur im Zusammenwirken mit Marktkompetenz. Lernende und Lehrende sind darauf vorzubereiten, multimedial kommunizieren zu können. Damit sie berufsfähig werden, müssen sie die Märkte kennen, in denen sie arbeiten werden. Der eine Markt, in dem Kommunikationsprodukte Primärfunktion haben, sind regionale und nationale Medienunternehmen. Medienhäuser leben direkt von Kommunikation (Wirtz 2009): ihr Produkt ist Kommunikation. Der andere Markt ist die übrige Privatwirtschaft und der öffentlichen Sektor, wo Kommunikation eine Sekundärfunktion hat, also dazu dient, Image und Produkte bekannt zu machen und zu pflegen. Unternehmen und Organisationen in diesen beiden Märkten sind, was die Produktion von Medienartefakten betrifft, anders organisiert, verfolgen andere Zielsetzungen und sind anders ausgestattet (Mahrdt 2008). Sie sind aber auch in hohem Maße komplementär, indem beispielsweise PR-Fachleute in wirtschaftlichen Unternehmen Inhalte für Medienhäuser sende- und publikationsfertig vorbereiten.

5. Wissenschaftliche und (hochschul)didaktische Begleitung von Medienproduktionen Medienkonvergenz und Crossmedialität zeitigen grundlegend neue Verarbeitungsprozesse, die konsequent mit tradierten Vorgängen brechen. Mit der sich beschleunigenden Entwicklung konvergierender digitaler Medien gehen zyklische, interdisziplinär vernetzte sowie offen partizipatorische Arbeitsorganisationen und Workflows einher. Es bedarf einer dezidiert integralen Konzeption und Programmatik konvergenter Kompetenzprofilierungen in Aus- und Weiterbildung, Forschung und Entwicklung sowie Wirtschaft und Gesellschaft (Filk/Müller-Beyerler 2011), um den großen Anforderungen und Herausforderungen der gesamten digitalen Produktions- und Wertschöpfungskette angemessen begegnen zu können: angefangen von der Idee über Konzeption und Produktion bis hin zu Distribution, Verwertung und Archivierung medialer Inhalte. Um der sachlich gebotenen Komplexität und Professionalität digitaler Produktions- und Wertschöpfungsketten (Porter 1980, 1985; Shapiro/Varian 1998; Zerdick et al. 2001) gerecht zu werden, unterscheiden wir zum einen zwischen „Wissen“ (Knowledge), „Fähigkeiten“ (Competence) und „Fertigkeiten“ (Skills) beziehungsweise zum anderen zwischen „Netz-“, „Narrations-“, „Produktions-“ und „Marktkompetenz“ (Filk/Müller-Beyerler 2011). Prinzipiell stellt sich für uns im Zusammenhang der oben genannten Forschungsfrage das Problem, mittels welcher paradigmatischer Modellvorstellung die gewandelten Workflows und Betriebsabläufe am besten konzeptualisiert, analysiert und operationalisiert werden können.


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Aufgrund von teilnehmenden Beobachtungen im empirischen Feld der Workflows und Betriebsabläufe multimedialer Produktionsumgebungen (mitunter könnte man in Abwandlung der Actor-Network-Theorie [Latour/Woolgar 1986; Latour 1987; Belliger/Krieger 2006] von „Media in Action“ sprechen) vertreten wir die Arbeitshypothese, dass grundlegende Verarbeitungsprozesse unter multimedialen, medienkonvergenten und crossmedialen Voraussetzungen wie Produktion, Distribution, Verwertung und Archivierung digitaler Inhalte mit Erkenntnisgewinn mittels Selbstorganisation von Gruppenmitgliedern und situierter Mediennutzung erklärt werden können. Dabei stütze ich mich zum einen auf Ansätze der interdisziplinären Gruppenforschung (insbesondere aus der Small Group Research) (Höflich 1996; Koschmann 1996; Döring 1999; Forgas 1999; Schwabe,/Streitz/Unland 2001; Koschmann/Hall/Miyake 2002; Sader 2002; Filk 2003) und zum anderen auf Ansätze des situierten Setting der Mediennutzung (Lave 1988; Lave/Wenger 1991, McLellan 1996). Situiertes Lernen meint: das individuelle Arbeiten in authentischen oder realistischen Lernund Produktionsumgebungen respektive das Lernen und Produzieren mit authentischen oder realistischen Aufgaben und Problemen, welche die „wirkliche Welt“ reflektieren. Die Lehr- respektiven Produktionsprozesse basieren auf dem Modell des Cognitive Apprenticeship (Collins 1991), d. h. durch authentische oder realistische Lern- und Produktionsumgebungen sollen implizite Prozesse explizit gemacht werden. Denn wenn Wissen dekontextualisiert wird, läuft es Gefahr, ineffektiv zu werden. Situierte Kognition basiert auf dem Konzept, dass Wissen kontextuell verortet ist und grundlegend beeinflusst wird von Aktivitäten, Kontexten und Kulturen, in denen es angewandt wird (McLellan 1996). Zu den Hauptkomponenten des Situierten Lernens gehören daher: Begreifen, Kooperation, Reflexion, Coaching, vielfältige Übungen, Artikulation von Aufgaben, realistische Eindrücke und Technologie (McLellan 1996; Strittmatter/Niegemann 2000) entlang der Workflows und Betriebsabläufe multimedialer Produktionsumgebungen. Hierbei kommt „Wissen“ (Knowledge), „Fähigkeiten“ (Competence) und „Fertigkeiten“ (Skills) die gleiche Bedeutung zu. Der kognitiven, sozialen, organisatorischen und technischen Komplexität Tribut zollend, müssen kooperative Wissens- und Produktionsprozesse strukturiert werden. Die Strukturierung muss durch geeignete Prozesse und Medien (Impulse von Dozierenden und Studierenden sowie Arrangements von multimedialen Systemen und Konfigurationen) operationalisiert werden. Tendenziell sollen Lehrende oder ExpertInnen zugunsten von Lernenden oder Laien aus dem Mittelpunkt heraustreten; sie sollen zu ModeratorInnen werden. Hierzu bedarf es einer geeigneten Moderationsunterstützung (Salmon 2000), sowohl im kommunikativen als auch im (medien-)technischen Sinne. Bestenfalls soll Wissensteilung wechselseitig und abwechselnd zwischen Lehrenden und Lernenden stattfinden. Das Teilnehmen an (Klein-)Gruppenaktivitäten entwickelt Denkvermögen auf hohem Niveau. Es fördert die praktischen Fähigkeiten der Individuen, Wissen zu teilen und anzuwenden, Verantwortung für Arbeits- und Lernerfolge als Individuum, aber auch als Gruppenmitglied zu übernehmen. Im Idealfall ist eine Selbstorganisation der Lehr- und Lerngruppen beziehungsweise des Lehr- und Lernprozesses zu realisieren (Filk 2003), welche die zyklische, interdisziplinär vernetzte, offen partizipatorische Arbeitsorganisationen und Workflows in Medienhäusern und Wirtschaftsunternehmen im Sinne von „Best Practice“-Ansätzen vorwegnehmen (kann). Im Unterschied zu hergebrachten Vorstellungen der Wissensvermittlung und -aneignung


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beziehungsweise des Lehrens und Lernens sind die Ziele der kooperativen Wissenskommunikation und -teilung respektive der kooperativen Medienproduktion und -interaktion im Team und kreativ-generisch begründet und ausgerichtet. Dabei ist die Unterscheidung „Wissen“ (Knowledge), „Fähigkeiten“ (Competence) und „Fertigkeiten“ (Skills) wesentlich. Die Aktivitäten dienen, auch wenn die Gruppe gemeinsam Resultate erarbeitet, in letzter Konsequenz dem Lernen und Wissen des Individuums. Das gemeinsam erzeugte Produkt ist Mittel zum Zweck des Lernens und Wissens, im Betrieb hingegen trägt es zum Erreichen unternehmerischer Ziele bei. Gerade die mediengestützte Wissenskommunikation und Medienproduktion in Gruppen soll darüber hinaus dazu beitragen, dass handelnde Personen pro-soziale, (meta-)kommunikative und soziotechnische Kompetenzen und Qualifikationen erwerben und einüben. Bei der kooperativen Wissenskommunikation und Medienproduktion wird (auch) arbeitsteilig gearbeitet. Vor allem medienunterstützte kooperative Wissensprozesse können (auch) modular und komponentenartig modelliert sein. Aber der Prozess muss – von der Anlage her – so strukturiert sein, dass jedes Mitglied der Gruppe die Gelegenheit erhält, sich das gemeinsam erarbeitete Wissen individuell anzueignen. Das Prinzip der Arbeitsteilung stellt sicher, dass das Gros des Inhalts von allen Gruppenmitgliedern aktiv geteilt wird, das heißt: an ihm gearbeitet und zugleich dabei gelernt wird. Die im Rahmen der multimedialen Produktionsumgebungen entwickelten und erprobten medienkonvergenten und crossmedialen Verarbeitungsprozesse bilden die Grundlage für den Wissens- und Techniktransfer (WTT) für Betriebsabläufe und Workflows in Medienhäusern, Agenturen und Wirtschaftsunternehmen.

6. Zusammenfassung Eingedenk der großen Herausforderung der vierfachen Konvergenz von Technik, Wirtschaft, Kultur und Narration ist, so meine Grundüberzeugung, eine integrale Konzeption und Programmatik konvergenter Kompetenzprofilierungen in Aus- und Weiterbildung, Forschung und Entwicklung, Wirtschaft und Gesellschaft vonnöten, um den stetig wachsenden und sich schnell verändernden Aufgaben der digitalen Produktions- und Wertschöpfungskette gerecht werden zu können: beginnend bei Idee und Entwurf über Planung und Herstellung bis zu Verbreitung und Verwertung medialer Produkte und Dienstleitungen (digitaler Content). Der Beitrag stellt die integrale Konzeption und Programmatik und (Hochschul-)Didaktik konvergenter Kompetenzprofilierungen in der multimedialen Produktion vor und erläutert wichtige wissenschaftliche Implikationen für Ausbildung, Forschung und Anwendung. Produktionskompetenz setzt in allen Genres Narrationskompetenz (Storytelling) voraus. Kompetent Geschichten mit Text, Bild und Ton erzählen zu können, ist eine relativ neue Herausforderung. Die Gutenberg-Ära (Giesecke 2002) war medial sequenziell und arbeitsteilig. Lehrende und Lernende, d. h. LehrerInnen sowie SchülerInnen, werden in Zukunft vieles gleichzeitig können (müssen): Sie erzählen Inhalte mit Text, Bild und Ton und arrangieren diese crossmedial (Kracke 2001). Der gleiche Sachverhalt gilt für den Umgang mit visueller Kommunikation. Mit der Narrationskompetenz wird die Voraussetzung geschaffen, damit Lehrende und Lernende sich eine multimediale Produktionskompetenz aneignen können. Sie sollen Audio-, Bild- und Textbeiträge produzieren und kombinieren können und die Eigenarten der auf dem Stand der Zeit gängigen Ausspielkanäle (mithin deren medialen Eigensinn) kennen und beim Produzieren angemessen berücksichtigen können. Denn jedes Medium bestimmt auch, wie damit kommuniziert werden kann.


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Netz-, Narrations- und Produktionskompetenz funktionieren letztendlich nur im Zusammenwirken mit Markt- oder Wirtschaftskompetenz. LehrerInnen sowie SchülerInnen sollen lernen, souverän und (selbst)kritisch mit den beiden wichtigsten Märkten umzugehen: Der eine Markt, in dem Kommunikationsprodukte Primärfunktion haben, sind regionale und nationale Medienunternehmen. Medienhäuser leben direkt von Kommunikation: ihr Produkt ist Kommunikation. Der andere Markt ist die Privatwirtschaft und der öffentlichen Sektor, wo Kommunikation eine Sekundärfunktion hat, also dazu dient, Image und Produkte bekannt zu machen und zu pflegen. Zusammenfassend ist festzuhalten: Konvergierende, interaktive, digitale, netzwerkgestützte und mobile Medien können einen Unterricht, der intendiert, Problemlösungs-, Entscheidungs-, Gestaltungs- und Beurteilungsvermögen zu fördern, in mannigfaltiger Weise bereichern. Nicht zuletzt muss es im Eigeninteresse aller pädagogisch Tätigen sowie erzieherisch Verantwortlichen liegen, sach-, personen- und situationsgerechte medienpädagogische sowie -didaktische Konzepte auf den Weg zu bringen.

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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

Paula Pfoser/Gudrun Rath

Involviert berichten Alternative Medien und Medienaktivismus Beitrag online im Ressort Kultur/Kunst unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/462

Abstract Die AutorInnen Paula Pfoser und Gudrun Rath bieten in ihrem Beitrag eine Reflexion von künstlerischen Selbstverständnissen und Bedingungen im Rahmen der Wienwoche 2012 und präsentieren dabei ihre komplexen Überlegungen zu Medien und Medienaktivismus. Involved reporting. Alternative media and media activism. In their essay, the authors Paula Pfoser and Gudrun Rath offer a reflection on artistic self-conceptions and conditions within the framework of the Wienwoche 2012, and present their complex considerations on the media and media activism.

1. Intro Die Wienwoche, das neue Kulturprojekt der Stadt Wien, geht vom 21. September bis zum 07. Oktober 2012 zum ersten Mal über die Bühne. Von den Grünen initiiert (aber lediglich durch eine Transparenzvereinbarung verbunden) grenzt sich die Wienwoche deutlich von den zwei anderen großen Festen der Stadt, dem Donauinselfest und dem Stadtfest, ab: Sie will, indem sie Kulturarbeit als ein Einmischen in gesellschaftliche, politische und kulturelle Debatten versteht, ein anderes Wien sichtbar machen und stärken. Und: Sie ist Stadtfest für alle in der Stadt lebenden sozialen Gruppen – d. h. auch die Projekte, die darin involviert sind, arbeiten u. a. gegen gesellschaftliche Ausschlüsse und suchen nach Möglichkeiten einer solidarischen, antirassistischen und antisexistischen Stadtgestaltung und -kultur. Am Festival beteiligt ist auch die Medien-Gruppe „involviert berichten“, d. h. konkret: Die Radioaktivisten Pavel Kaminski und Gerhard Kettler, Hirut Kiesel von „Discover TV“ (okto) und einige aus der Redaktion der Zeitschrift MALMOE. Der folgende Beitrag stellt einen subjektiven Darstellungsversuch unserer Überlegungen zu Medien und Medienaktivismus dar.

2. Prätext 1 – Zur Wienwoche „Involviert berichten“ ist ein Experiment, wohl auch für das Kuratorium der Wienwoche. Das Leitungsteam – vom „Verein zur Förderung der Stadtbenutzung“ wurden Petja Dimitrova, Can Gülcü und Radostina Patulova bestellt – hatte nach einem Vorbereitungssprint im Jänner mit der konkreten Projektentwicklung begonnen: Die Gruppen „agieren“, „geschichte neu schreiben“ und „umverteilen“ waren schon konzipiert, als eine Medien-Gruppe und die Mu-


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sikgruppe „soundpolitiken machen“ ins Leben gerufen wurden. Das ausschlaggebende Argument dafür lag wohl in der Konzeption des gesamten Festivals: Gegen die Festivalisierung treten die KuratorInnen an – sie setzen sich für mehr Sichtbarkeit, Vernetzung von und Umverteilung zugunsten derjenigen ein, die schon seit Jahren in autonomen Kontexten und kleinen Initiativen arbeiten. Stattfinden werden nun: zwei Wochen Ausstellungen, Interventionen, Diskussionen, Screenings und vieles mehr – angesiedelt an der Schnittstelle von künstlerischer, emanzipatorischer und aktivistischer Praxis, verteilt über die ganze Stadt. Für uns, die wir in der alternativen Medienarbeit tätig sind, ist die Wienwoche eine Plattform zur Reflexion unserer alltäglichen Arbeit und zur Verknüpfung unserer Zugänge. Aber wo anfangen? Wie gemeinsam ein Projekt entwickeln – wir, die wir uns so verschieden und innerhalb eines großen Themenspektrums bewegen? Also: Zurück an den Start. Mit einem Fragenpaket: Was sind unsere Zugänge zu einer freien/alternativ-journalistischen bzw. medienaktivistischen Praxis? Unter welchen Bedingungen arbeiten wir? Wie sehen heute, nach der einigermaßen erfolgreichen Etablierung alternativer Medien, unsere Forderungen aus? Die Auseinandersetzung mit diesen Themen wird zum Projekt der Medien-Gruppe – sie bietet also den Fragen Raum, die im Alltag der Medienarbeit oft unter den Tisch fallen.

3. Prätext 2 – Die „Medien-Gruppe“: Ein paar Worte zu uns Vorab eine kurze Bemerkung zu unseren Kontexten: „Ein paar RadioaktivistInnen“ nennen sich Gerhard Kettler und Pawel Kaminsky und einige andere und sind als solche, per Selbstdefinition, „Bestandteil emanzipatorischer politischer Bewegungen“. „Radioaktivismus macht das Radio zum Sprachrohr und zur Diskursplattform, zum Werkzeug, das Vernetzung und Koordination ermöglicht, zum Instrument, um virtuelle Räume zu erschließen und Marginalisierte hörbar zu machen.“ Discover TV, die zweite Teilnehmerin, ein Sendungsformat auf okto, ein „lokaler Sender für globale Themen“, richtet sich an „KosmopolitInnen des 21. Jahrhunderts“, indem es Nachrichten und Themen mehrsprachig und z. B. aus marginalisierten Gegenden und alternativen Quellen bringt. Malmoe, Teilnehmer_in Nr. 3, ist eine zweimonatlich erscheinende, kostenlose Printzeitung, die als „alltagsbegleitende Maßnahme“ gegen die „neoliberale Hegemonie antritt und Demokratisierung und Entdiskriminierung in allen gesellschaftlichen Bereichen“ (Kultur, Alltagsleben, Arbeits- und Geschlechterverhältnisse etc.) forcieren will.

4. Begrifflichkeiten Wie lässt sich unsere Arbeit zusammenfassen? Wir stoßen auf verschiedene Begrifflichkeiten: „Freie“ Medien, glitschig und ungreifbar, ist immer noch ein gebräuchlicher Begriff, der alles und nichts über jene heterogene Gruppe von Medien sagt, die sich davon angesprochen fühlen. Ein Beispiel dafür: Der „Tag der Freien Medien“ 2010 im Wiener Museumsquartier, ideologisch diffus, mehr Fanzine-Messe als Plattform für emanzipatorische Praxen – für die politischen „Freien“ wurde jedenfalls kein Platz geboten. „Freie Medien“, das sind letztlich, in der hegemonialen Begriffsverwischung, alle, die nicht-kommerziell arbeiten. Der Begriff findet aber auch anders Verwendung: Im Fall der „freien Radios“ z. B. – ein Label, das übrigens schon seit den 1990er-Jahren besteht – hat deren Interessenvertretung, der „Verband freier Radios“,


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antidiskriminatorisches Wirken in ihren Grundstatuten festgeschrieben. Wie kann dieser begrifflichen „Freiheit“ aber über die Radios hinaus weiter Kontur verliehen werden? Der vom Medientheoretiker Geert Lovink 1992 zu diesem Zweck eingeführte Präzisierungsversuch der „freien Medien“ als „alternative“, also jene, die sich von den bürgerlichen Medien abgrenzen und inhaltlich korrigierend und ergänzend in das bestehende Informationsspektrum eingreifen, und „eigene“, sich subkultureller Themen und Codes bedienende Medien, muss heute ebenfalls auf seine Treffsicherheit hin befragt werden. Mit „Medienaktivismus“ steht ein weiterer Begriff zur Diskussion: Er wendet sich gegen die Vorstellung des Mediums als neutrales Mittel des Informationstransfers und versucht, Aktion und Repräsentation zusammenzudenken, und das bedeutet letztlich auch: Im Fokus steht die Intervention. Aber: Ab wann ist die Bezeichnung Aktivismus nicht eine Stilisierung journalistischer Formate? Oder, wie eine von unserer Gruppe meint: Wollen wir nicht einfach an einem anderen Journalismusbegriff arbeiten? Wir lassen die (neurotischen?) Abgrenzungen hinter uns und werfen einen Blick auf unsere Arbeit: Per „idealer“ Definition vereint uns der Anspruch, den „Mainstream-Medien“ emanzipatorische Diskurse entgegenzusetzen bzw. in ihre Diskurse hineinzuinterventieren, nicht-kommerziellen Raum für gesellschaftskritische Reflexionen zu schaffen und in diesem Raum jenen ProtagonistInnen Stimmen einzuräumen, die aus den Diskursen der Mehrheitsgesellschaft konsequent und kontinuierlich ausgeblendet werden.

5. Praxen und Selbstverständnisse Mit dieser Selbstdefinition einher geht: kein Anspruch auf vermeintliche „Objektivität“, den „Mainstream-Medien“ in den Vordergrund ihres journalistischen Schaffens rücken. Stattdessen werden die verschwimmenden Grenzen zwischen Untersuchten und Untersuchenden offengelegt, werden die Schwerpunkte der Berichterstattung in einem Angriff auf die behauptete „Objektivität“ verlagert, werden Zuschreibungen des ExpertInnentums infrage gestellt: Wann darf hier wer sprechen (oder schreiben)? Die glatten Oberflächen werden aufgeraut – die eigene Erfahrung, Praxis oder Sprache werden zur Basis für das journalistische/medienaktivistische Handeln. Es ist, stellen wir fest, dieses Thematisieren von konkreten Erfahrungen und eigenen Standpunkten, das vor allem auf lokaler – und meist urbaner – Ebene bedeutsam ist. Denn das Handeln aus der Praxis ist letzten Endes ein Wirken für die Praxis und das bedeutet in letzter Konsequenz auch: Anspruch auf Intervention bzw. Anspruch auf Sichtbarmachen. Medienarbeit, die über die reine Investigation, über das „Abbilden“ von gesellschaftlichen Verhältnissen hinausgeht. Also ein Berichten, das letztlich nicht nur das Berichtete, sondern auch die Position der Berichtenden ins Zentrum der Aufmerksamkeit holt.

6. Selbstbefragungen Genau diese Ansprüche sind es letztlich auch, die immer wieder ein Neu-Verhandeln des eigenen, kollektiven Medien-Standpunkts einfordern. Sie werfen Fragen auf: Inwieweit werden wir diesen Ansprüchen gerecht? Setzen wir tatsächlich Diskussionen und Proteste in Gang? Im Fall des Radioaktivismus ist die Antwort wohl eindeutiger. Die Protestbegleitung via Radio, wie sie z. B. rund um den WKR-Ball stattgefunden hat, erleichtert es, Überblick über die meist


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dezentralen Aktivitäten zu erhalten, die Bekanntmachung von drohenden Abschiebungen kann sie vielleicht im letzten Moment noch verhindern. Dienste wie Twitter haben die Informationsverbreitung inzwischen durch einen niederschwelligen Zugang zum „Do-it-yourselfSenden“ erleichtert. Radio behauptet aber insofern seinen Platz, als es im Gegensatz zum teilweise hysterischen, auf die Mitteilung eines Redaktionskollektives verzichtenden Hype der Online-Plattformen eine bekannte und verlässlichere Quelle darstellt. Medienaktivismus oder alternative Medienarbeit geht aber weit über diese reine Informationsfunktion hinaus – eben in Richtung Intervention, durch verschiedene Medien und Formate. Die Frage nach den Formen und Möglichkeiten dieser Intervention ist allerdings komplexer: Auch reflektierendes, Zusammenhänge erschließendes Berichten kann (muss aber nicht) intervenierend wirken. Und was bei wem „intervenierend wirkt“, ist natürlich auch – nicht erst seit Jacques Rancières Aufwertung der RezipientInnenrolle – unterschiedlich. Wir geben zu bedenken: Das Nischendasein, das wir, bis auf einzelne Ausreißer (die freien Radios in den Bundesländern), führen, verhindert die Interventionen in „Mainstream“-Diskurse auf weiter Strecke. Auch die Aufsplitterung dieser Mainstream-Diskurse, die mitunter kritische Inhalte neutralisierend aufgreifen, macht die Lage nicht leichter. Das tut aber der Bedeutung von alternativen Medien bzw. Medienaktivismus im Sinne einer pluralistischen, für möglichst viele gesellschaftliche Gruppen zugänglichen Medienlandschaft keinen Abbruch. Selbst unter diesen Bedingungen kann durch Informationsverbreitung die herrschende Ordnung mitunter hinterfragt und delegitimiert werden. Und abseits davon sind funktionierende Kommunikationsund Informationsstrukturen innerhalb von Teilöffentlichkeiten und Subkulturen fundamentaler Bestandteil von Vernetzung und Intervention. Wollen wir unseren Ansprüchen gerecht werden, müssen wir aber auch die Ausschlüsse reflektieren, die wir selbst produzieren. Welche Sprache sprechen wir? Wie weit erschweren wir nicht selbst den Zugang zu den Themen, die wir transportieren wollten? Geht es um sperrige, schwierige – eben nicht „leichte“ – Sprache? Geht es um Beiträge, die – vom akademischen Stil bis zu nur von „Insidern“ durchschaubaren Formaten – nur schwer erschließbar sind? Gleichzeitig aber sehen wir alternative Medienarbeit auch als Arbeit, die gerade nicht-markttaugliche Formate (und vor allem auch Inhalte!) aufgreift, Arbeit, die von allen gemacht werden darf und soll, die so Zugänge öffnet, auch wenn sie mitunter andere versperrt. Was es braucht, sind Ressourcen, um den Blick auf die jeweils produzierten Formate schärfen zu können. Den Blick zu schärfen, hieße aber auch, die eigene Involviertheit tatsächlich und über die Wienwoche hinaus zum Thema unserer Reflexion zu machen: Wie entkommen wir, die wir „involviert berichten“, der „Falle“ einer Kuschel-Berichterstattung gegenüber sozialen Bewegungen? Inwieweit wird, indem wohlwollende Zurückhaltung anstelle von kritischer Distanz tritt, genau der Anspruch unterbunden, etwas in Bewegung zu setzen?

7. Strukturen Das große Problem, auf das wir immer wieder stoßen, sind die schon angesprochenen Ressourcen. Wir alle arbeiten unbezahlt – und das tun auch die meisten anderen alternativen MedienarbeiterInnen. Freiräume, die durch ein (unbezahltes) Agieren jenseits der Marktlogik eröffnet werden, stehen einer Praxis der Selbstausbeutung und prekären finanziellen Absicherung einzelner MedienarbeiterInnen gegenüber. Wer soll uns bezahlen? Wir diskutieren „crowd sourcing“-Modelle wie kickstarter und respekt.at an, lassen sie aber fallen, denn solche Model-


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le verfolgen Verwertbarkeits- und Vermarktungslogiken lediglich in anderer Form, als dass sie das Umfeld bzw. die „crowd“ für die Finanzierung heranziehen – und den Staat aus der Verantwortung entlassen. Was bleibt, ist ein Pochen auf das bedingungslose Grundeinkommen oder ähnliche Modelle: Wenn (durch die große Produktivkraftentwicklung) nicht genügend Arbeit für alle da ist, aber genug Arbeit zu tun ist und getan werden will, dann braucht es gesellschaftliche Umdenkprozesse und eine gerechte Verteilung des Reichtums. („1000 Trommeln für ein bedingungsloses Grundeinkommen“ heißt übrigens ein anderes Projekt innerhalb der Wienwoche, das u. a. am 05.10.2012 im Märzpark die Idee des Grundeinkommens weiter verbreiten will). Die Erhaltungskosten einer pluralistischen Medienlandschaft müssen außerdem durch den Staat sichergestellt sein. Schon zu Beginn unserer Recherche stießen wir auf die Linzer Medienkonferenz von 1999. Auf diesem einzigen großen Vernetzungstreffen der alternativen Medien in Österreich wurden (konkrete) „Kurskorrekturen zur Kultur- und Medienpolitik“ entwickelt – einige der Forderungen sind schon umgesetzt worden, andere sind aber noch immer aktuell, das wissen wir auch aus unserer Praxis bzw. aus Erzählungen von KollegInnen: Trotz der bundesgesetzlichen Förderung für freie Radios und Fernsehen seit 2008 gibt es immer wieder Engpässe, die von Stadt, Land oder EU oft auch nicht abgedeckt werden. Beispielsweise musste die Radiowerkstadt Salzburg gerade erst auf Notbetrieb umstellen. Im Printbereich ist die Situation um einiges schlimmer: Die beiden Fördermodelle Presse- (Tages- und Wochenzeitungen) und Publizistikförderung (Zeitschriften) unterscheiden sich in Millionenhöhe; die Publizistikföderung, das Fördermodell u. a. für alternative Zeitschriften beträgt höchstens 5000 Euro pro Jahr und Medium; durch eine Gesetzesnovelle von 1996 können außerdem „bedenkliche“ Inhalte auch offiziell ein Ausschlussgrund sein. Und mit der Abschaffung des vergünstigten Postzeitungsversands hat sich eine weitere Lücke aufgetan. In der Medien-Gruppe der Wienwoche ist die Netzkultur nicht vertreten, aber auch dort sieht die Situation in Wien nicht rosig aus: Die höchst fragwürdigen Netzkulturfördermethoden der letzten Jahre (die „Community“ stimmt über die Fördermittelvergabe ab) haben „den ganzen Sektor geschwächt“, so lautete die Stellungnahme des Konsortiums.Netz.Kultur bereits im Jahr 2006. Mit der Zerschlagung der Public Netbase wurden wichtige Strukturen zerstört, Geld wird fast ausschließlich für Projekte vergeben, anstatt in Infrastruktur investiert, beispielsweise in die Entwicklung von alternativen Kultur- und Videoservern und in materielle Verknotungen, d. h. eigene Medienwerkstätten und -arbeitsplätze für Menschen, die bislang keinen Zugang zu solchen Produktionsstätten haben. Die Frage, wie Allianzen wiederbelebt werden könnten, um für bessere Bedingungen in der alternativen Medienarbeit zu kämpfen, wird ob der verschiedenen Grundvoraussetzungen, unter denen wir arbeiten, wohl nicht so einfach zu beantworten sein. Räume wie dieser – innerhalb der Wienwoche – waren und sind aber wichtig, um uns die Rahmenbedingungen unserer Arbeit wieder ins Blickfeld zu holen. Und um Grenzen und Potenziale alternativer Medienarbeit auszuloten und unsere Positionen wieder etwas zu schärfen. Dinge, die eben sonst als „Luxus“ abgehakt werden und aus der Tagesordnung fallen.


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Valentin Dander

Sich Selbst Überschreiten Heterotopologische Erkundungen am Medienkunstprojekt Zone*Interdite Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/485

Abstract Der Artikel widmet sich der Raumdarstellung und -wahrnehmung anhand des Medienkunstprojekts Zone*Interdite. Bildungspotenziale künstlerischer medialer Anordnungen werden als Un-/Sichtbarkeiten, Überschreitungen und Zugänge am Beispiel von Zone*Interdite diskutiert, um im Sinne einer – an Foucault orientierten – Heterotopologie das (militärische) Verhältnis von sozialen und medialen Räumen auszuloten. Valentin Dander wählt dabei einen heterotopologischen Zugang zur Untersuchung des eröffneten Medienraums und exploriert die Bildungspotenziale des Medienangebots. Going beyond oneself. Hetero-topological explorations of the media art project Zone*Interdite. The essay addresses the representation and perception of space based on the example of the media art project Zone*Interdite. The education potential of media dispositions is discussed using concepts like in-/visibility, access and transgression, quoting Zone*Interdite, in order to fathom the (military) relationship of social and media spaces in terms of a hetero-topology based on Foucault. Valentin Dander chooses a hetero-topological approach to analyze this opened media space in order to explore the available media’s education potential.

1. Einleitung Medienkunstprojekte erweisen sich vielfach als Grenzgänge im medialen Raum: In Bezug auf Gestaltung, Konzeption und Kombination wie auch in der Wahl der technischen Mittel werden Randbereiche des Potenziellen ausgelotet und aktualisiert. Daher lohnt der analytische Blick auf künstlerische Erzeugnisse – nicht nur als Phänomene der Gegenwartskultur, sondern auch als Prüfstein konzeptioneller Zugänge. Einen solchen Weg beschreitet dieser Artikel entlang der Grenzverläufe von Zone*Interdite1, einer Arbeit der Medienkünstler Mathias Jud und Christoph Wachter und fragt nach Bildungspotenzialen der medialen Anordnung.

1 Dieser Artikel stellt eine komprimierte Fassung der Diplomarbeit des Verfassers dar. Vgl. Dander, Valentin (2011): „Zones Virtopiques“: die Virtualisierung der Heterotopien und eine mediale Dispositivanalyse am Beispiel des Medienkunstprojekts „Zone*Interdite“, Diplomarbeit: Universität Innsbruck. Zone*Interdite findet sich online unter: http://www.zone-interdite.net (letzter Zugriff: 01.04.2014). Verweise auf die Seite werden im Text mit (Z*I) zitiert.


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Abb. 1: Startseite Zone*Interdite (Jud/Wachter)/Screenshot

2. Zone*Interdite als Medienkunstprojekt Zone*Interdite (franz. für verbotene militärische Zone) basiert auf einem Widerspruch: militärische Gebiete dürfen wir nicht betreten, die Darstellung ist verboten. In den Medien tauchen dennoch Abbildungen auf (Z*I) Die Medienkunst-Arbeit von Zone*Interdite beschäftigt sich mit militärischen Sperrgebieten und dem expliziten Verbot, militärische Anlagen abzubilden. Da die Arbeit primär online verortet ist, bezieht sich der vorliegende Artikel auf diese Anteile, während Ausstellungen und Vorträge der Künstler vernachlässigt werden. Die Markierung als Medienkunstprojekt ist sehr zurückhaltend positioniert. Erst nach mehreren Klicks kann diese Information bezogen werden. Entsprechend kann das Medienangebot abhängig von Wissensstand und Lesart völlig unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet werden: als politisches Artefakt, als journalistischer Beitrag, als neutrale Datensammlung etc. Beginnend mit Recherchen im Jahr 2000 entstand das Projekt mit dem Aufbau einer weltweiten Datenbank militärischer Sperrgebiete und führte zu 3D-simulierten Durchgängen („Walkthroughs“). Seit 2005/06 ist Zone*Interdite in vergleichbarer Form online. Die Datenbank wird laufend aktualisiert und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Anders als Leaking-Plattformen operiert sie nicht als anonymisierende Durchlaufstelle für Whistleblower, sondern mit öffentlich zugänglichen Informationen, d. h. „Satellitenaufnahmen […], [g]lorifizierende Propaganda und individuelle Kommunikation von Armeeangehörigen mittels privaten Fotos und Berichten, […] Internetplattformen, Suchmaschinen wie Google, private Blogs“ (Z*I). Dieses Datenmaterial wird zusammengezogen, lokalisiert und in Datenbankeinträge bzw. teilweise in virtuelle Räume übersetzt. Woraus besteht nun dieses komplexe Medienangebot? Die Startseite zeigt eine stilisierte rechteckige Weltkarte, auf welcher alle in der Datenbank vorhandenen Militäranlagen, wie auch einige Transportwege, verzeichnet sind (vgl. Abb. 1). Per Mausklick können diese Einträ-


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ge in der Datenbank direkt angesteuert werden, eine Eingabemaske erlaubt die gezielte Suche. Am Button „Add New Data“ lässt sich der partizipative Charakter des Projekts ablesen – die Eingabemaske erfragt exakte Geodaten und weitere Angaben zur betreffenden Anlage. Der Link „Forum“ führt zur eigentlichen Homepage, auf welcher sich nähere Informationen zum Projekt, ein Gästebuch und Kontaktdaten befinden. Fünf in die Weltkarte eingebettete Grafiken verlinken zu besonders detailliert beschriebenen Datensätzen: US Naval Base Guantanamo Bay (Kuba), Camp Bucca (Irak), Bagram Airbase (Afghanistan), Islamic Training Camp (Sudan) und US Army Mannheim/Coleman Barracks (Deutschland). Die ersten vier wurden auf Grundlage der ausführlichen Dokumentation als Programmanwendungen rekonstruiert und können gratis heruntergeladen, installiert und „begangen“ werden.

Abb. 2: 3D-Walkthrough US Naval Base Guantanamo Bay (Z*I)/Screenshot

Die Anwendungen orientieren sich an der traditionellen Ästhetik von First-Person-Shootern (vgl. Abb. 2): Der Raum ist zentralperspektivisch umgesetzt und die Blickposition der NutzerInnen entspricht jener des Avatars. Die Pfeiltasten bewegen die Blickposition durch den simulierten Raum bzw. schwenken den Blick; die Tasten Bild auf- und abwärts schwenken die Perspektive nach oben oder unten. Eine Kamera im rechten oberen Bildschirmeck simuliert das Fotografieren als Tätigkeit, ist also auf das integrierte Erstellen von Screenshots ausgelegt. Der eigene Avatar wird niemals sichtbar, hat keine festgelegte Identität, körperliche Aspekte wie Nahrung, Schlaf oder Tod spielen keine Rolle. Auch Narrationen oder Aufgabestellungen werden nicht angeboten. Ein Kurztext zur US-Basis in der Guantanamo Bay ist das einzige Plotangebot und erscheint während des Ladevorgangs: “US Naval Base Guantanamo Bay (GTMO) is located on the south-eastern coast of Cuba. In 1903 the USA leased 45 square miles of land keeping in the same condition until present. On January 11, 2002 the United States brought their first Al Qaeda and Taliban prisoners in the name of their ‘war against terrorism’ to GTMO. The prisoners of war are kept exterritorial on Cuba to prevent access to the American Court of Justice […].” (Z*I: Guantanamo) NutzerInnen befinden sich allein in der „verbotenen Zone“ und müssen explorativ vorge-


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hen. Viele Türen sind dauerhaft geöffnet, lediglich der Zugang zum „Außen“ des Komplexes bleibt wie durch eine unsichtbare Wand verwehrt. Eine Übersichtskarte, exakte Geodaten und die dynamische Verzeichnung von Wegpunkten im Blickfeld dienen der Orientierung im Raum. Kommunikation mit anderen NutzerInnen findet potenziell über ein Chatfenster statt. Am rechten Bildschirmrand werden – sofern verfügbar – Informationen zum aktuellen Standort aus der Datenbank eingeblendet, anhand von Bildern belegen die Künstler die Darstellungen als Rekonstruktion der physischen Realität.

3. Zone*Interdite als virtualisierte Heterotopie: ein anderer „Anderer Raum“ Einen möglichen raumtheoretischen Zugriff auf Zone*Interdite bietet Foucaults Konzept der Heterotopien (Foucault 2005). Er skizziert damit „Andere Räume“ in Differenz zu Utopien („Nicht-Orte“) als „lokalisierte […] Utopien“ (ebd.: 10). Heterotopien zeichnen sich, so Foucault, durch ihr Abweichungsverhältnis zum normalen, normierten Raum des Alltags aus, zu jenem, in dem sie [jede menschliche Gruppe] wirklich lebt und arbeitet“ (ebd.: 9). Die funktionale Beziehung zwischen Räumen und anderen Räumen kann sehr heterogene Formen annehmen: subversive, systemerhaltende, neutralisierende oder reinigende. Heterotopien seien als anthropologische Grundkonstante in allen menschlichen Gesellschaften zu finden und können innerhalb von Gesellschaften geschaffen, transformiert werden oder verschwinden. Sie vereinen mehrere Räume innerhalb eines Raumes: Die Bühne oder die Kinoleinwand schaffen illusionäre, widersprüchliche und einander fremde Räume. Diese werden vervielfältigt, entfremdet oder gebrochen, entstellt und einander gegenübergestellt. Schließlich werden Heterotopien stets durch einen Öffnungs- und Schließungsmechanismus von anderen Räumen abgetrennt, wie etwa in Strafanstalten oder auf Feiern (vgl. ebd.: 11ff.). Der Abgleich mit den simulierten Rundgängen von Zone*Interdite bringt zahlreiche Überschneidungen zum Vorschein: In der physischen Welt sind die rekonstruierten Räume fast ausschließlich für Zugehörige der entsprechenden Streitkräfte oder Häftlinge partiell zugänglich und erweisen sich als überaus geordnet (vgl. ebd.: 19f.). Gleichzeitig führt die Vervielfältigung als digitale Online-Anwendung zu einer grundlegenden Veschiebung im Regelwerk. Die Architektur im 3D-Walkthrough arbeitet extensiv mit Mitteln der Vervielfältigung (Zellenblöcke, Videoüberwachung) und widersprüchlicher Verhältnisse, wenn etwa Barracken und Haftanlagen nebeneinander liegen. Eine zentrale Frage wirft das Moment der Lokalisierbarkeit auf. Obwohl die Künstler Mittel in Stellung bringen, um ihre 3D-Walkthroughs in direkter Referenz auf die physische Welt zu behaupten, verbleiben die Simulationen ebensolche. Die Rundgänge durch die Sperrgebiete finden nur in sehr reduzierter Form statt: Eine Hand bedient Tastatur und Maus, die Augen sind auf den Bildschirm fixiert und das Gehirn übersetzt den Zusammenhang zwischen Steuerung und den Bildern in Bewegungen durch den virtuellen Raum. Diesen Fall der medialen Lokalisierung sieht Foucault in seinen fragmentarischen Ausführungen nicht vor und doch lohnt der Blick darauf: Durch die Verdoppelung der Sperrgebiete konstruieren die Künstler ein Dreieck wechselseitiger Beziehungen zwischen Räumen des „Normalen“, den heterotopischen Sperrgebieten selbst sowie deren virtueller Rekonstruktion.


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Abb. 3: Kalashnikov-Monument in Sudan: ScreenShot (Zone*Interdite)

Abb. 4: Kalashnikov-Monument in Sudan: ScreenShot (Zone*Interdite)

Aushandlungen um die problematischen Kategorien des Virtuellen und des Realen können an anderer Stelle nachgelesen werden (vgl. Krämer 1998; Poster 2000; Welsch 2000; Jörissen 2007; Schmidt 2007; Hölterhof 2008). Ein Konzept von Pierre Lévy (1998) greift die Durchdringung beider Sphären im Begriff der Virtualisation auf und beschreibt diese als Umkehrbewegung zur Aktualisierung. Bereits getroffene Entscheidungen verflüssigen sich zugunsten erweiterter Freiheitsgrade; scheinbar „reale“ Phänomene verlieren die ihnen zugewiesenen Eigenschaften, ihre Bestimmtheit und werden Gegenstand eines erneuten Reflexionsprozesses. In dieser Eigenschaft des Infrage-Stellens (vgl. Foucault 2005: 19) überlagern sich die Konzepte Virtualisation und Heterotopie. Ihre Bündelung lässt es in einem weiteren Schritt zu, Heterotopien im medialen Raum zu denken. Foucault lässt diesen Gedanken weitestgehend unberührt, auch wenn er sich auf telefonische Kommunikation im Sinne eines heterotopischen Kommunikationsraums bezieht (vgl. ebd.: 13). Die digitale Rekonstruktion des physischen Raums als 3D-Simulation führt zu einer „Konvergenz virtueller und realweltlicher Räume“ (Löw et al. 2007: 78) und lässt diesen gleichermaßen lokalisierbar wie ortlos erscheinen; die Bezugnahme auf das materielle Vorbild lässt es wirklich erscheinen und zieht es – anders als in einem Dokumentarfilm – zugleich in Zweifel. Der in Zone*Interdite geschaffene Raum figuriert


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als interaktiver und reflexiver Erfahrungsraum, als virtualisierte Heterotopie.2 Nicht nur die Regeln der verbotenen Zone GTMO, sondern auch der sozial konstituierte Raum selbst erfahren entscheidende Umdeutungen. Jud und Wachter inszenieren ihn als virtuelle Architektur der Sichtbarkeit und rekonstruieren ihn zugleich in enger Anbindung an den physischen Raum „Guantanamo Bay“ wie auch als Raum der Überschreitung und des Regelbruchs. Die herrschenden Gesetze überschreiben die gewohnten Restriktionen und erlauben in ihrer Anwendung die Wahl eines individuellen Erfahrungsmodus. Entscheidung und Reflexion über die Wahrnehmung des Raumes und der darin wirksamen Gesetzmäßigkeiten werden den Nutzer­ Innen mangels expliziter Anleitung oder Narration aufgezwungen.

4. Zone*Interdite als Ort der Überschreitung Die Navigation im rekonstruierten Stützpunkt auf Guantanamo Bay ist allen vertraut, die Erfahrungen mit der Optik von First-Person-Shootern haben. Die Praktiken werden allerdings wesentlich reduziert; bekannte, simple oder komplexere Formen der Interaktion in und mit der „Spielwelt“ entfallen im Szenario von Zone*Interdite: essen, sprechen, hören, öffnen/schließen, an-und ausschalten oder schießen. Die eigene Rolle, der gewählte Weg, die imaginierte Narration – all dies ist innerhalb der vorgegebenen Rahmung den NutzerInnen überlassen. Die für GamerInnen zentrale Form der Überschreitung, die Immersion (Schindler 2001: 319) – das Eintauchen in die Spielwelt und Ausblenden des Bildschirms als Bildgrenze –, wird durch mehrere Distanzierungsmechanismen wesentlich beeinträchtigt. Das Programmfenster lässt den Vollbildmodus nicht zu. Die Körperlichkeit im virtualisierten Raum ist weder visuell noch auditiv wahrnehmbar. Die „(konkrete) Erfahrung“ (Chlada 2005: 9) beschränkt sich auf das Visuelle sowie die Synchronizität des Navigierens und der Bildbewegung in der Zentralperspektive. Andere, KI- oder von NutzerInnen gesteuerte Avatare treten nicht in Erscheinung, lediglich der Chat öffnet ein kommunikatives Fenster innerhalb des Walkthroughs, welches die simulierte Einsamkeit des Raums durchbricht. „Die Bewegung fügt dem Nebeneinander der Welten […] eine besondere Erfahrung hinzu, eine Form der Einsamkeit und das Erlebnis, ganz buchstäblich ‚Position zu beziehen‘ – die Erfahrung dessen, der angesichts einer Landschaft, die einfach betrachtet werden muss und die zu betrachten er gar nicht umhin kann.“ (Augé 2010: 90) Gleichzeitig spannen die rahmende Architektur und die eingebetteten (Hyper-)Texte einen Bedeutungsrahmen auf, welcher als diskursiver Horizont fungiert. Vorhandenes Wissen über den Kontext, wie etwa die massenmediale Berichterstattung über 9/11, den War on Terror und die Haftbedingungen in Guantanamo, wird abgerufen und durch detaillierte Beschreibungen des integrierten Location Based Service ergänzt. NutzerInnen sehen sich wiederholt mit der Aufforderung konfrontiert, sich nicht nur durch den Raum zu bewegen (walk through), sondern die Beteiligung am Diskurs wahrzunehmen: „read or write more“, „add information“, „write your message“ und das Angebot, ScreenShots anzufertigen, d. h. das Bilderverbot zu brechen. Auf diese Weise werden die 3D-Durchgänge eng mit der Datenbank, dem Gästebuch und dem eingeblendeten Chat verwoben und wird das Schreiben als Reflexionsinstrument eingeführt. In der Aufforderung zu schreiben und zu fotografieren 2

Als „virtual Heterotopia“ wurde an zumindest zwei Stellen der Cyberspace bezeichnet (vgl. Bury 2005: 173ff.; Apprich 2009).


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sind die Subjektivität der Reisenden und Berichterstattenden sowie die Überschreitung von Zugangs- und Bilderverbot angelegt. „Wie die Reise, so durchquert auch der Bericht, der davon spricht, mehrere Orte. Diese Pluralität der Orte, die Überfülle, die er dem Blick und der Beschreibung darbietet […], und die ‚Entfremdung‘, die daraus resultiert […] erzeugen einen Bruch zwischen dem Reisenden oder Schauenden und der Landschaft“. (Augé 2010: 88f.) Was Augé für physische „Nicht-Orte“ konstatiert, kann auch auf die virtualisierte Heterotopie Zone*Interdite angelegt werden. Im Betrachten, in der Wahrnehmung „findet die eigentliche Überschreitung von ZONE*INTERDITE statt“ (Z*I), wenn wir den Ausführungen der Künstler folgen. Indem wir den Ausgangspunkt verlassen und die militärischen Sperrgebiete begehen, entfernen wir uns von unserer unbewusst ignoranten Subjektposition, die all das Sichtbare, die öffentlich zugänglichen Informationen, bereits hätte sehen können. Wir selbst stehen auf dem Spiel, wenn wir zwischen dem Eintauchen in das Angebot ästhetischer Erfahrungen und der Reflexion über unsere Wahrnehmung und deren Bedingungen oszillieren. Die NutzerInnen, die Subjekte, die BeobachterInnen und Reisenden, die Berichtenden und die Spielenden sollen sich angesichts der widersprüchlichen Erfahrungen selbst suspekt werden. Die Intention von Zone*Interdite liegt also nicht primär im Erlernen von architekturalen, geo- oder topografischen, historischen oder politischen Wissensbeständen, sondern in einer Reflexivierung und Überschreitung der eigenen Subjektivität. „ZONE*INTERDITE zielt auf eine Mündigkeit des Selbst, auf die eigene Autorenschaft an diesem Selbst. […] Die Grenzen des Selbst werden mit ZONE*INTERDITE evident.“ (Z*I)

5. Sich selbst überschreiten? Zone*Interdite ist leer und voll zugleich: Es ist komplex gebaut und inhaltsreich – zugleich verweigert es über weite Strecken die Sozialität und wirft die Einzelnen auf sich selbst zurück. Das heterotopische Moment des virtuellen Raumes findet jeweils in der Vorstellungswelt der NutzerInnen seine Konkretisierung, doch nicht für alle ist das Heterotopische eine anomale Erfahrungswelt: SoldatInnen werden sich an ihre Baracken erinnern oder GamerInnen an Videospiele. Selbst in diesen Fällen generiert Zone*Interdite Abweichungen und provoziert die Infrage-Stellung von Normalität. Teils werden NutzerInnen als Jemand angerufen, teils besteht die Anrufung (vgl. Althusser 1971) in einer Verdoppelung: als Anrufung zur Selbst-Anrufung. Rufen wir uns die Funktionsvarianz der Heterotopien in Erinnerung, lassen sich zahlreiche Nutzungsmodi ableiten, die von System- oder eben Selbsterhaltung über die Reinigung bis hin zur Subversion und damit Transformation des Selbst reichen. Der heterotopische Raum kann zugleich als Einladung und Zwang zur Aufführung und Reflexion der eigenen Subjektivität begriffen werden: „Das Gestalt-Gebende, das Subjektivierende, das Subjekt-Gestaltende wird hier als Moment der reflexiven Beschäftigung mit sich selbst fixiert. Durch mediale (Selbst-)Inszenierungen werden nicht nur Subjektivitäten hergestellt und Identitäten präsentiert, sondern auch Normalität erzeugt und Subjektivität geformt. Im Subjekt fallen Unterwerfung und Führung in eins zusammen.“ (Hoffarth 2012: 224) Hoffarth beschreibt Praktiken im Dispositiv des Web 2.0 – die Übertragbarkeit auf Zone*Interdite scheint naheliegend. Da die zu befolgenden Regeln im Medienangebot zwar in die Pro-


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grammarchitektur, nicht aber in ein Regelbuch eingeschrieben sind, muss sich die von den Künstlern intendierte „Mündigkeit des Selbst“ konträre Nutzungsformen im Ermöglichungsrahmen des Dispositivs gefallen lassen. Die erste Bühne sind die Walkthroughs und das Gästebuch gibt Aufschluss über spezifische Aufführungs- und damit Subjektivierungsformen. Diese zweite Bühne ist öffentlich und offenbart mehrere Typen: Der Eidgenosse positioniert sich als Patriot und wirft den Künstlern Verrat an ihrem Herkunftsland vor: „Seid Ihr wenigstens noch ein bisschen Schweizer in Euch oder gefällt es Euch etwa, Euer Land so zu verraten?“(Z*I) In zahlreichen Einträgen äußern sich ehemalige Soldaten über ihre Dienstjahre vor 1990. Bezeichnend ist die durchwegs positive Auseinandersetzung, der starke Bezug auf Vergangenheit und Kameradschaft. So schreibt z. B. Bill Santy über seinen Dienst in den 1960er-Jahren: „I loved the German people and the German culture. We were all so blessed to be stationed in such a wonderful country. […] Haven’t been the same since.“ (Z*I) An diesen und anderen Beispielen3 lässt sich die Varianz der Subjektpositionen ablesen, die in Zone*Interdite eingenommen und aufgeführt werden. Was jedoch die Transformation derselben betrifft, d. h. Weisen der Entsubjektivierung, des Anders-Werdens (vgl. Lüders 2007), im Sinne einer ambivalenten „Möglichkeit widerständiger Praxis“ (Reichert 2008: 42), finden sich in den schriftlichen Artefakten kaum Spuren. Gleichwenn Zone*Interdite Bezüge zu den Dimensionen Wissen, Handlung, Grenzen und Biografie (vgl. Jörissen/Marotzki 2009) anbietet, scheint zum einen die Nutzung des Angebots stark von den Dispositionen abhängig – Stichwort Preaching to the converted – und zum anderen der Aspekt der Community schwach ausgeprägt. Die strukturale Anlage für Bildungsprozesse im medialen Raum kann also eher erahnt als postuliert werden. Als Lessons Learned lassen sich die folgenden Punkte benennen: 1. Das Angebot an Kommunikationsformaten führt eher zu kurzen Statements als zu responsiver Interaktion zwischen verschiedenen NutzerInnen. Aus diesem Grund finden sich nur teilweise Spuren konkreter Nutzungsweisen insbesondere der 3D-Walkthroughs. 2. In Konsequenz daraus lassen sich Subjekttransformationen über den Weg einer Dokumentenanalyse in und um die virtualisierte Heterotopie Zone*Interdite nur unzureichend analysieren. Dieser Artikel muss sich an diesem Punkt mit der Aussage begnügen, dem Mediendispositiv Überschreitungsangebote und somit Potenziale hinsichtlich einer Mündigkeit und Bildungseffekten zu attestieren. 3. Um nicht an der Analyse von strukturellen Potenzialen stehen bleiben zu müssen, lässt sich ein ethnografischer Zugriff in Betracht ziehen. Online wie offline werden nicht-diskursive Aufführungs- und Nutzungspraktiken wahrnehmbar und somit empirisch untersuchbar. Gerade das Moment der ästhetischen Erfahrungen in Heterotopien legt die Forschung „vor Ort“, also im medialen und sozialen Raum, nahe.

3 Aus Platzgründen kann auf weitere Beispiele nur kurz verwiesen werden: die Künstlerin, die explizit das Kunstwerk kritisiert; die besorgte Schwester, die Informationen über ihren Bruder sucht; der Söldner, der in die Fremdenlegion eintreten möchte, etc. Leider haben Spam-Bots mittlerweile den Security Code der Gästebuch-Funktion überwunden und überschwemmen es mit unzähligen Kommentaren.


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Literatur Althusser, Louis (1971): Ideology and Ideological State Apparatuses. Notes towards an Investigation, in: Althusser, Louis (Hg.): Lenin and Philosophy and Other Essays, New York: Monthly Review Press, 127–186. Apprich, Clemens (2009): Urban Heterotopia: Zoning Digital Space. Institut für die Wissenschaften vom Menschen, IWM Junior Visiting Fellows’ Conferences, Vol. 26, online unter: http://www.iwm.at/index.php?option=com_content&task=view&id=116&Itemid=125 (letzter Zugriff: 01.04.2014). Augé, Marc (2010): Nicht-Orte, München: Beck. Bury, Rhiannon (2005): Cyberspaces of their own: female fandoms online, New York: Peter Lang. Chlada, Marvin (2005): Heterotopie und Erfahrung: Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault, Aschaffenburg: Alibri. Dander, Valentin (2011): „Zones Virtopiques“: die Virtualisierung der Heterotopien und eine mediale Dispositivanalyse am Beispiel des Medienkunstprojekts Zone*Interdite, Diplomarbeit: Universität Innsbruck. Foucault, Michel (2005): Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hoffarth, Britta (2012): Dispositiv 2.0. Wie Subjekte sich im Web 2.0 selbst und gegenseitig regieren, in: Dreesen, Philipp/Kumięga, Łukasz/Spieß, Constanze (Hg.): Mediendiskursanalyse. Diskurse – Dispositive – Medien – Macht, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 207–227. Hölterhof, Tobias (2008): Was bedeutet „virtuelles Lernen“? Philosophische Überlegungen zum Begriff „virtuell“ im Kontext „virtuellen Lernens“, in: MedienPädagogik – Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, Einzelbeitrag. Jörissen, Benjamin (2007): Beobachtungen der Realität: die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien, Bielefeld: transcript. Jörissen, Benjamin/Marotzki, Winfried (2009): Medienbildung – Eine Einführung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt/UTB. Krämer, Sybille (Hg.) (1998): Medien – Computer – Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Lévy, Pierre (1998): Qu’est-ce que le virtuel?, online unter: http://hypermedia.univ-paris8.fr/pierre/virtuel/virt0.htm (letzter Zugriff: 01.04.2014). Löw, Martina/Steets, Silke/Stoetzer, Sergej (2007): Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Opladen u. a.: Budrich. Lüders, Jenny (2007): Ambivalente Selbstpraktiken – eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs, Bielefeld: transcript. Poster, Mark (2000): Theorizing Virtual Reality: Baudrillard and Derrida, in: Sandbothe, Mike/Marotzki, Winfried (Hg.): Subjektivität und Öffentlichkeit: Kulturwissenschaftliche Grundlagenprobleme virtueller Welten, Köln: Halem, 61–81. Reichert, Ramón (2008): Amateure im Netz: Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0., Bielefeld: transcript. Schindler, Wolfgang (2001): Virtuelle Wirklichkeit. Abschied vom Wunsch nach Objektivität, in: Schindler, Wolfgang/Bader, Roland/Eckmann, Bernhard (Hg.): Bildung in virtuellen Welten: Praxis und Theorie außerschulischer Bildung mit Internet und Computer, Frankfurt/M.: Gemeinschaftswerk der Evang. Publizistik (Beiträge zur Medienpädagogik), 318–326. Schmidt, Siegfried J. (2007): Virtuelle Realitäten (1996), in: Bruns, Karin/Reichert, Ramón (Hg.): Reader Neue Medien: Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation, Bielefeld: transcript, 141–151. Welsch, Wolfgang (2000): Virtual to begin with?, online unter: http://www.international-festival.org/ node/28701 (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Anton Tantner

Nummern für Räume: Zwischen Verbrechensbekämpfung, Aneignung und Klassenkampf Eine Dokumentation Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/480

Abstract Die unscheinbare Kulturtechnik der Nummerierung wurde spätestens seit der Frühen Neuzeit dazu eingesetzt, Individuen im Raum zu verorten, sei es in Häusern, Räumen oder selbst in Betten. Anton Tantner untersucht diese Identifizierungspraktik und führt soziale und mediale Anwendungen der Menschenzählung vor Augen. Numbers for spaces: between crime prevention, appropriation, and class struggle. The assignment of numbers to identify spaces can be traced back at least to early modern history: Houses, rooms and even hospital beds were numbered in order to administer and rule people; most often the cultural technique of numbering was used for police or state purposes, but there are also examples of employing it for anti-capitalist goals. In this contribution, historian Anton Tantner documents some of the ways numbers were and are used in history and in the present time.

1. Einleitung „Parzellierung“ oder auch „Lokalisierung“ nennt Michel Foucault in seinem Werk „Überwachen und Strafen“ die für Disziplinarapparate charakteristische Methode, jedem Individuum einen Platz zuzuordnen, um „unkontrollierte[s] Verschwinden“ und „diffuses Herumschweifen“ zu vermeiden. Es handelt sich dabei um eine Einpflanzung des Modells der Klosterzelle in Einrichtungen wie Gefängnisse, Fabriken, Spitäler, Anstalten, Universitäten oder Schulen (Foucault 1991: 183f.). Teil dieses Prozesses der „Parzellierung“ kann der Einsatz einer unscheinbaren „Kulturtechnik“ (zu diesem Begriff u. a.: Siegert 2011) sein, nämlich der Kulturtechnik der Nummerierung: Diese vergibt einem Objekt oder Subjekt – ganz gleich, ob einer Buchseite, einem Haus, einem Bezirk, einem Regiment oder einer Person, sei sie Sträfling oder PolizistIn – eine Zahl, um diese/s eindeutig identifizierbar zu machen. Diese Zahl hat dieselbe Funktion wie ein Name – TheoretikerInnen der Gebrauchsweisen von Zahlen sprechen daher von der „nominalen“ Zahlenzuweisung (Wiese 2004: 127, 132) –, mit dem Unterschied, dass sie im Gegensatz zum Namen eindeutiger ist – es gibt nur ein beschränktes Repertoire an miteinander verwechselbaren Namen, aber ein potenziell unendliches Reservoir an Zahlen – und dass sie seltener mit Geschichten beispielsweise über eine genealogische Herkunft verbunden wird. Wird eine Zahl zur Identifizierung eingesetzt, wird sie zur Nummer, wobei die Geschichte der Kulturtechnik der


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Nummerierung noch zu schreiben bleibt; an dieser Stelle sollen einige Materialien dafür geliefert werden.

2. Klassenzimmernummerierung gegen Amokläufe Der Prozess der „Parzellierung“ erlebt heute noch – in einem Zeitalter, in dem die Macht der Disziplinen vielleicht von der Verpflichtung des Subjekts zum Management seiner Selbst abgelöst bzw. zumindest ergänzt wird – seine Modifikationen und Optimierungen. Wie so oft wird dabei von den BefürworterInnen einer besseren Regierbarkeit des Sozialen das Argument der Sicherheit herangezogen, um Innovationen zu propagieren: So diskutierten im Jahr 2007 VertreterInnen der Schulen und der Polizei der Stadt Bonn, welche Maßnahmen zur Bekämpfung von Amokläufen an Schulen eingesetzt werden könnten; seitens der Polizei wurde folgender Vorschlag ventiliert: In sämtlichen Schulgebäuden wären einheitliche Raumnummern anzubringen, was – so die Darstellung einer Tageszeitung – „dann etwa so aussehen [könnte]: Alle Chemieräume zum Beispiel könnten die Nummer 20, Werkräume die Nummer 10 erhalten. Räume im Erdgeschoss könnten mit einer 0 vorneweg gekennzeichnet werden und so weiter. [Absatz] Aus Sicht der Polizei ein sinnvolles Projekt, (...)[,] [d]as auch nicht nur bei Amokläufen helfen könnte, an Schulen Menschenleben zu retten und Täter auszuschalten. Auch in anderen Krisensituationen, etwa bei Bränden, sei eine schnelle Orientierung für die Einsatzkräfte ungeheuer wichtig (…). Sinn mache deshalb eine einheitliche Raumnummerierung in Verbindung mit entsprechenden Bauplänen aller Schulen, die der Polizei zur Verfügung gestellt werden sollten, damit sie in Notfällen die Maßnahmen zielgerichteter als bisher einleiten kann“ (Inhoffen 2007). Zweck der Nummerierung wäre demnach, die eindeutige und schnelle Identifizierung der Räume sicherzustellen: Das Eingreifen von Polizei und Rettungsdiensten sollte nicht durch langes Nachfragen, wo sich denn der Raum nun genau befände, in dem der Amokläufer sein Unwesen treiben oder eine zu rettende Person sich aufhalten würde, verzögert werden.

3. Balkonnummerierung als Anti-Riot-Maßnahme In der jüngeren Vergangenheit wurden auch Objekte, die üblicherweise nicht einer Nummerierung unterzogen werden, mit dieser Adressierungstechnik bedacht. Wer hätte sich je vorstellen können, dass die Balkone eines Studentenheims als Anti-Riot-Maßnahme nummeriert würden? So geschah es zur Jahrtausendwende in State College, Pennsylvania: Dort hatten im Sommer 1998 mehr als 1000 Jugendliche revoltiert, indem sie Straßenlampen niederrissen, Ladenfenster und Windschutzscheiben einschlugen sowie Feuer anzündeten; des Weiteren warfen ZuschauerInnen von den Balkonen angrenzender Wohngebäude Bierflaschen, Eier und Toi­lettenpapier auf die darunter befindliche Menge. Es brauchte den Einsatz von Tränengas, Pfefferspray und Schlagstöcken, dass die Revolte durch die Polizei aufgelöst wurde; 20 UnruhestifterInnen wurden anschließend verhaftet, mehr als die Hälfte von ihnen waren StudentInnen der Pennsylvania State University. In den darauf folgenden Tagen setzte seitens der Behörden, Universitätsangehörigen und NachbarInnen eine Debatte um die Ursachen des Aufstands ein und es wurden auch Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Unruhen diskutiert; so machten die VertreterInnen der städtischen Behörden die Bauweise der studentischen Wohnhäuser, insbesondere die daran angebrachten Balkone, für die Unruhen verantwortlich und


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schlugen vor, die Zimmernummern der Studentenwohnungen an den Balkonen jener Gebäude anzubringen, von denen die Krawalle geschürt worden waren. Es gab durchaus Stimmen, die sich gegen diese Maßnahme aussprachen, die ästhetische Bedenken anführten, Belästigungen der BewohnerInnen sowie eine Minderung des Werts der Immobilie befürchteten, doch letzten Endes setzten sich die BefürworterInnen der Balkonnummerierung durch. Als es 2000 erneut zu Unruhen kam, konnte die Lokalpresse zufrieden melden, dass Balkone, auf denen sich Personen nackt gezeigt oder Gegenstände hinuntergeworfen hatten, durch ihre Nummer identifiziert werden konnten. – Wie Reuben Rose-Redwood, der Chronist dieser Episode, betont, zeigt sich daran der politische Aspekt einer vermeintlich so selbstverständlichen und neutralen Technik, den die Vergabe beziehungsweise Sichtbarmachung einer Nummer implizieren kann (Rose-Redwood 2012: 296f.).

4. Hausnummer und Verbrechen Die genannten Beispiele sind keineswegs das erste Mal in der Geschichte der Kulturtechnik der Nummerierung, dass vorgeschlagen wurde, diese oft unbeachtete Adressierungstechnik zur Prävention oder Bekämpfung von Verbrechen zu verwenden: 1753 wurde zum Beispiel in Wien darüber diskutiert, in der Haupt- und Residenzstadt der Habsburgermonarchie die Hausnummerierung einzuführen: Zur „leichteren Besorgung“ der aufwendigen Beschreibung sollten „alle Häuser in und vor der Stadt sichtlich ober den Fenster des ersten Stoks“ nummeriert werden, „damit ohne lange Nachsprach, wo diese oder jene zu wissen nöthig habende Persohn wohne“, jedermann „durch den auf dem Beschreibungs-Zettul anmerkenden numerum (...) gleich aufgesucht werden könne“. Gewiss, der Argwohn der „boshafte[n] Volckmenge“ gegen die Neuerung wird befürchtet; um diesen zu entkräften, war Aufklärung vonnöten: Mit „guter Art“ sollte den misstrauischen Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohnern begreiflich gemacht werden, dass die Maß­nahme der Hausnummerierung „blos allein zu besserer Ausf{in}digmachung derer verdächti{g} lieder­lich und gefährl[ich] Leu{ten} abgeziellet seye“. Ihnen sei kundzutun, „daß dieses lediglich zu beybehaltung der ruhe, und Sicherheit beschehe“ und dass dadurch die Stadt „rein“ gehalten werden solle von „sich einschleichende gefahrliche, oder verdächtige Leute“. Die Einführung der Hausnummerierung wurde demnach als Mittel zur Verbrechensbekämpfung angepriesen, ein Argument, das bis hin zur heute weitgehend durchgesetzten Speicherung der Fingerabdrücke in Reisepässen die Einführung neuer Kontrolltechniken oft begleitet; die Überlegungen zur praktischen Umsetzung der Hausnummerierung waren damals übrigens schon recht weit gediehen: Die Hauseigentümer sollten dazu verpflichtet werden, jeweils auf eigene Kosten eine Blechtafel in der Höhe und Breite von je einem halben Schuh anzuschaffen; „damit der Glanz bey dem Sonnenschein nicht blende“, müsste diese grundiert werden. Selbst die Länge der darauf zu schreibenden „schwarze[n] Zifer“ wurde angegeben: Vier Zoll sollte sie betragen und anzubringen wären die Tafeln bei Häusern mit großen „Toren mitten ober dem Thor“ zu befestigen, bei Häusern mit kleinen Türen „in der Mitte der Breite unter dem Fenster des Ersten Stocks“. Schließlich gab es aber seitens der Behörden dann doch Bedenken und das Adressierungsprojekt wurde im März 1754 ad acta gelegt. (Zitate laut Akten im Österreichischen Staatsarchiv, Nachweise bei Tantner 2007a: 32) Ähnliche Argumente wie in Wien führten allerdings im Jahr 1770 dazu, dass in München die Hausnummerierung eingeführt wurde: Damals erhielt der Maler Franz Gaulrapp den Auf-


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trag, die vier Viertel der bayerischen Metropole jeweils durchzunummerieren, was als Polizeimaßnahme gedacht war, die gegen BettlerInnen und VagantInnen gerichtet war, also gegen jene Personen, die in der Frühen Neuzeit mit einem immensen Aufwand an behördlichen Regelungen und Verfolgungsmaßnahmen schikaniert wurden; die Nummer wurde mit weißer Farbe auf die Haustür gemalt (Schattenhofer 1984: 173).

5. Vom Siegeszug der Hausnummer Überhaupt erlebte die Hausnummer im 18. Jahrhundert – in dem laut dem romantischen Schriftsteller Friedrich Schlegel die „mathematische Staatsansicht“ vorherrschend war (Schlegel 1966: 400) – ihren Triumphzug, ganz gleich ob in Madrid, Mailand, London oder Paris, in den kleinsten habsburgischen Gebirgsdörfern oder in preußischen Provinzstädten, die Häuser wurden nummeriert, wobei die Motivation für diese Beschriftungsaktionen durchaus unterschiedlich sein konnte: Mal war es die Vorbereitung eines Rekrutierungssystems, dann die Militäreinquartierung, die Besteuerung oder die Brandschutzversicherung, die den Anlass dazu boten, den Gebäuden eine Nummer zu verpassen; niemals wurde argumentiert, dass die Nummern der Bevölkerung oder Reisenden die Orientierung in dem Häusermeer der wuchernden Städte erleichtern konnten. Es handelte sich somit um eine Technik, mit der der „absolutistische“ Staat gebildet wurde und die Regierbarmachung der Gesellschaft sichergestellt werden sollte. Im 19. Jahrhundert setzte sich diese Verbreitung der Hausnummerierung dann fort, es wurden neue Systeme eingeführt – in Europa z. B. nach US-amerikanischem Vorbild die uns zumeist vertraute wechselseitige Nummerierung, bei der die geraden und ungeraden Nummern auf jeweils gegenüberliegenden Straßenseiten angebracht werden – und noch in der Gegenwart werden etwaige nummernlos verbleibende Zonen nummeriert, als Beispiele seien Seoul und Addis Abeba genannt, wo erst in den letzten Jahren ein westliches Adressierungssystem eingeführt wurde (zur Hausnummerierung: Tantner 2007a, 2007b; Wittstock 2010; Rose-Redwood/ Tantner 2012). Auch manche ländliche Regionen der USA erlebten erst jüngst die Vergabe neuer Hausnummern: So waren zum Beispiel in West Virginia bis vor Kurzem zumeist nur die Briefkästen nummeriert, die oft genug weit weg von den eigentlichen Häusern standen und damit keinerlei Auskunft über deren Lage gaben. Das neue, 2001 beschlossene Hausnummernsystem wurde mit dem Argument der Sicherheit, das heißt insbesondere der leichteren Auffindbarkeit der Häuser durch Rettungsdienste, propagiert und nach der Notrufnummer 911 auch als 911 addressing system bezeichnet. Pech nur, dass manche HauseigentümerInnen so gar nicht glücklich über den Erhalt einer neuen Nummer waren: Einige von ihnen beließen es nicht bei starken Worten und bedrohten die Hausnummerierer mit Schrotflinten und Macheten, was ein Mitglied des für die Hausnummerierung zuständigen Addressing and Mapping Board mit dem markigen Macho-Spruch quittierte: „Addressing isn’t for sissies“ (Rose-Redwood 2012: 311).

6. Bettennummern Dass die Nummerierung dazu fähig ist, in die Häuser einzudringen, und selbst noch innerhalb der einzelnen Zimmer Unterscheidungen schaffen kann, bewiesen die Spitäler der Barmherzigen Brüder bereits im 17. Jahrhundert: Es war deren Ordensmann Johannes Baptista Savonantius de Cassinetti, der in einem 1623 veröffentlichten Traktat vorschlug, dass „[d]ie ein-


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zelnen Betten (...) aber mit gewissen Nummern bezeichnet sein [sollen], damit gemäß den Bettennummern eine Unterscheidung zwischen den Kranken geschehen kann“ (Savonantius de Cassinetti 1623: 126, zitiert nach einem freundlichen Hinweis von Carlos Watzka per E-Mail, 12.04.2012). Und tatsächlich: In dem von diesem Orden im damals niederösterreichischen Feldsberg (Valtice) angelegten Spital wurden ab 1630 die Bettennummern 1 bis 11 vergeben (Watzka/Jelinek: 251). Auch im Wiener Allgemeinen Krankenhaus, das im 18. Jahrhundert aus dem Großen Armenhaus geschaffen wurde, herrschte laut einem Reiseschriftsteller eine „schöne Ordnung“, die jegliche „Konfusion“ – etwa eine falsche Behandlung der Kranken – verhindern sollte: „Die Kranken sind in Sälen, so viel möglich nach ihren Krankheiten rangirt, und die gleichen zusammen eingetheilt. Die männlichen und weiblichen Kranken sind abgesondert. Die Anzahl dieser Säle ist 86, jeder ist numerirt und enthält 20 bis 25 Betten. Jeder Kranke schläft allein, und ist durch einen geräumigen Plaz von seinem Nachbar abgesondert. (...) Neben jedem Bette hängt eine Tafel, auf welcher die Nummer des Betts, der Name des Kranken, die Zeit seiner Krankheit, die Arzeneyen, die ihm verordnet worden, die Stunde, wenn er sie einzunehmen hat, und die besonders merkwürdigen Zufälle seiner Krankheit stehen.“ ([Roeder] 1789: 306f.)

7. Nummerierung im Fordismus Eine Hochzeit erlebte die Nummerierung im Fordismus, die ArbeiterInnen in den durch Fließbandarbeit gekennzeichneten Fabriken wurden in jeder Minute ihres Alltags damit konfrontiert. Einer der europäischen Industriellen, der in der Zwischenkriegszeit die Lektionen Henry Fords begierig aufnahm, war der tschechoslowakische Schuhfabrikant Tomáš Baťa; über die Zustände in der von ihm im mährischen Zlin angelegten Werksiedlung wird folgendermaßen referiert: „Alles unterliegt der Rationalisierung. (...) Die Fabrikgebäude sind numeriert, damit man sich nicht verirrt. Auch die Türen in den Gebäuden sind numeriert. Jede Straße auf dem Werksgelände hat ebenfalls eine Nummer. [Absatz] Durch die 21 geht man nach VIII/4a.“ (Szczygiel 2008: 22, vgl. 29) Noch radikaler ging es in den 1960er-Jahren bei FIAT zu, wie Nanni Balestrini in seinem Roman „Wir wollen Alles“ aus Perspektive des Operaismus zu berichten weiß: „Jeder FIAT-Arbeiter hat eine Werkstornummer, eine Gangnummer, eine Umkleidekabinenummer, eine Spindnummer, eine Werkstattnummer, eine Fließbandnummer, eine Nummer des Arbeitsvorganges, den er ausführen muss, eine Nummer, wie viel Maschinenteile er machen muss. Es besteht alles aus Nummern. Sein Tag bei der FIAT ist vollständig geplant und wird von diesen Nummern bestimmt. Einige davon sieht man und andere sieht man nicht. Eine Reihe von nummerierten und unausweichlichen Dingen. Da drin zu sein bedeutet, dass du mit dem nummerierten Werksausweis so machen musst, wenn du reinkommst, dass du einen bestimmten nummerierten Gang lang musst, dann einen nummerierten Korridor. Und so weiter.“ (Balestrini 2003: 69)


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8. Adressen und Nummern im Klassenkampf Die soeben zitierten Passagen sollen jedoch keineswegs suggerieren, dass die Kulturtechnik der Nummerierung und die Kenntlichmachung von Räumen nur das Leben des Proletariats prägen würden; schon manch ein habsburgischer Adliger war keineswegs glücklich über den Umstand, dass sein Palast gleich den einfachen Hütten des Volks mit einer Nummer versehen wurde. Insbesondere in Ungarn scheiterte in den 1780er-Jahren die Einführung der mit einem Rekrutierungssystem verbundenen Hausnummerierung zunächst am adligen Widerstand (Tantner 2007a: 58f.). Dass heute noch Adressen und Nummern klassenkämpferische Sprengkraft entwickeln können, bewies der Theaterregisseur Volker Klösch, als er 2008 im Hamburger Schauspielhaus das antikapitalistische Stück „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“ inszenierte. Darin wurde unter anderem eine Liste von Namen, Wohnanschriften und Vermögenshöhe derjenigen HamburgerInnen verlesen, die laut einer Aufstellung des „Manager Magazin“ zu den 300 reichsten Deutschen gehörten; prompt reagierten vier der genannten mit Anwaltsschreiben und versuchten, ihre Nennung zu verhindern (Superreiche 2008). Das Kapital mag spätestens im Neoliberalismus ortlos, flüchtig und grenzüberschreitend geworden sein; seine Charaktermasken aber können per Adressen verortet werden, und die Drohung, dass sie oder zumindest ihre Vermögen zur Rechenschaft gezogen werden könnten, schwebt permanent über ihm.

9. Ein Recht auf Adressierbarkeit Es ist ein Charakteristikum sozialer Bewegungen, sich gegen Kontroll- und Überwachungstechniken – und auch die Hausnummerierung ist eine solche – zur Wehr zu setzen. Doch manchmal kann es auch umgekehrt sein, wie ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte Österreichs beweist: Im Zuge der Proteste gegen die Bildung der Koalitionsregierung von ÖVP und FPÖ wurde am 09. Februar 2000 am Ballhausplatz, wo sich sowohl das Bundeskanzleramt als auch die Präsidentschaftskanzlei befinden, von RegierungsgegnerInnen die Botschaft besorgter Bürgerinnen und Bürger eröffnet. Zunächst untergebracht in einem Zelt, später in einem Container, sollte diese Einrichtung ein Treffpunkt des Widerstands gegen die unerwünschte Regierung sein und wurde zum Ausgangspunkt der wöchentlichen Donnerstagsdemonstrationen. Die ungewöhnliche Botschaft nahm sich das Recht auf Adressierbarkeit, indem sie sich Anfang März 2000 selbst eine Hausnummer gab, nämlich Ballhausplatz 1A. Diese Ortsangabe wurde auch von Radio Widerhall, einer vom Alternativsender Radio Orange ausgestrahlten Sendung, als Kontaktadresse angegeben; auf der Homepage fand sich dazu die Anmerkung: Eingeschrieben kommt es sicher an (Nachweise bei Tantner 2007b: 63, 76). Adressierbar zu sein bedeutet demnach nicht nur die mögliche Verpflichtung, zum Militär eingezogen werden zu können oder Steuern zahlen zu müssen. Zuweilen handelt es sich um ein begehrenswertes Gut. Kontroll- und Überwachungstechniken haben demnach dann eine Chance, sich durchzusetzen, wenn sie von den Betroffenen für ihre eigenen Zwecke angeeignet werden können.


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Thomas Ballhausen/Günter Krenn

Auf Blaubarts Spur Der Fall des Serienmörders Landru als frühes ­Beispiel ­medialisierten Expertentums und öffentlichkeits­ wirksamer Aufklärung Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/484

Abstract Im Jahr 1942 diskutiert Orson Welles mit Charlie Chaplin die Möglichkeit eines dokumentarischen Streifens über den aus der Kriminalhistorie bekannten Frauenmörder Landru. Chaplin kauft die Idee für fünftausend Dollar und setzt sie 1947 in einem Leinwandwerk um, dessen working title A COMEDY OF MURDERS lautet. Dieser Artikel untersucht die Spuren, die der Fall Laundru in österreichischen Archiven und Filmen hinterlassen hat, und erläutert dabei auch, wie pädagogische Diskurse den Raum von Kino und Film beschreiben und konstruieren. Darüber hinaus werden auch Phänomene wie Okkultismus, Hypnose, Suggestion und Telepathie in der Kriminalgeschichte untersucht und medientheoretisch ausgewertet. Tracing Bluebeard: The case of the serial murderer Landru as an early example of mediatized expertise and publicizes crime investigation. 1942 Orson Welles discussed the possibility of a documentary about the killer of women Landru, known from criminal history. Chaplin bought the idea for five thousand dollars and, in 1947, produced a film with the working title A COMEDY OF MURDERS. This essay examines the traces the Landru case has left in Austrian archives and films and also explains how pedagogical discourses describe and construe the space of cinema and films. Phenomena like occultism, hypnosis, suggestion and telepathy in criminal history are also examined and analyzed based on media theory.

1. Einleitung Der ursprüngliche Drehbuchentwurf sah noch ein zweideutiges THE LADYKILLER vor, am Ende entschloss sich Chaplin für das neutrale MONSIEUR VERDOUX und nannte ihn seinen wichtigsten, aber auch gefährlichsten Film. „Ein einziger Mord stempelt den Menschen zum Mörder … aber Millionen von Morden machen ihn zum Helden. Die Maßstäbe rechtfertigen alles, mein Lieber“, relativiert Verdoux darin einem Reporter gegenüber. Die österreichische Filmkritik räumte ein, Chaplin sei mit seinem HEIRATSSCHWINDLER VON PARIS (so der deutsche Titel) das Wagnis gelungen, Verbrechen im Konversationston zu schildern und einen pathologischen Mörder sympathisch zu machen. Chaplin bricht in seiner Darstellung der Titelfigur eine ikonografische Tradition. Plakativ gesprochen kann der an den alternden Douglas Fairbanks erinnernde Monsieur Verdoux gar


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nicht der von zahlreichen Abbildungen her bekannte Landru sein, weil er ihm, weißhaarig und mit elegantem Schnurrbart, schon rein äußerlich nicht gleicht. Für die USA mag es 1947 nicht unbedingt gegolten haben, in Europa dagegen wusste man bis in die 1960er-Jahre hinein, was den klassischen Frauenmörder charakterisiert: Im Film DER AFFE IM WINTER / UN SINGE EN HIVER (1962) gibt es die Figur eines Ladenbesitzers, dessen wirklichen Namen keiner der Ortsansässigen mehr weiß. Man kennt ihn allgemein nur als „Landru“ – weil er einen Vollbart trägt und ihm zwei Frauen verstarben.

2. Möbelhändler, Heiratsschwindler, Frauenmörder Das viel zitierte historische Vorbild, der Franzose Henri Désiré Landru, geboren am 12. April 1869 in Paris, hingerichtet am 25. Februar 1922 in Versailles, soll während des Ersten Weltkriegs zehn Frauen getötet haben. Im Lauf der historischen Entwicklungen und populären Entwürfe wurde Landru zu einem Synonym für einen frauenmordenden Serientäter, zu einer modernen Variante des Blaubarts. In der Schule fällt der Sohn eines Hüttenarbeiters und einer Schneiderin durch Fleiß auf, durchläuft katholische Chargen wie jene des Chorknaben und Messdieners. In dieser Zeit, wird der Gerichtsvorsitzende später feststellen, hätte er sich wohl jene salbungsvolle Miene zugelegt, die er so demonstrativ vor Gericht zur Schau stelle. Nach der Schule ist Landru um Fortbildung bemüht, erhält eine Anstellung in einem Architekturbüro, schreibt sich schließlich in die Armee ein, wo er als Unteroffizier ausgemustert wird. Beruflich setzt er in der Folge als Möbelhändler und Garagenbesitzer seinen notorischen Fleiß auch abseits der Legalität ein, was ihm sieben Verurteilungen einbringt, darunter 1908 auch wegen Heiratsschwindel; diese Profession wird ab 1914 zu seinem Haupterwerb. Nicht gestört dürfte ihn dabei seine legale Ehefrau haben, mit der er vier Kinder hatte. Zwischen 1909 und 1912 muss er ins Gefängnis, wieder in Freiheit wird er rückfällig, taucht unter falschem Namen in Paris unter und wird in Abwesenheit zur Deportation verurteilt. Wie ein Schauspieler taucht er in den folgenden Jahren in der Sparte Heiratsannoncen unter den Namen Barzeux, Diard, Dupont, Frémyet, Guillet, Pétit oder Tarempion auf. Die Statistik will von stolzen 283 Betrugsfällen wissen, an denen er beteiligt ist. Mindestens zehn Frauen ermordet, zerstückelt und im Ofen verbrannt zu haben, wirft ihm die Anklage schließlich vor. Seltsam mutet Landrus Hang zur Selbstdokumentation an, er archiviert seine Liebesbriefe in Aktenordnern, führt in Notizbüchern Buch über wichtige Ereignisse, aus denen die Anwälte später auch die Daten seiner Morde herauszulesen versuchen. Vor Gericht dazu befragt, wird er sie zu marginalen Aufzeichnungen, wie sie jeder Kaufmann mache, herabmindern. Seinen späteren Opfern begegnete er als vermögender Mann, der seine neuen Bekanntschaften bald in sein Haus auf dem Lande (in Vernouillet oder Gambais einlud. Eine Rückfahrkarte löste er nur für sich, kurz darauf veräußerte er Wohnungen und löste Bankkonten der inzwischen Verschwundenen auf, verkaufte deren Versicherungspolizzen. Obwohl die Frauen umgehend für vermisst erklärt wurden, dauerte es Jahre, bis man Landru auf die Spur kam und 1921 verhaftete.

3. Der Medienprozess Landru Zwischen dem 7. und 30. November 1921 fand in Paris die Hauptverhandlung gegen Landru statt, die zu einem für die damalige Zeit singulären Medienereignis geriet. Die Wiener


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Presse rezipierte ausführlich die spaltenlangen Berichte in den französischen Blättern über den Prozessbeginn, bei dem die Anklageschrift verlesen und Zeugen aufgerufen wurden. Le Figaro nennt Landru den wichtigsten Pariser Gesprächsstoff seit Jahren. Seine Person, sein Aussehen sind bald allen bekannt, unzählige Porträts und Karikaturen werden angefertigt, wahre und falsche Zitate kolportiert. „Mit einem Worte: er ist populär. Wozu vielleicht sein Name mit den beiden zugleich wohlklingenden und ein wenig burlesken Silben nicht wenig beigetragen hat. Vorausbestimmung der Namen, würde Balzac sagen. Man hat in Landru vor allem den Mann mit den zehn Maitressen erblickt, jenen, der Halévys Worte aus dem ‚Ritter Blaubart‘ als Lebensdevise erwählt hat: Immer Witwer und doch niemals Witwer! Dahinter verschwindet beinahe das Monstrum, dem die Ermordung von zehn Frauen und Mädchen zur Last gelegt wird. Landru erscheint vor seinen Richtern sozusagen mit dem behäbigen Renommee eines beliebten Komikers aus dem Cafékonzert und achselzuckend fügte das zitierte Blatt hinzu: Was Landru in seiner Untersuchungszelle ißt und trinkt, scheint die Pariser in weit höherem Maße zu interessieren als etwa der Kurssturz der deutschen Reichsmark.“1 Berichte schildern ihn als groß gewachsenen, hageren Mann mit knochigem Gesicht, der in seiner unbeweglichen Art auf der Anklagebank wie ein wächsernes Mannequin wirke. Die Physiognomie ist einprägsam: Glatze, Schnurrbart, stechender Blick unter dichten Augenbrauen. Die Brille ist neu und vom Gerichtsarzt verschrieben, wie die Medien wissen. Zu Beginn der Verhandlung nimmt er mit einem großen Stoß Papier auf der Anklagebank Platz, nachdem er zuvor seinem Verteidiger kräftig die Hand geschüttelt hat. Gezählte 184 Zeugen werden aufgerufen, nur wenige von ihnen scheinen Landrus Interesse erwecken zu können. Gespannt wartet man darauf, erstmals seine Stimme zu hören; die Frage, ob er der Angeklagte Henri Désiré Landru sei, beantwortet er nur durch ein Nicken. Erst am Ende des ersten Verhandlungstages ergreift er das Wort, Beobachter beschreiben seinen Tonfall als fest, aber klanglos. Er nutzt die Gelegenheit, um sich erneut gegen die ihm zur Last gelegten Vorwürfe zu verwahren. „Ich habe Beweise für die gegen mich erhobenen Anklagen verlangt. Es gibt keine. Die Anklageschrift behauptet, man habe bei mir verdächtige Dinge gefunden [...]. Das ist nur eine Beschuldigung, und ich hoffe bestimmt, daß im Verlaufe der Verhandlungen mein Protest als gerechtfertigt anerkannt werden wird.“2 Danach, so vermerkt man, setzte er sich wieder wie ein artiger Schuljunge. Im Lauf des Prozesses blättert er in seinem Heft, das er während seiner Haft mit Notizen füllte. Im Zuge der Verhandlungen gibt Landru an, er habe sich mittels Heiratsannoncen mit „verschämten Personen in Verbindung gesetzt, die ihr Mobiliar verkaufen wollten“3; den Ankauf von Möbeln habe er, vor allem wenn er an die durch den Krieg zerstörten Gegenden denke, als gute Gewinnanlage angesehen. Deshalb habe er sich an eine bestimmte Kategorie von Kriegsopfern, alleinstehende Frauen in einem bestimmten Alter, herangemacht, die ihre Möbel gegen Bargeld veräußern wollten. Wenn man diese nun als Beweismittel gegen ihn heranziehe, gebe er zu bedenken, dass es wohl nicht im Sinne eines Mörders wäre, die Beweismittel gegen ihn bei sich zu behalten. Er dagegen habe die Möbel nicht veräußert, weil er sich nichts vorzuwerfen habe. Auch die Villa habe er schließlich behalten wollen, während ein Verbrecher sich doch wohl vom Ort seiner Taten zu entfernen wünsche. Den als Verbrennungsstätte bezeich1 Neue Freie Presse, Nr. 20548, 11. November 1921, 4. 2 Ebd. 3 Neue Freie Presse, Nr. 20546, 3. November 1921, 3.


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neten Ofen habe er sich bauen lassen, da es zuvor im Haus keine Heizgelegenheit gegeben habe. Dreihundert Kilo Kohlen, ergänzt er lächelnd, habe er dazu eingelagert, mehr wäre nicht leistbar gewesen in Zeiten, da Brennstoff rar war. Dem Vorwurf der Kautionsschwindelei widerspricht er nicht. Als der Richter ihn einen Industrieritter nennt, entgegnet Landru, das Rittertum sei abzuschaffen. Lieber bezeichnet er sich als „Elenden“ und verweist wie selbstverständlich auf Victor Hugo. Als man aus seinen Notizen einen Liebesbrief an eines der Opfer zitiert, betont er lächelnd, es habe sich lediglich um einen Entwurf gehandelt. „Wer will beweisen, daß ich ihn wirklich abgeschickt habe? Viele Autoren schreiben und wenig Bücher erscheinen!“4 Die Aussage, Landru hätte Beziehungen mit 283 Frauen unterhalten, sorgt im Zuschauerraum für die erwartete Heiterkeit; die Anklage weiß diese jedoch mit den weiteren Ausführungen zu unterlaufen, denn als Hinweise auf manche dieser Begegnungen wurden menschlichen Knochen ans Tageslicht befördert. Landru reagiert ohne Regung auf diese Bemerkungen. Die Nachforschungen der Polizei findet Landru unzureichend, „nicht auf der Höhe ihrer Aufgaben“5; auf die Frage, warum er der Polizei dies nicht während der Untersuchung gesagt hätte, meint er, es wäre nicht seine Aufgabe, die Polizei klug zu machen. Landru misst sich mit den Vorwürfen der Anklage, übt sich in verbalen Haarspaltereien, ob er nun wegen „Betrugs“ oder „Vertrauensmissbrauchs“ vorbestraft wurde. Die Auflistungen in seinen Tagebüchern bedeuteten keine Dokumentation von Verbrechen, sondern wären ein reines Klientenregister mit den jeweiligen Verzeichnissen. Was seine Vorstrafen angeht, so betont er, sie verbüßt zu haben. Als ihm der Richter etwa seine Vorstrafe wegen Heiratsschwindel vorhält, bezeichnet Landru diese als ungerecht. Auf die Frage des Richters, ob man ihm denn trotz seiner Vorstrafen glauben solle, antwortet Landru dialektisch: „Würden Sie mir denn nicht glauben, wenn ich jetzt sagte: ich bin schuldig. Ich habe die zehn Frauen gemordet?“6 Seit dem zweiten Verhandlungstag ist in der Presse vom „Pariser Sensationsprozess“ die Rede, der sich ungewöhnlich hohen Zulaufs erfreue. Die Person Landru wird, mit Ausnahme von Staatsanwalt und Richter, im Gerichtssaal mit zuvorkommendem Respekt behandelt. Vor allem kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich um einen medial aufwendig dokumentierten Prozess handelt. Sobald Landru im Gerichtssaal erscheint, richten sich alle Blicke auf ihn, Fotografen umringen ihn, bitten ihn, in ihre Richtung zu sehen. Landru gibt sich als medienbewusstes, freundliches Gegenüber und erfüllt alle diesbezüglichen Wünsche mit einem Lächeln. Die Reporter machen ihre Aufnahmen und danken höflich, was der Adressierte seinerseits wieder geschmeichelt entgegennimmt. Noch während der Prozess läuft, mutmaßt ein kritischer Beobachter, unterhaltsam wäre es nur „für diejenigen, welche eine Gerichtsverhandlung wie ein Kinodrama oder einen Kolportageroman genießen“.7 Mit einer gewissen Irritation reagiert die Presse auf die unverhohlene Sympathie, die Landru trotz der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen aus weiten Kreisen des französischen Publikums entgegengebracht wird, insbesondere gerade unter der weiblichen Klientel. Von einem Pariser Feuilletonisten zu ihrer Meinung über Landru befragt, fanden die Damen ihn amüsant, ein Original, einen sehr merkwürdigen Menschen. Negative Äußerungen gab es keine, daher 4 Neue Freie Presse, Nr. 20551, 15. November 1921, 11. 5 Neue Freie Presse, Nr. 20547, 10. November 1921, 4. 6 Neue Freie Presse, Nr. 20551, 15. November 1921, 11. 7 Ebd.


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schließt man, bestünde die Jury aus solchen Frauen, käme Landru zweifellos frei. Nicht nur finden sie Landrus Opfer scheinbar uninteressant, sie haben „keinerlei Sympathie für diese Alternden, die mit ihren falschen Haaren und kleinen Ersparnissen Ausschau hielten nach dem ,Herrn in besten Jahren‘, der sie noch einmal zum Traualtar führen sollte. Sie sind strenge Richterinnen für die – Opfer.“8 An anderer Stelle des Prozesses erwähnt der Richter, dass eine der Klientinnen Landrus, Madame Colomb, sich in ihrer Selbstdarstellung um fünf Jahre verjüngt habe, worauf Landru galant erwidert, dass er eine solche Tatsache nie erwähnt hätte. Wieder hat er chevalresk das Publikum auf seine Seite gebracht. In einem Wiener Feuilleton ereifert sich der Autor bei seinen Betrachtungen über den „modernen Blaubart“ Landru darüber, dass sich Frauen überhaupt für „einen solchen Haufen sittlichen Unrats begeistern können, so daß man wahrhaftig sich fragt, was widerlicher sei, so ein Auswürfling der menschlichen Gesellschaft oder die feine Weltdame, welche diese Spottgeburt aus Dreck und Feuer, wobei übrigens das Feuer kaum nachweisbar oder nur in dem verhängnisvollen Ofen brennt, bewundern zu müssen glaubt. Die Antwort liegt uns auf der Zunge, doch bleibe sie lieber unausgesprochen.“9 Dass ihn manche der Opfer als ihren Bräutigam ausgaben oder mit der Bezeichnung jemanden schilderten, auf den sein Wesen gut passe, kommentiert Landru ungewöhnlich scharf: „Man darf solchem Geschwätz alter Weiber nicht zu viel Gewicht beilegen.“10 In jedem Falle habe er, Charme her oder hin, bei Geschäften immer auf seiner zehnprozentigen Provision beharrt. Manches, das man ihm vorwirft, verweist er in den Bereich der Legende, in anderen Fällen gibt er an, sich nicht erinnern zu können. Nur einmal lässt er das Auditorium gespannt aufhorchen. Auf die Vermutung, dass eine Tagebuchnotiz über Juwelen den Zeitpunkt eines Verbrechens dokumentieren könne, antwortet er mit einem „Vielleicht“. Auf weitere Nachfrage gibt er sich wieder gefasst: Ständig behellige man ihn mit denselben Fragen. Er schließt: „Ich verstehe sehr wohl, Herr Staatsanwalt, daß Sie meinen Kopf haben wollen. Ich bedaure, daß ich nicht zwei habe, um sie Ihnen anbieten zu können.“11 Etwas mehr als drei Monate später, am 25. Februar 1922 um 6 Uhr und 10 Minuten, genügt der eine Kopf auch. Nach der Beratung der Geschworenen hatte man am 30. November das Todesurteil verkündet. Ein von den Geschworenen vorgelegtes Gnadengesuch für Landru wurde nicht berücksichtigt. Die restliche Zeit der Haft verbrachte er größtenteils damit, Briefe zu lesen oder zu verfassen.12 Die Berichte anlässlich der Urteilsvollstreckung enden mit einem Scherz. Seine Brille sei bereits zu schwach, erklärte Landru einem Gefängniswärter, doch werde man ihm bald eine andere geben – worunter man in Paris den runden Ausschnitt der Guillotine verstand, in den der Kopf des Delinquenten gesteckt wird. Sein letzter Wunsch, heißt es, sei gewesen, sich den Bart wieder modisch schneiden zu lassen. Seine Gelassenheit verlässt Landru bis zur Hinrichtung nicht. Um 4 Uhr Früh weckte man ihn, noch eine Viertelstunde vor seinem Exitus sprach er mit seinem Verteidiger, lehnte geistlichen Beistand freundlich ab. Auch die angebotenen Zigaretten und den Cognac nahm er nicht in Anspruch, er wolle, so seine lapidare Begründung, „die großen Herren“ nicht warten 8 Neue Freie Presse, Nr. 20556, 20. November 1921, 12. 9 Ebd., 13. 10 Neue Freie Presse, Nr. 20552, 16. November 1921, 7. 11 Ebd. 12 Vgl. hierzu folgenden Briefwechsel: Landru, Henri-Désiré/Botul, Jean-Baptiste (2001): Landru, précurseur du féminisme. Correspondance inédite 1919–1922. Édition établie par Christophe Clerc et Bertrand Rothé, Paris: Éditions Mille et une Nuits (Texte intégral – INÉDIT 358).


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lassen. Alle Zeugen bewunderten die Gelassenheit, mit der Landru seinen letzten Gang absolvierte. Sich auf das Brett legen zu lassen, lehnte er ab und nahm die vorgeschriebene Position unter dem Fallbeil aus eigener Kraft ein. Die „Illustrierte Kronen Zeitung“ montiert in Ermangelung von Fotos eine Collage aus Zeichnungen, die den „Frauenmörder Landru“ in der unteren Bildhälfte zeigt, im Hintergrund steht mit betroffener Miene ein Polizist, von links nach rechts umgeben ihn, wie eine infernalische Gloriole, die Porträts vier seiner Opfer, der Damen Marchandier, Cuchet, Babelay und Paskal. Dass ein Quartett (aus zehn möglichen Gesichtern) gewählt wurde, ist kein Zufall, denn der metaphorisch bewährte Blaubart wird in der Überschrift nicht genannt, griffiger scheint mit „der Hugo Schenk von Paris“13 das Herbeizitieren eines lokal bekannten Frauenmörders. Hugo Schenk (1849–1884) erlangte als Hochstapler und Mörder von vier Dienstmädchen sprichwörtliche Berühmtheit und starb schließlich am Galgen. Während Schenk beweiskräftig überführt wurde, blieben im Pariser Fall auch Zweifel zurück. Landrus Verteidiger, Vincent de Moro-Giafferi, sprach zum Abschluss des Prozesses ein viel bewundertes Plädoyer, das er im Rahmen der ihm zugestandenen Zeit nicht völlig beenden konnte und tags darauf fortsetzte. Darin wies er immer wieder darauf hin, dass man seinem Mandanten keines der Verbrechen nachweisen könne. Alles beruhe letztendlich nur auf variabel interpretierbaren Indizien. Auch die Zeitungen bleiben unsicher, zitieren den bei der Hinrichtung anwesenden Geistlichen, der den Toten als einen ungewöhnlichen Menschen bezeichnete und sich fragte, woher er diesen unglaublichen Mut hätte. „So schloß das Leben des Blaubarts von Gambais, wie auch der Prozeß zuende gegangen ist, mit einer ungelösten Frage.“14 Nur wenige Tage später schlussfolgerte dieselbe Zeitung jedoch aufgrund der übergroßen Gelassenheit Landrus bei der Urteilsannahme, dass „wohl kaum jemand mehr an seine Unschuld glauben“15 könne.

4. Eine teuflische Schöpfung: Landru im österreichischen Stummfilm Am 25. Februar 1922 stirbt Henri Désiré Landru also unter der Erfindung des Dr. Guillotin. Im Jahr zuvor wettern Zeitungen bereits erfolglos gegen die Popularisierung seiner Lebensgeschichte, das Interesse, das ihm von unterschiedlichsten Menschen entgegengebracht wird. Gleichzeitig gibt sich die Presse jedoch davon überzeugt, dass er nie dazu imstande wäre, die mediale Popularität von Blaubart zu erreichen (der sich dank des Autors Charles Perrault nun bereits in so manchem Kinderbuchregal befände), um wie dieser „in die himmelblaue Märchenwelt hinüberzufahren. Möge man ihn mit dem blutigen Bretonen vergleichen, oder gar mit Heinrich VIII., dem gekrönten Blaubart, er ist und bleibt doch nichts anderes als ein abscheuliches Menschenexemplar.“16 Der Wunsch nach postumem Desinteresse erfüllte sich nicht. Bereits 1922 erscheint Der Frauenmörder, ein Roman des Wiener Journalisten Hugo Bettauer, inspiriert von dem französischen Fall, der im Buch jedoch nach Berlin transferiert wird. Ebenfalls 1922 beginnen die Dreharbeiten zu der österreichischen Filmproduktion LANDRU, DER BLAUBART VON 13 14 15 16

Kronen Zeitung, Nr. 7868, 2. Dezember 1921, 8. Kronen Zeitung, Nr. 7955, 25. Februar 1922, 5. Kronen Zeitung, Nr. 7956, 1. März 1922, 2. Neue Freie Presse, Nr. 20556, 20. November 1921, 13.


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PARIS ODER WIE MAN FRAUEN BETÖRT unter der Regie von Hans Otto Löwenstein (in manchen Zeitungsberichten nur unter seinem künstlerischen Kürzel „Hans Otto“ angeführt). Landrus Kinokarriere beginnt also im selben Jahr, in dem sein Leben endet. Im November 1922 kündigt man in den Fachzeitschriften an, das „aktuellste Drama der Saison“ sei von der Zensur freigegeben. In den Abbildungen der Filmzeitschriften dominiert naturgemäß das Konterfei des Hauptdarstellers Wilhelm Sichra in der Maske Landrus, porträthaft, aber auch gestikulierend während des Prozesses, unterschrieben mit Filmzitaten: „Sie müssen mir beweisen, daß ich gemordet habe“ oder „Dann müssen Sie eben die Untersuchung wieder von vorne beginnen“. Die Maske Sichras gleicht dem aus zahlreichen Fotografien vertrauten Vorbild, seine Darstellung erinnert in ihrer Starrheit oft etwas an Murnaus NOSFERATU. Das Drehbuch hält sich eng an den durch offensive Medienberichterstattung der Öffentlichkeit sehr geläufigen Prozess. Der Film kommt ohne spektakuläre Effekte aus, auffallend sind die grafisch sehr aufwendig gestalteten Zwischentitel. Gewaltszenen werden ausgespart, einmal zieht Landru ostentativ den Vorhang zu und verschwindet mit einer Frau dahinter. Aufsteigender Rauch aus dem Schornstein seiner Villa symbolisiert die Verbrechen, der Zuseher wird jedoch nicht zum Augenzeugen – er muss sich, wie die Anklage 1922, auf Indizien verlassen. Vielleicht lag darin auch der Grund, dass ein Kritiker schrieb: „Nebenbei könnte dieser Film auch als eine Propaganda gegen die Todesstrafe angesehen werden.“17 LANDRU, DER BLAUBART VON PARIS beginnt mit einem kühnen dramaturgischen Kunstgriff, einer Art Prolog in der Hölle. Der Teufel, den neuen Medien offenbar sehr zugetan, liest in der Zeitung von der Leichtgläubigkeit der Frauen, die dadurch Opfer von Verbrechen werden. Ihnen will er ein warnendes Beispiel vor Augen führen, das sie kurieren könnte. Das Instrument dieser moralischen Gesundung wird in einem negativen Schöpfungsakt erzeugt. Ganz alttestamentarisch geprägt entsteht aus einer Lehmpuppe Landru, der „Dämon der Leichtgläubigkeit“, im Handteller des gehörnten Wesens.18 Bei diesem Prolog sind Landru betreffend zwei Aspekte besonders zu bedenken: Einerseits agiert der Teufel quasi als moralische Instanz, tritt er doch als Warnender und vom einfältigen Tun der Menschen Amüsierter auf. Doch diese Haltung ist auf eine eigenwillige Weise in die klassische Paktsituation eingebunden, spricht Satan hier doch zu einem Publikum, das bereitwillig im Saal sitzt und einen ganz anderen Täuschungsvertrag – den des Kinos nämlich – eingegangen ist. Andererseits werden Teufel und Landru filmisch parallelisiert, erschafft Satan den Serienmörder doch – sozusagen stimmig im Sinne der Genesis – nach seinem Ebenbild. Als Verführer, als der der Teufel seit den ersten 17 Die Filmwelt, Nr. 17, 1922, 8. 18 Die Einstiegssequenz ist, betrachtet man die Filmgeschichte im Allgemeinen und die Geschichte des österreichischen fantastischen Films im Speziellen, durchaus schlüssig: Das Auftreten des Teufels und teufelsähnlicher Figuren beginnt bereits im 17. Jahrhundert mit den Magischen Laternen und lässt sich über die präkinematografischen Apparaturen bis zum eigentlichen Beginn des filmischen Mediums verfolgen. Der Bühnenmagier und Kinopionier Georges Méliès begründete den besonderen Stellenwert des Teufels auf der Leinwand mit. In LE MANOIR DU DIABLE (1896) führte er dessen schlossähnliche Behausung vor – dabei schlüpfte der Regisseur selbst in die Rolle Satans. In LE DIABLE AU COUVENT (1899) fügt er der Figur erstmals deutlich den Kontext des anti-klerikalen Humors hinzu. 1906 schuf Méliès schließlich den Film, der wesentlich für die Rolle des Teufels als eigennütziger Schöpfer und Organisator ist, LES QUATRE CENTS FARCES DU DIABLE. Dabei ist der Mephistopheles, der dem Verführer aus Löwensteins Arbeit sehr ähnlich ist, auch in einem alchimistischen Labor zugange. Innerhalb dieses Settings verweist Méliès somit auch auf die anti-religiöse, manisch selbstbestimmte Figur des mad scientist.


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kinematografischen Versuchen erfahrbar wird, soll Landru die Frauen heimsuchen, an die Stelle des Teufelspaktes tritt der Ehevertrag. Der philosophische Unterbau des Films, wie wir ihn bei Hannah Arendt ausformuliert vorfinden können, ist jener der Unabsehbarkeit der Taten und der Macht des Versprechens.19 Der Akt des Versprechens, eigentlich dazu geeignet, die Unabsehbarkeit des Zukünftigen aufzulösen oder zumindest aufzuhellen, wird von Landru im Rahmen seiner mörderischen Romantikkampagne entheiligt, die Unzuverlässigkeit des Individuums praktisch entschuldigt und die Notwendigkeit der Taten im Beziehungsgewebe der Gemeinschaft versteckt. Weil aber Macht, um bei Arendts Konzeption zu bleiben, nur dort kohärent existieren kann, wo sich Menschen versammeln und gemeinschaftlich handeln, kann Landru historisch und filmisch im Vakuum ziviler Macht handeln, hat der Weltkrieg doch eine neue, wenngleich auch zeitlich begrenzte Machtlosigkeit mit sich gebracht. Landru agiert mit seiner Verlogenheit souverän innerhalb einer geschwächten Gesellschaft, die ja per se auf Versprechen als bindendes Mittel angewiesen ist – als Versprechender abseits gemeinschaftlicher Bindungen oder Vorhaben richtet er die Instrumente der Gesellschaft gegen sie. Zurück bleiben nur die Trümmer von Beweisen, es bleiben nur vage Spuren und Indizien.20

5. Instrumentalisierung und Funktion Zu den filmischen Spuren der Historie und den fiktionalen Entwürfen, die in den Kinos zu sehen sind, hat sich die (bloßgestellte) Gesellschaft ebenfalls zu positionieren. Wenig überraschend ist dabei, dass – wie bei allen medialen Neuerungen – neben Versuchen der Vereinnahmung und Instrumentalisierung die Momente der Unterdrückung und gesetzlichen Zähmung vorherrschen.21 Die für Österreich ausführlich erforschte Filmzensurgeschichte, die für das vor19 Vgl. hierzu: Arendt, Hannah (2007): Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper (Serie Piper 3623), 311–317. 20 Spurensuche und Indizienhäufung sind auch zentrale Anliegen Claude Chabrols in seinem 1963 – also vierzig Jahre nach Löwenstein – gedrehten Film LANDRU. Auch er spielt mit Erwartungshaltungen und stellt dem gedruckten Drehbuch die folgenden Sätze voran: „Dieser Film ist eine Chronik. Die historischen Gegebenheiten sind deshalb möglichst sorgfältig und wortgetreu dargestellt. Dennoch hielt es der Regisseur nicht für wünschenswert oder notwendig, sich zum Sklaven der Ereignisse zu machen, zumal diese oft widersprüchlich sind. [...] Wenn in dieser Darstellung Landrus also nicht alles wahr ist, so könnte doch alles wahr sein.“ Chabrol kombiniert die mörderischen Ereignisse untrennbar mit dem Verlauf des Ersten Weltkriegs. Zwischen seine oft in kulissenhaft wirkenden Interieurs gefilmte Handlung montiert der Regisseur Dokumentaraufnahmen aus zeitgenössischen Kriegswochenschauen. Gewaltverbrechen darzustellen spart er im zivilen Bereich aus, diese bleiben auf die Kriegsszenen, die historische Realität beschränkt. „So etwas kann nur im Krieg vorkommen“ brummt ein Inspektor, im Feld verschwänden die Männer, in Paris die Frauen. Als „La Paix“ in dicken Zeitungslettern verkündet wird, freuen sich nicht alle darüber. Landru weiß, dass seine Geschäfte nun schlechter gehen werden, die französische Regierung muss einen unbefriedigenden Friedensvertrag vertreten. In dieser prekären Lage kommt ihr der Sensationsprozess um einen Serienkiller überaus gelegen. Alles Tagespolitische wird hinter dem populären Spektakel versteckt: „Besser Blut auf der Titelseite als Anwürfe wegen des Friedensvertrages.“ Vgl. hierzu: Sagan, Françoise/Chabrol, Claude (1964): Landru, Berlin: Ullstein. 21 Vgl. für die Parallelgeschichte von Kinoentwicklung und volksbildnerischen Maßnahmen: Stifter, Christian (1997): Die Erziehung des Kinos und die „Mission des ‚Kulturfilms‘“. Zur sozialen Organisation des „Guten Geschmacks“ in der frühen Volksbildung und Kinoreform in Wien, 1898–1930, in: Spurensuche, 3–4 (o. Jg.), 54–79; Stifter, Christian H. (2004): „Film als verfeinertes Kunstwerk“. Entwicklung und Verbreitung des Kulturfilms durch Volkshochschulen in Österreich, in: Spurensuche,


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liegende Beispiel von immenser Bedeutung ist, muss und soll dabei auch im Kontext der Presseberichterstattung, insbesondere unter Berücksichtigung der Fachpublizistik22, gesehen werden; in den zahlreichen selbstständigen und einer Unmenge unselbstständiger Veröffentlichungen beziehen die unterschiedlichsten VertreterInnen Stellung zum Medium Film, dem sich ausbildenden Aufführungskontext Kino und den Vorstellungen, die man sich von beidem zu machen hätte.23 So zahlreich die publizierten Stellungnahmen sind, so unterschiedlich fallen die Positionierungsversuche der Beteiligten aus. Ein nicht zu unterschätzender Teil der Schriften, die auch in Form von Flugschriften und Pamphleten wenn nicht ihre Leserschaft, dann doch zumindest ihre Verleger fanden, steht der medialen Neuerung kritisch gegenüber; die Gefahren von Film und Kino dominieren die Ausführungen und nur selten wird auf die Frage verzichtet, wie man Film, abseits des oft abgestraften Spielfilms gedacht, als Mittel der Aufklärung und (schulischen) Erziehung nutzbar machen könnte. Der Gedanke an eine Instrumentalisierung – die sich bis in den Bereich der eigentlichen Produktion erstrecken könnte und nach Ansicht mancher Diskussionsteilnehmer auch sollte24 – ist freilich keine Neuerung des 20. Jahrhunderts: Erstmals weist bereits Benjamin Martin 1740 in seinem A New and Compendious System of Opticks auf die „nützlicheren Zwecke“25 der Laterna Magica hin, wenn man sie statt zur Unterhaltung für Erziehung und Wissenschaft heranziehen würde.26 In den Diskussionen, die als Kontexte und Verständnishilfen für das Medienbeispiel Landru

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1–4 (15. Jg.), 68–81. Im Rahmen eines am Filmarchiv Austria angesiedelten Forschungsprojekts, das von Günter Krenn und Thomas Ballhausen in Zusammenarbeit mit Rosa John und Senad Halilbasic durchgeführt wird, werden nun erstmals systematisch die österreichischen Perspektiven aller kinound filmrelevanten medienpädagogischen Debatten und Diskurse aufgearbeitet sowie alle verfügbaren spezifischen Quellen zusammengeführt und wissenschaftlich ausgewertet. Vgl. hierzu und zu einem Überblick über die österreichische Filmzensurgeschichte bis 1938: Ballhausen, Thomas/Caneppele, Paolo (2005): Die Filmzensur in der österreichischen Presse bis 1938. Eine Auswahl historischer Quellentexte, Wien: Turia + Kant. Vgl. hierzu z. B.: Liesegang, F. Paul (1910): Das lebende Lichtbild. Entwicklung, Wesen und Bedeutung des Kinematographen, Leipzig: Ed. Liesegangs Verlag M. Eger; Hellwig, Albert (1911): Schundfilms. Ihr Wesen, Ihre Gefahren und ihre Bekämpfung, Halle a.d.S.: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses; Häfker, Hermann (1913): Kino und Kunst, Gladbach: Volksverein-Verlag (Lichtbühnen-Bibliothek 2); Lange, Konrad (1920): Das Kino in Gegenwart und Zukunft, Stuttgart: Ferdinand Enke; Harms, Rudolf (1926): Philosophie des Films. Seine ästhetischen und metaphysischen Grundlagen, Leipzig: Felix Meiner; Fuchsig, Heinrich (1929): Rund um den Film. Grundriss einer allgemeinen Filmkunde, Wien: Deutscher Verlag für Jugend und Volk. Vgl. hierzu: Ackerknecht, Erwin (1918): Das Lichtspiel im Dienste der Bildungspflege. Handbuch für Lichtspielreformer, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 43f.; dort heißt es: „Die besondere Aufgabe, die sich für den Bildungspfleger unmittelbar hieraus ergibt und auf die wir noch ausführlich zu sprechen kommen, ist dann, dafür zu sorgen, daß solche Lichtspielvorgänge nicht bloß Spaß machen, sondern auch intellektuell nutzbar gemacht, daß sie ‚verstanden‘ werden. Hier muß freilich schon der Photograph vorgearbeitet haben, indem er den Vorgang so aufgenommen hat, daß das für die Belehrung Wesentliche klar und möglichst bequem auf dem Laufbild zu sehen ist. Es muß daher eine Hauptforderung aller Lichtspielreform sein, daß schon bei der Filmerzeugung der Bildungspfleger als Berater gehört und berücksichtigt werde.“ Liesegang, F. Paul (1924): Die Anwendung des Lichtbildes im Wandel der Zeit, in: Der Bildwart. Blätter für Volksbildung Nr. 9 (2. Jg.), 233–249, hier: 239. Vgl. hierzu auch den Eintrag zu Benjamin Martins Buch in: Hecht, Hermann (1993): Pre-Cinema History. An Encyclopedia and Annotated Bibliography of the Moving Image Before 1896, Edited by Ann Hecht, London: Bowker Saur/BFI 1993, 37f.


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u. E. als besonders wichtig einzustufen sind, dominieren thematisch der Schutz der Jugend, der unter Aufsicht von Lehrpersonal durchgeführte Einsatz von Film im schulischen Unterricht und vor allem die Ergänzung von Filmvorführungen durch erläuternde Vorträge.27 Die Entwicklung der Großstädte und der Mangel an Entfaltungsmöglichkeiten sind dabei als weitere Konstanten in der historischen Literatur nachzuweisen, die sich vor allem auf jene „Familien [auswirken würden], deren unsichere wirtschaftliche Existenz keinen geeigneten Boden für die psychische und verstandesmäßige Ausbildung der Kinder“28 bieten können. Das Verständnis der Kriegsfolgen – auch hier ist der Fall Landru zumindest als Echo mitzudenken – prägt die Ansprüche der Kinoreformer, die umfassende Veränderungen und Reglementierungen einfordern: „Nein, wir kommen um das absolute Kinoverbot für Kinder unter 17 Jahren nicht herum. Diese Unterhaltung sollte für die schulpflichtige Jugend überhaupt nicht in der Form des Privatkinos, sondern nur in der des Schulkinos oder des Gemeindekinos [...] vorhanden sein, ihr Betrieb sollte dauernd der Aufsicht der Lehrer unterstehen. Auf der Jugend beruht die Zukunft unseres Volkes. Was das heißt, darüber sollte uns doch der Krieg genügend aufgeklärt haben. Die ungeheuren Ansprüche, die er an die Sinne und Nerven der Menschen stellt, führen uns die Gefahr vor Augen, die darin liegen würde, wenn wir eine kurzsichtige und neurasthenische Jugend großzögen. Unsere Knaben sollen einmal starke und widerstandsfähige Männer, unsere Mädchen gesunde und leistungsfähige Frauen werden. Nach den ungeheuren Verlusten dieses Krieges wird das Bevölkerungsproblem mit vermehrtem Ernst an uns herantreten. Wir können dann keine nervöse und schwächliche Jugend brauchen. Kinder gehören, wenn sie nicht im Elternhaus oder in der Schule sind, in die frische Luft, nicht in enge und verdunkelte Schauräume. Sie sollen sich in Garten, Wald und Feld austoben, nicht ihre Augen und Nerven mit dem Anschauen aufregender und wertloser Vorführungen verderben.“29 Einzig in der Erziehung der Sehenden, die vom rein auf Spektakel ausgelegten Kino zum wertvollen Lichtspiel geführt werden sollen, liegt eine Option auf einen im Sinne der Reformer positiven Einsatz der kritisch betrachteten Unterhaltung: „Die Schüler in den größeren Städten, insbesondere die Volksschüler, auf die es doch vor allem ankommt, gehen schon ohne unser Zutun ins ‚Kino‘, gewohnheitsmäßig oder gelegentlich, je nach Temperament und geldlicher Leistungsfähigkeit und je nachdem die Programme Jugendlichen unter 16 Jahren zugänglich sind. Wir haben also gar keine Wahl mehr, ob wir sie ins ‚Kino‘ gehen lassen wollen oder nicht; vielmehr sind wir einfach vor die Frage gestellt, ob wir sie vom ‚Kino‘ zum Lichtspiel erziehen wollen und können, ob wir den Bildungsfähigen und Bildungshungrigen unter ihnen 27 Vgl. für den Einsatz von Film im Unterricht: Golias, Eduard (Hg.) (1925): Film und Schule. Beiträge zur Frage der pädagogisch-didaktischen Verwertbarkeit des Films im Rahmen der Bildungsarbeit der Schule, Wien: Österreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst; Witt, Gustav Adolf (1931): Fortschritte Österreichs im Lichtbild- und Lehrfilmwesen. Bericht für die III. Internationale Lehrfilmkonferenz in Wien (26. bis 31. Mai 1931) auf Grund von Einzelberichten und amtlichen Erhebungen, Wien: Österreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst; für die Notwendigkeit von Vorträgen als bildnerische und vermittelnde Ergänzung vgl.: Nestriepke, Siegfried (1927): Wege zur neuen Filmkultur, Berlin: Volksbühnen-Verlags- und Betriebs-G.m.b.H. o. J. (Schriften des Verbandes der Deutschen Volksbühnenvereine 15), 15f.; Gaupp, Robert/Lange Konrad [Neubearbeitung von Gaupp u. Kieferbüll-Petersen]: Der Kinematograph als Volksunterhaltungsmittel [=Dürer-Bund. 100. Flugschrift zur Ausdruckskultur], 7. 28 Altenloh, Emilie (1914): Zur Soziologie des Kinos. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena: Eugen Diederichs, 60. 29 Lange, Konrad (1918): Nationale Kinoreform, Gladbach: Volksverein-Verlag 1918, 18f.


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beizeiten durch eine geregelte Schulpraxis die Überzeugung beibringen wollen, daß das Lichtspiel auch höhere Werte vermittle, als das ‚Kino‘ in der Regel ahnen läßt, kurz, daß es auch einem gebildeten oder besser sich bildenden Menschen Wesentliches für seine geistige Entwicklung bieten könne.“30 Die Bildung, ja, die Warnung des Publikums ist, wie sich zeigen wird, auch für den Diskurs um den Fall Landru und seine Verfilmung wesentlich.

6. Film und Kriminalistik „Man fragt sich staunend, wie dieser Mensch, kalt, geheimnisvoll, undurchdringlich, er, dem [!] nichts, nicht einmal der Ausblick auf das Schafott, in irgendeine Erregung zu versetzen vermag, gegenüber so vielen Frauen aller Stände und aller Altersklassen wirkungsvolle Worte der Leidenschaft, der Verführung zu finden vermochte“,31 las man in der österreichischen Berichterstattung über den Landru-Prozess. In Wien ging man daran, praktische Antworten auf solche Fragen zu finden. Die österreichischen Zeitungen definierten LANDRU, DER BLAUBART VON PARIS ODER WIE MAN FRAUEN BETÖRT als „sensationellen Warnungsfilm“ und sahen in ihm weit mehr als nur ein kinematografisches Ereignis. Es gibt Sondervorführungen, die von wissenschaftlichen Vorträgen eingeleitet werden, man erhofft sich reges Presse-Interesse, wie es ja im Falle des Prozesses garantiert war und natürlich ein entsprechend großes Geschäft. So spricht am 26. Jänner 1923 als Einleitung zu Löwensteins Film der so titulierte „Kriminal-Psychologe und Gerichtssachverständige“ Dr. Leopold Thoma über „Verbrecher der Liebe. Moderne Frauenbetörung und ihre Methoden mit Original-Lichtbildern aus dem Verbrecheralbum und erstmaliger Veröffentlichung aus dem Tagebuch des Frauenmörders Grossmann, des ,deutschen Landru‘, das er in seiner Zelle geführt bevor er sich erhängte, sowie Diapositiven von Originalaufnahmen aus dem Prozeß Landru“.32 Dem Vortrag folgte die Premiere des Stücks „Sie sind eine entzückende Frau (Wie sie Euch einfangen)“, einer „dramatische[n] Verbrecherstudie in einem Akt“33, ebenfalls von Dr. Thoma verfasst und dargestellt von den Schauspielern Annemarie Steinsieck und Hugo Werner-Kahle, die vor den Gefahren von Straßenbekanntschaften warnten. Die Kinobesitzer wurden ebenso mit separaten Einladungen zur Premiere gebeten wie Vertreter von Polizeidirektion und Staatsanwaltschaft Wien.34 Für Leopold Thoma schien sich auf diesem Gebiet eine kommerziell rentable Marktlücke aufzutun. Der „Prozeß Landru!“, wie es mit Ausrufezeichen hieß, war der Versuch, „eine neue Kunstrichtung für unsere Kinotheater“ zu etablieren, womit der Einsatz wissenschaftlicher Vorträge mit Diapositiven gemeint war. Die Zeitungen wiesen darauf hin, dass es in den USA bereits üblich sei, Filme zur Sicherheitsschulung der Polizei heranzuziehen. Sogar eine frühe 30 31 32 33 34

Ackerknecht, Erwin (1928): Lichtspielfragen, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 35f. Neue Freie Presse, Nr. 20548, 11. November 1921, 4. Das Kino-Journal, Nr. 650, 13. Jänner 1923, 9. Ebd., o. S. Vielleicht mag die Kombination unterschiedlicher Elemente manchem Kritiker auch missfallen haben, so liest man in einer Rezension: „Durch die Zensur, die Einwirkung allzuvieler Geschmäcker und Begleitvorträge im Wesen stark verändert ist dieser Film, zumal schlecht photographiert und aus anderen Filmen zusammengestückelt, stark unter dem Durchschnitt stehend, wie es überhaupt sehr hervortritt, daß aus der publikumswirksamen Sensation die Tendenz gedrechselt wurde.“, in: Die Filmwelt, Nr. 3, 1923, 10.


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Form des späteren Fernsehformats AKTENZEICHEN XY UNGELÖST wurde überlegt, denn es ist zu lesen, die Wiener Polizei plane seit Jahren Steckbriefe per Film in Kinos veröffentlichen zu lassen. Man bewarb erstmalig für Wien einen verfilmten Medienprozess: „Der Film … Das Drama … zusammengefasst in einer Vorstellung.“35 Der Fall Landru, so stellte sich heraus, sollte dabei nur der Prototyp einer Serie sein. Am 16. März 1923 bat die IFUK Filmverleih- und Kinematographen-Gesellschaft zu einer Vorführung ins Wiener Kosmos-Kino, die unter dem Titel DER FILM IM KRIMINALDIENST (DER KAMPF GEGEN DAS VERBRECHEN) stand. Gemeint waren damit ein Kulturfilm und ein Vortrag von Leopold Thoma. „Unter Heranziehung des Publikums zur Aufklärung von Verbrechen“ bewarb man eine geplante Reihe neuartiger kriminalistischer Filmversuche, bei denen im ersten Teil neben kinematografischen Steckbriefen aktuell gesuchter Schwerverbrecher auch Bilder von gestohlenen Gegenständen gezeigt würden.36 Im zweiten Teil gelangte Der Mord im Moulin Rouge zur Aufführung – laut Werbeanzeige auf einem britischen Mordprozess beruhend –, den Thoma ebenso für seine Zwecke erarbeitete wie das danach gezeigte sechsaktige Melodram Die in der Zelle. Thoma bewarb seine neue Filmreihe als „kriminal-psychologische Film-Experimente“37, bei denen er das Publikum als an der Aufklärung ständig mitwirkenden „Tatzeugen“ zur Agnostizierung von ihm aufbereiteter Fälle heranziehen wollte.38 Ursprünglichen Angaben zufolge sollte Der Mord im Moulin Rouge erst der 8. Teil der Serie sein, dem die „Experimente“ 1) „Der Verbrecher im Kaffeehaus“ (in dem der Diebstahl eines Sakkos geschildert wurde), 2) „Bankhyänen“ (Scheckbetrug), 3) „Taschendiebe“, 4) „Die Dienstdiebin“ (basierend auf einem aktuellen Fall, wonach ein Dienstmädchen aus Liebe zu ihrem Freund ihre Herrschaft bestahl), 5) „Weibliche Hochstapler“, 6) „Die falsche Zeugenaussage“ und 7) „Physiognomische Verbrecherstudien im Kerker“ vorangestellt waren.39 Vorgegebenes Ziel war es, die eigene Unvorsichtigkeit als Ursache von Verbrechen zu bekämpfen und die Fähigkeit zu schulen, bei der Verbrechensaufklärung aktiv mitzuwirken. Zeitungsberichten zufolge erwies sich DER FILM IM KRIMINALDIENST als äußerst erfolgreich und konnte, was die Besucherzahlen angeht, durchaus neben der ebenfalls von der IFUK verliehenen mehrteiligen Harry-Piel-Abenteuerserie bestehen. In der Fachpresse heißt es dazu unter anderem: „Ein Kulturfilm in vollem Sinne des Wortes verdient dieses Filmwerk genannt zu werden, mit dem sich Dr. Thoma ein bleibendes Verdienst erworben hat. Es will das Kinopublikum und das ist heute ja im vollen Sinne des Wortes die Allgemeinheit, denn wer geht nicht ins Kino, zum Denken erziehen, es will darauf einwirken, daß das Publikum bei Entdeckung von Verbrechen der Polizei wertvolle Dienste leistet und 35 Der Filmbote, Nr. 2, 13. Jänner 1923, 17. Überhaupt fällt auf, dass im Zusammenhang mit dem LANDRU-Film für technische Neuerungen geworben wurde. Hans Otto Löwenstein pries in einer ganzseitigen Werbeanzeige die Vorzüge des „Reform-Stromverwandler[s]“ an, eines „Lichterzeuger-Apparat[s] für Projektions-, Scheinwerfer-, Filmaufnahme- und Elektrophoto-Lampen“, der ihm, so versichert er (man darf vermuten gegen Honorar), gute Dienste bei der Herstellung des Films geleistet habe. Siehe: Der Filmbote, Nr. 5, 20. Jänner 1923, 19. 36 Der Filmbote, Nr. 10, 10. März 1923, 44. 37 Das Kino-Journal, Nr. 654, 10. Februar 1923, 22. 38 „Wer ist der Mörder“ sollte sich demnach ein 6-aktiges Kriminaldrama betiteln, in dem das Publikum dabei mitwirken sollte, den Täter zu entlarven. Siehe: Das Kino-Journal, Nr. 655, 17. Februar 1923, 8. 39 Das Kino-Journal, Nr. 656, 24. Februar 1923, 16.


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nicht so wie heute vollauf versagt. Und diesen Zweck wird dieser Film gewiß erfüllen. Und trotzdem dieser Grundgedanke in diesem Werke vorherrscht, entbehrt es nicht einer stetig sich steigernden Spannung, die wechselnden Bilder steigern die Erregung, so daß das Publikum von der ersten bis zur letzten Minute mitgeht. Dr. Thoma leitete die Vorführung mit einem einleitenden Vortrage ein, in welchem er bemerkte, daß Vertrauensseligkeit und Nachlässigkeit die Hauptursachen der stetig steigenden Verbrechen sind [...]. So reichhaltig ist dieses Filmwerk, daß man über diese große Darbietung nur staunen kann und sich sagen muß, daß damit etwas ganz Großartiges geschaffen wurde.“40 Im Mai folgte eine weitere Produktion, diesmal gestaltete Thoma einen Vortrag zu DIE OPFER DES KOKAIN. Zu dieser Produktion verfasste er einen Artikel in der „Filmwelt“, in dem er in blumiger Sprache vor den Gefahren des Kokains warnte, das „im harmlosen Gewande einer unschuldig weißgekleideten Jungfrau“41 auf seine Opfer lauere, die zumeist durch schlechtes Beispiel der neuen Droge verfielen.

7. Aufklärung vs. Okkultismus? Die zentrale Person rund um das angestrebte neue Filmgenre war also Leopold Thoma, über den es wenig gesicherte Fakten gibt. Einem Wiener Meldezettel aus dem Jahre 1914 zufolge wurde der dort als Dr. jur. eingetragene Thoma am 8. April 1886 im rumänischen Iaşi geboren. Er sei mosaischen Glaubens und ledig. 1925 unterzeichnet er als Notariatskandidat, ist zum evangelischen Glauben konvertiert und meldet einen Umzug nach Berlin an. Thomas Einstieg in das Filmgeschäft war, wie oben ausgeführt, der Streifen um Landru. Nachdem die IFUK im Vorfeld besorgt war, die Produktion könnte als Verbrecherfilm stigmatisiert werden, erkannte man die Möglichkeit, ihn als „Warnungsfilm“ zu deklarieren, durch den Frauen über die Machenschaften solcher Verbrecher aufgeklärt werden sollten. Diese Bezeichnung kam von Thoma, der von der Herstellung des Films erfahren hatte, sich auf diesem Wege in die Produktion einbrachte und das entsprechende Rahmenprogramm entwickelte. Die Darstellung der Frauen variiert bei Thoma. Während des Landru-Prozesses warb der Pariser Feuilletonist Clement Bautel um Verständnis für die Opfer.42 Thoma dagegen erkannte auch den Opfern eine Teilschuld zu, „denn in der Sucht nach Abenteuern vergessen sie alle Vorsicht“43. Jedes Mädchen, jede Frau, so warb man, hätte diesen „große[n] Warnungsfilm gegen Heiratsschwindler und Mädchenbetörer“44 zu sehen, der im Anschluss an Thomas Vortrag gezeigt wurde. 40 Das Kino-Journal, Nr. 660, 24. März 1923, 6. 41 Die Filmwelt, Nr. 22, 1923, 7. 42 „Ich stelle mir diese Frauen vor, welche die Furcht vor dem Hunger und dem Elend dazu zwingt, ihr kleines Speisezimmer zu verkaufen, ihr Bett mit der gesteppten Wolldecke, alle diese Möbel, die sie so oft mit zärtlicher Hand gestreichelt haben, und an denen ihr ganzes Herz hängt. Und da kommt der Geschäftsmann, ein so prächtiger Mensch, der seine Worte so geschickt zu setzen versteht, ein Mann von Bildung, ein belesener Mann, der Briefe schreibt, wie sie in den Romanen stehen. Sich verheiraten und seine Möbel behalten dürfen! Das klingt diesen armen Frauen wie ein Feenmärchen. Landru weiß, wie man Frauen fesselt. Nicht immer durch das Herz und durch die Sinne, manchmal auch durch die Möbel. Wenn sie jung sind, wollen sie zu Möbeln kommen, wenn sie alt werden, wollen sie diese behalten.“ Neue Freie Presse, Nr. 20552, 16. November 1921, 7. 43 Das Kino-Journal, Nr. 652, 27. Jänner 1923, 5. 44 Das Kino-Journal, Nr. 653, 3. Februar 1923, 28.


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In seinem Rahmenprogramm verwendete Thoma auch Aufnahmen von Hypnose-Experimenten, ein Gebiet, auf dem er bereits zuvor tätig gewesen war: 1922 berichteten die Zeitschriften über Das Medium, ein von Thoma geschriebenes Theaterstück zum Thema Hypnose, bei der Hugo Werner-Kahle Regie führte und das Ende Mai unter dem Titel DAS VERLORENE ICH in die Kinos kam.45 „Im Dienste der Kriminalistik“ wurde um 1920 zur viel benutzten Formel, der schon frühere Überlegungen vorausgegangen waren.46 Die „Kastalia“ berichtete in ihrer zehnten Ausgabe von den Erfolgen der „Fernkinematographie“ (gemeint ist Bildtelegrafie), die in Deutschland, England und Frankreich bereits erfolgreich bei der Verbrechensbekämpfung eingesetzt werde, wobei das Konterfei eines Verdächtigen unmittelbar nach der Tat bereits verschickt werde, um seine Flucht zu erschweren.47 Im Zusammenhang mit „Hypnose und Telepathie im Dienste der Kriminalistik“ zitiert die Neue Freie Presse wiederum Leopold Thoma – der auch abseits des Films in diesem Bereich tätig war. Ein Anwalt namens Richard Preßburger berichtet über die Auflösung eines Falles durch ein hellseherisches Medium Thomas, wodurch sich neue Möglichkeiten für die Kriminalisten auftäten. Thoma selbst kommt nicht zu Wort, man beantragt jedoch, ihm Gelegenheit zu geben, seine Forschungsergebnisse zu Hypnose und Telepathie vor einem wissenschaftlichen Forum zu erläutern.48 1920 schrieb die Wiener Zeitschrift „Psyche“ über Thoma bereits als Vorkämpfer des Wissenschaftlichen Okkultismus, als jungen „Wiener Rechtsanwalt und Kriminaltelepath“49, der sein Talent in die Dienste kriminalistischer Aufklärung stelle. Diesen Ruf erhielt er wohl aufgrund seiner umfangreichen Tätigkeiten in den Jahren davor: Im Rahmen des Vortrags „Telepathie und Verbrechen“ von Prof. Julius Wagner-Jauregg, den dieser am 2. Mai 1919 im Wiener Konzerthaus hielt, nahm Thoma an einer Séance teil. Am 3. Juni desselben Jahres fand ein Vortrag in der Gesellschaft der Ärzte statt, bei dem Thoma mit dem „Amateurtelepathen“ Rudolf Groß eine Partie Domino spielte, bei der Groß und Thoma, ohne auf die jeweiligen Tische zu sehen, Dominosteine setzen ließen und das Spiel trotzdem korrekt beendeten. Am 21. Februar hielt Thoma im Großen Konzerthaussaal eine kriminalistische Séance ab, bei der ihm zahlreiche Ärzte bei seinen Suggestions-Demonstrationen assistierten. So gelang es ihm laut den Berichten etwa, mittels eines in den Saal projizierten Porträtfotos, auf dem er seinen auch in Publikationen mehrfach erwähnten „suggestiven Blick“ aufgesetzt hatte, mehrere Zuschauer zu beeinflussen und zu diversen Handlungen zu bringen. Im Mittelalter wäre er wohl als Scharlatan verbrannt worden, folgert die Zeitung, heute begrüße man ihn „als genial 45 „Paimann’s Filmlisten“ befanden 1922 in ihrer Nr. 321, das Sujet behandle „ein gegenwärtig sehr interessierendes Thema, was den Zuschauer über gewisse Längen hinwegsetzt“. Rosa Wachtel, die am Drehbuch von LANDRU mitarbeitete, lobte die Produktion sowohl was Regie, Darstellung als auch Fotografie anbelangt in ihren Filmbesprechungen, in: Die Filmwelt, Nr. 18, 1922, 10. 46 Siehe dazu: Schellinger, Uwe (2009): Trancemedien und Verbrechensaufklärung, in: Hahn, Marcus/ Schüttpelz, Erhard (Hg.) (2009): Trancemedien und Neue Medien um 1900, Bielefeld: transcript, 311ff. 47 Kastalia. Öst. Zeitschrift für wissenschafl. u .Unterrichtskinematographie, Nr. 10, Oktober–November 1913, 1. 48 Neue Freie Presse, Nr. 20605, 23. Februar 1922, 8f. 49 Psyche, Nr. 1, 1. Oktober 1920, 6.


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veranlagten Forscher, Experimentalpsychologen und Kriminaltelepathen, als einen der vornehmsten Vertreter des modernen, wissenschaftlichen Okkultismus“50. Im Wiener Prozess um Jan Erik Hanussen, bei dem es Ende 1920 darum geht, dass Hanussen mittels einer Wünschelrute ein gestohlenes Auto gefunden haben wollte, war Thoma als Zeuge geladen. Die Belohnung von 5000 Kronen erhielten jedoch zwei Burschen, die dem Beraubten das Versteck des Fahrzeugs verrieten. Thoma erklärte Hanussens Tat für durchaus möglich und schlug vor, diesen zum Beweis ein ähnliches Experiment durchführen zu lassen. Der Versuch schlug fehl. In der Folge nahmen Leser in der nächsten Nummer der Psyche nochmal zu Thomas Suggestionsexperiment im Konzerthaus Stellung: Nicht das projizierte Bild, wandte man ein, sei entscheidend für das Gelingen des Experiments gewesen, sondern die Stimme des Kommentators hätte die Medien entsprechend beeinflusst. Auch weiterhin bleibt Thoma als einziger „Gerichtssachverständiger für ,Hypnose und Telepathie‘“51 einer der Protagonisten des „Illustrierten Halbmonatsblattes für modernen Okkultismus (Hypnose, Telepathie, Wünschelrute, Mediumnismus) und freie Weltanschauung“. Dass Thoma als Jurist im Grunde nur medizinischer Laie sei, wird in der Zeitschrift als Argument gegen Kritiker verwendet, die eine Inflation an Hypnose-Experimenten befürchteten; und diverse Persönlichkeiten werden aufgezählt, die sich abseits ihres Fachgebiets bewährten – darunter Galvani, Joule, Daguerre, Montgolfier, Zeppelin oder Darwin. Im Juni 1921 änderte sich die Blattlinie jedoch und Thoma geriet ins Kreuzfeuer der Kritik. Ihm und seinem Bühnenpartner Kraus wurde nun vorgeworfen, dass ihre hellseherische Kunst auf der Technik beruhe, nicht die Gedanken, sondern vielmehr die Mimik ihrer Medien zu lesen. Statt des obligaten Lobs gab es nun offenen Hohn für den vor Kurzem noch mit Vorschusslorbeeren Bedachten. Man nannte ihn, wenn man ironisch schrieb: „Pseudotelepathen, Wachtelepathen, Auchtelepathen, Telepatzer und Jünger der Telepathologie, verzeiht allen jenen, die euch schmähen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“52 Der wissenschaftliche Gehalt der Darbietungen vom Wiederauffinden verlorener Gegenstände oder gar Verbrechensaufklärung wird nun heftig bestritten, Thomas Wirken in den Bereich der manipulativen Unterhaltung verlegt. Es gehe nicht um Telepathie, sondern um Hellsehen, auch sein so tituliertes „Institut für kriminaltechnische Forschung“ entbehre jeder wissenschaftlichen Grundlage.53 Jenes Institut hatte Thoma in den Dienst der „Volksaufklärung“ gestellt, wie man in „Die Andere Welt. Okkultistisches Volksblatt“ lesen konnte.54 Darin werden verschiedene Meinungen anderer Publikationen, darunter eine kritische Äußerung des „Neuen 8 Uhr Blatts“ und eine wohlmeinende der „Volkszeitung“ zitiert. Doch auch in der „Anderen Welt“ wird Thomas Wirken mit einem weiblichen Medium namens „Megalis“ schließlich als Unfug bezeichnet. Die Aussagen des Mediums stimmten alle, spottet man, nur die Wirklichkeit passe eben nicht dazu. Aus okkulten Kreisen protestierte man also gegen solcherlei „telepathischen Unfug“, den 50 Ebd., 7; für einen Überblick zum filmisch-aufklärerischen Denken dieser Zeit, der auch ästhetische Aspekte wie den Expressionismus oder den sich ausbildenden psychoanalytisch ausgerichteten Film berücksichtigt, vgl.: Kalbus, Oskar (1927): Das Uebersinnliche im Film, in: Der Bildwart. Blätter für Volksbildung, Nr. 12 (5. Jg.), 795–803. 51 Psyche, Nr. 5, 20. Jänner 1921, 1. 52 Psyche, Nr. 9, 1. Juni 1921, 9. 53 Siehe dazu: Scherneck, Jessica (2008): Hellseher und Polizei in den 1920er Jahren. Das Österreichische Institut für kriminaltelepathische Forschung, Magisterarbeit Universität Freiburg. 54 Die Andere Welt. Okkultistisches Volksblatt, Nr. 22 (2. Jg.) [1921?], 2f.


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man als diskreditierend ansah.55 Man empfahl, dem Kriminaltelepathischen Institut und seinem Betreiber das Handwerk zu legen. Im Rahmen der Volksbildung an der Wiener Urania wurden die Topoi Hypnose und Suggestion zu Beginn der 1920er-Jahre in Vorträgen und öffentlichen Versuchsreihen ebenfalls oft behandelt, wobei man sich bemühte, alles Übersinnliche und Unerklärliche daran zu eliminieren und die Dinge rational erklärbar zu machen. Man wollte damit vor allem der Neigung des Publikums entgegentreten, diese Themenbereiche allein im Okkulten anzusiedeln, da diese „mystische Schwärmerei“ leicht von Scharlatanen missbraucht werden könne. Primarius Dr. Edmund Holub von der Landesheilanstalt Am Steinhof referierte am 9. Oktober 1920 über „die Bedeutung der Suggestion als Heilmittel [...] und endlich, soweit die Zeit reicht, ihr[en] Einfluß auf die menschliche Gesellschaft“56. Ein Jahr später erweiterte man das Thema, diesmal von Universitätsprofessor Dr. Alexander Pilez vorgebracht, um „Hypnose, Telepathie und andere okkulte Erscheinungen“ in Alltagsleben, Medizin und Kunst.57 Auch die Möglichkeiten im Bereich der Kriminalität wurden dabei untersucht, offenbar um dem öffentlich geführten Diskurs um Thoma Rechnung zu tragen. Der Vortrag wurde, wie schon der im Jahr zuvor, wegen des großen Andrangs wiederholt. Dr. Raoul Braun berichtete 1922 über „Das Problem der Wünschelrute“, wobei der gegenwärtige Wissensstand anhand eines Kongresses in Bad-Nauheim besprochen wurde.58 Zwei Jahre danach baute auch Dr. Pilez bei einer Erweiterung seines Vortrags „Über Hypnose und verwandte Zustände“ das „Tatsächliche über die Wünschelrute und die Rutengänger“ mit ein und spannte den Themenbereich sogar bis zum Feld „Spiritismus und Religion“.59 1925 referierte Dr. Josef Knett „Für und wider die Wünschelrute“, wobei auch Wert darauf gelegt wurde, fragliche Experimente damit bloßzustellen. Sogar ein seriöser Literaturhinweis wurde mitgeliefert: „Bibliographie der Wünschelrute“60. Für Leopold Thoma stellt sich die Situation doch nun weit weniger günstig und positiv öffentlichkeitswirksam dar: Trotz einiger weiterer Einladungen, seine Kunst zu demonstrieren, schienen die Geschäfte Thomas, nicht zuletzt wegen solch aufklärerischer Gegenströmungen, ab 1922 nicht mehr gut zu laufen. Erst das Schicksal Landrus verhalf ihm via Leinwand somit wieder zu neuer Aufmerksamkeit. Das nun gewählte Metier – dramaturgische Aufbereitung kriminalistischer Umstände – schien für ihn wie geschaffen. Im Januar 1925, wenn man den Angaben des erhaltenen Meldezettels glauben darf, übersiedelt Thoma nach Berlin. 1929 und 1930 listet ihn das Berliner Adressbuch als „Dr. Leopold Thoma, Schriftsteller“ mit der Anschrift „Unter den Linden 43“. Seine Kontakte zur Filmindustrie helfen ihm zu Beginn der Tonfilmzeit zu kurzzeitiger Beschäftigung. Für den Film JA, JA, DIE FRAUEN SIND MEINE SCHWACHE SEITE schreibt er 1929 das Drehbuch und ist an der Seite von Hans Albers auch als Reporter zu sehen.61 Auch in TÄNZERINNEN FÜR SÜD-AMERIKA GESUCHT (1931) lässt sich seine Mitarbeit am Drehbuch nachweisen. Danach verliert sich seine Spur zunehmend. 55 56 57 58 59 60 61

Die Andere Welt. Okkultistisches Volksblatt, Nr. 33 (2. Jg.) [1921?], 1ff. Urania, Nr. 26, Oktober 1920, 4. Urania, Nr. 30, September 1921, 6. Urania, Nr. 35, Oktober 1922, 5f. Urania, Nr. 8, Februar 1924, 5. Urania, Nr. 41, November 1925, 4. Bereits 1923 hatte Ludwig Thoma vor der Kamera agiert. Im österreichischen Stummfilm KNOCKOUT spielte er sich selbst nach eigenem Treatment unter der Regie von Armond du Plaissy.


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1933, im Todesjahr Jan Erik Hanussens, versucht sich Thoma mit dem Buch „Hanussen. Ein Abenteurer unserer Zeit! Nach persönlichen Mitteilungen geschildert“ noch einmal in seinem ehemals erfolgreichen Metier zu produzieren. Man vermutet in ihm auch den Initiator des deutschen Stummfilms DIE HELLSEHERIN (1929), zumal Thoma im Prozess rund um das deutsche Trancemedium Elsbeth Günther-Geffers als Gutachter aufgetreten war und im Gerichtssaal von Insterburg eines seiner Trance-Experimente durchführte. Als der Film in Wien gezeigt wurde, wies man darauf hin, er habe zwar in Berlin aufgrund der Mitwirkung einer umstrittenen Hellseherin und mehrmaliger Zensureingriffe Aufsehen erregt, schließt aber lakonisch: „Für uns behandelt das Sujet ein in letzter Zeit wenig gepflegtes Thema, wenn auch nicht immer logisch und straff genug, so doch szenenweise recht spannend.“62 Aus heutiger Sicht liest sich das bereits wie ein Epitaph für Leopold Thoma und sein Institut im Dienste der Volksaufklärung.

Literatur Ackerknecht, Erwin (1918): Das Lichtspiel im Dienste der Bildungspflege. Handbuch für Lichtspielreformer, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung. Ackerknecht, Erwin (1928): Lichtspielfragen, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung. Altenloh, Emilie (1914): Zur Soziologie des Kinos. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena: Eugen Diederichs. Arendt, Hannah (2007): Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper (Serie Piper 3623). Ballhausen, Thomas/Caneppele, Paolo (2005): Die Filmzensur in der österreichischen Presse bis 1938. Eine Auswahl historischer Quellentexte, Wien: Turia + Kant. Fuchsig, Heinrich (1929): Rund um den Film. Grundriss einer allgemeinen Filmkunde, Wien: Deutscher Verlag für Jugend und Volk. Gaupp, Robert/Lange Konrad [Neubearbeitung von Gaupp u. Kieferbüll-Petersen]: Der Kinematograph als Volksunterhaltungsmittel [=Dürer-Bund. 100. Flugschrift zur Ausdruckskultur]. Golias, Eduard (Hg.) (1925): Film und Schule. Beiträge zur Frage der pädagogisch-didaktischen Verwertbarkeit des Films im Rahmen der Bildungsarbeit der Schule, Wien: Österreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst. Häfker, Hermann (1913): Kino und Kunst, Gladbach: Volksverein-Verlag (Lichtbühnen-Bibliothek 2). Harms, Rudolf (1926): Philosophie des Films. Seine ästhetischen und metaphysischen Grundlagen, Leipzig: Felix Meiner. Hecht, Hermann (1993): Pre-Cinema History. An Encyclopedia and Annotated Bibliography of the Moving Image Before 1896, Edited by Ann Hecht, London: Bowker Saur/BFI. Hellwig, Albert (1911): Schundfilms. Ihr Wesen, Ihre Gefahren und ihre Bekämpfung, Halle a. d. S.: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses. Kalbus, Oskar (1927): Das Uebersinnliche im Film, in: Der Bildwart. Blätter für Volksbildung Nr. 12 (5. Jg.). Landru, Henri-Désiré/Botul, Jean-Baptiste (2001): Landru, précurseur du féminisme. Correspondance inédite 1919–1922. Édition établie par Christophe Clerc et Bertrand Rothé, Paris: Éditions Mille et une Nuits (Texte intégral – INÉDIT 358). Lange, Konrad (1918): Nationale Kinoreform, Gladbach: Volksverein-Verlag. Lange, Konrad (1920): Das Kino in Gegenwart und Zukunft, Stuttgart: Ferdinand Enke. Liesegang, F. Paul (1910): Das lebende Lichtbild. Entwicklung, Wesen und Bedeutung des Kinematographen, Leipzig: Ed. Liesegangs Verlag M. Eger. 62 Paimann’s Filmlisten. Nr. 703, Wien, 27. September 1929, 136.


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Quellen/Verwendete Zeitschriften Das Kino-Journal Der Filmbote Die andere Welt. Okkultistisches Volksblatt Die Filmwelt Kronen Zeitung Neue Freie Presse Paimann‘s Filmlisten Psyche


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Alessandro Barberi

Vom Dämonischen. Zur politischen Medientheorie des Daniel Suarez Review-Essay von Daniel Suarez: Daemon. Die Welt ist nur ein Spiel (2009), Darknet (2011) und Kill Decision (2013) Beitrag online im Ressort Bildung/Politik unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/491

Abstract Die Romane des Programmierers Daniel Suarez sind weit mehr als reine Fiktionen. Seine terminatorischen Inszenierungen des Endkampfs zwischen Maschinen und Menschen basieren auf äußerst realen Studien zu derzeitigen (Kriegs-)Technologien, die als politische Steuerungsmedien eingesetzt werden. Alessandro Barberi analysiert die Überlappung von sozialen und medialen Räumen bei einem Meister des Techno-Thrillers. On the demonic. The political media theory of Daniel Suarz (review essay). The novels of programmer Daniel Suarez are far more than simple fictions. His terminator-like staging of the final battle between men and machines is based on very real studies of current (war) technologies used as political steering media. Alessandro Barberi analyses the overlapping of social and media spaces in one of the masters of techno thriller.

1. Fiktive Kampfmaschinen Mist. Wenn Sobol das Kernel Root Kit benutzt hat, auf das ich bei Alcyone-Versicherungen gestoßen bin, dann hat er jetzt womöglich eine Backdoor zum Netzwerk des Sheriff’s Department. Er könnte sogar den E-Mail-Verkehr zwischen eurer Truppe und den Feds belauschen. Und Virenschutzprogramme würden es nicht finden. Daniel Suarez, Daemon Ein neues Computerspiel machte von sich reden: Over the Rhine.1 Der Erfolg auf den Märkten für Ego-Shooter war so durchschlagend wie die neue Ausstattung mit Waffensystemen und wie einst Wolfenstein 3D. Die Grafik-Engine prozessierte scheinbar schneller als Lichtgeschwindigkeit, die Soundpalette fühlte sich unergründlich breit an, die räumliche Program-

1

Dieser Essay bezieht sich auf Suarez, Daniel (2010): Daemon; ders. (2011): Darknet; und ders. (2013; dt. im Erscheinen): Kill Decision, alle Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.


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mierung war annähernd perfekt, die Künstliche Intelligenz der Gegner erschwerte jede Wiederholung der Situation beim erneuten Durchspielen eines Quests und die Usability übertraf alles, was man bis dahin gesehen und gespielt hatte. Auch die Möglichkeiten der virtuellen Vernetzung mit anderen SpielerInnen waren auf einen höheren Level gebracht worden, wodurch sich die Zahl der AkteurInnen im Multiplayer-Modus und die kollektiv im virtuellen Raum verbrachte Zeit sukzessive erhöhten. CyberStorm Entertainment und ihr Mitbegründer und technischer Leiter Matthew A. Sobol bauten mit dieser programmiertechnischen Glanzleistung und ihrer spieltechnischen Fortsetzung durch das MMORPG The Gate ihre Monopolstellung in der Realwirtschaft aus und eröffneten gleichzeitig eine neue Ära der künstlichen Wirklichkeit(en), in der ganze Schwärme von Gamern sich verbanden, vernetzten und schlussendlich auch organisierten: „Philips kommentierte: ,Was Sie hier sehen, ist Sobols Spiel The Gate. Es ist ein Online-Rollenspiel, was heißt, dass Zehntausende Benutzer auf Game-Maps auf zentralen Servern zugreifen. Das Spiel erstreckt sich über einen großen virtuellen Raum. Jon Ross wollte ein Treffen hier an diesem Ort: der Ecke Queensland Boulevard/Hovarth Alley in Elianburg.‘ ,Ein Treffen in einem Online-Spiel?‘ ,Ja. Aber da es schwer ist, einen Avatar zu verhaften, habe ich beschlossen, in den God-Modus zu gehen.‘ ,Das heißt?‘ ,Das heißt, ich habe gecheated. Ich habe die CyberStorm-Systemadministratoren dazu gebracht, die Kreuzung von virtuellen Kameras beobachten zu lassen.‘ ,Sie haben eine Überwachung in Fantasy-Land veranlasst?‘ Lachen ging durch den Raum.“2 Als indes Sobols geniales Hirn von einem Tumor befallen wird, beschließt er, es nicht bei der Programmierung eines Spiels im Netzwerk zu belassen, sondern über diese mediale und künstliche Wirklichkeit direkt in die Sozialen Netzwerke einzugreifen, um sich der „Großen Diffusion“ (Sobol) der globalisierten kapitalistischen Gesellschaft entgegenzusetzen und eine anarchische Ordnung des Chaos aufzubauen. Er implementiert innerhalb der von ihm geschriebenen Programmzeilen von Over the Rhine und The Gate einen Disk and Execution Monitor, dessen Ausführung genau im Moment seines Todes startet und buchstäblich (s)einen DaEMon exekutiert und in Gang setzt. Innerhalb von kurzer Zeit sieht sich deshalb Detective Pete Sebeck zwei toten Programmierern und damit zwei irritierenden Tatorten gegenüber, deren spurensichernde Erkundung direkt in die Serverräume von CyberStorm Entertainment führt, wo er sein klassisches investigatives Polizeiwissen von Technologien, Datenverarbeitung, Stromnetzen und Prozessoren bestritten sieht: Die traditionelle Suche nach dem Mörder stößt immer wieder auf die materiale Härte technischer Übertragungspatterns, weshalb Detective Sebeck dann zu seiner gänzlichen Verwirrung eine Videonachricht erhält, in welcher der bereits verstorbene Sobol ihm die beiden Morde gesteht. Die amerikanischen Geheimdienste treten auf den Plan: „NSA: Sagen Sie uns einfach, was das unterm Strich bedeutet? DARPA: Also gut. […] Normalerweise würde man aus ebendiesem Grund keine leistungsstarken Ultrabreitbandsender herstellen, aber Sobol hat einen dort im Haus – und ich glaube 2 Vgl. Daemon, 397.


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nicht, dass er sich um FCC-Regeln kümmert. Diese Signale legen unsere Funkkommunikation lahm, und sie zu blockieren dürfte höllisch schwer sein. CIA: Das ist frei verkäufliche Technik? Wozu ist so was gut?“3 Es wird nicht lange dauern und Sebeck muss also ob seines Nicht-Wissens um WiFi Protected Access (WPA) oder WEP-Verschlüsselung den Fall an höhere Instanzen abgeben: Nachdem der Daemon sich mehr und mehr ausbreitet, schalten sich NSA, CIA, DARPA so wie FBI ein und entziehen Sebeck den Fall, um in regelmäßigen Geheimsitzungen zu realisieren, dass sie sich in einem bis dato nicht gekannten Cyberwar befinden, der neben unvorhersehbaren kryptoanalytischen DDOS-Angriffen auch tief in die digitale Steuerungs- und Beschleunigungsstruktur der Finanzmärkte eingreift, um Stück für Stück die mächtigsten Unternehmen und Kapitalfraktionen zu cracken und zu übernehmen: America is under attack! Denn damit nicht genug, hat der Daemon innerhalb von kürzester Zeit in Over the Rhine und The Gate eine Gruppe von herausragenden und brillanten Spielern rekrutiert und sendet sie als High-Tech-Agenten aus dem Spiel hinaus in die Wirklichkeit der Welt, um seine mediale kybernetische Logik auch in den sozialen Raum hinein auszudehnen. Der Daemon setzt Kampfmaschinen frei, deren Geschwindigkeit und Brutalität alles Gekannte übertreffen und deren Cyborg-AkteurInnen sich dem Zugriff der Institutionen permanent entziehen. Das digitale Donnergrollen der Schlachten nimmt seinen Anfang … und die Morde setzen sich in der informationstheoretischen Kriegsdunkelheit und der mathematischen Unüberschaubarkeit von Darknet fort …

2. Reale Kampfstrategien Aber es läuft etwas sehr schief, wenn die häufigste Quelle großen Reichtums heute darauf beruht, dass man im Finanzsystem zockt, Mittelschichtjobs vernichtet und keinerlei materiellen Wert erschafft. Daniel Suarez Daniel Suarez ist Programmierer, Software-Entwickler und Systemberater,4 dessen Science Fiction ihrem Namen alle Ehre macht. Denn die (Kriegs-)Technologien, Server-Architekturen, medialen Instrumentierungen und Übertragungskanäle seiner äußerst wirklichen Fiktionen sind als sozioökonomische Modelle der aktuellen technosozialen Situation durchwegs realistisch konstruiert. Sie ermöglichen es, im Sinne einer medientheoretischen Poetik aus seinen Romanen ein Wissen zu extrahieren, das auf die Gegenwart unserer Wissens- und Informationsgesellschaft direkt angewendet werden kann, da sie aus eben dieser abgezogen wurden. Kaum eine Seite von Suarez, die nicht den Grenzbereich von sozialen und medialen Räumen auslotet und mithin sukzessive die Frage nach den Schnittstellen von Mensch und Maschine narratologisch in den Raum stellt, beantwortet und erneut hervortreibt. Dabei geht es immer wieder um Fragen der (paranoischen) Überwachung durch Sicherheitstechnologien:

3 Vgl. ebd., 159. 4 Vgl. die Biografie von Daniel Suarez auf Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Suarez (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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„Hollis ging rasch zur gegenüberliegenden Wand und klappte die Abdeckung eines digitalen Thermostaten herunter. Darunter befand sich eine Tastatur, in die er seinen alphanumerischen Sicherheitscode eingab – den exakten Betrag seines ersten Investments. […] Am anderen Ende des Raums erwachte eine Monitorwand zum Leben. Darauf konnte er alles, was auf dem Anwesen vor sich ging, über Dutzende von Überwachungskameras verfolgen. Außerdem waren da noch ein spezielles Notfalltelefon, eine Funkbasisstation und ein Hausapparat.“5 Im Sinne einer solchen Techno-Philosophie werden die LeserInnen im Medienraum des Romans dennoch oder gerade deshalb zum mündigen Denken getrieben: Wenn 75 % der Transaktionen auf den Finanzmärkten – und mithin die Entscheidung über Kauf und Verkauf (von Aktien) in den Tollhäusern unserer computergesteuerten Börsen –6 von maschinell implementierten Algorithmen und maschinengesteuerten Überwachungstechnologien ausgeführt werden, welche Macht über die (wirtschaftliche, soziale und mediale) Wirklichkeit haben die AkteurInnen dann noch, um der immer rasanter werdenden Maschinisierung der Ungleichheit entgegentreten zu können? Was ist der Moment einer ökonomischen oder sozialen Entscheidung, wenn die Handlungsspielräume der Menschen und auch ihre Arbeitskraft mehr und mehr von maschinellen Dispositiven der Datenverarbeitung be- und ersetzt werden? Behalten die Borgs aus Star Trek am Ende recht? Ist resistance tatsächlich futile? Können wir also noch in den Ablauf einer terminatorischen Maschinenverkettung eingreifen, welche die Höllenmaschine des Kapitalismus antreibt und das Dämonische mental und technologisch vor Augen führt? Lassen sich die(se) Identifizierungspraktiken (schizophren) durchbrechen? „Kritiker wenden allerdings ein, dass hochfrequenter Handel, bei dem ein und dieselbe Aktie viele Male pro Stunde gehandelt werden kann, lediglich die Volatilität erhöht, aber keinen Wert schafft.“7 Ein Umstand, der Daniel Suarez als US-Bürger genauso umtreibt wie als Romanprogrammierer, dessen Erzählungen die Taktungsrate unserer Prozessoren berührt, weil ihr Autor Programmiersprachen beherrscht und so die Kapitel- und Kapitalstrukturen durch digitale Alphabetisierung von C++ durchkreuzt werden. Doch Widerstand ist als Kampfstrategie weder vergeblich noch zum Scheitern verurteilt, gerade weil die klassischen Dispositive des Kalten Kriegs mit Nanotechnologien durchsetzt werden … und die Tötungen setzen sich unter der „Schwelle öffentlicher Wahrnehmung“8 im Drohnenkrieg und mit (Barrack Obamas) Kill Decision fort …

5 Vgl. Darknet, 14. 6 Die Wahnsinnsszenen an der New Yorker Börse des Jahres 1926 [sic! A. B.] dienten schon Bertolt Brecht als Quelle und Material zur Verfassung seiner „Hl. Johanna der Schlachthöfe“. Denn am 04.03.1926 berichtete das 8-Uhr-Abendblatt unter anderem: „[…] Vor Schluß glich die Börse buchstäblich einem Tollhause. […]“ Ein Umstand der nicht nur Eingang in ein episches Drama fand, sondern die Tragödie unseres manisch-depressiven Zeitalters der Deregulierung erklärt. Vgl. Knopf, Jan (Hg.) (1986): Brechts Heilige Johanna, Taschenbuch Materialien, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 179f. 7 Vgl. Darknet, 11. 8 Vgl. das Interview anlässlich Armin Krishans jüngster Publikation zu aktuellen Tötungsmaschinen, die eine neue Genfer Konvention nötig werden lassen: Thiel, Thomas (2013): Armin Krishnan: Gezielte Tötung. Als Nächstes könnten Regimekritiker ins Visier geraten, in: FAZ online: http://www.faz. net/aktuell/feuilleton/buecher/buecher-der-woche/sachbuecher-der-woche/armin-krishnan-gezielte-toetung-als-naechstes-koennten-regimekritiker-ins-visier-geraten-12039542.html (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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3. Antikapitalistischer Klassenkampf Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen. Warren E. Buffet In der dämonischen Fratze wirtschaftlicher Depression ist es Suarez dabei immer darum zu tun, deutlich darauf hinzuweisen, dass es nicht die manische Technologie an sich ist, die uns zum Untergang prädestiniert, sondern der Ausverkauf des Know-hows an gesellschaftliche Eliten, die einzig und allein der Profitmaximierung dienen. Würden Technologie und Wissen nicht permanent einer undemokratischen (Rüstungs-)Industrie9 dienen, um Menschen und Arbeitsplätze zu vernichten, dann wäre der informationstheoretische Stand der Dinge durchaus dazu angetan, die Welt demokratisch, friedlich und fair werden zu lassen. Insofern ist Daniel Suarez Wort für Wort unamerican, weil er in Marxscher Manier die Devastierungen, Leiden und gesellschaftlichen Desaster von Marktwirtschaft und Kapitalismus analysiert, markiert und denunziert. Denn durch den diktatorischen Einsatz von High Tech muss Bourdieus Elend der Welt gesetzmäßig entstehen, wenn der Input der privatisierten und deregulierten Technologie einzig und allein 1 % der (Welt-)Bevölkerung zugute kommt und die anderen 99 % zu in den Output-gesteuerten Arbeits(losigkeits)sklaven werden. Dagegen hilft nur Soziologie als (digitaler) Kampfsport.10 Ein Kalifornier probt mithin den Klassenkampf, weshalb auch dem linken und radikalen Dietmar Dath angesichts von Suarez’ letztem Roman Kill Decision in der FAZ aufgefallen ist, dass der Autor die Marx-Engels-Werke zu studieren scheint. Dath über die Hauptfigur bei Suarez (die darin Sobol aus Daemon mehr als ähnelt): „Die Heroisierung dieser partisanenhaften Asozialität des letzten Beschützers einer zerrissenen Weltsozietät hat nicht nur ihr politisch Hochbedenkliches. Sie spiegelt auch das Klassenbewusstsein (ein Wort, das im Buch selbst vorkommt, recht überraschend für einen amerikanischen Actionreißer) einer neuen Sorte von formal unabhängigen Vertragsrevolverhelden im Info-Business, zu denen nicht zuletzt der Verfasser des Romans selbst gehört, der als Berater mächtiger Firmen gearbeitet hat, bevor er seine schriftstellerische Ader entdeckte, und diesen alten Beruf sporadisch weiter ausübt.“11 9 Vgl. zu Fakten der (vornehmlich) deutschen Remilitarisierung und Rüstungsindustrie seit 9/11 Ditfurt, Jutta: Zeit des Zorns, Frankfurt/M.: Westend, 27–59. Vgl. dazu auch meine Rezension unter: http://www.medienimpulse.at/articles/view/510. 10 Vgl. Bourdieu, Pierre (2002): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft (Edition Discours), Konstanz: UVK und Carles, Pierre (Regie) (2009): Soziologie ist ein Kampfsport – Pierre Bourdieu im Portrait (OmU), Filmedition Suhrkamp, 3 DVD-Box, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Der Film wurde auch in 15 Teilen auf YouTube online gestellt. Der erste Teil findet sich (mit deutschen Untertiteln) unter: http://www.youtube.com/watch?v=5Joz5G94L7U (letzter Zugriff: 01.04.2014). 11 Vgl. Dietmar Dath: Thriller „Kill Decision“ von Daniel Suarez. Wie Technik die Welt zum Schlechteren wendet, in: FAZ online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/thriller-kill-decision-von-daniel-suarez-wie-technik-die-welt-zum-schlechteren-wendet-11826693.html (letzter Zugriff:


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Mag sein, dass diese sporadische Tätigkeit den literarischen Feinschliff von Suarez’ Erzählungen leicht vom Himmel der Weltliteratur trennt, die indes ihrerseits (außer bei Robert A. Wilson12 oder Thomas Pynchon13) die Auseinandersetzung mit Technologie scheut wie der Teufel das Weihwasser. Suarez’ große Leistung besteht darin, äußerstes informatisches und kriegstechnologisches Wissen mit der politischen Position eines Radikaldemokraten zu verbinden, was nicht zuletzt seinen Erfolg in der Gemeinschaft der Generation X im Internet erklärt. Und so antwortet der große Daniel im Blick auf die aktuelle Drohnentechnologie apodiktisch auf eine Frage, die ihm – dank Daths Maschinenwinter14– von Frank Rieger ebenfalls in der konservativen FAZ gestellt wurde: „FAZ: […] Was wird sich Ihres Erachtens in der Gesellschaft verändern, wenn es zu einem massiven Einsatz von Drohnen kommt? Daniel Suarez: Es käme zu einer Zersetzung der demokratischen Institutionen. Weshalb sollte das allgemeine und gleiche Wahlrecht fortbestehen, wenn die Mächtigen – im Staat, in der Privatwirtschaft, im kriminellen Bereich oder wo auch immer – ohne großen Kostenaufwand, zuverlässig und ohne eigenes Risiko Gewalt einsetzen könnten? Gibt es irgendeine Zeit in der menschlichen Geschichte, in der demokratische Formen fortbestanden, wenn die Bürger nicht glaubwürdig ihre Rechte verteidigen konnten? Macht wird nicht geteilt, wenn es nicht sein muss.“15 Der Suarez hat recht. Macht muss im Class Struggle demokratisch verteilt werden. Dem ist daher nichts hinzuzusetzen, sondern mit lauter Stimme zuzustimmen … und die Vernichtungen setzen sich fort ... To be (dis)continued … P.S.: Mehrere Interviews mit Daniel Suarez finden sich auf YouTube. Hier sei auf drei davon verwiesen: 1. Being Sci-Curious, Daniel Suarez, and Drones – Sword & Laser, online unter: http://www. youtube.com/watch?v=t52wBsKuik0 (letzter Zugriff: 01.04.2014). 2. Triangulation 64: Daniel Suarez, online unter: http://www.youtube.com/watch?v=fAsUnvXyoA8 (letzter Zugriff: 01.04.2014). 3. Daniel Suarez: Kill Decision, Authors at Google, http://www.youtube.com/watch?v=YKmp9thmeGY (letzter Zugriff: 01.04.2014). Mit Dank an Wolfgang Neurath, der mir u. a. die Romane von Daniel Suarez und einige der verwendeten Links übertragen hat. Auch danke ich Thomas Ballhausen für wertvolle Hinweise und Kritiken. Texte wie dieser bleiben eben immer Kollektivprodukte. Der Autor ist dahingehend nur ein durchkreuzter Punkt im (für Suarez) schwärmenden Netz(werk). Tot ist er deshalb aber (noch) nicht. 01.04.2014). 12 Vgl. u a. Wilson, Robert A. (1988): Die Illumunati Papiere, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 13 Vgl. Pynchon, Thomas (1994): Die Enden der Parabel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Vgl. dazu auch Weisenburger, Steven (1988): A Gravity’s Rainbow Companion. Sources and Contexts for Pynchon’s Novel, University of Georgia Press, Athens. 14 Vgl. Dath, Dietmar (2008): Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Edition Unseld, Frankfurt/M.: Suhrkamp. 15 Vgl. Daniel Suarez im Gespräch. Schwärme von Tötungsmaschinen, in: FAZ online: http://www. faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/digitales-denken/daniel-suarez-im-gespraech-schwaerme-von-toetungsmaschinen-11897282.html (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Literatur Biografie von Daniel Suarez auf Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Suarez (letzter Zugriff: 01.04.2014). Bourdieu, Pierre (2002): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft (Edition Discours), Konstanz: UVK. Brecht, Bertolt (1931/1992): Die Hl. Johanna der Schlachthöfe, in: Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, 269–316. Carles, Pierre (2009): Soziologie ist ein Kampfsport – Pierre Bourdieu im Portrait (OmU), Filmedition Suhrkamp, 3 DVD-Box, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Dath, Dietmar (2008): Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Edition Unseld, Franfurt/M.: Suhrkamp. Dath, Dietmar (2012): Thriller „Kill Decision“ von Daniel Suarez. Wie Technik die Welt zum Schlechteren wendet, in: FAZ online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/thriller-kill-decision-von-daniel-suarez-wie-technik-die-welt-zum-schlechteren-wendet-11826693.html (letzter Zugriff: 01.04.2014). Ditfurth, Jutta (2012): Zeit des Zorns. Warum wir uns vom Kapitalismus befreien müssen, Frankfurt/M.: Westend. Krishnan, Armin (2012): Gezielte Tötung, München: Matthes & Seitz. Rieger, Frank (2012): Daniel Suarez im Gespräch. Schwärme von Tötungsmaschinen, in: FAZ online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/digitales-denken/daniel-suarez-im-gespraech-schwaerme-von-toetungsmaschinen-11897282.html (letzter Zugriff: 01.04.2014). Suarez, Daniel (2010): Daemon: die Welt ist nur ein Spiel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Suarez, Daniel (2011): Darknet, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Suarez, Daniel (2013): Kill Decision, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Thiel, Thomas (2013): Armin Krishnan: Gezielte Tötung Als Nächstes könnten Regimekritiker ins Visier geraten, in: FAZ online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/buecher-der-woche/sachbuecher-der-woche/armin-krishnan-gezielte-toetung-als-naechstes-koennten-regimekritiker-ins-visier-geraten-12039542.html (letzter Zugriff: 01.04.2014). Weisenburger, Steven (1988): A Gravity’s Rainbow Companion. Sources and Contexts for Pynchon’s Novel, University of Georgia Press, Athens. Wilson, Robert A. (1988): Die Illumunati Papiere, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.


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Christian Schreger

Die PROJEKTE der M2 Ein Erfahrungsbericht über 10 Jahre Medienproduktion mit Volksschulkindern Beitrag online im Ressort Praxis unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/471

Abstract In der M2 an der VS Ortnergasse sind in den letzten 15 Jahren eine ganze Reihe erfolgreicher Projekte durchgeführt worden, die viele Auszeichnungen bis hin zum Multimedia Staatspreis-Förderpreis 2007 erhalten haben. Christian Schreger fasst die Aktivitäten der M2 in seinem Bericht zusammen. The projects of M2. An experience report on 10 years of media production with primary school children. In the M2 at the Ortnergasse primary school, a series of successful projects were implemented over the last 15 years, receiving many prizes, including the Multimedia Staats­preisFörderpreis in 2007. Christian Schreger summarizes the activities of the M2 in his report.

1. Rückblick – wie alles begann … Im Frühjahr 1994 teilte mir der zuständige Bezirksschulinspektor mit, dass er über meine „pädagogische Rührigkeit“ informiert sei und ein Versetzungsgesuch in einen anderen Bezirk binnen Wochenfrist erwarte: Meine Arbeit in der Freinet Gruppe Wien, die mehrsprachige Klassenzeitung „Plapperkiste“, die „Kinderlieder“ (die am ORFF-Institut in Salzburg präsentiert wurden) und die „Radio Plapperkiste“ wären zwar lobenswert, aber einfach nicht „passend“ für die Schule und auch nicht für den 14. Bezirk. Was viele als Strafversetzung empfunden hätten, empfand ich eher als Qualitätssiegel meiner bisherigen Arbeit, die im wahrsten Sinn des Wortes in den Kinderschuhen steckte. Tatsächlich hatte ich unglaublich spannende vier Jahre hinter mir, die mein Leben und meine Arbeit völlig veränderten. Mein erster Schultag war niederschmetternd gewesen: Mehr als 80 % der Kinder hatten eine nichtdeutsche Muttersprache, knapp die Hälfte sprach kein Wort Deutsch. Nichts aus meiner Ausbildungszeit war auch nur ansatzweise anwendbar auf diese Situation. „Mach’ halt irgendwas, da kann man eh nichts machen!“, lautete der mitleidige Rat aus dem Kollegium. Ja, und der war gut: Wenn wir nicht miteinander sprechen können, dann können wir zumindest miteinander singen. Also sangen wir und dazu benötigten wir Texte und diese Texte verpackten Sprache in Musik. Auch Malen, Zeichnen, Basteln, Tanzen und Theater waren Medien, die Inhalte gelten ließen, weil sie in nonverbale Sprache konvertiert wurden – dabei aber ständig zum Deutschlernen animierten und so den eher einfallslosen Schulbüchern eine Alternative boten. Und vor


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allem gab es durch die kulturelle Vielfalt jede Menge Input seitens der Kinder, was ich unglaublich spannend fand. Das wiederum bemerkten die Kinder sehr rasch. Die Folge war gegenseitiger Respekt, der geradezu in Kommunikation explodierte. Wir begannen eine dreisprachige Kinderzeitung zu produzieren, die fast zwei Jahre lang monatlich erschien und schließlich sogar an interessierte Klassen in viele Bundesländer verschickt wurde: die „Plapperkiste“. Nicht das Nachbeten der Sätze aus dem Deutschbuch war wichtig, sondern das kreative Gestalten der Inhalte, anhand derer sich die Sprachkenntnisse exzellent entwickeln konnten. Wir begannen Lieder zu schreiben: Manchmal spielte ich den Kindern eine Melodie vor, die mir eingefallen war, manchmal kamen sie mit einem Text daher und der Aufgabe für mich, dazu eine Melodie zu erfinden. So entstand „Radio Plapperkiste“: Lieder und Geschichten aus unserer Zeitung wurden aufgenommen und auf Audiokassette per Post an andere Klassen verschickt, dazu kam die Bitte, die zweite Seite der Kassette mit eigenen Geschichten und Liedern zu füllen und wieder an uns zu schicken. Die Kinder lernten dabei Deutsch und ich, dass sehr viel mehr möglich ist, wenn man sich auf das einlässt, was in jeder Klasse vorhanden ist – nämlich auf die Kinder selbst. Die Wahrnehmung, dass ich mit den Kindern etwas anfangen konnte und sie nicht einfach als Störfaktor meiner Lehrerherrlichkeit erlebte, irritierte viele KollegInnen. Auch die Tatsache, dass ich kaum Schulbücher verwendete, erschien geradezu als Blasphemie, mir jedoch als Notwendigkeit: Nichts, aber auch gar nichts in diesen Büchern hatte mit den Kindern zu tun, beschäftigte sich mit ihrem Leben oder nahm sie auch nur ansatzweise als Menschen wahr. Also verfasste ich ein Versetzungsgesuch: Einer der über 100 Abonnenten der „Plapperkiste“, die per Post jeden Monat an Schulen in ganz Österreich versandt wurde, war Werner Mayer, der nach seiner Arbeit am Pädagogischen Institut der Stadt Wien gerade die Direktion der VS Ortnergasse übernahm. Gleichzeitig wechselte eine an der Schule beschäftigte Lehrerin nach Niederösterreich. In meinem Ansuchen stellte ich klar, dass ich an Arbeit mit nichtdeutschsprachigen Kindern interessiert und in der Freinet-Bewegung aktiv sei und nicht nach den üblichen Regeln der Schulbücher unterrichten, sondern die Kinder in den Mittelpunkt stellen würde. Zu meinem Erstaunen bekam ich anstandslos und sofort meine gewünschte Versetzung an die VS Ortnergasse. Heute weiß ich, dass dies in keiner Weise eine positive Reaktion auf meine Mitteilung, sondern einfach ein Durchwinken ohne Reibungsverlust für die Vorgesetzten war. Da war ich also an der Ortnergasse – mit der naiven Vorstellung, dass das, was ich mir pädagogisch vorstellte, höheren Ortes akzeptiert werden würde.

2. Home@Ortnergasse Die Volksschule Ortnergasse liegt im südlichsten Teil des 15. Bezirks, im Storchengrund nahe der Wien. 1898 errichtet ist sie eines jener typischen Wiener Schulgebäude mit amtsgelber Fassade, dessen architektonische Wiederholung in ganz Wien das monarchistische Ideal einer staatlich verordneten Bildung repräsentiert, die allen wie eine Uniform zu passen hat. Die Generalsanierung des Gebäudes (2000–2002) bei laufendem Unterrichtsbetrieb ermöglichte die Unterbringung einer Nachmittagsbetreuung im ausgebauten Dachboden, die VS mutierte damit zur „Offenen Volksschule (OVS)“ und konnte somit eine ganztägige Kinderbetreuung anbieten.


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Das machte sie trotz ihres Standorts auch für Eltern österreichischer Kinder attraktiv, entsprach den Bedürfnissen der lokalen Population und bewahrte die Schule vermutlich vor der Schließung: Dafür muss man Werner Mayer danken, der 1994 Direktor der Schule wurde. Der 15. Bezirk galt und gilt als „Ausländerbezirk“, 1994 betrug der Anteil nichtdeutschsprachiger Kinder an der Schule 86 %. Wer hier arbeitete, hatte entweder Vorstellungen zur Arbeit mit mehrsprachigen Kindern, Interesse an der Entdeckung pädagogischen Neulands – oder Pech, ausgerechnet an der Ortnergasse gelandet zu sein. Es ist ein Kuriosum, dass sich aus diesem Irrtum unglaublich viel entwickelt hat, besonders die Zusammenarbeit mit Werner Mayer wurde zum Glücksfall. Viele Fortbildungsveranstaltungen zur Freinet-Pädagogik boten nun den TeilnehmerInnen statt eines nüchternen Seminarraums die lebensnahe Klassenumgebung einer „echten“ Schule. 1996 fand ein dreitägiges internationales Freinet-Symposion zur Freinet-Pädagogik im damaligen Pädagogischen Institut der Stadt Wien statt, ein großer Teil der Arbeit wie etwa die Gestaltung der Ausstellung wurde in vielen Nächten im Turnsaal und im Klassenraum der M2 an der VS Ortnergasse durchgeführt. Der heute sehr erfolgreiche Schulversuch „Wiener Mehrstufenklassen“ entstand in vielen Diskussionen bei den regelmäßig stattfindenden Freinet-Treffen in der M2. Bevor das Wiener Schulnetz existierte, gab es in der M2 bereits Computer. Zuerst als Ersatz für Schreibmaschinen, dann als Multimediageräte für die ersten CD-ROMs. Das führte zu grotesken Situationen: Verwaltungsbeamte, die die sofortige Entfernung der Geräte wegen des erhöhten Strombedarfs forderten, gaben sich mit jenen die Klinke in die Hand, die Bildungsdelegationen aus verschiedenen Ländern die Fortschrittlichkeit des österreichischen Schulsystems anhand des Computereinsatzes zeigen wollten. Der Anschluss ans Internet erfolgte lange via privat bezahlter Modemleitung und als 2000 schließlich die Computer für das Wiener Schulnetz geliefert werden sollten, musste selbst die Spedition einsehen, dass man sie nicht einfach in den Bauschutt der gerade stattfindenden Generalsanierung stellen konnte. Nach Abschluss der Sanierungsarbeiten 2002 hatten die Schulhomepage und einige an der Schule entwickelten Online-Projekte bereits zahlreiche Preise und Auszeichnungen gewonnen – nur leider war das an der Schule selbst unsichtbar geblieben. Die endlich in den Klassen stehenden Computer liefen mit Windows 95, waren technisch hoffnungslos veraltet und konnten mit aktuellen Medien wenig anfangen. Verstärkt wurde dies durch die beachtliche Zahl der KollegInnen, die mit den Geräten nichts anfangen konnten und wollten. Trotzdem – oder vielleicht gerade wegen all der Widrigkeiten – ist an der Ortnergasse unglaublich viel entstanden. Wo nichts ist, muss man selbst etwas schaffen, wenn man nicht in die Leere blicken will. Werner Mayer hatte seinen Blick, ich hatte meinen und viele KollegInnen entdeckten, dass sie einen eigenen haben durften, und haben daran ihre Arbeit orientiert. Die VS Ortnergasse entwickelte sich zunehmend zu einer „Werkstatt für intelligente didaktische Lösungen“. Druck- und Schreibschrifthefte entstanden, eine Computerdruckschrift (die Ortnergasse. ttf ) wurde entwickelt, Werner baute Rechenmaschinen und programmierte die „1x1-Kiste“, die auch heute noch gerne von den Kindern verwendet wird. Die „Wöchentliche Ortnergasse“ erschien von Jänner bis März 2000 sowohl als Printausgabe als auch online und bot allen Personen, die mit der Schule zu tun hatten, die Gelegenheit, dabei mitzumachen. Sie war ein wichtiger Impuls für das „Digitale Tagebuch“ der M2, das seit Mai 2000 quasi als Weiterentwicklung an jedem Schultag erscheint. In den Folgejahren entstanden zahlreiche Projekte und vor allem ein Klima der Kooperation, an dem sich nahezu alle KollegInnen beteiligten.


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3. Schule ohne Leiter Als Werner Mayer im Winter 2005/06 aus gesundheitlichen Gründen die Schulleitung abgeben musste, folgte ihm Eva Karl im Mai als Direktorin nach und unterstützte die Vielfalt, die inzwischen an der Schule entstanden war. 2007 gewann das M2-Sprachprojekt „WeltABC“ einen Staatspreis, die „Kleinen Bücher“ lockten Sir Neil Kinnock vom British Council in die M2 und die Sprachwissenschaftlerin Brigitta Busch präsentierte sie in den vergangenen Jahren rund um die Welt: in Schweden, Lappland, Südafrika und im Herbst 2011 auch in Neuseeland. Wer nun denkt, dass man mit Preisgeldern reich wird, irrt: Sie ermöglichten ausschließlich die Finanzierung der Projekte. Eva Karl erkrankte völlig unerwartet im Sommer 2011 und wurde mit Februar 2012 pensioniert. Seit September 2011 hat die Ortnergasse daher nur eine provisorische Leitung, und da sich selbst nach vier Ausschreibungen niemand für die Schule interessiert, wird das wohl noch länger so bleiben. Schade. Unbegreiflich. Schmerzlich. Die M2 hat bislang überlebt – eigentlich ein Wunder, wenn man an die bildungspolitischen Untiefen der letzten Dekade denkt. Die vielen ehemaligen Kinder und Eltern, die auch nach Jahren immer wieder zu Besuch kommen, belegen, dass in dieser Klasse etwas gut gegangen ist. Das Interesse, die eigenen Kinder in die M2 zu geben, übersteigt die Kapazität bei Weitem, derzeit kommen Anfragen für das Schuljahr 2015/16. Es ist zu befürchten, dass derartige nicht standardisierbare Tatsachen im heutigen Bildungssystem keinen Wert mehr haben und daher über kurz oder lang weggespart werden. Ganz anders sehen das diejenigen, für die all das geschieht. Was die Arbeit in der Klasse für die Kinder so anregend macht und dem Begriff „Schule“ in ihren Ohren einen positiven Klang gibt, hat sicherlich mit den vielen Projekten zu tun, die über die Jahre entstanden sind. In diesem und weiteren Artikeln möchte ich einen Einblick in verschiedene große und kleine Projekte bieten, allem voran aber eine Lanze für den Projektunterricht brechen.

4. Projektarbeit … … ist sehr viel mehr als die temporäre Beschäftigung mit einem festgelegten Thema. Sie setzt ein genaues Hinsehen auf die Interessen und Fähigkeiten der Kinder voraus. Projektarbeit findet auch nicht anstelle des regulären Unterrichts statt, sondern integriert diesen ins Projekt und macht ihn anschaulicher und produktiver. Übliche Unterrichtsabläufe bleiben erhalten, das Projektthema stellt eine ständige Motivationsquelle dar, aber auch eine Möglichkeit, „Nein“ zu sagen, wenn Thema oder Art der Durchführung nicht zu den eigenen Interessen oder Fähigkeiten passen: Nicht jedes Kind möchte ein „Kleines Buch“ schreiben oder ist in der Lage, ein „Tier der Woche“ vorzustellen, manche fühlen sich unbehaglich bei dem Gedanken, für eine „Tagebuchgeschichte“ in ein Mikrofon sprechen zu müssen. All das darf sein – und trotzdem wird niemand ausgeschlossen, der einfach nur zusieht bei dem, was andere bereits für sich entdeckt haben. Schließlich besteht eine Klasse aus vielen Individuen und nicht aus dem heute wieder geforderten einsprachigen „Schülermaterial“ mit standardisierter Lesekompetenz. Projekte entstehen aus den Fragen der Kinder und bestehen den Praxistest nur, wenn der Prozess des „entdeckenden Lernens“ nicht durch vorgefertigte Antworten im Keim erstickt wird.


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5. Klare Regeln Spiele sind erfolgreich, weil sie klare Regeln besitzen. Das gilt genauso für Projekte, denn sie stellen einen definierten Rahmen her, innerhalb dessen etwas geschehen kann. Die meisten Schulbücher versuchen das zu imitieren: jeden Montag ein neues Wochenthema, das sich der jeweilige Autor ausgedacht und gestaltet hat, damit es bis Freitag „erledigt“ ist – und die LehrerInnen von „Vorbereitungsarbeit“ entlastet. Entscheidend ist dabei die Zeit – fünf Unterrichtstage müssen reichen. So werden Kinder zu reinen KonsumentInnen erzogen, verlieren Raum für Eigeninitiative und den eigenen, bereichernden Blick auf die Themen: Den Bildungshorizont bestimmt ausschließlich die Fantasie des approbierten Schulbuchautors. Bei den Projekten der M2 handelt es sich um Tätigkeiten, die Zeit haben dürfen und ohne die Kinder unmöglich wären. Es ist auch kein Widerspruch, wenn mehrere Projekte gleichzeitig ablaufen: So bietet sich den Kindern immer wieder Gelegenheit zum Einstieg, anderen jene zur nachhaltigen Vertiefung in bereits Entdecktes.

6. Die Zeit … Manche Blitzideen haben sich ganz unerwartet in echte „Dauerbrenner“ verwandelt: Vielen Kindern der heutigen M2, die mit Begeisterung ihre Geschichten für das „Digitale Tagebuch“ ins Mikrofon sprechen, ist nicht bewusst, dass sie noch nicht einmal geboren waren, als die erste Tagebuchgeschichte erschien, und dass das Projekt eigentlich nur für zwei Monate geplant war. Wenn sie in den Geschichten der vergangenen Jahre schmökern, fragen sie manchmal, wer denn die „fremden Kinder“ da in ihrer Klasse seien. Sie erleben dabei zugleich Vergangenheit und die Macht, die ihr Mitgestalten besitzt – schöne Momente. Langzeitprojekte machen nur dann Sinn, wenn man sich – wie der Name schon sagt – lange Zeit dafür nimmt und bereit ist, sich auf Entwicklungen einzulassen. Dabei ist es notwendig, die Kontrolle an den laufenden Prozess abzugeben und in den Dialog mit den Kindern einzutreten, die ihn beflügeln. Dies erfordert eine vertrauensvolle, offene Haltung den Kindern und ihren Ideen gegenüber und eben nicht ein starres Ziel, das innerhalb eines beschränkten Zeitrahmens erreicht werden muss. Gerade dadurch ermöglichen Langzeitprojekte in vielen Fällen, weitaus fernere Ziele zu erreichen, und dokumentieren dabei auch noch den Prozess des Lernens, wenn man sie aufmerksam begleitet.

7. … vergeht Das „WeltABC“ war von Anfang an als Langzeitprojekt ausgelegt, heute wissen viele Eltern und Kinder der M2 nicht einmal, dass es in „ihrer“ Klasse entstanden ist – mit und durch Kinder, die sie kennen, weil diese auch noch nach Jahren immer wieder zu Besuch kommen. Der Jubel über das 700ste Wort war aber nicht kleiner als der, als endlich die magische Zahl „100 Wörter“ erreicht war: Auch die heutigen Kinder betrachten es noch als „ihr“ Projekt, das weitergepflegt wird. Viele Projekte sind miteinander verwoben oder stellen eine Weiterentwicklung bereits realisierter Projekte dar, eine neue Möglichkeit sich zu beteiligen, wenn man bisher noch keinen Zugang gefunden hat. Projektunterricht schließt nicht aus, sondern bietet an.


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So finden sich etwa in den „Kleinen Büchern“ Fotodokumentationen, die als Tagebuchgeschichte einfach zu lang gewesen wären. Sie haben nicht nur zum Projekt „Kinderkamera“ geführt: Zugleich haben sie eine neue Variante „Kleiner Bücher“ entstehen lassen, die ebenso spannend ist wie die ursprünglich angedachten Zeichnungen. Mancher Text kommt direkt aus dem Deutschschularbeitsheft und wurde mit nachträglichen Zeichnungen versehen zum „Kleinen Buch“.

8. Elternarbeit In den letzten Jahren ist ein zunehmendes Interesse seitens der M2-Eltern zu erkennen, sich an Projekten der M2 zu beteiligen. Bahnbrechend war dafür sicherlich das Projekt „Freitagskochen“: „Gesunde Ernährung“ steht zwar in jedem Schulbuch, aber essen kann man die bunt aufgezeichneten Äpfel und Birnen darin nicht. Warum also nicht selbst etwas kochen und vom Einkaufen bis zur fertigen Speise alles mitmachen und miterleben können? Anfangs einfach als Möglichkeit für die Kinder gedacht, einen Entstehungsprozess mitzugestalten, folgten bald Anfragen der Eltern, ob sie die Rezepte bekommen könnten. Schließlich tauchte der Gedanke auf, dass ja auch sie selbst zum Kochen kommen könnten – warum nicht? Die Idee, Gerichte aus allen möglichen Ländern einmal „echt“ gekocht zu bekommen, war verlockend. Sie stellte eine großartige Gelegenheit dar, sowohl den Eltern einen Einblick in die Klasse zu bieten, als auch einen Einblick in ihre (Koch-)Kultur zu erhalten und sie dabei persönlicher kennenzulernen. Während sich Elternkontakt im Schulwesen meist als hierarchisches Herunterblicken auf unerwünschte Kundschaft manifestiert, wurde eine herzliche Begegnung auf Augenhöhe im klaren Rahmen des M2-Kochprojekts zum Berührungspunkt, der Tür und Tor öffnete – die Eltern erlebten sich eingebunden und angesprochen, auch wenn sie selbst schlechte Erfahrungen mit der Institution Schule gemacht hatten. Es ist ein schöner Erfolg, wenn sie immer wieder ihre Kompetenzen anbieten, um die Klassenarbeit zu bereichern – und dabei muss es keineswegs um Kochen gehen. Projektarbeit bewegt also wesentlich mehr, als vielleicht ursprünglich gedacht – wenn man ihr den Raum zur Entfaltung lässt. Wem dieser klare Mehrwert des Projektunterrichts als zu hoher Arbeitsaufwand erscheint, der blättere weiter Seiten in Schulbüchern um – die Strafe heißt (wohl ironisch) „Burn-out“, weil nie etwas gebrannt hat: eine sich bis zum Horizont erstreckende Steppe unerträglicher Langeweile, Lebensfremdheit und Dauerwiederholung zwischen approbierten Schulbuchdeckeln, die den Kindern als spannender Spielplatz eingeredet werden soll, während diese längst im nächsten Park auf die echten Bäume klettern.


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Norm Friesen

Media and Education: Mythologies Old and New Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/516

Abstract Norm Friesen untersucht in seinem Beitrag die unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Sprechen und Schreiben im rationalistischen und romantischen Paradigma der Spracherfassung und zeigt auf, welche Bedeutung diese Normsetzungen angesichts der Generation von Digital Natives haben. In his essay, Norm Friesen studies the different conceptualizations of speaking and writing in the rational and the romantic paradigm of language recognition and shows the importance of this norm setting in the face of a generation of digital natives. Yes, and numbers, too, chiefest of sciences, I invented for them, and the combining of letters, creative mother of the Muses’ arts, with which to hold all things in memory. Aeschylus, Prometheus Unbound (459)

1. Introduction The origin of writing, as it has been mythologized in cultures around the world, typically appears as an invention or intervention. Although the specific details differ, it generally takes the form of a kind of intrusion on the part of a god or mythical entity into a pre-existing human order. In the case of Prometheus, this intervention is harshly and famously punished by the gods: Prometheus is chained to a rock, with an eagle sent to feed on the eternally regenerated flesh of his liver. In Egypt, the god Theuth, scribe of the gods themselves, was said to have given writing to King Thamus, who was to disperse it to the people of Egypt. In China, the invention of writing is credited not to a deity but to a legendary four-eyed minister of the Yellow Emperor, Cangjie.1

1 “Cangjie” is now used to designate a computer input method for entering Chinese characters (i.e. those allegedly invited by Cangjie) using a standard keyboard.


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Abb.1: Cangjie, mythical inventor of Chinese logograph Source: Wikimedia Commons

His logographs (characters representing words or word-parts, rather than sounds) were seen as allowing communication between heaven and earth – although Cangjie allegedly also taught his system to the administrators of the empire (Yang, An & Turner 2008: 84–86). In the Old Testament, writing is first mentioned well after the naming of the animals and the proliferation of diverse tongues in the story of the Tower of Babel. Its first prominent appearance is in the story of Moses ascending Mount Sinai to receive God’s law. There, the Ten Commandments are said to have been “inscribed” on tablets of stone “by the finger of God” himself. As Muslims know, the first word revealed to the prophet Muhammad was “Iqra,” Arabic for “read,” a command which was later to be embodied institutionally in the first Islamic schools or Madrasahs (Totah 1926: 12). Whether Muslim, Christian or Jewish, Abrahamic monotheists see the written “word of God” as the primary instance of writing, and consequently as holy and inviolable: It is God’s revelation of His Truth to mortals. Its words are inscribed and chanted inside mosques; they are studied and recited in churches; and they are retrieved from the arc and read as a form of prayer in synagogues. Mythological accounts of spoken language, however, are strikingly different from descriptions of the origins of writing. Language or speech appears not as a divine intervention into human affairs. Instead, it is integrated in or appended to the original process of creation itself. In Norse mythology, the faculty of speech is a gift from the third son of Borr, who also gives hearing and sight to humans at the time of their creation. In the Bible, spoken language is part of the pre-lapsarian, edenic condition. Adam and God converse with a directness that is subsequently lost in communication between the human and divine in dominant monotheistic accounts. The presumed perfection and the possible return of this original, Adamic language has long been a matter of hope and speculation in monotheistic theologies and philosophies. Greek mythology on the other hand speaks of a language held in common by gods and mortals, and like the Bible, it also tells of the confusion and chaos as diversity is introduced into it. In this case, however, the multiplicity of tongues is not the work of the Old Testament god Yahweh, but of Hermes, the god of transitions and boundaries whose name is referenced in the modern day study of interpretation, hermeneutics. Writing and speech, the most basic communication media, have thus long been understood as distinct in nature and origin: Speech is a part of the condition of humanity, a precondition for human existence itself, and – in its original state – a means of direct communication with God or the gods. Writing, on the other hand, appears only afterwards, as an “invention” or a


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gift, as a remedial form of communication handed by God(s) to humans, just as Yahweh hands the tablets of the Law down to his servant Moses. Writing becomes an important, ritualized and even sacred means of communication only after spoken language has been rendered problematic. Learning to read, or to access this sacred communication becomes a priority in religious terms, either for a priestly class, or for believers generally. Unlike learning to speak, it seems that one has to be told or commanded to read or to write: For alphabetical scripts like the Arabic, Hebraic or the Phonetic, or for an advanced logographic writing, like Chinese, textual competency entails first a process of teaching and learning of letters or units of inscription which are in themselves meaningless and arbitrary. Moreover, it is with this religious imperative to “read” – particularly when interpreted as being issued beyond an elite priestly class – that schooling as a formal institution begins. An early and prominent example is the founding of schools during the Islamic golden age and in the wake of Allah’s imperative to Mohammed (Totah 1926: 152), and a later instance is the spread of schools in Europe following the reformation (Hamilton 1989). Speech and text, the most basic of media, are thus qualitatively different not only in their putative origins and cultural connotations, but also in their educational significance. Spoken language is given; writing on the other hand is hard-won and must be re-won by successive generations. Speech is autochthonous, indigenous or inherent to the human condition. However, speech also brings with it the characteristics of this condition, including its heterogeneity, ambiguity and other imperfections – characteristics constantly calling for interpretive or hermeneutic vigilance. Writing, reading and textuality, on the other hand, appear as an artificial or effortful intervention into this communicative state of affairs. This task of repeating this effort over generations, moreover, is a matter of obligation and cultivation – a matter, in other words, for education. In other words, they have long been conceived as “non-neutral,” as far as education and other aspects are concerned. This range of connotations and valuations remains an important, implicit influence indispensable in the way that the normative value of writing and speech has been understood in education and psychology. Indeed, this paper argues that the echoes of these religious and understandings can be detected in a great deal of theory and debate today concerning educational media and technology. This paper highlights both consistencies and inconsistencies in these ways of understanding the educational value and meaning of speech and writing, identifying two trends or traditions in particular: A “rationalist” tradition which sees writing as an authoritative codification, and which emphasizes (as does writing itself ) questions of structure, rules and grammar; on the other hand, there is a broadly “romantic” tradition which sees spoken words as both original and ultimate, and which valorizes nature and expression. The relationship of speech and writing as configured in the latter, romantic tradition has been the topic of ingenious analyses by philosophers Jacques Derrida and Friedrich Kittler – and their illuminating positions are briefly summarized (and also briefly critiqued) in this paper. The assumptions inherent in both the romantic and rationalist positions subsequently and repeatedly appear in the discourse of those advocating the use of various technologies and media in education, and 2 As Totah (1926) states: “When Charlemagne was learning to read his letters with the sons of his nobles in the palace school, al-Ma’mūn was studying and discussing philosophy in Baghdad and at a time when most European children had no schools to attend, their Arab contemporaries were enjoying the full benefits of education” (15).


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those wishing to set specific priorities for school, teaching and learning. By discussing the historical and cultural construction of these positions, this paper hopes to show that valuations and assumptions regarding these basic forms are ultimately contradictory and irreconcilable.

2. The Rationalist Tradition: The “Absolute Privilege of Writing” Although rationalist and romantic views of writing and speech are prefigured in earlier times, this account begins with the 17th century. This is a time still energized by the invention of the printing press, and also reverberating with the aftershocks of the reformation and religious wars. The early 17th century in particular, as Michel Foucault explains, is part of an era marked by the “absolute privilege of writing.” It is a time, he explains, in which “it is the primal nature of language to be written. The sounds made by voices provide no more than a transitory and precarious translation of it. What God introduced into the world was written words; Adam, when he imposed their first names upon the animals, did no more than read those visible and silent marks; the Law was entrusted to the Tablets, not to men’s memories; and it is in a book that the true Word must be found again. … For it was very possible that before Babel, before the Flood, there had already existed a form of writing composed of the marks of nature itself, with the result that its characters would have had the power to act upon things directly, to attract them or repel them, to represent their properties, their virtues, and their secrets.” (1970: 37) The recovery of this magical, universal, original and above all written language was a central goal for many thinkers and educators in the early 17th century. At this time, the reach of the printed word was starting to stretch well beyond the “republic of letters” populated by those who could read and correspond in the lingua franca of Latin. Political and religious creeds and broadsheets in “vulgar” and still-unstandardized native tongues like German, French, English circulated widely. This happened at the same time as the enormously destructive Thirty Year’s war was fought on the continent and as England was embroiled in its own civil war. Bacon, Hobbes and others saw linguistic ambiguity and multiplicity as a key underlying problem: Words did not unambiguously designate the basic things in the world, nor did their grammar reflect the true nature of the interrelationships of these things. The invention or recovery of a universal language, often envisioned as a literal return to the language of Adam, reflecting God’s created order in its original state, was a central inspiration for example, for the central-European educator and polymath Johann Amos Comenius. Quoting Comenius’ own words, Stillman explains: “Faced with the ruin of his ‘country, her churches and her schools’ in a conflict ‘threatening the Christian world with disaster and desolation’… Comenius … recommended as the cure for civilization’s ills the creation of a universal language, ‘a language absolutely new, absolutely easy, absolutely rational, in brief a Pansophic language, the universal carrier of light.’” (1995: 29) For Comenius, the first step to a pansophic language – one reflecting knowledge of all things by all people – was to elevate God’s rationally-ordered creation above existing human languages. In his Didactica Magna, for example, Comenius states that „things are essential, words only accidental; things the body, words the garment; things … the kernel, words the shell and the husk” (1896: 267). The implications for educational media are clear: If only people could learn first through the visible world, and from there, acquire language, this language would reflect this visible order, and would be that much closer to the original, ordered language


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shared by God and Adam. Indeed, as one historian explains, Comenius envisioned that this „artificial language [was] to take the same shape as the basic Latin presented in [his own] textbooks” (Slaughter 1982: 114). The most famous of Comenius’ textbooks is the Orbis pictus (1658), and in the introduction to this text, Comenius insists that teaching itself must “be clear, and by that, firm and solid, if whatever is taught and learned, be not obscure, or confused, but apparent, distinct, and articulate, as the fingers on the hands. The ground of this business, is that sensual objects may be rightly presented to the senses, for fear they may not be received. I say, and say it again aloud, that this last is the foundation of all the rest: because we can neither act nor speak wisely, unless we first rightly understand all the things which are to be done, and whereof we are to speak.” (Comenius 1777: 2) The way that Comenius ordered words, concepts and the things of the world is by connecting schematic illustrations of such things (pictured on one page) to their common and Latin names and descriptions (often on the facing page).

Abb. 2: Things of “The World,” from Orbis Pictus, with labels in English and Latin Source: public domain/Google book

These were grouped together in 150 topics or themes, each containing many numbered items and their corresponding meanings. Together, these allowed Comenius to “rightly present” “sensual objects … to the senses,” with each numbered object linked to text showing the reader “whereof we are to speak.” As an early English translator of Orbis Pictus points out, the approach of this text seems best suited to a “child’s capacity of six or seven years of age (seeing we have now such commonly brought to our Grammar-schools to learn the Latin Tongue)” (Hoole 1777: 13). In terms of educational media, Comenius’ project is powerful but paradoxical – as is the case with many later efforts to mediate speech and writing in education. To recover universal transparency in language, Comenius resorts to the newest and most artificial of media of the time: numbered schematic engravings, and with their corresponding names printed next to them. A related but different affirmation of privilege or primacy of the visible and written word is evident in the work of a contemporary only six years younger than Comenius, René Descartes.


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Descartes’ specific understanding of the sign – embodied paradigmatically in logical and mathematical operators – is one, as Foucault says, that is central to the classical self-understanding world view or episteme of the 17th century. This leads away from Comenius’ hope to recover a pre-lapsarian language, and points towards a more explicitly rationalistic project. In writing “I think therefore I am,” for example, Descartes is not only confirming the power of signs to identify things clearly and distinctly in the world (including thought and self ), he is also underscoring the power of conjunctions of logical operators (e. g., “therefore”) to help establish the nature of their interrelationship. Foucault explains the epochal significance of such a view of written language: “there exists a single, necessary arrangement running through the whole of the Classical episteme: the association of a universal calculus and a search for the elementary within a system that is artificial and is, for that very reason, able to make nature visible from its primary elements right to the simultaneity of all their possible combinations. In the Classical age … the task of knowledge … is to fabricate a language, and to fabricate it well – so that, as an instrument of analysis and combination, it will really be the language of calculation.” (1970: 61) Such a fabricated language of calculation is indispensable in connecting the rationalist tradition of the 17th century to more recent developments. And such a connection is provided by the self-described “Cartesian” linguistics of Noam Chomsky – someone whose work has done much to re-establish the dominance of the rationalist approaches to educational media. But before this paper turns to Chomsky, it looks to the opposed, romantic position or tradition of media prescription and privileging in education.

3. The Romantic Tradition: “Accents, Cries, Complaints” Among the intervening developments of importance to media in education is the emergence of romanticism in the 18th Century – in part as a reaction against the rationalism of Descartes and others like him. Jean-Jacques Rousseau, famous both as an early romantic and an educationist, did much to establish the foundational elements. Rousseau starts his Essay on the Origin of Languages (written in the 1750’s) with the assertion that language “did not begin by reasoning but by feeling,” “… in order to move a young heart, to repulse an unjust aggressor, nature dictates accents, cries, complaints. The most ancient words are invented in this way, and this is why the first languages were tuneful and passionate before being … methodical and reasoned.” (1998, 294) Language is not exemplified in logical operators or the rational order of nature; it is instead an extension of an expression or cry of emotion. Language does not reduce to grammar, rules and logic – whether it reflects the order of creation or that of human calculation – but to expression and feeling. Through the introduction of writing, and even more forcefully through the printed word, language, Rousseau explains, is alienated from this original and natural condition. It is deprived of its original energy, passion and musicality, and becomes abstract. “The more voices become monotone, the more consonants multiply, and that as accents are eliminated and quantities are equalized, they are replaced by grammatical combinations and new articulations … Writing, which seems as if it should fix language, is precisely what alters it; it changes not its words but its genius; it substitutes precision for expressiveness. Feelings are conveyed when one speaks and ideas when one writes. In writing, one is forced to take all the


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words according to common acceptation … it is not possible for a language one writes to keep for long the liveliness of one that is only spoken … The means taken up to compensate for this quality [work to] diffuse, [and] elongate written language and, passing from books into discourse, enervate speech itself.” (1998: 300) Writing for Rousseau is hardly a gift from the gods, a divine means through which holy truths are transmitted to the world of mortals – and that we are then expected to “read.” Instead, it is an enervation of originally tuneful and passionate expressions of feeling, or of accents or cries of joy or sorrow. Grammar and rules of “common acceptation” – as well as a general “methodical and reasoned” quality – become dominant in language only when it falls under the influence of writing and abstract ideas, and when it loses its ties to feeling and expression with which it began. Rousseau, like Comenius, can be seen to have developed his views as an educationist in a manner quite consistent with his understandings of writing and language. In Emile, his famous novel of education, Rousseau recommends that the eponymous protagonist not be exposed to books, or otherwise be given “lessons” until well into his adolescence. Rousseau sees programmatic instruction and any concerted effort to teach reading and writing as harmful and unnecessary, and as something to be postponed for as long as possible: “When I thus get rid of children’s lessons, I get rid of the chief cause of their [children’s] sorrows, namely their books. Reading is the curse of childhood, yet it is almost the only occupation you can find for children. Emile, at twelve years old, will hardly know what a book is. But, you say, he must at least know how to read. I agree; he must know how to read when reading becomes useful to him. But until then it is only a way of boring him.” (1950: 80) Until reading and writing can no longer be avoided, the only mediatic exposure and practice that the child should undergo is with spoken language. Consistent with his remarks in the Essay on the Origin of Languages, Rousseau also specifies how Emile is to be instructed in speech and diction. This instruction is to be largely (but not completely) devoid of the characteristics that Rousseau sees as introduced into speech through writing. Rousseau recommends that instead the child be encouraged to speak with the musicality and expressivity of the unwritten dialects of the provinces. But at the same time, it is important to note that Rousseau supplements this with further recommendations: “Brought up in all the rustic simplicity of the country, your children will gain a more sonorous voice; they will not acquire the hesitating stammer of town children, neither will they acquire the expressions nor the tone of the villagers, or if they do they will easily lose them; their master being with them from their earliest years, and more and more in their society the older they grow, will be able to prevent or efface by speaking correctly himself the impression of the peasants’ talk. Emile will speak the purest French I know, but he will speak it more distinctly and with a better articulation than myself.” (1950: 32) Rousseau envisions a naturalness of verbal expression commensurate with the “rustic simplicity of the country,” but at the same time, he also sees Emile’s speech as avoiding the less desirable characteristics of this unspoiled dialect. Through the intervention of “a master” who is with Emile from his “earliest years,” the child’s speech will incorporate “neither … the expressions nor the tone of the villagers.” In other words, Rousseau imagines a natural sonority accompanied at the same time by a distinctness and articulation that is proper only to the “purest French.” This simultaneous affirmation of and distantiation from originary, natural speech or orality is mirrored in Rousseau’s explicit recommendations concerning writing. For despite


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having already stated that “Emile, at twelve years old, will hardly know what a book is” Rousseau admits the following elsewhere in his novel: “I am pretty sure Emile will learn to read and write before he is ten, just because I care very little whether he can do so before he is fifteen; but I would rather he never learnt to read at all, than that this art should be acquired at the price of all that makes reading useful.” (1950: 179) Just as Emile will embody the sonority of the country while possessing none of its coarseness, he will also learn to read and write without lessons, and indeed, while “hardly knowing what a book is.” Paradoxically, Emile will learn to read precisely because of general indifference towards reading and writing: “because I care very little whether he can do so.” Rousseau’s fundamental ambivalence regarding the “naturalness” of speech and the artificiality of writing has been famously dissected in Derrida’s analysis the “supplement” in Of Grammatology. As Derrida explains, “The speech that Rousseau raise[s] above writing is speech as it should be or rather as it should have been … He valorizes and disqualifies writing at the same time. At the same time; that is to say, in one divided but coherent movement. We must try not to lose sight of its strange unity. Rousseau condemns writing as destruction of presence and as disease of speech. He rehabilitates it to the extent that it promises the reappropriation of that of which speech allowed itself to be dispossessed.” (1974: 141–142) Rousseau, in other words, valorizes original speech as an ideal form that is natural and complete in itself. But at the same time as he condemns writing as the “curse of childhood,” he relies on the distinctness and articulation of writing in describing ideal speech. “Writing” in this sense, as Derrida explains, “is the supplement par excellence:” It is “an inessential extra added to something [already, allegedly] complete in itself ” (1974, 281). Textuality, to generalize further, is acceptable in the romantic tradition only insofar as it is like speech, and can be assimilated to and support naturalized speech. There are various ways through which this can be accomplished. Rousseau sees it as taking place by avoiding as much as possible any direct exposure to writing and printed books, and by having any characteristics associated with these forms introduced only indirectly into spoken language, through a cultivated master. Johann Heinrich Pestalozzi, a Romantic educational theorist who shared Rousseau’s valorization of original orality, points to another method for the supplementation of speech by writing. This is to be found in Pestalozzi’s advice to mothers, particularly concerning how they might teach their children to read and write. Like Rousseau, Pestalozzi uses a fictional account to make his points, and he also begins by denouncing premature lessons in reading and writing. Describing “Gertrude and her [seven] children,” Pestalozzi explains: “Although Gertrude thus exerted herself to develop very early the manual dexterity of her children, she was in no haste for them to learn to read and write. But she took pains to teach them early how to speak; for, as she said, ‘of what use is it for a person to be able to read and write, if he cannot speak? – since reading and writing are only artificial sort of speech.’ To this end she used to make the children pronounce syllables after her in regular succession, taking them from an old A-B-C book she had. This exercise in correct and distinct articulation was, however, only a subordinate object in her whole scheme of education, which embraced a true comprehension of life itself.” (1889: 130) Since reading and writing are only an “artificial sort of speech,” Gertrude covertly prepares the children to reading and writing through her own version of this “artificial speech.” This consists, in Pestalozzi’s words, of “mak[ing] the children pronounce syllables after her in regular


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succession, taking them from an old A-B-C book.” Such a book is then used to structure “exercise[s] in correct and distinct articulation.” This pattern of using not only reading and writing, but also the medium print, to sustain an orality allegedly primary to and freed from the contamination of print, is common in Romantic pedagogies – or in those that are today considered “progressive.” It is to be found not in Rousseau and Pestalozzi, but as Friedrich Kittler points out, it is also endemic in instruction manuals for mothers that proliferated in the 18th century. In a chapter called “The Mother’s Mouth” in his book on Discourse Networks (Aufschreibesysteme, 1985), Kittler explains: “A simple and direct shortcircuit characterized [this] pedagogical discourse. Educational tracts and primers written explicitly for mothers obliterated their own textuality for the sake of their addressees. Books disappeared in a Mother’s Mouth whose original self-exploratory experience had been instituted by those very books … The phonetic method … substituted for the textuality of the book and alphabet a Voice [sic] that neither read aloud nor imitated, but instead spontaneously created the pure sounds of the high idiom or mother tongue … For the sake of the Mother, a book would forget being a book. Pestalozzi made this shortcircuit explicit in his joyful exclamation, ‘The book is not yet there, and already I see it disappearing again through its effects!’”3 (1992: 53) The romantic tradition, in other words, produces a contradiction concerning writing and speech that inverts the one produced by Comenius and the rationalist tradition: Comenius sees written language as primary, and advocates a return to an original, universal, and transparent writing. Speech for him and other “rationalists” is only a derivation of writing, and pedagogical and educational efforts are evaluated in this tradition in terms of their ability to connect with the primal written nature of communication or of thought itself.

Abb. 3: Exercises for pronunciation from Pestalozzi’s How Gertrude Teaches her Children Source: public domain

Educational theorists and practitioners labeled as “romantic” are diametrically opposed. They attempt to reduce text and symbols to the supposed “naturalness” of speech. “Reading and writing,” as Pestalozzi’s Gertrude says, “are only an artificial sort of speech.” But Rousseau and Pestalozzi, and by implication, others in this tradition, go a significant step further: They also advocate a return to speech in its natural and originary state through specific methods and techniques – procedures which at the same time rely explicitly on the intervention writing itself. For Pestalozzi, as Kittler point out, this is embodied in the function of the A-B-C book 3 Although Pestalozzi is writing here in his book on Gertrude and her children, he is referring to an unwritten book specifically titled “The Mother’s Book.”


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that Gertrude uses for “exercise[s] in correct and distinct articulation” with her children. For Rousseau, a similar effect is achieved in Emile’s education through the intervention of a cultivated master who will “prevent or efface … the impression of the peasants talk … by speaking correctly himself.” A similar “simple and direct shortcircuit” can be said to characterize pedagogical prescriptions of later figures with broadly “romantic” and “progressive” sympathies. John Dewey, the father of American progressive education, labels the belief that children should learn reading and writing in the early grades as “false educational god.” Referring in 1898 to recent rise of “magazines, libraries, art-galleries and all the daily play of intellectual intercourse,” Dewey remarks that the “methods of the discovery and communication of truth … [now] have become direct and independent, instead of remote and tied to the intervention of teacher or book” (1940: pp. 18, 19, 22). Although he asserts knowledge and the truth itself is to be found in magazines and libraries, Dewey – like Rousseau and Pestalozzi before him – keeps this “dangerous supplement” (Rousseau, as cited in Derrida 1974: 141) at arm’s length from any explicit educational efforts. Textual ability is then learned by children not through any adult efforts, but precisely in spite of these. It is to occur as Dewey describes, through “the teacher[s] … power to transmute symbols and contents into their working psychical equivalents” (1900: 105) or simply though the spontaneous event of „children teach[ing] themselves … to read:” “Reading is not to them an isolated exercise; it is a means of acquiring a much-desired object. Like climbing the pantry shelves, its difficulties and dangers are lost sight of in the absorbing desire to satisfy the mental appetite.” (Dewey & Dewey 1915: 22) The difference between Dewey and his romantic predecessors, perhaps strangely, is that Dewey does not suggest a “ruse” or “trick” such as the cultivated master or the A-B-C books of Rousseau or Pestalozzi. Instead, he seems to see a natural, textual fluency being ushered in through the ubiquitous circulation of knowledge itself, swirling around the pupil, and leading him or her to engage with it through spontaneous desire or via a sort of “transmutation.”

4. Chomsky’s Syntactic Structures and Media Neutrality To return briefly to the rationalists, the theory of universal grammar or syntax of Noam Chomsky is one which in many ways inaugurated cognitive revolution of the 1960’s and 1970’s. Cognitivism, in turn, is arguably still the dominant account of mind and communication in the Anglo-American world. Like Comenius’ dream of his own universal linguistic order and Descartes’ contributions to a purely rational language of calculation, Chomsky’s universal, generative or transformative syntax, has done much to popularize the rationalist privileging of writing, and conceptions of the primal nature of language as writing, in educational thinking. Like Comenius, Chomsky sees language, specifically rules of syntax and grammar, as embodying an order and logic that is universal. There are a few important differences, however, that separate Chomsky’s “Cartesian linguistics” from earlier dreams of a perfect and universal language: Chomsky’s universal language is not one that has been lost or that needs to be invented. Instead, it is believed to precede any and all language, of necessity undergirding all forms of linguistic expression, whether living or dead. At the same time, though, it is not directly accessible through any one existing tongue or dialect. It is locked away from direct access, and is manifest only very indirectly through syntactic commonalities shared between the actual human languages that it generates. As Chomsky explains in his


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Syntactic Structures, this language is not an expressive sonority, but possible combinations or sequences of discrete elements: “… I will consider a language to be a set (finite or infinite) of sentences, each finite in length and constructed out of a finite set of elements … or symbols … All natural languages in their spoken or written form are languages in this sense. … The fundamental aim in the linguistic analysis of a language … is to separate the grammatical sequences which are the sentences … [in this language] from the ungrammatical sequences which are not sentences … and to study the structure of the grammatical sequences.” (2002: pp. 13, 21) What is most important for Chomsky, in other words, is the structure of (both correct and incorrect) grammatical sequences that may be assembled from any language or finite set of elements or symbols. Chomsky’s concern here is principally on the complexity of the grammatical rules that govern these combinations or constructions. He sees these as determined by the universal “deep structures” common to all languages, structures that undergo logical “transformations” to form the specific rules of any given language. Chomsky uses this hypothesis to explain the kind of natural, early language learning, the pure and innocent orality so privileged by Rousseau and Pestalozzi. If the language that every infant learns with such apparent ease is governed by computationally complex rules and transformations, then the infant must be born with what Chomsky refers to as a “machine:” a computational language organ that is closely coupled with sensory inputs, and that has “data-handling or ‘hypothesis-formulating’ ability of unknown character and complexity.” (1957: 57) Chomsky’s theory of language offers a way of understanding a range of media, including writing, speech, and more recent media forms or technologies. A specific language or form of communication or even instruction can be seen as simply a function of an underlying set of rules and computations. It is just one of many potential systems of symbols that can be generated through transformations of underlying universal structures, and that can be efficiently processed through human cognitive machinery. As indicated above, Chomsky’s particular configuration of the questions of language, universality and rationality has laid the groundwork for a wide range of theories and studies of learning and of educational media. The question for each of these becomes one of constructing other media or “symbol systems” so that they engage with this encoding as efficiently as possible. The issue, in other words, is to use technologies and which is most artificial in order to connect with that which is most deeply human and natural. One example of this way of evaluating the potential of media systems is provided by a wellknown piece that initiated a decades-long debate about the neutrality of media for instruction. This is Richard E. Clarks’ “Reconsidering Research on Learning from Media” appearing in 1983. From a North-American perspective, this debate serves as a central reference point in discussions regarding the neutrality of media in education. Clark begins by affirming the basic premise that different media, such as television, computers or books, represent different “symbol systems” or “symbolic ‘elements’ of instruction,” and that these are in turn subject to specific “processing” and “transformations” by a human data processing machine or cognitive apparatus: “All instructional messages [are] coded in some symbolic representational system … and symbols vary in the cognitive transformation they allow us to perform on the information we select from our environment.” (Clark 1983: 74) Clark’s most significant point, however, is that a given medium and a specific symbol system


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are not exactly the same. He reminds his readers, for example, that it is possible to present the symbol system of “text” using the medium or hardware of a book or a computer screen. As a corollary, Clark also maintains that no medium can be seen as a necessary causal factor in learning. Media instead can only be very broadly correlated with changes in learning performance. Although symbol systems vary (and may even vary in their suitability for the human cognitive processing) no one medium has exclusive claim to any one symbol system, and thus to a possible direct and causal influence on learning – or in other words, to even a minimal, functionalist normative significance. Clark further points to 70 years of research, starting with the behaviourist use of pictures as instructional media in 1912. He notes that it has generally failed to support the medium of instruction as a statistically significant factor in learning performance. Clark ends his article by concluding: “It seems reasonable to recommend, therefore, that researchers refrain from producing additional studies exploring the relationship between media and learning unless novel theory is suggested” (1983: 90).

5. Romantic Rationalism: France, Mathland, Natives and Immigrants As indicated above, no new or truly “novel” theory that would radically reconfigure media and learning has emerged since Clark’s pronouncement. Instead, the conceptual vocabulary of cognitive theory has been only gradually adapted and augmented by constructivist and other influences. In the terms of this paper’s analyses, these adaptations and augmentations can be said to integrate aspects of both romantic and rational traditions in their prescriptions concerning media and education. A first and fundamental move in this synthesis is to affirm the cognitivist notion that the efficiency of oral language learning is something that can be readily transferred to other “symbol systems” and media forms. These include anything from film to radio and television to video games and touch-screen interfaces. Such technologies, like spoken languages, share the characteristic that familiarity with their use can be acquired at a young age, and without formal teaching or structured effort. At the same time, this “romantic rationalism” engages in a notable downplaying of the specifics of any transformational cognitive machine that might underlie the acquisition of a linguistic or technical skill. One of the earliest advocates of computer media or technology to develop arguments on this basis is Seymour Papert, who combined the constructivism of Jean Piaget with the computational cognitivism of the MIT (Massachusetts Institute of Technology) milieu that he shared with Chomsky in the 60’s and 70’s. Papert begins his account (taken from his 1980 book, Mindstorms: Children, Computers, and Powerful Ideas) identifying “the model of successful learning” as being “the way a child learns to talk, a process that takes place without deliberate and organized teaching.” Saying that “Piaget is at the center of the concerns of this book,” Papert goes on to label this type of learning – one occurring without teaching – as “Piagetian learning.” He then asserts that such natural and effortless learning is also in the foreground when children have the opportunity to program computers: “Programming a computer means nothing more or less than communicating to it in a language that it and the human user can both ‘understand.’ And learning languages is one of the things children do best. Every normal child learns to talk. Why then should a child not learn to ‘talk’ to a computer? … it is possible to design computers so that learning to communicate with them can be a natural process, more like learning French by living in France … than like


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trying to learn it through the unnatural process of American foreign-language instruction in classrooms.” (1980: 5–6) Papert here begins with a variation of a gesture that is common to many rationalists: the elimination of fundamental differences between speech and writing. Like Chomsky, Papert is asserting (albeit tacitly) that “all natural languages in their spoken or written form are … constructed out of a finite set of elements … or symbols.” But it is soon after this point that Papert and Chomsky part company. Papert not only goes further than Chomsky in considering artificial computer languages also as effectively the same as their “natural” spoken counterparts, but in ignoring the notion of any underlying, rational code. For Papert, all manifestations of writing and speech are the same in that they are at heart a manifestation the “natural” orality of early childhood, exemplifying “Piagetian learning.” Papert goes on to argue that computers present to children not only a language, but also a “living” linguistic environment or culture. In the case of the computer, this language is not so much about learning to say “Bonne nuit” or “je m’appelle John” but about learning to speak the language of a living environment of math and geometry: “The computer can be a mathematics-speaking and an alphabetic-speaking entity … When this communication occurs, children learn mathematics as a living language. Moreover, mathematical communication and alphabetic communication are thereby both transformed from the alien and therefore difficult things they are for most children into natural and therefore easy ones. The idea of ‘talking mathematics’ to a computer can be generalized to a view of learning mathematics in ‘Mathland’; that is to say, in a context which is to learning mathematics what living in France is to learning French.” (1980: 6) Of course, there are no names, times of day or even other people in the place called Mathland; in their place, there is a textual interface, allowing the student to compose lines of code, instructing the computer to can draw lines and shapes in this imaginary land. The computer “replies” in this “conversation” by displaying executed operations, or presenting error messages.

Abb.4: An example of commands and drawing from Papert’s Logo Programming Language, an early precursor to Mathland Source: Wikimedia Commons

Neither the differences between writing and speech – nor those separating the variety of everyday language from the terse commands of programming – have stopped others from repeating very similar extended analogies regarding early language learning and more advanced tasks in computer environments. In fact, intervening developments in computer hardware and software seen to have made such comparisons even more popular and tempting.


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For example, in his recent book Teaching Minds: How Cognitive Science Can Save Our Schools (2006a), Roger Schank links early language learning with “learning by doing” – and sees the latter as exemplified in learning to walk and talk. He invokes cognitive theory of rational, goal-directed action to make the argument that “Everything we do as human beings is goal-directed. We pursue goals as soon as we are born. We try hard to learn to walk, talk … If school related to the goals that children actually had … [it] would seem like a natural and helpful experience. Students wouldn’t stress about satisfying their teachers any more than they stressed about satisfying their parents when they were learning to walk and talk.”(8) Here and elsewhere, Schank envisions a kind of naturally-occurring “experiential” learning as being realized in the context of “online, learning-by-doing, experience based, learning environment[s, in which] teaching occurs on an as-needed basis” (2006b: 590). In other words: we learn complex things like walking and our first language(s) “naturally;” therefore, we should emulate this learning-by-doing, and we can do so most effectively through computers. Finally, a slightly different but enormously popular variation on discourses connecting early language learning with new media and technology has been provided by Marc Prensky and his notion of young “digital natives” and older “digital immigrants.” Like many before him, Prensky begins his argument with a broad comparison of linguistic fluency with fluency in the use of computers and similar technologies. Unlike Papert (or Schank), however, Prensky does not see early language learning as “the model of successful learning” for just any age or subject. Instead, Prensky’s position is that this type of learning is the exclusive possession of the young, and that the best that any older generation can do is learn – either figuratively or literally – with an immigrant’s accent. “Today’s students – K through college – represent the first generations to grow up with this new technology. They have spent their entire lives surrounded by and using computers, videogames, digital music players, video cams, cell phones, and all the other toys and tools of the digital age. What should we call these ‘new’ students of today? Some refer to them as the N-(for Net)-gen or D-(for digital)-gen. But the most useful designation I have found for them is Digital Natives. Our students today are all ‘native speakers’ of the digital language of computers, video games and the Internet.” (2001: 1) This argument, which has been repeated and reinterpreted in a wide range of presentations and publications (e. g., Stoerger 2009; Prensky 2010),4 valorizes natural spoken language learning and applies it also to technology. By way of contrast, it’s the awkward foreignness of adults, particularly teachers, who lack fluency in this language, and the educational priorities and institutions with which they are often associated: “… the single biggest problem facing education today is that our Digital Immigrant instructors, who speak an outdated language (that of the pre-digital age), are struggling to teach a population that speaks an entirely new language. This is obvious to the Digital Natives – school often feels pretty much as if we’ve brought in a population of heavily accented, unintelligible foreigners to lecture them. They often can’t understand what the Immigrants are saying. What does ‘dial’ a number mean, anyway?” (emphasis in original; 2001: 1) Prensky can be seen to be repeating the pattern of valorizing naturally-learned skills and abilities – those modeled in natural oral language learning – and as suppressing the textual as 4 Google Scholar indicates that Prensky’s original article has been cited well over 5,500 times.


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the “dangerous supplement.” He engages, in other words, in the “simple and direct shortcircuit” that Kittler attributes to Pestalozzi’s Gertrude. But unlike Gertrude, Prensky is not simply suppressing or shortcircuiting the text that is used to teach “correct and distinct articulation;” he is instead omitting the role of writing as described at the outset of this paper: as an inter-generational undertaking or obligation that is the raison d’être of school and education. The foreignness of the school and of educational processes to those raised with cell phones and video cams (and earlier, TVs) is not an incidental characteristic of education or schooling; it is instead arguably expressive of its very essence. In addition, the skills and abilities cultivated in this outdated and unintelligible place are not only the pre-requisite to the construction and maintenance of the world of computers and other toys and tools of the digital age, but are indispensable for the realization of their power and potential. As Umberto Eco has noted, digital technologies are highly textual in nature: “the computer returns us to Gutenberg’s galaxy; from now on, everyone has to read” (2011: 4) Prensky’s compelling metaphors of digital natives and immigrants appear much more problematic when the repressed supplement or factor of writing is brought into the picture. Reading, writing, programming or mathematics, for starters, are communicative activities that are not done with an accent. For many people (particularly outside of the English speaking world), being able to engage in complex textual activities like reading or writing in a foreign language does not depend on the linguistic or technical milieu into which one was born. Instead, what matters are the skills and abilities one acquires through emphatically “unnatural,” artificial effort and difficulty, often long after one has mastered one or more spoken languages with the ease and efficiency of Piagetian learning or learning-by-doing.

6. Conclusion: Dispelling Media Myths In both the rationalist and the romantic pedagogical traditions, orality and textuality are reduced one to the other. In the rationalist tradition, all language is considered ultimately to be a code: a finite set of elements … or symbols governed by rational structures and rules; in the romantic tradition, all communication ultimately reduces to oral expression, and its fundamental “accents, cries, complaints.” With Derrida’s notion of the “supplement” and Kittler’s observation of the “shortcircuit in pedagogical discourse,” both identify a significant issue that arises in the way that textuality and orality are configured in what I have called the “romantic” tradition. However, there is much evidence to suggest that both Derrida and Kittler display an affinity with what I have called the rationalist position, particularly insofar as they affirm that “it is the primal nature of language to be written” (Foucault 1974: 37). For Derrida, this affirmation occurs via the notion of arche-writing and its self-deconstructing différance that governs not only speech but also any other imaginable expressive forms, for example, cinema or choreography (e. g., Derrida 1976: 9). For Kittler, this affirmation is particularly clear in his late celebration of the expressive and recursive power of the written phonetic alphabet (particularly as it is instantiated in computing machines). As Kittler himself has proclaimed, “[w]hat is, is alphabetic. This, only this, metaphysics forgets” (Kittler, as cited in Heilmann, in press). The analyses presented in this paper can be seen as illustrations of the problems presented by such reductions, specifically as they apply to educational theory and practice. Writing and speech, at least insofar as educational theorizing is concerned, should be seen as heterogeneous and mutually irreducible. Writing is not artificial speech, nor is speech simply or ultimately re-


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ducible to symbols and encodings. In focusing on the one and suppressing the other, each tradition creates significant distortions – ones that perhaps become clearer by recalling some of the valorizations and significances in the mythical accounts with which this paper began. In these, writing is explicitly acquired and taught; it is an artifice that is learned with difficulty, as if in a response to a command or obligation. Speech, on the other hand, is something that is “naturally” or always-already a part of the human condition. This heterogeneity and mutual irreducibility is central to pedagogical or didactic method, which frequently involves the invocation or simulation of one medium through the other. Comenius wanted to bring people to a natural Adamic conversation with God through the artificiality of books and writing; Cartesian and other forms of cognitivism begin with codifications and associated computational “machinery” to then imagine how speech – and from there, other media – might interface with it. Rousseau, Pestalozzi and Dewey – and after them, Papert and other theorists and advocates – go in the other direction: starting with expressive orality, they see a kind of natural “learning by doing” as paving the path all the way from spontaneously learning to speak through to an equally spontaneous mastery of text. These biases and valuations can be said to represent a kind of “new mythology” of media education, a set of narratives and configurations that might benefit from being brought further into careful and conscious alignment with older myths and understandings.

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Sascha Trültzsch-Wijnen/Daniela Pscheida

Privatheit – Privatsphäre: Normative Konzepte im Wandel Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/494

Abstract Im Zusammenhang mit der Nutzung von Social Networks Sites wie Facebook ist von Exhibitionismus und einer Kultur der Freizügigkeit die Rede. Aber geben die NutzerInnen wirklich ihre Privatsphäre auf? Ist das öffentliche Ausbreiten privater Lebensbereiche wirklich originär neu? Welche medienhistorischen und sozialphilosophischen Traditionen finden sich? Dieser Artikel untersucht (historisch) normative Konzepte der Privatheit. Privateness – Privacy: changing normative concepts. In the context of the use of social network sites like facebook, there is talk of exhibitionism and a culture of permissiveness. But do users really abandon their privacy? Is the public display of private spheres of life really something new in an originary sense? Which media historical and social philosophical traditions can be identified? This essay studies (historical) normative concepts of privateness.

1. Einleitung1 Internet und Social Media gehören vor allem für Kinder und Jugendliche zum alltäglichen Mediengebrauch. Social Network Sites (SNS) wie beispielsweise Facebook sind hier besonders beliebte Angebote, die Kinder und Jugendliche zur Pflege ihres Freundschaftsnetzwerkes, zur Selbstpräsentation bzw. zum Identitätsmanagement und zum Knüpfen neuer Kontakte nutzen. (boyd 2008; Paus-Hasebrink et al. 2009; Taraszow et al. 2010; Neumann-Braun/Astheimer 2009; Meyen et al. 2009) Das Alter für die erste Anmeldung und damit auch für die Erstellung eines eigenen Profils liegt in Deutschland aktuell bei etwa 13 Jahren (Klingler et al. 2012: 435). Insgesamt 70 % der 12- bis 29-Jährigen melden sich täglich oder mehrmals pro Woche auf der Plattform ihrer Wahl (in den allermeisten Fällen Facebook) an (ebd.: 435f.2) Man kann demnach mit Busemann und Gscheidle (2012) durchaus von einer Habitualisierung der Nutzung solcher Online-Communities sprechen. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass die intensive und routinierte Nutzung der Social Network Sites auch einen Einfluss auf Einstellungen, Werte und Normen der Heranwachsenden hat – dass das Internet und ebendiese Plattformen 1

Der Beitrag basiert auf dem Zeitschriftenbeitrag: Pscheida, Daniela/Trültzsch, Sascha (2009): Veröffentlichte Privatheit im Bild: Zur neuen Kultur der Freizügigkeit in internetbasierten sozialen Kontaktnetzwerken, in: Pscheida, Daniela/Trültzsch, Sascha (2009) (Hg.): Web 2.0 als Agent des kulturellen Wandels. SPIEL (Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft). Frankfurt: Lang, 245–270. 2 Es handelt sich hier um Daten der JIM-Studie 2011.


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gewissermaßen als Sozialisationsinstanz neben die traditionellen Institutionen getreten sind (vgl. u. a. Paus-Hasebrink/Bichler 2008: 168). Zur Selbstpräsentation und zur Kommunikation mit FreundInnen gehören ganz essenziell auch Informationen, die den persönlichen Lebensbereich betreffen und gemeinhin als privat angesehen werden. Einen solchen privaten Bereich genau abzugrenzen, ist nicht eindeutig möglich, ist er doch individuell und nicht selten auch situativ auf Grundlage sozialisierter Normen auszuhandeln. Der vorliegende Aufsatz wird dieser Frage in der Folge unter Berücksichtigung verschiedener Diskussionstraditionen nachgehen. Gerade in der (Sozial-) Psychologie wird im Zusammenhang mit der Nutzung von Social Network Sites häufig vom Privacy Paradox gesprochen: NutzerInnen sind sich demnach durchaus des Wertes ihrer Privatsphäre bewusst, geben aber zugleich persönliche Daten auf ihren Profilen an, um von den Vorteilen der Social Network Sites profitieren zu können (vgl. Joinson et al. 2011; Utz/Krämer 2009). So ist nicht nur die Interaktionsform „Soziales Netzwerk“ essenziell auf die Preisgabe persönlicher Informationen angewiesen, bereits das technische System (Content-Management) betreibt mit Hilfe vorgegebener Eingabefelder (E-Formulare) eine detaillierte „biografische Wissenserfassung“ (Reichert 2008: 95ff.), der man sich nur schwer entziehen kann. Die mehr oder weniger öffentliche Ausbreitung persönlicher und privater Lebensbereiche wird somit im Zuge der Nutzung von Social Network Sites zur – auch von anderen Personen erwarteten – Gewohnheit, obwohl gleichzeitig der „Wert des Privaten“ (Rössler 2001) weiterhin hoch eingeschätzt wird. Die massenmediale Berichterstattung diskutiert in diesem Zusammenhang meist extreme Fälle von Exhibitionismus über Cyber-Grooming und Cyber-Mobbing bis hin zu extremen Folgen, wie etwa dem Suizid einiger Mobbing-Opfer – hier beispielsweise aktuell im Oktober 2012 die junge Kanadierin Amanda Todd (vgl. z. B. derStandard.at 2012). Dabei findet die Diskussion insgesamt meist im Duktus des Normativen statt, das heißt im Hinblick auf Probleme etwa des Datenschutzes oder der sozialen Stigmatisierung. Analytisch interessant und relevant ist aus kulturwissenschaftlicher Perspektive jedoch das normative Konzept von Privatheit selbst, das hier unweigerlich in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Es stellt sich die Frage, inwiefern die aktuelle „Kultur der Freizügigkeit“ tatsächlich originär neu ist bzw. wo medienhistorisch und sozialphilosophisch Traditionen zu finden sind.

2. Privatheit, Öffentlichkeit, Privates in der Öffentlichkeit Privatheit als Begriff scheint bereits sprachlich ein wenig sperrig, ist doch im Alltag viel häufiger von Privatsphäre die Rede. In der langen Theorietradition wird der Begriff entsprechend im Sinne einer differenztheoretischen Absetzung gegenüber der Öffentlichkeit bestimmt. Kulturhistorisch stellt diese Unterscheidung eine Dichotomie dar, welche, wie Weiß es ausdrückt, „zu den beherrschenden Grundfiguren abendländischen Denkens zählt“ (Weiß 2002c: 29). Sie kann demnach sogar als so etwas wie eine kulturelle bzw. kulturell verbürgte Grundkonstante3 3 Hier sei auf das bekannte Kulturmodell von Geert Hofstede (1996 [1980]) verwiesen, welches Individualismus und Kollektivismus als eine von fünf zentralen Kulturdimensionen benennt. Gerade die westeuropäischen Länder sowie die USA gelten nach diesem Modell als besonders individualistisch geprägt. Dieser kulturelle Individualismus steht vermutlich in einem engen Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Bedeutung der Sphärentrennung.


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betrachtet werden, die in ihrer gesellschaftlichen Verankerung geradezu anthropologisch erscheint. Weintraub (1997: 1) schreibt: “the distinction between ‘public’ and ‘private’ has been a central and characteristic preoccupation of Western thought since classical antiquity, and has long served as a point of entry into many of the key issues of social und political analysis, of moral and political debate, and of the ordering of everyday life.” Hannah Arendt (1958) nimmt die griechische Antike als Ausgangspunkt der Unterscheidung der zwei Sphären: In der Polis wurde zwischen der Agora, der öffentlichen Sphäre der Politik, und dem Oikos, der privaten Sphäre der Familie sowie des Hauses, unterschieden (vgl. hierzu auch Imhof 1998: 16–19). Im Oikos zähle das Arbeiten, wichtiger ist in Arendts Ansicht aber das gestaltende Handeln des Menschen als zoon politikon auf der Agora. Normativ gesetzt wird die Grenze in dem Sinne, dass Dinge, die die private Lebensführung betreffen, von der öffentlichen Sphäre abgegrenzt und ausgeschlossen sind, was sich auch darin widerspiegelt, dass nur solche Personen für die Agora zugelassen sind, die sich nicht um ihre private Lebensführung kümmern müssen: freie (männliche) Bürger der Polis. Grundsätzlich knüpft dieses Konzept der „Sphärentrennung“ an räumliche Kategorien an, ist dabei aber zugleich mit einer geschlechterspezifischen Dimension verbunden, die lange von Bedeutung war und auch heute in einigen Kulturen noch ist. Während die Öffentlichkeit der Polis als Versammlungsöffentlichkeit gedacht war, setzt sich spätestens mit dem Buchdruck in der frühen Neuzeit ein anderes Begriffsverständnis durch. Die moderne Verhältnisbestimmung zwischen „öffentlich“ und „privat“ im kommunikativen Sinne findet im Kontext der Entstehung der modernen Massenmedien und der Herausbildung einer bürgerlichen politischen Öffentlichkeit statt. Ganz besonders seit dem frühen 18. Jahrhundert etablierten sich in Europa eine Reihe neuer Medien wie Zeitungen, Zeitschriften, Almanache, Wörterbücher und Enzyklopädien, die ihre Existenz maßgeblich der Verbreitung der Technologie des modernen Buchdrucks verdanken (vgl. u. a. Hohendahl 2000: 5f.), durch die es möglich wurde, Texte massenhaft zu reproduzieren und unter einem immer größer werdenden Publikum zu verbreiten. Zugleich stiegen damit auch das Interesse und die Nachfrage nach gedruckten Informationen an. Es entstand ein neues, informationelles Selbstverständnis. Dabei gehörte die Abschaffung jedweder Zugangsbarrieren gemeinhin zum Kernanliegen der Zeit. In seiner ursprünglichen, aus der Epoche der Aufklärung stammenden Bedeutung meint der Begriff der Öffentlichkeit also vor allem Publizität: Zum Öffentlichen gehört all jenes, was der allgemeinen Kommunikation uneingeschränkt zugänglich gemacht wird bzw. was uneingeschränkt, das heißt also öffentlich zugänglich ist und damit zum Entstehen von Öffentlichkeit beiträgt (vgl. Pöttker 2006: 205). Diese Trennung zwischen kommunikativer Öffentlichkeit (Publizität) und Privatheit ist aber nicht in allen Fällen immer (ein)eindeutig. So werden nicht selten auch Dinge bzw. Informationen, die durchaus von öffentlichem Interesse wären, eben nicht öffentlich diskutiert. Dabei sind die Informationen aber nicht unmittelbar privat, sondern vielmehr geheim (vgl. Rössler 2001: 17) beispielsweise im Sinne von Staatsgeheimnissen. Die Geheimhaltung von Informationen ohne Privatheitsanspruch und trotz tendenziell öffentlichen Charakters setzt dabei eine gewisse Macht voraus.4 Weiterhin können auch Inhalte, die tendenziell eher einen privaten 4 Hier sei auch an Foucault (1992: 10–30) erinnert, der anders herum (Macht-)Mechanismen thematisiert, mit deren Hilfe AkteurInnen (und Themen) vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden.


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Charakter besitzen, plötzlich publik werden, ohne dabei unmittelbar von öffentlicher Relevanz/öffentlichem Interesse zu sein. Persönliche Informationen können dabei bewusst in die Öffentlichkeit gelangen, aber auch ohne Wissen bzw. gegen den Willen der Person. Hier stehen sich beispielsweise Paparazzi-Fotos (ungewollt) und inszenierte Fotos aus dem Familienleben von PolitikerInnen (gewollt) gegenüber. Dass die veröffentlichten Fotos oder Informationen dabei nicht immer die intendierte Wirkung zeitigen, wird später noch an Beispielen erläutert. Der Beitrag „The Right to Privacy“ von Warren und Brandeis (1984 [1890]: o. S.), auf den in der psychologischen Diskussion häufig Bezug genommen wird, behandelt eben diese Frage nach dem Persönlichkeitsrecht von AkteurInnen, die in der Öffentlichkeit stehen, aus juristischer Sicht. Sie argumentieren, dass die Bedeutung des verfassungsmäßigen Rechts auf „Liberty“ sich im Laufe der Geschichte verändert. Nachdem zunächst vor allem der Bereich der physischen und materiellen Unversehrtheit gesetzlich abgesichert wurde, soll nun auch die Verletzung der Psyche (Gefühle) etwa durch die massenmediale Verbreitung von Informationen einbezogen werden. Unter Berücksichtigung neuer „instruments by which privacy is invaded“ bedeute „Liberty“ daher nun (auch) das „right to be let alone“ (ebd.). Auf dieses Recht zur freien Selbstbestimmung über öffentlich verbreitete persönliche Informationen wird in der Psychologie auch in den beiden Definitionen von Westin und Altman zurückgegriffen (vgl. dazu Margulis 2011). Westin (1967: 7, zit. n. Margulis 2011: 10) betont „privacy is the claim of individuals, groups, or institutions to determine for themselves when, how, and to what extend information about them is communicated to others. [Moreover] […] privacy is the voluntary and temporary withdrawal of a person from the general society through physical and psychological means”. Vereinfacht versteht Altman „privacy” als „selective control of access to the self ” (Altman 1975: 24 zit. n. Margulis 2011: 11). Damit wechselt die Ebene bzw. Perspektive der Definition von der Gesellschafts- zur AkteurInnenebene. Folgt man Rössler (2001: 23–26), können aus Perspektive der AkteurInnen entsprechend drei Dimensionen von Privatheit unterschieden werden. Unter dezisionaler Privatheit wird das Recht verstanden, selbstbestimmt eigene Entscheidungen zu treffen und beispielsweise die eigene Lebensführung zu bestimmen. Lokale Privatheit meint die Möglichkeit, einen Rückzugsort zu haben, wie beispielsweise die geschützte Wohnung. Das ist auch im Sinne von Goffman als Hinterbühne und Erholung von sozialen Rollen von Bedeutung. Die informationelle Privatheit schließlich bezeichnet die Autonomie des Individuums bei der Entscheidung, wer zu welchen Informationen über die eigene Person Zugang erhält. Aus der Perspektive der handelnden AkteurInnen wird auch das schon erwähnte Privacy Paradox nun durchaus plausibel: Im Sinne einer Kosten-Nutzen-Abwägung erscheinen die Gratifikationen für die Angabe privater Informationen höher als die Kosten durch eine partielle Öffnung der Privatsphäre. Entsprechend haben beispielsweise Taddicken/Jers (2011) sowie Krämer/Haferkamp (2011) den Uses-and-Gratification-Ansatz adaptiert und für eine Erklärung des Nutzungsverhaltens fruchtbar gemacht. Die Kontrolle des Zugangs ist in Social Network Sites Bestandteil der Software: Die NutzerInnen können hier zwischen verschiedenen Einstellungen wählen, wobei sie jedoch aktiv handeln müssen (vgl. u. a. Reinecke/Trepte 2008). Schmidt (2011: 107–133) hat hier drei Ebenen vorgeschlagen. Zunächst die Ebene der (allgemeinen) Öffentlichkeit – die Informationen sind allgemein für jeden Nutzer bzw. jede Nutzerin der SNS sichtbar. Zweitens die Ebene der persönlichen Öffentlichkeit, die Familie, Freundeskreis, peer group etc. einschließt. Je nach individuellem Konzept von Privatsphäre können hier freilich auch KollegInnen hinzugerechnet werden.


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Schließlich (drittens) die Ebene der Privatheit, die solche Informationen beinhaltet, die gar nicht mit anderen geteilt werden oder eventuell nur mit engen Vertrauten im persönlichen Gespräch. Auch zahlreiche US-amerikanische Studien führen eine solche Zwischenebene zwischen Öffentlich und Privat ein, die hier als Encounter bezeichnet wird (vgl. für einen Überblick Margulis 2011). In SNS veröffentlichte Inhalte sind je nach Profileinstellung (Beschränkung des Zugriffs) also entweder der allgemeinen oder der Encouter-Öffentlichkeit zuzuordnen. Die Frage dieser Zuordnung zielt dabei auch auf den Kern einer Verschiebung der Bedeutung des Konzepts von Privatsphäre ab, was auch das Hinterfragen normativer Setzungen beinhaltet. Während die Begriffsbestimmungen aus gesellschaftlicher Perspektive vor allem für die traditionellen Massenmedien wie Zeitung und Fernsehen sinnvoll erscheinen, können sie aus der individuellen Perspektive im Besonderen für Internetkommunikation und die Präsentation auf SNS nützlich sein. Beide Perspektiven sollen nebeneinander stehen, da sie zugleich für die verschiedenen Rollen im Kommunikationsprozess stehen: Während man als RezipientIn mediale Angebote eher im Kontext von Gesellschaft, Kultur und der verschiedenen Medienangebote wahrnimmt, ist dies beim Veröffentlichen von privaten Informationen auf SNS die individuelle Perspektive. In den folgenden Ausführungen wird veröffentlichte Privatheit einerseits (in gesellschaftlicher Perspektive) verstanden als die kommunikative Übertragung privater Themen in den Bereich der (massenmedialen) Öffentlichkeit, andererseits (in individueller bzw. Akteur­ Innen-Perspektive) als das Öffentlich-zugänglich-Machen persönlicher Informationen auf Ebene der Encounter- oder allgemeinen Öffentlichkeit.

3. Veröffentlichte Privatheit im medienhistorischen Kontext Wie bereits angedeutet, ist das Phänomen der medial veröffentlichten Privatheit kein neues, sondern kann auf eine lange medienhistorische Tradition zurückblicken, die in engem Zusammenhang mit technisch medialen Informationen, aber auch gesellschaftlichen Umbrüchen steht. Indem diese hier kurz umrissen wird, soll aufgezeigt werden, dass die Veröffentlichung privater Informationen kein krasser Bruch mit etablierten Normen ist, sondern vielmehr als eine Neujustierung von Normen zu verstehen ist, die in beständigem Wandel befindlich sind. Beginnend mit den Medien des Buchdrucks, Flugblatt und Presse, ganz besonders aber mit der Etablierung der elektronischen Massenmedien Hörfunk und Fernsehen drangen einerseits zunehmend öffentliche Themen inklusive der dazugehörigen Darstellungs- und Inszenierungsmuster in die Sphäre des Privaten – in den Alltag und das Wohnzimmer der Menschen – vor. Parallel dazu lässt sich aber andererseits auch eine zunehmende Durchdringung der Öffentlichkeit mit privaten Themen und Mustern der Inszenierung ausmachen.5 Grob können vier Entwicklungsstufen unterschieden werden, die im Hinblick auf ihr Erscheinen zwar grundsätzlich chronologisch zu denken sind, sich jedoch gegenseitig nicht ablösten oder gar aufhoben, sondern teilweise noch bis in der Gegenwart nebeneinander existieren: (1) Die gezielte Inszenierung des Privatlebens öffentlich relevanter Personen in der massenmedialen Öffentlichkeit stellt die erste dieser Stufen dar. Sie gehörte schon früh zum festen Bestandteil der massenmedialen Kommunikation – etwa in Form von gemalten Bildnissen, Holzschnitten oder Kupferstichen, später aber vor allem durch Fotos politisch wichtiger und einflus5

Ausgeblendet werden hier Beschreibungen eines „fiktiven“ Privatlebens, wie sie beispielsweise in Romanen üblich sind.


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sreicher Personen. Mit gewissen Attributen des Privatlebens versehen, waren sie stets ein Magnet der Aufmerksamkeit. Die Verletzung von Normen wird hier vermieden, da positive Assoziationen erzeugt werden sollen. Erinnert sei hier beispielsweise an Bismarck als Junker vor seinem Landsitz oder die Familie des deutschen oder österreichischen Kaiserhauses auf Postkarten (siehe dazu die Giesbrecht-Sammlung an Bildpostkarten unter http://www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/, speziell Signatur 12.1 [letzter Zugriff: 01.04.2014]). Die Abbildungen gleichen den Codes privater Familienaufnahmen, wie sie zu dieser Zeit üblich waren. Privates wurde gezielt genutzt, um eine „Vor-bild-wirkung“ der „privat“ abgebildeten öffentlichen Person zu propagieren. Tatsächliche private oder gar intime Details möglicher privater Handlungen des „Vorbildes“ spielen hingegen keine Rolle. Das Private – oder besser: der Charakter des Privaten – nutzt allein der Inszenierung, schadet der Person in der Regel jedoch nicht. Bestehende Normen werden durch die Darstellung aufgegriffen und bestärkt – hier beispielsweise die „heile Familie“.

Abb. 1: Populäre Bildpostkarte mit dem Foto der deutschen Kaiserfamilie [Hohenzollern] um 1900 Bild: http://www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/displayimage.php?pos=-1295 (letzter Zugriff: 01.04.2014)

Heute findet man vergleichbare Beispiele bei Politikern – wie hier Urlaubsbilder von Bundeskanzler Werner Faymann. Auf seiner Internetseite gibt es unter der Rubrik Privat noch weitere Bilder auch aus seiner Kindheit und Jugend (vgl. http://www.spoe.at/ireds3/page.php?P=102887 [letzter Zugriff: 01.04.2014]).

Abb. 2: Bundeskanzler Werner Faymann und Gattin Martina Ludwig-Faymann im Urlaub (Lech am Arlberg, Jänner 2012) Bild: http://www.oe24.at/oesterreich/politik/Faymann-Urlaubsfotos-auf-Facebook/51541809 (letzter Zugriff: 01.04.2014)


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Stets handelt es sich hierbei um bewusst für die Öffentlichkeit inszenierte Darstellungen von Privatleben und stets sind die inszenierten oder zugespielten Fotos auch Bestätigung der bestehenden Normen. Freilich können derartige „geplante“ Inszenierungen auch misslingen. Dazu müssen nicht zwingend die Fotos selbst vorhandene Normen verletzten, beispielsweise durch unangemessenes Verhalten wie es bei „übergriffigen Stars“ gelegentlich vorkommt. Normen können auch verletzt werden, wenn der Einblick in das Privatleben zu den aktuellen Aufgaben der Person im Gegensatz steht. Hier sei beispielsweise an die bekannten Pool-Fotos Rudolf Scharpings vom Sommer 2001 erinnert, die den damaligen Verteidigungsminister „total verliebt“ (so der Aufmacher) beim Baden zeigen – den bevorstehenden Nato-Einsatz der deutschen Bundeswehr ganz offensichtlich ausblendend (vgl. Pscheida/Trültzsch 2009; auch Mühlhausen 2009 erwähnt dieses Beispiel kurz als Kontextualisierung von Eberts Badefoto). Die Darstellung eines unbeschwerten Urlaubs jenes Mannes, der für das Wohl der SoldatInnen verantwortlich ist, passte nicht zur Sorge vieler Angehöriger um die im Einsatz befindlichen Streitkräfte.

Abb. 3: „Ebert und Noske in der Sommerfrische“ Titelblatt Berliner Illustrierte Zeitung vom 24. August 1919 Bild: http://www.ebert-gedenkstaette.de/ebert_leben1919.html (letzter Zugriff: 01.04.2014)

Bereits 1919 gab es einen ersten kleinen Skandal um Fotografien, die Politiker beim Baden zeigten. Das Foto (siehe Abbildung 3) wurde zwar bewusst inszeniert, ob es aber für die Veröffentlichung vorgesehen war, ist nicht ganz geklärt – Mühlhausen (2009: 238–243, vgl. ebd. auch für den gesamten Absatz) geht davon aus, dass dies nicht geplant war, allerdings haben die Herren für einen Pressefotografen posiert. Der Aufmacher6 der Berliner Illustrierten Zeitung (24. August 1919) lautet „Ebert und Noske in der Sommerfrische“ (Reichpräsident und Reichswehrminister). Das Foto zeigt beide in Badehosen etwa bis zu den Knien im Wasser stehend – davor eine Person in Poseidon-Verkleidung mit Dreizack. Die Bevölkerung der jungen Weimarer Republik sah sich brüskiert und die Normen und Regeln des guten Geschmacks verletzt. Damals waren auch für Männer Badeanzüge üblich, Badehosen waren noch nicht in Mode. Das Bild 6 Das Bild hier zeigt einen Ausschnitt des erstveröffentlichten Bildes aus der Deutschen Tageszeitung vom 09.08.1919, das allerdings weniger wahrgenommen wurde.


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wurde in der Folge von Feinden der Republik zu einer Ikone der Unwürdigkeit Eberts sowie der gesamten demokratischen Grundordnung (vgl. ebd.). Hier wurden die mit der Würde des Amtes verbundenen Normen verletzt – die privat anmutende Szene widersprach der herrschenden Vorstellung der Menschen, wie man sich als Reichspräsident bzw. Minister in der Öffentlichkeit zeigen kann und darf, was so sogar juristisch zwischen den Zeilen beurteilt wurde (Mühlhausen 2009: 241–243).7 (2) Neben solchen inszenierten Fotografien gibt es freilich solche, die eine Person (gezielt) diskreditieren oder auch einer Normübertretung überführen sollen. Exemplarisch in der Boulevardpresse wird (oft im Stile von Paparazzi-Fotografien) das reale, eben nicht-inszenierte Privatleben gezeigt. Nicht selten werden Aspekte des Privatlebens (intime Details, unerwünschte Einblicke, Verfehlungen von Normen) und vor allem auch die Skandalisierung öffentlicher Personen aufgrund oder unter Berufung auf deren private Handlungen zum Thema gemacht. Dies geschieht noch effektiver, wenn dabei Normen gebeugt oder verletzt werden. Die darin enthaltene Tendenz zur Indienstnahme des „Privaten“ als Medium der Verleumdung der „öffentlichen“ Person ist ein altbewährtes Mittel. In gewisser Weise entsprechen bereits einige Schmäh-Flugblätter der Reformationszeit (Papst-Esel, Martin-Luther-Siebenkopf ) diesem Muster. Sie diskreditieren aber eher die Institution oder die Position an sich, nicht unbedingt den privaten Lebenswandel der dargestellten Person. Zwar geht es auch um normative Veränderungen, aber solche Bilder haben keinerlei authentischen Charakter, wie er Fotografien beigemessen wird.

Abb. 4: „Martinus Luther Siebenkopf“,Holzschnitt aus der Reformationszeit Bild: http://www.encyclopedie-universelle.com/abeille1/cochlaeus-johannes-luther-sept-tetes-1564.jpg (letzter Zugriff: 01.04.2014)

7 Mühlhausen (2009) weist darauf hin, dass das Foto erstmals am 09.08.1919 in der illustrierten Beilage der Deutschen Tageszeitung noch als größerer Bildausschnitt und versehen mit dem ironischen Kommentar erschien: „In Ausübung ihrer hohen Machtvollkommenheiten dispensierten sie sich von der dort herrschenden Vorschrift, nur im Kostüm zu baden, stellten der Welt ihre ganze Mannesschönheit zur Schau und veranlassten in animierter Stimmung die Fixierung der […] Szene auf photographischer Platte.“ (Ebd. 238)


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Durch cross-mediale Verlinkungen erhalten Einblicke in das Privatleben nun in der Boulevard-Presse jedoch eine neue Intensität, indem sie verstärkt dazu genutzt werden, Aufmerksamkeit zu binden. Als besonders prominentes Beispiel der jüngeren Geschichte sei hier etwa die Rolle des Drudge Reports bei der Clinton-Lewinsky-Affäre genannt. Das Privatleben „gewöhnlicher“ Privatpersonen war hingegen für die Massenmedien lange Zeit nur dann von Relevanz, wenn sich damit etwas Skandalöses, Spektakuläres oder Sensationelles verbinden ließ, das aufgrund seiner selbst – nicht aber aufgrund der damit verbunden Person/en – ein öffentliches Interesse hervorzurufen vermochte. Dennoch ist auch hier bis heute zu unterscheiden, ob die betroffenen Personen sich und ihre „Geschichte“ den Medien quasi von sich aus präsentieren oder ob Fotografen ihnen als Paparazzi „nachstellen“. (3) Mit der Einführung des privat-kommerziellen Fernsehens in der (damaligen) Bundesrepublik Mitte der 1980er-Jahre wurde schließlich auch das mehr oder weniger alltägliche, private Leben ganz durchschnittlicher, privater Personen zunehmend massenmedial inszeniert und vorgeführt. Die Offenlegung privater Belange nicht-öffentlicher Personen in Fernsehsendungen gehörte dort rasch zum Standardprogramm, wie in der einschlägigen Literatur immer wieder betont wird (vgl. die Beiträge in Imhof/Schulz 1998 und Bleicher 2002). Besonders aufmerksamkeitsbindend wirkte und wirkt dabei bis heute wiederum die gezielte Präsentation peripherer oder „normabweichender“ Verhaltensweisen wie sie z. B. in Talkshows oder Reality-TV-Shows stattfinden, die sich gerade in den letzten Jahren in neuer Form wachsender Beliebtheit erfreuen. Beispiele wären hier die typischen Lebenshilfe-Shows wie Super Nanny, aber auch geradezu alltägliche Dinge wie Wohnungssuche, jugendliche Partygänger und vieles mehr werden in Reality-Shows aufgegriffen. Es erscheint dabei keineswegs verwunderlich, dass sich gerade im Fernsehen eine solche Kultur der Veröffentlichung von Privatheit bzw. des Überschreitens der Privatsphäre entwickelt hat; wenn diese auch redaktionell gelenkt und damit letztendlich immer im Sinne einer allgemeinen öffentlichen und nicht privaten Handlungsrationalität inszeniert ist – was vor allem bei den seit einigen Jahren sehr erfolgreichen Scripted-Reality-Formaten deutlich wird. Es soll hier noch einmal eigens betont werden, dass, folgt man den obigen Ausführungen, vor allem Bildern bzw. Fotografien schon immer eine zentrale Funktion als Modus der Darstellung des Privaten in der Öffentlichkeit zukam. Das Fernsehen als (audiovisuelles) Leitmedium hat diese Bedeutung der Bilder nur noch gesteigert. „Mit der Ausweitung des visuell Zeigbaren geht zu Beginn der Fernsehära ein grundlegender Wandel medialer Repräsentationsästhetik und -ethik einher: An die Stelle der hierarchisch regulierten Perspektiven und Blickwinkel tritt das Primat medialer Partizipation, die nicht mehr auf Belehrung und Lenkung des Zuschauers abzielt, sondern auf sein empathisches, emotionales Miterleben.“ (Viehoff/Fahlenbrach 2003: 46) Der Vorteil der Bilder bei der Inszenierung von Privatheit liegt also in deren besonderer Eignung zur Betonung emotionaler Aspekte, die inhaltlich ja vor allem der Sphäre des Privaten zuzuordnen sind. Die Mechanismen der medialen Konkurrenz haben überdies gezeigt, dass „Privates“ im Modus des Bildlichen besser und glaubhafter skandalisierbar ist. Unter den Marktbedingungen moderner Mediengesellschaften intensiviert sich dieser Trend zur medial vermittelten, wenn auch virtuellen Augenzeugenschaft daher zusehends.8 Im Kampf um die Währung 8 Das führt zu den bekannten Paradoxien der Paparazzi-Fotografie: Ein Bild, das ästhetisch-professionell als Schnappschuss des privaten Lebens inszeniert wird, umgibt die Aura besonderer Authentizität,


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Aufmerksamkeit müssen dabei immer neue und immer deutlichere Skandalisierungen des Privaten und damit auch Normüberschreitungen folgen. Dies lässt sich beispielhaft besonders eindrucksvoll anhand der inhaltlichen Entwicklung der verschiedenen Staffeln der Reality Show Big Brother in Deutschland zwischen 1999 und 20099 beobachten. Die räumliche Strukturierung des Wohnbereichs sowie die vorgegebenen Spielregeln drängten die KandidatInnen mehr und mehr dazu, immer intimere Einblicke in ihre Privatsphäre zu gewähren. Auch die Auswahl der KandidatInnen trug freilich dazu bei. In der neunten Staffel wurde schließlich auch das Badezimmer mit Video überwacht. Der Screenshot von Anfang Juli 2009 zeigt eine moderate Perspektive, man kann sich denken, welche Fotos sich hier potenziell ergeben.

Abb. 5: Immer weitergehende Einblicke in die Privatsphäre bei Big Brother 2009 Bild: http://www.rtl2-bigbrother.de/bigbrother9/front_content.php?idcatart=5623&start=99 (letzter Zugriff: 01.04.2014)

(4) Im Kontext von Internet und Social Web zeichnet sich nun gegenwärtig eine weitere, vierte Entwicklungsstufe innerhalb einer Mediengeschichte der „veröffentlichten Privatheit“ ab. Diese besitzt nicht nur eine neue Qualität, sondern rückt ebenso das Bild als zentralen Darstellungsmodus noch stärker in den Vordergrund. Auf dieser Stufe ist die massenmediale Präsentation des Privatlebens „einfacher Leute“ durch diese selbst angesiedelt. In der gewissermaßen „ersten Generation“ der Internetnutzung (etwa 1993–2000) stellten zunächst vor allem private Homepages neue Formen der Selbstdarstellung und Selbstinszenierung dar (vgl. Viehoff 2009). Erstmals war es nun auch „gewöhnlichen“ Privatpersonen möglich, selbstständig, ohne den Einfluss redaktioneller Lenkung und damit ohne die Notwendigkeit von Prominenz oder Skandal, persönliche Informationen öffentlich zu kommunizieren – vorausgesetzt der Nutzer hatte sich basale Kenntnisse in der Programmiersprache HTML angeeignet. Private Homepages waren seither schon verschiedentlich Gegenstand empirischer Erforschung. Zuletzt hat Sabina Misoch 2004 eine umfassende Studie (NutzerInnenbefragung) zur Selbstdarstellung auf privaten Homepages vorgelegt. Sie arbeitet unter anderem heraus, dass die Postmoderne geradezu nach Selbstdarstellung verlangt, da Identitäten zunehmend optional werden. Das Internet bietet eine optimale Bühne für eine solche Selbstdarstellung: eine eigenkontrollierte öffentliche Präsentationsplattform (vgl. Misoch 2004: 91–110, 133–137 sowie 201). Die Inszenierungen auf die professionellen Fotografien nicht mehr innezuwohnen scheint (vgl. Fahlenbrach 2009). 9 Die neunte Staffel lief zwischen Dezember 2008 und Juli 2009.


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privaten Homepages folgen dabei jedoch – entgegen landläufiger Annahmen – in der Regel dem Modus einer authentischen Darstellung, d. h. sie erfolgen in der Absicht einer realen Selbstvermittlung der eigenen Identität. Ein Experimentieren mit Identitäten ist hingegen eher die Ausnahme (vgl. ebd.: 171–183, 202ff.). Unter den Bedingungen der zunehmend interaktiven und partizipativen Internetnutzung im Social Web werden diese strukturellen Eigenschaften der Internetkommunikation nun dominanter und Amateure erhalten ganz neue Möglichkeiten, sich selbst und ihre Weltsicht mehr oder weniger öffentlich zu präsentieren: Vor allem innerhalb von Social Network Sites gewinnen Selbstdarstellung und Selbstinszenierung deutlich an Dynamik, sie sind das Grundprinzip der Angebote. Dank neuer Technologien und intuitiver Benutzeroberflächen können interessierte NutzerInnen dort unkompliziert und schnell Informationen über sich selbst, aber auch über andere einstellen und einer Encounter- oder allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich machen. Programmiertechnische Vorkenntnisse (z. B. HTML) sind nicht mehr notwendig. Zudem ist der eigene „Webauftritt“ mit dem anderer Personen verbunden und kann daher leichter aufgefunden werden und damit auch leichter Aufmerksamkeit auf sich lenken. Relevant ist in diesem Zusammenhang zudem auch, dass im klassischen massenmedialen System gemeinhin professionelle Redaktionen über öffentliche Bedeutung von Inhalten entscheiden und die Themen auch entsprechend steuern, die kommunikativ in die massenmediale Öffentlichkeit gelangen. So gesehen können auch ursprünglich private Inhalte, wenn sie redaktionell gelenkt und gezielt medial inszeniert in die Öffentlichkeit gelangen, formal als öffentliche Themen betrachtet werden. Unter dem Einfluss der Amateurkultur des Internet (vgl. Reichert 2008), um die es im Kontext der Nutzung von Social Network Sites geht, fallen Einflüsse redaktioneller Lenkung jedoch zunehmend weg. Mehr noch: Dank der zunehmenden Verbreitung mobiler, internetfähiger Endgeräte wie Smartphones und Tablet-PCs können praktisch von überall und jederzeit Inhalte (und eben auch Fotos) eingestellt und abgerufen werden. Es entsteht eine vollkommen neuartige Ausgangslage für die Frage nach der „veröffentlichten Privatheit“ und damit auch für die Veränderung normativer Konzepte, die damit verbunden sind.

4. Persönliche Informationen auf SNS und Privatsphäre Bereits oben wurde darauf eingegangen, dass Social Media, und hier vor allem auch Social Network Sites, zum alltäglichen Medienrepertoire Heranwachsender und junger Erwachsener zählen. Es liegen bereits verschiedene Studien zu den Nutzungsgewohnheiten vor, die in verschiedenen Darstellungen zusammengefasst und diskutiert wurden (vgl. für einen Überblick u. a. Leiner/Weißensteiner 2011 sowie die Beiträge in Trepte/Reinecke 2009). An dieser Stelle kann daher auf einen Überblick zum Forschungsstand verzichtet werden. Um mögliche Veränderungen in Normen bzw. Konzepten im Umfeld von Privatheit und Privatsphäre bei der Social Web-Nutzung nachzugehen, bieten sich zwei Wege an: Einerseits kann man die Profile der NutzerInnen beispielsweise inhaltsanalytisch untersuchen, andererseits NutzerInnen zu ihren Nutzungsgewohnheiten befragen. Beides wurde in einem gewissen zeitlichen Abstand in unterschiedlichen Projekten unternommen: Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg (Pscheida/Trültzsch 2009, 2010) wurde im Frühjahr 2009 eine empirische Untersuchung der Profile in der damals beliebtesten Plattform StudiVZ durchgeführt. Dazu wurden insgesamt


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421 Profile10 an 15 deutschsprachigen Hochschulen (13 in Deutschland sowie jeweils eine in Österreich und in der Schweiz11) durch eine Zufallsauswahl über die Plattform ausgewählt und auf die Beschränkung der Zugänglichkeit sowie auf die angegebenen Informationen und hochgeladenen Fotos hin untersucht. Diese Ergebnisse sollen hier vergleichend mit einer neueren Studie (Trültzsch, Universität Salzburg) diskutiert werden, bei der nicht die Profile analysiert, sondern NutzerInnen von SNS mittels Online-Fragebogen (standardisiert, N=2492) befragt wurden. Diese Untersuchung wurde von Dezember 2011 bis Februar 2012 durchgeführt und bezog NutzerInnen aus Österreich im Alter zwischen zehn und 30 Jahren mit ein. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass die Stichproben nur bedingt vergleichbar sind. Einerseits wurden die Daten jeweils unterschiedlich erhoben (Profilanalyse mit Inhaltsanalyse, NutzerInnenbefragung mit Online-Fragebogen), andererseits ist die Verteilung der Stichprobe unterschiedlich: Waren es bei StudiVZ ausschließlich Studierende, sind es in der neueren Auswahl Personen aus unterschiedlichen Altersgruppen und Milieus. Der zeitliche Abstand zwischen den Untersuchungen ist zudem, gerade bei einem schnelllebigen Untersuchungsgegenstand, beträchtlich. Im Rahmen eines weiteren Projekts ist für Sommer 2013 die Wiederholung der Erhebung von Pscheida/Trültzsch auf Facebook geplant, die aber aktuell noch nicht vorliegt.

4.1 Die Profilseite: Allgemeine Sichtbarkeit/Privatsphäreeinstellungen Das Registrieren bei einer Social Network Site verlangt die Angabe des realen Namens, des Geburtsdatums sowie einer gültigen E-Mail-Adresse. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Facebook wie auch StudiVZ erwähnen explizit, dass der reale Name angegeben werden muss, was freilich nur partiell durch die Plattform kontrolliert werden kann. Sichtbar sind in jedem Fall der angegebene Name sowie das ausgewählte Profilbild. Alle anderen Inhalte lassen sich über entsprechend gewählte Privatsphäre­einstellungen problemlos verbergen bzw. nur für bestimmte Kreise zugänglich machen. Von den 2009 insgesamt 421 untersuchten Profilen auf StudiVZ verfügten lediglich 34, also ca. 8 %, über einen (erkennbaren) Fakenamen, das heißt also über einen Namen, der als solcher nicht (zumindest nicht ohne Weiteres) auf eine reale Person zurückgeführt werden kann. 130 Personen, immerhin gut 30 %, gaben nur den Vornamen an. Die Mehrheit von knapp 60 % identifizierte sich jedoch sogar über ihren Vor- und Zunamen, wobei es sich allem Anschein 10 Die ungewöhnliche „ungerade“ Zahl des betrachteten Samples an Profilseiten erklärt sich aus dem Vorgehen der Zufallsauswahl selbst. So wurden mithilfe der automatischen Suchfunktion zunächst alle an einem bestimmten Hochschulstandort registrierten NutzerInnen angezeigt und dann anhand eines bestimmten Algorithmus jeweils ein Profil je angezeigter Seite (angezeigt werden jeweils 15 Profile) registriert. Diese registrierten Profile wurden daraufhin auf das Vorhandensein von Fotoalben und/ oder Bildverlinkungen geprüft. Die Registrierung von Profilen je Hochschulstandort wurde so lange fortgesetzt, bis insgesamt 15 Profile mit sichtbaren Bildern (Fotoalben oder Fotolinks) je Hochschulstandort gefunden waren (insgesamt schließlich 225). Da auch die registrierten Profile ohne Bilder in der Auswertung mitberücksichtigt wurden, gingen schließlich 421 Profile in die Gesamtauswertung ein (225 mit und 196 ohne Fotoalben oder Fotolinks). 11 In Deutschland: Bamberg, Berlin, Bremen, Dresden, Freiburg, Göttingen, Hamburg, Hannover, Köln, Lüneburg, Magdeburg, Mainz, München; zudem Wien/Österreich und Zürich/Schweiz.


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nach tatsächlich um die Realnamen der Personen (Klarnamen) handelt. Eine genaue Prüfung, ob darunter womöglich auch falsche Namen (und damit eigentlich Fakenamen) sind, ist jedoch nicht möglich – sofern nicht offensichtlich beispielsweise Namen von Schauspielern gewählt wurden. Nennenswerte Unterschiede nach Geschlecht oder Region ließen sich hier, wie auch in den weiteren Dimensionen, keine ausmachen. Angabe

Anzahl

Gültige Prozente

Vor- und Zuname

252

59,9

Vorname

130

30,9

Nachname

5

1,2

Fakename

34

8,1

Tabelle 1: Namensangabe in StudiVZ, Ergebnisse Profilanalyse 2009 (N=421)

Vergleicht man diese Daten mit dem Ergebnis der Online-Befragung 2011/12, so zeigt sich eine noch stärkere Tendenz dazu, den realen Vor- und Zunamen anzugeben (79 %). Etwa gleich viele NutzerInnen (um 8 %) geben einen Vornamen oder einen Spitznamen an. Vermutlich ist die recht hohe Zahl der oben als Fakenamen codierten Angaben auch zustande gekommen, da Spitznamen dort mit hineinfielen. In der neueren Untersuchung geben nur unter 4 % an, einen Fakenamen anzugeben. Angabe

Anzahl

Gültige Prozente

Vor- und Zuname

1388

79,3

Vorname

153

8,7

Spitzname, den Freunde kennen

145

8,3

Fakename

65

3,7

Missing

740

-

Tabelle 2: Namensangabe in SNS, Ergebnisse Online-Fragebogen 2012 (N=2491)

Die im Steckbrief angegebenen Informationen können, wie bereits erwähnt, unterschiedlich in der Sichtbarkeit beschränkt werden. Hier wird jeweils zwischen den allgemeineren Angaben und den spezifischen unterschieden, wobei der Einteilung der Plattformen weitgehend gefolgt wird. Die allgemeinen Angaben im oberen Bereich betreffen Studiengang bzw. Arbeitgeber, Wohnort, Geburtstag und Herkunft sowie detaillierte Angaben zu Kontaktdaten, Beziehungsstatus, Musikgeschmack und Lieblingsfilmen. Bei der Untersuchung 2009 zeigte sich, dass die allgemeinen Angaben bei etwa 57 % der untersuchten Profile sichtbar sind; bei etwa 37 % werden auch persönlichere Informationen öffentlich preisgegeben. Insgesamt sind es damit fast zwei Drittel (60 %) der betrachteten Profile,


Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

258

bei denen Teile des Steckbriefes über die Pflichtangaben hinaus allgemein sichtbar sind. Mehrheitlich offen zeigten sich die StudiVZ-NutzerInnen dabei in erster Linie hinsichtlich der Offenlegung ihrer Freunde. Diese konnten 2009 bei rund 76 % der untersuchten Profile eingesehen werden. Vor dem Hintergrund des Community-Gedankens erscheint dieser Trend, gerade die Freundesbeziehungen nicht im Zugriff zu beschränken, überaus plausibel. Sensibler waren die NutzerInnen hingegen offensichtlich im Umgang mit den Gruppenzugehörigkeiten und Pinnwandeinträgen, die aber immerhin noch bei 45 bzw. fast 39 % der Profile uneingeschränkt angezeigt und damit allgemein öffentlich zugänglich gemacht wurden. Lediglich ein Fünftel der 421 betrachteten Profile (72) blieb über die Pflichtangaben hinaus für die öffentliche Betrachtung verschlossen – nutzte die Privatsphäreeinstellungen also maximal oder nahm erst gar keine entsprechenden Eintragungen vor. Diesen „Totalverweigerern“ standen jedoch 86 und also annähernd ebenso viele Profile gegenüber, bei denen alle Bereiche für alle sonstigen BenutzerInnen von StudiVZ sichtbar waren. Will man hier eine Art Trennlinie ziehen, dann könnte man sagen, dass das „Freundesnetzwerk“ vermutlich eher im Bereich der allgemeinen Öffentlichkeit anzusiedeln ist, während Gruppen und insbesondere weitere Angaben wie Pinnwandeinträge dann schon deutlich für eine beschränkte Encounter-Öffentlichkeit gedacht sind. Bereich

Zugänglich

Gültige Prozente

Freunde

321

76,2

Gruppen

190

45,1

Pinnwand

163

38,7

Fotoalben

150

35,6

Tabelle 3: Allg. sichtbare Profil-Bereiche, Ergebnisse Profilanalyse 2009 (N=421)

Im Rahmen der Online-Befragung 2011/2012 konnte hier noch etwas differenzierter gefragt werden. So wurde abgefragt, welche Informationen überhaupt angegeben und welche dann schließlich ohne Beschränkungen allgemein sichtbar gemacht wurden. Es ergeben sich dabei zwei unterschiedliche Rangfolgen. Einerseits stellen die Befragten viele Informationen auf der Plattform ein, machen diese aber nicht allgemein zugänglich. Erstaunlich auf den ersten Blick, dass über 85 % das (echte) Geburtsdatum angeben und ähnlich viele Fotos, auf denen sie klar zu erkennen sind. Sensibel sind dann erst E-Mail-Adresse und der Wohnort. Völlig Tabu scheinen Wohnanschrift (8,7 %) sowie Handy- (5,2 %) und Telefonnummer (2,6 %) zu sein. Angabe

Angegeben in Prozent

Allg. zugänglich

Geburtstag

85,5

17,7

Fotos (klar erkennbar)

83,4

9,7

Schule/Arbeitsplatz

71,8

18,9

Gruppen/Likes

61,9

10,2


259

Ausgabe 1/2013 Normen und Normierungen E-Mail-Adresse

57,6

8,9

Wohnort

50,0

12,8

Anschrift

8,7

6,1

Handynummer

5,2

4,6

Telefonnummer

2,6

4,2

Tabelle 4: Angegebene Daten und allg. sichtbare Profil-Bereiche, Ergebnisse Online-Fragebogen 2012 (N=2491), alles gültige Prozente

Sortiert man die Tabelle nun nach der letzten Spalte der allgemeinen Zugänglichkeit, so zeigt sich, dass durchaus die meisten Informationen nicht allgemein abrufbar eingestellt werden. Selbst bei eher allgemeinen Angaben zum Arbeitsplatz sind es unter 20 % und bei den persönlicheren Informationen, auch bei den Fotos, nur mehr unter 10 %. Für die besonders sensiblen Informationen liegen die Zahlen noch geringer (Wohnanschrift 6 %, Telefon 4 %, Mobiltelefon 2 %) Angegeben in Prozent

Allg. zugänglich in Prozent

Schule/Arbeitsplatz

71,8

18,9

Geburtstag

85,5

17,7

Wohnort

50,0

12,8

Gruppen/Likes

61,9

10,2

Fotos (klar erkennbar)

83,4

9,7

E-Mail-Adresse

57,6

8,9

Anschrift

8,7

6,1

Handynummer

5,2

4,6

Telefonnummer

2,6

4,2

Tabelle 5: Angegebene Daten und allg. sichtbare Profil-Bereiche, Ergebnisse Online-Fragebogen 2012 (N=2491), alles gültige Prozente

Entsprechend ergeben sich in beiden Untersuchungen durchaus vergleichbare Ergebnisse, auch wenn die Anteile bei den allgemein zugänglichen Informationen, wohl auch aufgrund der unterschiedlichen Beschaffenheit der Stichprobe, bei der Nutzerbefragung 2011/2012 deutlich niedriger liegen. Die Ergebnisse beider Studien weisen, wie auch andere Studien zeigen, auf eine durchaus vorhandene – eher hohe – Sensibilität im Umgang mit persönlichen Informationen hin und lassen so auf eine ausgeprägte Vorstellung einer schützenswerten Privatsphäre schließen.


Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

260

4.2 Fotomotive Die Untersuchung der Profile im Jahr 2009 diente auch dazu, der Frage nach den vorhandenen Motiven in den Fotoalben nachzugehen. Dazu wurden die Fotos, die in den Profilen unbeschränkt (also für eine allgemeine Öffentlichkeit) sichtbar waren, thematischen Clustern zugeordnet, wobei induktiv vorgegangen wurde und einzelne Fotos auch mehreren Kategorien zugeordnet werden konnten. Insgesamt gab es zehn solcher Cluster. 90 % der insgesamt 150 Profile mit sichtbaren Fotoalben enthielten Bilder, die dem Thema „Freunde“ zuzuordnen sind (mindestens ein Bild je Profil). Sie war damit die am häufigsten vorhandene Kategorie, wobei dies deutlich mit der Feststellung einer ohnehin hohen Bereitschaft zur Offenlegung der Freundesbeziehungen korrespondiert. Im Hinblick auf den Aspekt einer Veränderung der bisherigen normativen Vorstellungen von Privatheit und Privatsphäre relevanter ist, dass immerhin fast die Hälfte (48 %) der Profile mit Alben Fotos enthielten, welche die Profilinhaber auf Partys und beim Alkoholkonsum zeigten, und 23 % solche, die der Kategorie „knapp bekleidet“ zugeordnet werden konnten (meist Strand, Freibad). Auch der Kuss scheint durchaus eine private Geste zu sein, welche ebenfalls immerhin ein Fünftel der Profile (mit Alben) bereit war, einer diffusen Öffentlichkeit zu zeigen. Gerade die hohen Werte beim Alkoholkonsum sind wohl auch auf die jüngere Nutzergruppe der Plattform StudiVZ und damit auch den typischen herausgehobenen Events des studentischen Lebens geschuldet. I

Freunde

Urlaub

Party/ Alkohol

Hobby/ Freizeit

Quatsch

Anzahl Profile mit Bildern dieses Themenclusters

135

80

72

63

57

Anteil an Profilen mit Alben 90 %

53 %

48 %

42 %

38 %

II

knapp bekleidet

Kuss

Familie

Bett

erotisch

34

30

24

11

6

20 %

16 %

7 %

4 %

Anzahl Profile mit Bildern dieses Themenclusters

Anteil an Profilen mit Alben 23 %

Tabelle 6: Anzahl der Profile mit Bildern des entsprechenden Themenclusters, Ergebnisse Profilanalyse 2009 (Mehrfachzuordnungen möglich), Profile mit öffentlich einsehbaren Alben (N=150)

Im Online-Fragebogen 2011/12 sollten die betreffenden Motive mittels einer Likert-Skala bewertet werden, zudem wurde erfragt, ob die betreffende Person selbst solche Bilder von sich hochgeladen hat. Auf die Kategorie Freunde wurde hier aus mehreren Gründen verzichtet, vor allem weil es technische Veränderungen aufseiten der Plattformen gab, die eine Vergleichbarkeit der Daten nahezu unmöglich machten. Während bei StudiVZ einfach zwischen „Freunde sichtbar/nicht sichtbar“ ausgewählt werden konnte, ist dies bei Facebook mit den Einstellungen


261

Ausgabe 1/2013 Normen und Normierungen

des Profils verbunden und nicht separat einstellbar. Allerdings wurden nun zwei Kategorien für Alkoholkonsum und Party getrennt berücksichtigt, die Kategorie erotische Pose schien problematisch für das Abfragen. Zudem wurde die Kategorie „Bett“ im Fragebogen als „Fotos von Schlafenden“ operationalisiert. Auch die Kategorie „Quatsch“ wurde hier anders, mittels „Fotos, auf denen Menschen Grimassen schneiden“ abgefragt. I

Urlaub

Alkoholkonsum

Party

Hobby/ Freizeit

Grimassen

Selbst hochgeladen 67,4

16,8

43,7

70,1

36,5

Gefallen sehr gut/ gut

89,0

20,5

60,5

89,5

51,9

Differenz

21,6

3,7

16,8

19,4

15,4

II

Strand/ Freibad

Kuss

Familie

Schule/ Arbeit

Schlafend

29,9

34,7

40,3

11,1

Selbst hochgeladen 40 Gefallen sehr gut/ gut

65,7

49,9

67,7

54,5

17,6

Differenz

25,7

20

33

14,2

6,5

Tabelle 7: Selbst hochgeladene Motive und Bewertung der Motive („Wie gut gefallen Ihnen …“, Ergebnisse Online-Fragebogen 2012 (N=2491); alles gültige Prozente

Sehr gut gefallen Fotos aus dem Urlaub und der Freizeit (etwa 90 %), danach folgen Party, Freibad und Familie (mit über 60 %), schließlich noch Grimassen und Arbeit/Schule (über 50 %); die anderen Motive sind dann deutlich weniger beliebt. Am wenigsten gefallen Fotos von Schlafenden und solche beim Alkoholkonsum (etwa 20 %). Lässt man die Kategorie Party/ Alkohol beiseite, zeigt sich eine ähnliche Reihung wie bei der ersten Untersuchung; damals wurden Ergebnisse dahingehend gedeutet, dass Fotos von Dingen, die in der Öffentlichkeit stattfinden, auch öffentlich gezeigt werden. Es zeigt sich hier, dass beispielsweise Bilder von Partys beliebt sind, nicht aber solche, bei denen Menschen beim Konsumieren von alkoholischen Getränken zu sehen sind, was auf normative Vorgaben der Gesellschaft hinweisen könnte. Die in der Tabelle angegebene Differenz zwischen den beiden Angaben kann nicht statistisch interpretiert werden und dient lediglich der Illustration der Unterschiede bei beiden Angaben. Beispielsweise sind Familienfotos einerseits beliebt, werden aber vergleichsweise selten hochgeladen. Ganz ähnlich ist es bei Strand/Freibad und Urlaubsbildern. Über die genaue Bedeutung dieser Differenzen können keine genauen Aussagen gemacht werden. Insgesamt zeigt sich, dass auch hier die Ergebnisse recht ähnlich sind und deutlich auf das Vorhandensein eines Bewusstseins für Privatsphäre hindeuten.


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

5. Schlussfolgerungen Obwohl die hier diskutierten Befunde noch weitgehend explorativen Charakter haben und zur genaueren Erforschung weitere Auswertungen und Erhebungen ausstehen, lassen sich gleichwohl einige Tendenzen im Hinblick auf die Bedeutung von Social Network Sites für den gegenwärtigen Umgang von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit den normativen Konzepten von Privatheit und Privatsphäre zusammenfassen. Social Network Sites stellen ein zentrales Element im Repertoire der Online-Aktivitäten heutiger Jugendlicher und junger Erwachsener dar (vgl. Autenrieth/Bänziger/Rohde/Schmidt 2011: 35). Dabei dienen SNS insbesondere dazu, das real existierende Netzwerk aus (engen) Freunden und (losen) Bekannten abzubilden und zu pflegen (vgl. ebd.: 53). Wenn man so will, erfolgt hier also eine Ausweitung der personalen Beziehungen in die virtuelle Sphäre. Diese Ausweitung und teilweise auch Verlagerung von Beziehungsaufbau und -pflege in den Kontext der SNS bedeutet aber zugleich auch ihre mediale Veröffentlichung. Zwar besteht grundsätzlich die Möglichkeit, die Sichtbarkeit der eingestellten Inhalte in abgestufter Form einzuschränken und diese nur für bestimmte Personen oder Personengruppen zur Verfügung zu stellen, dennoch erfordern SNS ein gewisses Mindestmaß an Offenheit. Der bildliche Darstellungsmodus übernimmt dabei offensichtlich eine entscheidende Funktion. So waren fast 60 % der 2009 untersuchten Profile auf StudiVZ mit einem erkennbaren Profilbild der betreffenden Person versehen, fast 40 % der betrachteten Profile machten die Inhalte ihrer privaten Fotoalben öffentlich einsehbar. Auch in der Online-Befragung 2011/2012 wird die Wichtigkeit von Bildern in SNS erneut deutlich: Insgesamt geben über 80 % der Befragten an, Fotos auf ihrer Seite hochgeladen zu haben, auf denen sie klar erkennbar sind. Diese sind zu einem Großteil dann aber nur ausgewählten Personen(gruppen) zugänglich. Lediglich knapp 10 % machen diese Bilder allgemein einsichtig. Diese Differenz verweist auf einen letztendlich sehr bewussten Umgang mit privaten Inhalten. Das Verhältnis zwischen Öffnen und Verbergen wird gewissenhaft austariert. Von einer grundsätzlichen Auflösung bestehender Normen im Umgang mit Privatheit kann in diesem Sinne also keinesfalls die Rede sein, wohl aber von gewissen Normverschiebungen bzw. Lockerungen. Diese werden deutlich, wenn man die hohe Zahl von durchschnittlich 130 „Freunden“ berücksichtigt, über die Heranwachsende in SNS häufig verfügen.12 Schaut man genauer auf die Themen der eingestellten Fotografien, so kann man feststellen, dass es sich mehrheitlich um Aufnahmen von Situationen handelt, die ohnehin Teil einer allgemeinen oder Encounter-Öffentlichkeit sind, das heißt in diesen stattfinden bzw. sich auf diese beziehen. Hochgeladen werden demnach besonders gern Bilder aus den Bereichen „Hobby/ Freizeit“ (2009: 42 %, 2011/12: 70,1 %), „Party“ (2009: 48 %, 2011/12: 43,7 %) und „Urlaub“ (2009: 53 %, 2011/12: 67,4 %). Demgegenüber finden sich deutlich seltener Bilder, die tatsächlich intimen Charakter haben und Personen beispielsweise im Bett bzw. beim Schlafen zeigen. In beiden Untersuchungen hatten nur jeweils etwa 11 % der Personen derartige Bilder auf ihrem Profil eingestellt. Analytisch interessant ist aber dennoch die vergleichsweise hohe bzw. selbstverständliche Bereitschaft vieler NutzerInnen, private Situationen und Erlebnisse (auch wenn 12 Ergebnisse einer Befragung unter Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 24 Jahren in Deutschland und der Schweiz zur Nutzung von Social Network Sites (vgl. Autenrieth/Bänziger/Rohde/Schmidt 2011: 45).


Ausgabe 1/2013 Normen und Normierungen

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diese grundsätzlich im öffentlichen Raum stattfinden) mit anderen Personen über das bildliche Dokument zu teilen. Der Grund dafür scheint in zwei Funktionen zu liegen, die diese erfüllen: Einerseits dienen sie der Authentisierung des Profils. Die Bilder helfen dabei, die/den jeweilige/n NutzerIn als real existierende und sozial eingebundene Person zu markieren. Dass dabei ggf. auch fremde oder weniger nahestehende Personen diese Bilder sehen können, wird anscheinend billigend in Kauf genommen oder ist im Sinne der Selbstinszenierung als sozial akzeptierte, beliebte und gefragte Person sogar bewusst gewollt. Denn andererseits erfüllen die Fotos neben jener Authentisierung des Profils auch die Funktion, Aufmerksamkeit auf das Profil zu lenken und es für andere Personen interessant und kommunikativ anschlussfähig zu machen. Hier wiederum setzt ein weiterer relevanter Aspekt an, der in dieser zusammenfassenden Betrachtung nicht unbeachtet bleiben soll. Aus der Sozialpsychologie ist bekannt, dass interpersonale Beziehungen und das Agieren in sozialen Gruppen, aber auch die Rezeption von Medienprodukten heute wichtige Bestandteile der sozialen Entwicklung und Persönlichkeitsbildung eines Individuums sind. Folglich ist anzunehmen, dass auch die in SNS abgebildeten Netzwerke als Sozialisationsinstanzen fungieren. Insbesondere für den Umgang mit den Konzepten von Privatheit und Privatsphäre stellen diese freilich besondere Anforderungen gerade auch an junge Menschen, die zwischen dem Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung, der sich im Umfeld der SNS am besten durch die Preisgabe von Inhalten gegenüber einem möglichst großen Adressatenkreis realisieren lässt, und dem Schutz der Verbreitung allzu persönlicher oder gar intimer Informationen über die eigene Person abwägen müssen. Es ist anzunehmen, dass bei ebendiesem Prozess der Abwägung auch mediensozialisatorische Einflüsse der Habitualisierung eine Rolle spielen. So zeigt sich etwa eine gewisse Tendenz der Reproduktion massenmedial bekannter Inszenierungsmuster, wenn man die eingestellten Fotos und Informationen mediengeschichtlich einordnet. Sie verweisen deutlich auf Formen, die in der Boulevard-Presse und auch den entsprechenden Fernsehmagazinen bislang gezeigt wurden und werden. Gerade die Partybilder scheinen Mustern zu folgen, die bei entsprechenden Bildern von mehr oder weniger prominenten Personen genutzt werden – allen voran das Posing (vgl. Astheimer 2010). Gleichwohl sollten Social Network Sites nicht nur als Orte der Reproduktion uniformer Muster und des Zwangs zur Selbstinszenierung betrachtet werden. Sie bieten vielmehr ein interessantes und herausforderndes Übungsfeld für die Erprobung und Aushandlung sozialer Normen in Bezug auf Privatheit. Nie zuvor waren Jugendliche und junge Erwachsene solchermaßen vor die Aufgabe gestellt, das Bild ihrer Person in der Öffentlichkeit und die anderen über sie zugänglichen Informationen auf einem derart unsicheren Terrain selbstständig zu steuern. Dass sie beim Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs mit dieser Aufgabe Hilfestellung und Unterstützung benötigen, steht außer Frage. Die in diesem Beitrag dargestellten empirischen Befunde zeigen aber auch, dass dieser Prozess gelingen kann und bereits gelingt.

Literatur Arendt, Hannah (2003 [zuerst 1958]): Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper. Astheimer, Jörg (2010): Doku-Glamour: (Semi-)Professionelle Nightlife-Fotografie und ihre Inszenierungen, in: Neumann-Braun, Klaus/Astheimer, Jörg (Hg.): Doku-Glamour im Web 2.0: Party-Portale und ihre Bilderwelten, Baden Baden: Nomos, 163–185.


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

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Ausgabe 1/2013 Normen und Normierungen

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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

Anja Klimsa

Präventive Medienpädagogik Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/518

Abstract Anja Klimsa fasst zusammen, weshalb die handlungsorientierte Medienpädagogik im Bereich der Prävention als Empowerment der Beteiligten im Vergleich zur normativen Medienpädagogik das geeignete Mittel ist, um gegenwärtig pädagogisch vorzugehen. Preventive media pedagogics. Anja Klimsa summarizes why action-oriented media pedagogics is the proper means of current pedagogical intervention in the field of prevention as empowerment of stakeholders as compared to normative media pedagogics.

1. Einleitung Der Medienkonsum birgt zwei Seiten derselben Medaille. Die „Sonnenseite“ ist die der gesellschaftlich akzeptierten Nutzungsmotive und Gratifikationen wie Entspannung, Vernetzung, Wissensaneignung, Förderung etc. Auf der Kehrseite treten vor allem Überforderung und Desorientierung jugendlicher RezipientInnen in den Blick. Für Gewaltdarstellungen, Angst erzeugende Darstellungen, sexuelle Darstellungen etc. versucht der Gesetzgeber im Rahmen des Jugendmedienschutzes bzw. Strafrechtes Regelungen zu finden, welche vor dieser Kehrseite der Medaille bewahren. Dabei ist nicht erst seit dem digitalen Medienzeitalter klar, dass ein rein auf Gesetzen basierender Medienschutz nicht ausreichend ist. Dementsprechend wird an die Medienpädagogik von verschiedenen Seiten immer wieder die Forderung herangetragen, mögliche Entwicklungsbeeinträchtigungen oder gar Entwicklungsgefährdungen durch präventive medienpädagogische Arbeit zu verhindern und darüber hinaus zu einer förderlichen Mediennutzung zu befähigen. In diesem Artikel sollen nicht die vielfältigen möglichen Medienwirkungen thematisiert werden, vielmehr wird die Frage beantwortet, inwieweit Medienpädagogik geeignet ist, sogenannten „Fehlentwicklungen“ und auf Medien bezogenem Risikoverhalten entgegenzuwirken bzw. darüber hinaus sogar präventive Wirksamkeit zu entfalten.

2. Präventionsverständnis in der (medien)pädagogischen Arbeit Das Präventionsverständnis der (medien)pädagogischen Prävention entfernt sich vom ursprünglichen Ziel der Störungsvermeidung (vgl. Caplan 1964), indem nicht mehr der zu normierende, zu kontrollierende und mit Mängeln belastete Mensch im Mittelpunkt steht, sondern vom aktiv gestaltenden, mündigen und emanzipierten Menschen ausgegangen wird


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(Klimsa 2007: 19). Daraus folgt, dass der Ausgangspunkt medienpädagogischer Prävention kein vordefinierter Norm- und Zielpunkt und keine Anpassung an gesellschaftliche Normund Wertvorstellungen sein kann. Vor dem Hintergrund der Pluralität der Wertehaltungen (Hurrelmann, Albert et al. 2006) und der zunehmenden Unverbindlichkeit der Normenstandards (Herriger 2001) ist (medien)pädagogische Prävention frei von Normierung und Beeinflussung zu gestalten. Verbote und Anweisungen sind damit nicht Bestandteil (medien)pädagogischer Prävention. So verstandene Prävention versucht negativen Konsequenzen für den Menschen durch Förderung seiner Kompetenzen zuvorzukommen. Eine solche Förderung unterstützt eigenverantwortliche und selbstbestimmte Handlungsentscheidungen. Prävention mit dem Ziel der Kompetenzsteigerung geht vom aktiven, emanzipierten und mündigen Gestalten des eigenen Lebens aus. Individuelle Lebensbedingungen, Lebenskontexte und Entscheidungen sind vor dem Hintergrund der strukturellen Bedingungen zu betrachten und in der Präventionsarbeit zu thematisieren. Prävention in diesem Sinn will Menschen vor allem dabei unterstützen, ihre Lebens- und Verhaltensweisen, aber auch ihre Lebensbedingungen förderlich (d. h. ohne ungewollte negative Konsequenzen) zu gestalten (vgl. Klimsa 2007: 25f.). Dieses Präventionsverständnis wird hier als pädagogische Prävention bezeichnet. Lebensbedingungen und Lebens- und Verhaltensweisen, die im Bezug zu möglichen negativen Konsequenzen stehen, sind Gegenstand von pädagogischer Prävention. Solche Verhaltens- und Lebensweisen sind als Risikoverhalten zu bezeichnen. Da pädagogische Prävention Kompetenzsteigerung in diesen Bereichen anvisiert, ist vom Ziel der Risikokompetenz zu sprechen. „Risikokompetenz ist die Fähigkeit, risikobewusst zu handeln, die eigenen Lebensbedingungen und deren Bedeutung für Risikoverhalten zu kennen sowie diese Lebensbedingungen nicht nur risikoarm, sondern auch förderlich zu gestalten“ (Klimsa 2007: 213f.).

3. Verortung der Prävention in der Medienpädagogik Medienpädagogik weist vielfältige Bezüge und Verbindungen zur Prävention auf. Gesellschaftlich existiert eine große Erwartungshaltung gegenüber der Medienpädagogik in Fragen der Prävention. Solche hier nur beispielhaft genannten Präventionserwartungen sind der Schutz vor negativen Folgen des Medienkonsums, Prävention von realer Gewalt, Prävention von Risikoverhalten infolge von wissensstandabhängiger Benachteiligung, Prävention von Demokratieferne etc. Medien weisen zu Risikoverhaltensweisen sowohl im Bereich möglicher Verstärkung von Risikoverhalten (z. B. durch positiv dargestellte Risikoverhaltensweisen wie Alkoholkonsum und Gewaltanwendung oder positive Konnotation von selbstschädigendem Verhalten) als auch im Rahmen von riskanter Mediennutzung selbst (wie Hacken oder pathologische Internetnutzung) starke Präventionsbezüge auf. Dieser damit verbundenen Verantwortung will und kann sich die Medienpädagogik nicht entziehen. Da Normierungen und Verbote einer pädagogischen Prävention wiedersprechen (s. o.) ist zu klären, inwieweit und wo medienpädagogische Arbeit pädagogisches Präventionspotenzial entfalten kann.

4. Hauptrichtungen der Medienpädagogik Unter den drei Hauptrichtungen der Medienpädagogik (vgl. Schorb 1995 und Abbildung 1), der technologischen, der normativen und der handlungsorientierten Medienpädagogik, ist die


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technologische Medienpädagogik im Bereich der pädagogischen Prävention zu vernachlässigen, da sie die Optimierung der Lehr-Lernmedien anvisiert. Risiken/Risikoverhalten sowie Kompetenzerweiterung werden konzeptionell nicht oder nur zufällig tangiert. Die normative Medienpädagogik hingegen setzt es sich zum Ziel, negative Folgen des Medienkonsums zu vermeiden. Dem aktuellen Normen- und Wertekanon der Gesellschaft widersprechende Inhalte sollen möglichst nicht oder nur erschwert zugänglich sein (z. B. Distributionsschranken des Jugendmedienschutzes). Normative Medienpädagogik bedeutet neben gesetzlich definierten Schutzmaßnahmen auch das medienerzieherische Handeln mit dem Ziel des vorher als richtig definierten Umgangs mit Medien. Die normative Medienpädagogik wird auch präventive bzw. präventiv-normative Medienpädagogik genannt (vgl. Hüther/Poedehl 2005; Schorb 1995). Diese Begriffspaarung ist jedoch irreführend. Die Richtung der normativen Medienpädagogik ist nicht mit pädagogischen Bemühungen um Prävention gleichzusetzen. Hier soll zwar vor möglichen Gefahren bewahrt werden, diese Gefahren werden jedoch auf direkte Mediengefahren beschränkt, was nur einen Bruchteil der Präventionsthemen ausmacht. Vor allem aber widerspricht dieses Bewahren mittels gesetzlicher Regelungen und vordefinierten Zielverhaltens den oben erläuterten Grundsätzen der pädagogischen Prävention. Den RezipientInnen wird nur ein Minimum an Einflussmöglichkeiten und damit auch an Eigenverantwortung eingeräumt. Der Mensch erscheint damit nicht als kompetentes, aktives und reflexives Wesen, sondern als unmündiges Mängelwesen. Natürlich sind gesetzliche Regelungen z. B. gegen Kinderpornografie oder zur eingeschränkten Zugänglichkeit von ängstigenden Inhalten sinnvoll und nützlich, jedoch sind solche Maßnahmen nicht im Bereich pädagogischer Prävention zu verorten. Hier nimmt ein Gesetzgeber seine Fürsorgepflicht wahr und regelt paternalistisch, welche Inhalte für wen in welcher Weise zugänglich sein dürfen. Die Umsetzung dieser Regelungen stößt jedoch gerade in Zeiten der digitalen Medien immer wieder an schnelle Grenzen. So ist klar, dass diese Regelungen allein zwar eine erste Hilfestellung sind, aber keinen ausreichenden Schutz ermöglichen. Die normative Medienpädagogik hat daher auch schon jetzt flankierende Bildungsangebote integriert. Einige dieser Lernangebote können nach der hier zugrunde liegenden Definition von präventiver Pädagogik als Beitrag der Medienpädagogik zur Prävention angesehen werden. Unterscheidungskriterium ist hier die Betrachtung der Zielgruppe. Nur die Angebote, welche die Teilnehmenden als bewusst handelnde AkteurInnen begreifen, die selbst ihren Raum gestalten, ihre Ziele setzen, ihre Handlungen bewerten und Maßnahmen ergreifen, sind als präventive Medienpädagogik zu begreifen. Einer Medienpädagogik jedoch, die auf selbstbeschränkendes Medienhandeln (vgl. Hüther/Poedehl 2005) zielt, kann keine Offenheit der Normen und Werte zugrunde liegen. Lernangebote, die diesen Widerspruch auflösen wollen, orientieren sich an der handlungsorientierten Medienpädagogik. Diese Angebote können somit unter dem Bereich der handlungsorientierten Medienpädagogik subsumiert werden. Die handlungsorientierte Medienpädagogik stellt die RezipientInnen und ihre Medienaneignung in den Mittelpunkt. Durch den aktiven, handelnden Umgang mit Medien im Rahmen handlungsorientierter medienpädagogischer Angebote reflektieren deren TeilnehmerInnen ihre soziale Realität und nehmen an der Kommunikation und Interaktion der Gesellschaft teil. Ziel handlungsorientierter Medienpädagogik ist die Weiterentwicklung der Kompetenz, insbesondere der Medienkompetenz, um gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Innerhalb der Hauptrichtungen der Medienpädagogik stellt einzig die handlungsorientierte Medienpädagogik die Mündigkeit und Kompetenz des Menschen nicht infrage, sondern setzt diese voraus


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und fördert sie weiter. Damit verfolgt nur die handlungsorientierte Medienpädagogik Ziele im Kompetenzbereich und begreift den Menschen, wie die pädagogische Prävention auch, nicht als Opfer seiner Umstände, sondern als handlungs- und gestaltungsfähiges Subjekt, also als mündigen, emanzipierten Menschen. Daher ist einzig diese Hauptrichtung der Medienpädagogik mit den Zielen, Vorgehensweisen und Ansichten einer präventiven Pädagogik vereinbar und somit für Prävention relevant.

Abb. 1: Hauptrichtungen der Medienpädagogik Diagramm: Anja Klimsa

5. Umsetzung der präventiven Medienpädagogik Wie bereits erläutert ist die handlungsorientierte Medienpädagogik vor allem aufgrund ihres Menschenbildes und der Zielsetzung die geeignete Richtung der Medienpädagogik, um pädagogische Prävention zu betreiben. Methodisch favorisiert die handlungsorientierte Medienpädagogik die aktive Medienarbeit (vgl. Schell 2003). Ziel aktiver Medienarbeit ist die Steigerung von Handlungskompetenz insbesondere in ihren Ausprägungen Kommunikative Kompetenz und Medienkompetenz. Medien fungieren dabei als Spiegel, Mittel und Mittler, um eigene Gegebenheiten zu verstehen, zu erfahren und zu gestalten. So setzen sich die Teilnehmenden in Prozessen aktiver Medienarbeit mit ihren eigenen, auf ein Thema und die Medien bezogenen Einstellungen, Verhaltens- und Handlungsweisen auseinander und verändern sich und ihre Realität, indem die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung wieder in den öffentlichen Diskurs eingespielt werden. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist dabei keineswegs von vornherein von Externen vorgegeben, sondern Produkt des Gruppenprozesses innerhalb der aktiven Medienarbeit. Im Präventionszusammenhang steht ein selbstbestimmter und kritisch-reflexiver Umgang mit Lebensbedingungen im Zentrum. Ein solcher Umgang ist nur über kompetentes Handeln (das Handlungskompetenz, Kommunikative Kompetenz und Medienkompetenz voraussetzt) möglich. Diese Kompetenzen fördert die handlungsorientierte Medienpädagogik. Will Medienpädagogik sich explizit und nicht nur implizit über eine allgemeine Kompetenzsteigerung der pädagogischen Prävention widmen, dann stehen thematisch Risiken, Risikoverhalten oder aber förderliche bzw. hinderliche Lebensbedingungen im Mittelpunkt der Ausein-


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andersetzung mit Realität. In einer auf präventionsrelevante Themen zentrierten aktiven Medienarbeit können: • • • • •

Medienbezüge eigener präventionsrelevanter Handlungsentscheidungen reflektiert werden, Medien als Basis für die Aneignung präventionsrelevanten Wissens genutzt werden, Medien zur Risikokommunikation (vgl. Greiving 2002: 54) anregen und eingesetzt werden, mithilfe von Medien präventionsrelevante Ziele verfolgt werden und Medien als alternative Freizeitbeschäftigung zu Risikoverhalten erfahren werden.

Wenn die aktive Medienarbeit auf den Themenkomplex Risiken sowie förderliche bzw. hinderliche Lebensbedingungen fokussiert, dann erreicht sie neben der Steigerung der allgemeinen Handlungskompetenz, der Kommunikativen Kompetenz und der Medienkompetenz auch das Ziel der Steigerung der Risikokompetenz. Ist eine nachhaltige pädagogische Präventionsarbeit mit medienpädagogischen Methoden vorgesehen, dann ist ein Prozess des Empowerments mithilfe aktiver Medienarbeit (Klimsa 2007) anzustreben. Ein solcher Prozess geht über aktive Medienarbeit hinaus, indem hier die Grundhaltung die Philosophie der Menschenstärke, also Vertrauen in die Fähigkeiten der Gruppe und deren Individuen, Akzeptanz von Eigensinn der Gruppenmitglieder, Respekt vor dem Weg und der Zeit der Einzelnen, Verzicht auf Expertenmacht und Orientierung an der Lebenszukunft (Herriger 2006), zum Tragen kommt. Die Teilnehmenden des Prozesses des Empowerments mithilfe aktiver Medienarbeit gestalten in kooperativer Selbstqualifikation (Heidack 2001) handelnd und exemplarisch eigene Lebensbedingungen. Diese Lebensbedingungen sind als Protektivfaktoren anzusehen, stellen also förderliche Bewältigungsbedingungen und Unterstützungsbedingungen zur Verfügung. Die hier erworbene Handlungskompetenz im Umgang mit den eigenen Lebensbedingungen wird über Selbstwirksamkeitserfahrung und gemeinschaftliches Handeln erweitert. Der Prozess verläuft nicht mehr linear, sondern zirkulär. Dies bedeutet, dass die Ziele und Ergebnisse immer wieder überprüft und ggf. geändert werden. Bezogen auf präventive medienpädagogische Arbeit bedeutet Empowerment mithilfe aktiver Medienarbeit, dass Menschen dazu ermuntert und darin bestärkt werden, die sie umgebenden und für sie relevanten Risiken (auch mit Medien im Zusammenhang stehende Risiken) zu erkennen und deren Bedeutung und Wirksamkeit zu reflektieren. Darüber hinaus werden sie darin unterstützt, auf Basis dieser Reflexion so zu handeln, dass nicht nur keine von ihnen als negativ bewerteten Konsequenzen eintreten, sondern sogar förderliche Bedingungen entstehen. Damit wirkt dies Art der medienpädagogischen Prävention viel nachhaltiger und auf breiterer Basis als Verbote, Regeln und Strafen. Daher ist in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aber vor allem in der intergenerativen medienpädagogischen Arbeit dieser Ansatz zu präferieren.

Literatur Caplan, Gerald (1964): Principles of preventive psychiatry, New York/London: Basic Books. Greiving, Stefan (2002): Räumliche Planung und Risiko, München: Murmann. Heidack, Clemens (2001): Kompetenzentwicklung und Gestaltung des Wandels durch Kooperative Selbstqualifikation, in: Heidack, Clemens (Hg.): Book Titel (13–30), München: Hampp. Herriger, Norbert (2001): Prävention und Empowerment. Brückenschläge für die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen, in: Freund, Thomas/Lindner, Werner (Hg.): Book Titel (97–111), Opladen: Leske + Budrich.


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Herriger, Norbert (2006): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. (4. ed.), Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer. Hurrelmann, Klaus/Albert, Mathias et al. (2006): Jugend 2006: eine pragmatische Generation unter Druck, Frankfurt/M.: Fischer. Hüther, Jürgen/Poedehl, Bernd (2005): Geschichte der Medienpädagogik, in: Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (Hg.): Book Titel (Vol. 4, 116–127). München: kopaed. Klimsa, Anja (2007): Prävention und Medienpädagogik. Entwicklung eines Modells der medienpädagogischen Präventionsarbeit, Göttingen: Cuvillier. Schell, Fred (2003): Aktive Medienarbeit mit Jugendlichen. Theorie und Praxis. (Vol. 4), München: kopaed. Schorb, Bernd (1995): Medienalltag und Handeln: Medienpädagogik im Spiegel von Geschichte, Forschung und Praxis, Opladen: Leske + Budrich.


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Thomas Damberger

„Halbmedienkompetenz?“ Überlegungen zur kritischen Dimension von Medienkompetenz Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/496

Abstract Der folgende Beitrag befasst sich mit der Mehrdimensionalität und der Normativität des Medienkompetenzbegriffs. Dabei wird deutlich, dass Medienkompetenz im pädagogischen Sinne gerade auf die kritische Dimension nicht verzichten kann. Diese Unverzichtbarkeit wird epistemologisch im Rückgriff auf Schopenhauer, Humboldt und Kant hergeleitet. “Partial media competence?” – Reflections on the critical dimension of media competence. The following article deals with the multidimensionality of the concept of media literacy. It will be clear that media literacy in a pedagogical sense cannot abandon the critical dimension. This indispensability is derived using the epistemology of Schopenhauer, Humboldt and Kant.

1. Einleitung Im Jahre 2005 veröffentlichte der Softwareentwickler Tim O’Reilly einen Aufsatz mit dem Titel „What is Web 2.0?”. Im Gegensatz zum „alten“ Netz, der Version 1.0, zeichnet sich das neue Web 2.0 keineswegs durch eine „grundlegend neue Art von Technologien oder Anwendungen“ aus, sondern durch „eine in sozio-technischer Hinsicht veränderte Nutzung des Internets, bei der dessen Möglichkeiten konsequent genutzt und weiterentwickelt werden“ (Gabler Wirtschaftslexikon: 2013). Diese veränderte Nutzung des Internets wird deutlich in den Partizipationsmöglichkeiten der UserInnen. Wo im Web 1.0 ProduzentInnen von KonsumentInnen noch recht klar voneinander getrennt waren, die einen also Webseiten und deren Inhalte erstellt und die anderen diese Inhalte gelesen haben, kann sich in der Version 2.0 potenziell jede/r ins Netz einschreiben und dieses mitgestalten. Soziale Netzwerke, Blogs und Wikis sind ganz hervorragende Beispiele für eine partizipative Nutzung des Web 2.0. Oder um es mit O’Reilly zu formulieren: “Network effects from user contributions are the key [...] in the Web 2.0 era.” (O’Reilly 2005). Die Netzwerk-Effekte, von denen O’Reilly spricht, entstehen durch die Zusammenarbeit der UserInnen untereinander. Diese Zusammenarbeit (im Netz) ist allerdings nur dann gewährleistet, wenn Anwendungen zur Verfügung stehen, die eine solche ermöglichen. Ganz ähnlich, wie die Zusammenarbeit durch die Anwendungen beeinflusst wird, wirken die UserInnen wiederum auf die Anwendungen ein, indem sie beispielsweise den Quellcode vorhandener Programme an ihre Bedürfnisse anpassen oder neue Applikationen entwickeln: „Beim Web 2.0 kann man also zwischen der Leistung der Software und der Leistung der


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User-Community nicht scharf unterscheiden. Die Software ermöglicht es, dass die User zusammenarbeiten, und sie baut gleichzeitig wieder auf der Tätigkeit der Nutzer auf.“ (Giebel et al. 2012: 20) Damit UserInnen im Netz aktiv werden können, benötigen sie Medienkompetenz. Nun umfasst dieser zum Buzzword avancierte Begriff mehrere Dimensionen. Solche Dimensionen sind beispielsweise das Wissen darüber, was „Neue Medien“ sind und die Fähigkeit, mit diesen Neuen Medien umgehen zu können. Eine andere Dimension zeigt sich in dem Vermögen, Medien kritisch beurteilen, und noch eine weitere darin, diese kreativ gestalten zu können (vgl. Hugger 2008: 93). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Differenzierung, die Dieter Baacke mit Blick auf den Medienkompetenzbegriff vornimmt. Ihm zufolge sind Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung die wesentlichen Merkmale von Medienkompetenz. Nun könnte man durchaus ketzerisch fragen, was mit derjenigen Nutzerin ist, die einen Blog erstellt und über ihre Erfahrungen im Bachelor-Studium schreibt. Medienkundig ist sie sicherlich, Medien nutzen kann sie auch und dass sie gestalterisch mit ihnen umgehen kann, hat sie mit dem Erstellen und Betreiben des Blogs bewiesen. Allein an der Medienkritik mag es mangeln, aber: So what, nobody is perfect. Ist jemand, der drei der vier angeführten Dimensionen erfüllt, „halbmedienkompetent“? Wir wissen alle, was Adorno zum Thema „Halbbildung“ geäußert hat: „Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind“ (Adorno 2006: 42). Wenn das auch auf den Medienkompetenzbegriff zutrifft, haben MedienpädagogInnen eine Menge Arbeit vor sich. Mir geht es im Folgenden nicht darum, der Frage nachzugehen, ob es so etwas wie Halbmedienkompetenz gibt, sondern ich unterstelle (ganz unwissenschaftlich), dass wir bei unserem Vorhaben, Menschen zu einem kompetenten Umgang mit Medien zu führen, in der großen Gefahr stehen, sie zur Halbmedienkompetenz zu verführen. Ich werde den Begriff anders verwenden, als Adorno das im Falle der Halbbildung unternimmt, aber die Konsequenz, die mit diesem „Halb“ einhergeht, wird dieselbe sein. Nur zur Hälfte medienkompetent zu sein, ist nicht die Vorstufe zur Medienkompetenz, sondern ihr Todfeind. Und die Hälfte, um die es mir geht, ist die kritische Dimension.

2. Das Problem der anderen Wodurch zeichnet sich die kritische Dimension der Medienkompetenz aus? Fangen wir bei der Beantwortung dieser Frage ganz vorne an. Dass sich eine Schülerin im Laufe des Unterrichts Wissen über eine bestimmte Sache angeeignet hat, bedeutet nicht zwingend, dass sie dieses Wissen auch anwenden kann, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Es kann also durchaus sein, dass das Wissen im Zuge des Lernens lediglich seinen Speicherort gewechselt hat. Was einst in Büchern oder PDF-Dokumenten als „totes“ Wissen ruhte, befindet sich nun im Kopf der Schülerin. Aber dadurch, dass der Speicherort nun ein lebendiger ist, ist nicht auch das Wissen plötzlich zum Leben erwacht. Der Kompetenzbegriff in seiner einfachsten, man möchte sagen: fundamentalen Fassung setzt genau an dieser Stelle an. Der fehlende Übergang vom Wissen zum Handeln soll behoben, die aufklaffende Lücke geschlossen werden. Wir können also festhalten, dass Kompetenz meint, das zur Problemlösung Nötige sowohl zu wissen, als auch tun zu können. Und genau das kann man lernen, indem beispielsweise immer wieder Situationen hergestellt werden, in denen die Schülerin ihr Wissen praktisch werden lassen muss. Dieses „Muss“ erweist sich dabei als – um es vorsichtig auszudrücken – nicht ganz unproble-


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matisch. Die Schülerin, die ihr Wissen praktisch werden lässt, handelt kompetent, allerdings nach fremden Zwecken. Die Situation gibt sozusagen das Problem vor. Dieses Problem durch eigene Einsicht zu erkennen, ist hingegen weder nötig noch gefordert. Vielmehr geht es darum, auf das vorgegebene Problem adäquat zu reagieren, indem das akkumulierte Wissen zur Problemlösung eingesetzt wird. Ein solches Verständnis von Kompetenz ist alles andere als ein pädagogisches, sondern steht genau genommen in der Tradition eines naturwissenschaftlichen Kompetenzbegriffs, wie er beispielsweise in der Biologie verwendet wird. Dort bezeichnet er die Fähigkeit der Zellen, „aus ihrer Umgebung DNA aufzunehmen. Diese Zellen verfügen […] über Eigenschaften, die sie in eine bestimmte latente Beziehung zur Umgebung stellen (ähnlich dem Wissen), und über ein ‚Verhaltensrepertoire‘, diese latente Beziehung zu aktualisieren. Dass sie dies auch realisieren, also tatsächlich DNA aufnehmen, entspringt nun allerdings keiner irgendwie gearteten (Frei-)Willigkeit, sondern ‚geschieht‘ als in ihrer Natur (wenn auch durch menschlichen Eingriff) angelegte zwingend erfolgende kausale Reaktion.“ (Sesink 2011: 4f.) Nun wird sicherlich niemand ernsthaft behaupten, dass die Anwendung von Wissen zur Lösung eines vorgegebenen Problems mit der Schülerin lediglich geschieht, aber darum geht es auch gar nicht. Es geht vielmehr darum, dass der Übergang von Wissen in Handeln aufgrund eines Motivs stattfindet, das scheinbar selbstverständlich durch die Situation vorgegeben wird. Die Schülerin wird durch ein Motiv, auf das sie nicht durch eigene Einsicht gelangt ist, affiziert, sie handelt also, indem sie der Vorgabe einer fremden Vernunft folgt. Anders formuliert: Ein Problem, das es zu lösen gilt, muss als Problem erkannt werden. Lediglich zu lernen, wie man Probleme löst, die andere vorgeben, erinnert an eine naturwissenschaftliche Vorstellung von Kompetenz und ist weit davon entfernt, einen Menschen zu befähigen, in Situationen Probleme als solche (für sich) zu bestimmen. Im Gegenteil, eine solche Kompetenz ist affirmativ, also das Gegenteil von Kritik. Sesink arbeitet diesen Gedanken in seinem 2011 erschienenen Aufsatz „Kompetenz in Technik“ ausgesprochen klar heraus und betont: „Nicht das affirmativ problemlösende Eingebundensein in situative Zusammenhänge würde Kompetenz ausmachen, sondern der Problemlösefähigkeit wäre die im wahren Sinne ‚entscheidende‘ Fähigkeit vorzulagern, selbst beurteilen zu können, was ein Problem ist und worin seine Lösung (oder auch Unlösbarkeit) bestehen könnte.“ (Sesink 2011: 7f.)

3. Die Macht der Motive Was Sesink hier feststellt, klingt erst einmal richtig und durchaus sinnvoll. Es erinnert an das Kantische Diktum: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“. Die Frage ist, ob der Mut, selbst zu denken, ausreicht, eine eigene Entscheidung treffen zu können und infolge dessen ein Problem als solches zu identifizieren. Anders gefragt: Können wir die Motive für das Praktisch-werden-Lassen unseres Wissens überhaupt selbst bestimmen oder sind wir dabei möglicherweise einer Illusion aufgesessen? Ist es überhaupt möglich, dass wir uns willentlich für ein (zu lösendes) Problem entscheiden? Arthur Schopenhauer, der sich vor etwa 200 Jahren in seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ mit dem Zusammenhang von Wille und Motiv ausgiebig befasst hat, bezweifelt mit gutem Grund, dass wir wollen können, was wir wollen. Für Schopenhauer ist die Welt Wille und zugleich Vorstellung. Nun sieht sich Schopenhauer selbst in der Tradition Kants und in der Tat können wir diese doppelte Seinsart im Rückgriff auf Kants Terminologie besser verstehen. Der Wille ist im Grunde genom-


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men das Ding an sich, und ebenso, wie sich das Ding an sich als solches der Erkenntnis entzieht, kann auch der reine Wille nicht erkannt werden – wohl aber in seiner Objektivation. Der Mensch in seiner Leiblichkeit ist eine solche Objektivation des Willens. Wir sind der Leib, der wir sind, und wir können uns diesen Leib zugleich vorstellen. Mein Leib ist hier, an diesem Ort, in dieser Minute, da ich ihn betrachte, und dass er überhaupt ist, hat einen Grund. Schopenhauer spricht in diesem Kontext vom principium individuationis. Gemeint ist damit Folgendes: Die Welt als unsere Vorstellung, die wir qua unseres Leibes vernehmen können, erfahren wir ausschließlich innerhalb der Kategorien Raum, Zeit und Kausalität. Nun ist die Welt aber eben nicht nur Vorstellung, sondern zugleich Wille. Da wir aber bereits Objekt gewordener Wille sind und (uns) folglich nur innerhalb der genannten Kategorien wahrnehmen können, bleibt uns die Anschauung des reinen Willens notwendig versagt. Der Wille ist (als nicht-objektivierter) jenseits von Raum, Zeit und Kausalität. Die ganze Welt, alles, was ist, ist Wille. Objektiviert erscheint er uns als Welt – in hundert Formen, Tausenden Gestalten – und damit immerzu individuiert als Vorstellung. Soll heißen: Ich bin Wille und Vorstellung, genauso, wie die Tastatur, auf der ich schreibe, und der Hund, der draußen vor der Türe liegt. Mit Schopenhauers Worten: „Dem Subjekt des Erkennens, welches durch seine Identität mit dem Leibe als Individuum auftritt, ist dieser Leib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: ein Mal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet.“ (Schopenhauer 1859: 143; Hervorh. im Original) Nun könnte man freilich annehmen, dass der Mensch als objektivierter Wille etwas will und das, was er will, anschließend vollzieht. Mit dieser Annahme läge man im Übrigen völlig richtig. Unglücklicherweise wird hier aber in der Regel mitgedacht, dass wir zugleich Subjekt des Willens sind, dass wir also entscheiden, was wir wollen. Genau das sieht Schopenhauer anders. Das Subjekt ist für ihn der Wille: „Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität verknüpft, stehn nicht im Verhältniß der Ursache und Wirkung; sondern sie sind Eines und das Selbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben: ein Mal ganz unmittelbar und ein Mal in der Anschauung für den Verstand.“ (Ebd.) Zwischen Wille und Handlung herrscht also keine kausale Beziehung, sondern die Handlung ist Wille. Ähnliches gilt für das Wollen des Willens: „Ich kann thun was ich will: ich kann, wenn ich will, Alles was ich habe den Armen geben und dadurch selbst einer werden, – wenn ich will! – Aber ich vermag nicht, es zu wollen.“ (Schopenhauer 1860: 82; Hervorh. im Original) Und Schopenhauer liefert zugleich die Begründung, warum ich das „Ich will“ nicht wollen kann: „weil die entgegenstehenden Motive viel zu viel Gewalt über mich haben, als daß ich es könnte“ (ebd.). Schopenhauer benennt also die Macht der Motive als Grund dafür, dass der Mensch nicht wollen kann, was er will. Die Motivation spielt nun aber eine ganz wesentliche Rolle im Rahmen der Kompetenz. Durch Einsicht in die Situation wird ein Problem, das es zu lösen gilt (oder das eben als unlösbar erscheint), offenbar. Dieses Problem erweist sich dann als das eigene, also „mein“ Problem, was ich mit meinem Wissen, auf das ich zurückgreife, zu lösen versuche. D. h. die Einsicht eröffnet mir die Motive, die ausschlaggebend dafür sind, dass ich meine Kompetenz wirksam werden lassen kann – so lässt sich im Kern die Argumentation Sesinks zusammenfassen: „Die motivationale Komponente kann pädagogisch daher […] als eine motivierende Einsicht in den Sinn des Handelns [verstanden werden]; einen Sinn, der sich eben


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nicht aus der Situation heraus schon aufdrängt oder gar aufzwingt, sondern zu dem der Handelnde sich bewusst verhält und für den er sich frei entscheidet.“ (Sesink 2011: 5) Eine solche freie Entscheidung für den Sinn gibt es nach Schopenhauer nicht, zumindest nicht in der Hinsicht, dass ein Subjekt seine Entscheidungsmacht wirken lässt, indem es eine Entscheidung trifft. Vielmehr ist es so, dass der Intellekt als das bloße Organ des Willens (vgl. Spierling 2002: 103) die Motive, die auf den Willen einwirken, sich vergegenwärtigen und zwischen den einzelnen Motiven immer wieder abwägen kann. Diese Deliberationsfähigkeit ist allerdings auch schon alles, wozu der Intellekt mit Blick auf eine Entscheidung in der Lage ist, denn zu guter Letzt ist es der Wille, der nach einem Kampf der Motive dem stärksten Motiv folgen wird. Da der Mensch Wille ist, haben wir es also durchaus mit einer Willensfreiheit zu tun. Der Mensch entscheidet sich für das, was er will, aber er macht nicht das Wollen des Willens, sondern führt durch seine Denkfähigkeit lediglich die Motive vor. Was heißt das nun für den Kompetenzbegriff? Als PädagogInnen versuchen wir, die Kompetenzfähigkeit eines Menschen zu fördern, indem wir ihn dabei unterstützen, Einsicht in eine Situation zu gewinnen. Diese Einsicht führt dann idealerweise dazu, dass derjenige, der sich in der Situation befindet, ein Problem für sich erkennt und das erlernte Wissen zur (hoffentlich erfolgreichen) Lösung des Problems einsetzt. Die motivationale Komponente hängt dabei zwingend mit der Einsichtsfähigkeit zusammen, denn wenn wir Schopenhauers epistemologische Überlegungen ernst nehmen, dann geht mit einer größeren Einsichtsfähigkeit zugleich die Chance einher, dass der Intellekt die eingesehenen Motive dem Willen vorführt, indem er über die Motive nachdenkt. Der Wille hat damit mehr Möglichkeiten, sich zu entscheiden.

4. Was ist und was sein soll Und dennoch haben wir als PädagogInnen mit Schopenhauer ein gewaltiges Problem. Es ist nämlich durchaus möglich und widerspricht den oben genannten Ausführungen keineswegs, dass das stärkste Motiv beispielsweise die Angst ist. Wir hätten es dann also mit der Einsicht in eine Situation, dem Bestimmen eines (eigenen) Problems und der Lösung des Problems durch das Praktisch-werden-Lassen des Wissens zu tun. Das Ganze würde auch aus einer freien Willensentscheidung heraus geschehen und wäre doch so ziemlich das Gegenteil von dem, was man sich als Pädagoge wünschen würde. Warum aber ist das so? Was ist – aus pädagogischer Sicht – falsch an Schopenhauers Denken? Die Antwort finden wir in seiner Preisschrift über die Freiheit des Willens: „Wie nun dies bei den Ursachen im engsten Sinne und bei den Reizen der Fall ist, so nicht minder bei den Motiven; da ja die Motivation nicht im Wesentlichen von der Kausalität verschieden, sondern nur eine Art derselben, nämlich die durch das Medium der Erkenntniß hindurchgehende Kausalität ist. Auch hier also ruft die Ursache nur die Aeußerung einer nicht weiter auf Ursachen zurückzuführenden, folglich nicht weiter zu erklärenden Kraft hervor, welche Kraft, die hier Wille heißt, uns aber nicht bloß von außen, wie die andern Naturkräfte, sondern, vermöge des Selbstbewußtseyns, auch von innen uns unmittelbar bekannt ist. Nur unter der Voraussetzung, daß ein solcher Wille vorhanden und, im einzelnen Fall, daß er von bestimmter Beschaffenheit sei, wirken die auf ihn gerichteten Ursachen, hier Motive genannt.“ (Schopenhauer 1860: 86f.; Hervorh. im Original) Wir haben es also im Verhältnis von Motiv und Wille mit einer Kausalbeziehung zu tun. Angst ist ein starkes Motiv, von daher hat Angst in der Regel gute Chancen, dasjenige Motiv zu werden, für das der Wille sich entscheidet. Nun ist in dem angeführten Zitat aber auch von einer bestimmten Beschaffenheit des Wil-


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lens die Rede. Diese zeichnet den individuellen Charakter des Menschen aus. Das heißt, ein und dasselbe Motiv kann bei Person A keinen Willensakt bewirken, bei Person B hingegen durchaus. Eine solche Charakterlehre macht wenig Hoffnung, denn bei Schopenhauer ist der Charakter unabänderlich – ebenso wie der Wille nicht verändert werden kann. Der individuelle Charakter als bestimmte Beschaffenheit des Willens ist für den Menschen ganz und gar unverfügbar. Dasselbe gilt auch für die Motive, denn die Macht des Intellekts – man könnte auch sagen: die Verstandestätigkeit – erschöpft sich in der Deliberation der eingesehenen Motive. Wir haben es also mit einer Unverfügbarkeit, soll heißen: Fremdbestimmung in doppelter Hinsicht zu tun, bezogen auf das, was der Mensch ist (Wille), und auf das, was von außen als Ursache (Motiv) auf den Menschen einwirkt. Eine ganz ähnliche Denkfigur finden wir in Wilhelm von Humboldts Theorie der Bildung der Menschen aus dem Jahr 1793. Humboldt entfaltet in seiner Schrift vier Strukturmomente der Bildung: „Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will. Da jedoch die blosse Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die blosse Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt außer sich.“ (Humboldt [1793] 2006: 214). Das erste Strukturmoment stellt die Kraft dar, die sich auf nichts Einzelnes, wohl aber auf die Welt hin ausrichtet. Das entspricht im Kern dem Schopenhauerschen Willen, der sich wesenhaft dadurch auszeichnet, dass er will. Diese Kraft, die Humboldt an anderer Stelle als „eine unbekannte Größe“, als „primitive Kraft“, als „das ursprüngliche Ich“ und „die mit dem Leben zugleich gegebne Persönlichkeit“ (Humboldt [1796/97] 2006: 427) bezeichnet – und die damit sehr an die o. a. bestimmte Beschaffenheit des Willens, also an den individuellen Charakter erinnert –, bewegt sich auf die Welt zu und stößt an deren Widerständigkeit und damit gleichsam an die Anforderungen, die von dieser Welt ausgehen und an den Einzelnen gerichtet werden. Das ist das zweite Strukturmoment. Im Zuge dieses Anstoßes wird die Kraft, das aggredi, also das Sich-Zubewegen auf die Welt zurückgebeugt. Die Kraft als solche wird damit in der Reflexionsbewegung (drittes Strukturmoment) erfahrbar, ebenso wie die Welt durch den Widerstand, den sie darstellt, ins Bewusstsein gerät. Was damit offenbar wird, ist die bereits angeführte doppelte Fremdbestimmung, denn weder bestimmt der Mensch über die Welt und deren Anforderungen, noch über die ihn auszeichnende Kraft, die er zwar ist, die sich aber dennoch seiner Macht entzieht. Nun kann der Mensch, wenngleich er sich der doppelten Fremdbestimmung bewusst ist, in dieser Gewissheit nicht verharren. Er befindet sich vielmehr immerzu im Entwurf, d. h. was auch immer er tut oder nicht tut, ist Ausdruck seines Selbstentwurfs und damit zugleich sowohl ein sich-befreiender als auch ein sich-selbst-bestimmender Akt. Für Humboldt erweist es sich als „[d]ie letzte Aufgabe unseres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“ (Humboldt [1793] 2006: 214). Im Selbstentwurf wird die doppelte Fremdbestimmung in einer dialektischen Bewegung aufgehoben – wohlweislich nicht aufgelöst. Darüber hinaus wird der Mensch nicht das sein, wozu er sich entwirft, es wird also nicht zu einer Koinzidenz mit dem Ergebnis des Entwurfs kommen. Wäre das der Fall, würde der Mensch zur Dinghaftigkeit erstarren, er wäre, was er ist, ohne ein Bewusstsein von dem, wozu er sich gemacht hat, zu haben. Wir hätten es in diesem Fall


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mit der Überwindung des Unverfügbaren zu tun, was gänzlich unmöglich ist, weil die Macht des Menschen nicht in das Unverfügbare hineinreicht. Wir sehen also, dass sowohl in Schopenhauers Epistemologie als auch in der Humboldtschen Bildungstheorie das Unverfügbare eine bedeutsame, bei Schopenhauer sogar eine entscheidende Rolle spielt. Die im wahrsten Sinne des Wortes subjektive Macht des Menschen erschöpft sich bei Schopenhauer in der Verstandestätigkeit, also jener besagten Deliberation des Intellekts. Einsicht gewinnen und dem Willen Motive vorführen – mehr ist für den Verstand nicht drin. Anders bei Humboldt: Hier erweist sich die dialektische Aufhebung der doppelten Fremdbestimmung im Akt des Selbstentwurfs als Aufgabe menschlicher Subjektivität. Der Grund, warum wir als PädagogInnen mit Schopenhauers Erkenntnistheorie nicht arbeiten können, liegt darin, dass es bei Schopenhauer zuletzt bestenfalls darum gehen kann, zu erkennen, was ist. Hingegen geht Humboldt mit seiner dialektischen Aufhebung einen entscheidenden Schritt weiter, denn hier geht es vor allem darum, was sein soll, und dieses Sein-Sollen geht unweigerlich damit einher, was der Mensch (aus sich) macht. Sesink hebt in seinen bildungstheoretischen Überlegungen die Rolle der – wie er es nennt – individuellen Vernunft hervor. Sie ist es, die zwischen der eigenen, nicht verfügbaren, aber reflexiv erfahrbaren intransitiven Bildungsbewegung einerseits und den auf sie einwirkenden transitiven Momenten (den Ansprüchen der Welt) anderseits vermittelt. Die individuelle Vernunft erweist sich damit als vermittelnde Instanz, die dafür Sorge trägt, dass das unverfügbare Eigene und das unverfügbare Fremde zur Geltung kommen. Dies aber nicht, indem das eine das andere bekämpft, sich dieses gegen jenes durchsetzt. Es ist vielmehr so, dass im Akt des Vermittelns ein potenzieller Raum, ein Raum der Möglichkeiten, entsteht, in dem etwas Drittes, Neues entstehen und ausschließlich durch die vermittelnde Tätigkeit der individuellen Vernunft sein kann. Es handelt sich somit auch hier um eine dialektische Figur, die Ausdruck einer sich selbst-bestimmenden Bildung ist: „Die sich bildende individuelle Vernunft nimmt dann einerseits den Impuls der eigenen Bildungsbewegung auf und bezieht diesen andererseits auf die äußeren Bedingungen, auf die natürliche und soziale Welt. Sie bezieht sie daher auch auf die Einflüsse, die aus dieser Welt auf den einzelnen Menschen einwirken; insofern auch auf die von dort ausgehenden erzieherischen und bildenden Einflüsse. Transitives und intransitives Moment der Bildung stoßen aufeinander. Die Vernunft vermittelt zwischen der spontanen Bildungsbewegung, welche im intransitiven Bildungsbegriff gefasst wird, und den bildenden Einflüssen von außen, welche im transitiven Bildungsbegriff erfasst werden. So wird Bildung reflexiv. Erst durch reflexive Vernunft wird Bildung sich selbst bestimmend.“ (Sesink 2006: 20) Wo, wie bei Schopenhauer gesehen, keine Dialektik vorherrscht, kann – wenn wir Humboldt und Sesink folgen – keine Bildung stattfinden.

5. Das Andere der Autonomie Was heißt das für den Kompetenzbegriff und den weiter oben ins Auge gefassten motivationalen Aspekt? Bei der Schülerin, die durch Einsicht in eine Situation für sich ein Problem erkennt, findet m. E. bereits eine Vermittlungsleistung der individuellen Vernunft statt. Ansonsten wäre es lediglich ein Problem, nicht aber ihres. Und wenn es tatsächlich nur ein Problem wäre, dann wäre es zum einen gleichgültig, wer dieses Problem gesetzt hätte. Es könnte dann also durchaus von einer fremden Vernunft als Problem (fremd-)bestimmt worden sein. Das wiederum hätte zum anderen Konsequenzen für die Motivation, denn auch das leitende Motiv


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zur Lösung des Problems und damit zum Praktisch-werden-Lassen des Wissens wäre keines, was von der Schülerin in irgendeiner Weise selbst hervorgebracht oder ermöglicht worden wäre. Im Kern wäre es tatsächlich nicht mehr als ein Reiz, in dessen Folge eine Reaktion stattfände. Der Reiz müsste lediglich stark genug sein. Die Konsequenz aus dieser Überlegung kann man daher in folgende Formel zusammenfassen: pädagogisch verstandene Kompetenz ist Bildung. Wenn wir nun im pädagogischen Sinne von Medienkompetenz sprechen, dann ist das nur möglich, wenn zugleich auch von Bildung die Rede ist. Harald Gapski hat in seiner 2001 veröffentlichten Dissertation unterschiedliche Charakteristika des medienpädagogischen Medienkompetenzbegriffes herausgearbeitet. Eine Charakteristik betrifft die ethische Dimension: „Als Spezifizierung genereller Mündigkeit betont ‚Medienmündigkeit‘ mit den Leitideen ‚Selbstbestimmung‘ und ‚soziale Verantwortung‘ die aktive und kritische Rolle des Mediennutzers, die im Konzept der Medienkompetenz nach Meinung mancher Medienpädagogen nicht stark genug ausgeprägt ist.“ (Gapski 2001: 78) Zwei Dinge sind an diesem Zitat interessant. Erstens werden die Kategorien Selbstbestimmung und soziale Verantwortung in einem Atemzuge mit Mündigkeit genannt. Und zweitens sind es genau diese Kategorien, die bezeichnend für eine aktive und kritische(!) Rolle des Mediennutzers sind. Wenn wir dieses Zitat ernst nehmen, dann scheint es einen Zusammenhang zwischen der anfangs erwähnten kritischen Dimension der Medienkompetenz und Mündigkeit zu geben. Um diesen Zusammenhang deutlich zu unterstreichen, sollten wir uns den Begriff Mündigkeit genauer anschauen. In Anlehnung an Kant können wir Mündigkeit als das Vermögen verstehen, vom eigenen Verstand ohne fremde Anleitung Gebrauch zu machen. Das wiederum erinnert stark an den Autonomiebegriff. Der autonome Verstandesgebrauch wäre gleichbedeutend mit einer Selbstgesetzgebung. Sich selbst Gesetze zu erteilen und sich diesen freiwillig zu unterwerfen, wäre so gesehen Autonomie; der Mensch, der dazu in der Lage ist, wäre ein mündiger. Eine solche Vorstellung von Mündigkeit wäre allerdings nicht nur eine eindimensionale, sie würde das entscheidende Kriterium unberücksichtigt lassen und könnte daher unmöglich dem, was sie vorgibt zu sein, entsprechen. Der Autonomiebegriff darf nach Kant nicht ausschließlich mit Unabhängigkeit gleichgesetzt werden, die Unabhängigkeit ist gewissermaßen lediglich die eine Seite der Autonomie. Dem „Freisein-von“ muss ein „Freisein-für“ gegenüberstehen, und dieses Andere der Autonomie ist nichts Geringeres als ihr Ziel, man könnte auch sagen: ihre regulative Idee. Kant spricht in diesem Kontext vom praktischen Imperativ, d. h. so zu handeln, „dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant [1785] 2000: 79; im Original kursiv). Wenn sich die Selbstgesetzgebung daran orientiert, ist sie eine ethische. Die mit dem Autonomiebegriff einhergehende Mündigkeit hat daher die Menschheit und damit das Menschliche insgesamt, so, wie es sein soll, im Blick. Die bei Gapski angesprochenen Kategorien Selbstbestimmung und soziale Verantwortung erhalten durch Kants praktischen Imperativ eine Orientierung. Wir können also festhalten: Die kritische Dimension von Medienkompetenz ist die Medienmündigkeit. Mündigkeit meint ein Handeln, das die Menschheit und das Menschliche immerzu im Blick hat. Um ein solches mündiges und damit auch medienmündiges Handeln wirksam werden zu lassen, bedarf es der Bildung. Nach Sesink geht damit die Vermittlung der intransitiven mit der transitiven Dimension mithilfe der individuellen Vernunft einher. Diese individuelle Vernunft, so können wir – Kant bedenkend – ergänzen, braucht zur Orientierung das Menschliche. Bildung ist daher zwingend ethisch, eine unethische, die Menschheit insgesamt nicht bedenkende, wäre keine Bildung (vgl. Voßkühler 2012: 160ff.). Wenn die kritische


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Dimension von Medienkompetenz in der Medienmündigkeit liegt und Mündigkeit einer die Menschlichkeit bedenkenden und evozierenden Bildung bedarf, dann ist derjenige, der über die kritische Dimension der Medienkompetenz nicht verfügt und damit halbmedienkompetent ist, im pädagogischen Sinne medieninkompetent.

Literatur Adorno, Theodor W. (2006): Theorie der Halbbildung, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Web 2.0, unter: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/80667/ web-2-0-v7.html (letzter Zugriff: 01.04.2014). Gapski, Harald (2001): Medienkompetenz. Eine Bestandsaufnahme und Vorüberlegungen zu einem systemtheoretischen Rahmenkonzept, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Giebel, Dörte/König, Monika E./Wittenbrink, Heinz: Was sind Social Media? Grundlagen und Anwendungsfelder, Hamburg: ILS. Hugger, Kai-Uwe (2008): Medienkompetenz, in: Sander, Uwe/Gross, Friederike von/Hugger, Kai-Uwe: Handbuch Medienpädagogik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 93–99. Humboldt, Wilhelm von (1793/2006): Theorie der Bildung des Menschen, in: ders.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, New York: Elibron Classics. Humboldt, Wilhelm von (1797/2006): Das achtzehnte Jahrhundert, in: ders.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, New York: Elibron Classics. Kant, Immanuel (1785/2000): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart: Reclam. O’Reilly, Tim (2005): What Is Web 2.0?, unter: http://www.oreilly.de/artikel/web20.html (letzter Zugriff: 01.04.2014). Schopenhauer, Arthur (1859/1977): Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Band 1, Zürich: Diogenes. Schopenhauer, Arthur (1860/1977): Preisschrift über die Freiheit des Willen, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Band 6, Zürich: Diogenes. Sesink, Werner (2006): Bildungstheorie, unter: http://www.abpaed.tu-darmstadt.de/media/arbeitsbereich_bildung_und_technik/gesammelteskripte/bth_2006_kompl.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Thorsten Fuchs

Bericht zur Tagung „Normativität und Normative (in) der Pädagogik“ an der Universität Wien, 01.–02.11.2012 Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/493

Abstract Welchen Status hat Normativität in der Pädagogik? Ist Normativität möglich und notwendig? Welche Leistung kommt ihr allgemein im Gegenstandsfeld der Pädagogik und in den verschiedenen pädagogischen Diskussionszusammenhängen eigentlich zu? Diese zwar keineswegs neuen, aber nach wie vor akuten und an Brisanz in den letzten Jahren eher noch gewonnenen Generalfragen waren Thema der wissenschaftlichen Tagung, die am 01. und 02. November 2012 am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien stattfand. Report on the conference “Normativity and Norms in/of pedagogics.” What status does normativity have in pedagogics? Is normativity possible and necessary? Which benefits does it really offer in the field of pedagogical discussion? These by no means new, but still pressing general issues that have, if anything, gained in importance over recent years, were the issue of a conference that took place from Nov. 1st to Nov. 2nd 2012 at the Department of Education at the University of Vienna. Die Tagung spannte in der Auseinandersetzung mit Normativität und Normativen einen bewusst weiten Bogen, auf den die Wiener OrganisatorInnen, May Jehle, Sabine Krause und Thorsten Fuchs, in ihrer Eröffnung hinwiesen, indem sie das breite Spektrum an Auslegungen zur Normativität (in) der Pädagogik skizzierten und an einige einschlägige Positionen erinnerten. Hierbei hoben sie auch hervor, dass selbst eine in deskriptiver Bescheidenheit und normativ-wertbezogener Zurückhaltung vorgetragene Pädagogik nur scheinbar normfrei ist – selbst wenn sie explizit auf sprachliche Terme mit Sollenscharakter verzichtet und Normativität mit dem Attribut der wissenschaftlichen Unredlichkeit qualifiziert. Nach wie vor – so der Befund – würden sich sowohl auf der theoretischen Ebene der Pädagogik als auch in der pädagogischen Praxis im Hinblick auf den „Sachverhalt der Normativität“ Fragen nach der Möglichkeit, Notwendigkeit und Leistungsfähigkeit stellen, wie sie der seit 1967 an der Universität Wien tätige Universitätsprofessor Marian Heitger, der am Karsamstag 2012 im Alter von 84 Jahren verstorben ist,1 zeit seines akademischen Schaffens konsequent verfolgte. Mit der Tagung wurde Ma-

1 Dazu der Nachruf von Ines M. Breinbauer (2012): In memoriam Marian Heitger (1927–2012), in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 88. Jg., H. 2, 169–171.


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rian Heitger und seinem wissenschaftlichen Werk insofern auch ein ehrendes Andenken bewahrt, was Wilfried Datler (Wien) als Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft in seinen Begrüßungsworten unterstrich. Der thematische Einstieg und die sachliche Diskussion erfolgten nach diesen einführenden Worten durch zwei Plenarvorträge, die Normativität und Normativen (in) der Pädagogik aus historisch-systematischer Sicht auf die Spur gingen. Jörg Ruhloff (Wuppertal), der seinerzeit mit der Arbeit „Das ungelöste Normproblem der Pädagogik“2 die Scheinlösungen und Hypostasierungen des Normproblems von Hauptkonzeptionen der Pädagogik kenntlich gemacht hatte und mit der Formulierung einer Unlösbarkeitshypothese konterkarieren konnte, widmete sich in seinem Vortrag einem programmatischen Aufsatz3 Marian Heitgers zum Begriff der Normativität in der Pädagogik und rekonstruierte die Hauptschritte seines Argumentationsgangs, um sie sodann in eine gegenwärtige Problemlage hineinzustellen. Hierbei wurde insbesondere ein bildungstheoretisch aufschlussreicher Zusammenhang von Normierung bzw. Kontrolltendenz und Entmündigung aufgemacht. Daniel Tröhler (Walferdange, Luxemburg) stellte in seinem Vortrag die „Pädagogik als Wissenschaft oder grundlegende Probleme der Erforschung normativer Praktiken“ zur Diskussion. In einer genuin historischen Analyse hob er hervor, dass der Anspruch wissenschaftlicher Pädagogik, Praktiken in ihren Normativitäten zu beschreiben und dazu Theorien zu formulieren, nicht aufrechterhalten werden könne. Denn Pädagogik lasse sich – scharf formuliert – von erstrebenswerten Wertvorstellungen „blenden“ und verpasse es, Werte und Normen in ihren jeweiligen historischen Wirklichkeiten zu analysieren. Auch im Abendvortrag von Isolde Charim (Wien/ Berlin), die das Tagungsthema aus philosophischer Perspektive flankierte, wurde eine derart kritische Sicht aufgemacht. Charim wendete die Frage nach Normen in der Erziehung auf die Frage nach dem Subjekt und wies dieses – in Abgrenzung zum marktkonformen, die individuellen Ressourcen steigernden homo oeconomicus – als eines aus, das mit einem Weniger an Ich politisch aktiv werden könne. Die weiteren Plenarvorträge am nächsten Tag konzentrierten sich auf verschiedene Aspekte des Normativitätsproblems in der Bildungsforschung und der Bildungspolitik sowie innerhalb medienpädagogischer und werterzieherischer Diskussionen. Während Josef Lucyshyn (Wien) und Hans-Rüdiger Müller (Osnabrück) Normativität in verschiedenen Spielarten der Bildungsforschung erörterten und dabei – so etwa Müller – die Konstruktion von Normativität durch Methoden und gegenstandsbezogene Hintergrundannahmen der Qualitativen Bildungsforschung in den Blick nahmen, richtete Astrid Messerschmidt (Karlsruhe) in ihrem Vortrag das Augenmerk auf pädagogische Mittäterschaften bei der „Normalisierung“ der Bildungspolitik. Im Mittelpunkt stand dabei die These, dass von MitarbeiterInnen diverser Bildungseinrichtungen von Schule, Universität und Weiterbildung Regierungstechniken und Selbstführungsmethoden ausgebildet wurden, die der Etablierung bildungspolitischer Normen Tür und Tor öffneten und Abhängigkeiten schufen, in denen kritisches Intervenieren schwierig – aber keineswegs unmöglich – ist. Die aus medienpädagogischer Perspektive interessanten Diskussionen wurden mit den Plenarvorträgen von Cornelie Dietrich (Lüneburg) und Norm Friesen (Kamloops/Kanada) ini2 Ruhloff, Jörg (1979): Das ungelöste Normproblem der Pädagogik, Heidelberg: Quelle & Meyer. 3 Gemeint ist: Heitger, Marian (1966): Über den Begriff der Normativität in der Pädagogik, in: Neue Folge der Ergänzungshefte zur Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, H. 4, 36–47.


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tiiert. Dietrich widmete sich den inkorporierten Normen in der Sprache der Pädagogik und brachte damit ihre bislang vorgelegten Studien zur Sprechgestik in jugendlichen Bildungsprozessen auf neue Pfade. Friesen erläuterte in seinem englischsprachigen Vortrag „Educational Media, Educational Norms: Interlinked or Interwoven?“ den Zusammenhang zwischen Bildungsmedien und pädagogischen Normen. Dabei konzentrierte er sich in Anlehnung an Klaus Mollenhauer auf traditionelle, schriftliche Medien und machte deutlich, wie die Auffassung begründet wird, dass Medien pädagogisch betrachtet als nicht-normativ bzw. neutral verstanden werden, um zum Ende seines Vortrags – und antithetisch zu dieser Auffassung – auf eine doppelte normative Bedeutung schriftlicher Medien in pädagogischen Kontexten hinzuweisen. Jürgen Rekus (Karlsruhe) und Stefan Weyers (Mainz) thematisierten schließlich einen Begriff, der in den bisherigen Vorträgen bereits häufig erwähnt und als „Adlatus“ von Normen gebraucht wird: Werte. Rekus markierte in seinem Vortrag „Bildung und Werterziehung“ das Spannungsverhältnis von notwendiger Wertanerkennung und selbstständiger Wertentscheidung. Weil und insofern Erziehung dazu beitragen soll, dass junge Menschen lernen, ihre Handlungsentscheidungen unter Berücksichtigung gemeinschaftlicher Normenerwartungen in selbstgesetzter Normbindung zu verantworten, muss sich – so Rekus – der Erziehungsprozess notwendigerweise auf die normbegründenden Werte richten. Diese bildungs- und erziehungstheoretischen Überlegungen wurden im Vortrag von Stefan Weyers (Mainz) durch eine Analyse der Möglichkeit und Legitimität von „Werteerziehung“ gleichsam fortgesetzt und mit entwicklungspsychologischen Perspektiven sowie Einblicken in ein DFG-Projekt zur Entwicklung von Rechtsvorstellungen im Kontext religiös-kultureller Differenz bereichert. Neben den Plenarvorträgen trugen auch die Vorträge in den einzelnen projektbezogenen Arbeitsgruppen ganz erheblich zum Gelingen der Tagung bei. Dietrich Benner, Martina von Heynitz, Stanislav Ivanov, Roumiana Nikolova und Marina Tschernjajew (Berlin) stellten Ansatz, erste Ergebnisse und vorläufige Modellierungen von moralischer Kompetenz vor, wie sie derzeit von ihnen im DFG-Projekt ETiK erforscht werden. Stephan Kielblock (Gießen) berichtete ebenfalls aus einem Projektzusammenhang und machte auf die normativen Fundamente der sogenannten Bildungsqualität außerunterrichtlicher Angebote aufmerksam, die momentan vielfach in der Ganztagsschulforschung untersucht werden. Wilfried Göttlicher (Wien) präsentierte sein historisch angelegtes Dissertationsprojekt zu normativen Zielsetzungen in der österreichischen Landschulerneuerungsbewegung. Auch Julia Seyss-Inquart (Graz), Henrik Bruns (Koblenz) und Nadja Thoma (Wien) berichteten aus ihren laufenden Dissertationsprojekten und machten dabei methodische, professionelle und sprachliche Normen zum Thema. Die Genese von Normen und die Entstehung von Werten wiederum waren aus unterschiedlichen Richtungen und mit verschiedenen pädagogischen Schwerpunkten der Gegenstand in den Vorträgen von Nils Köbel (Mainz), Szilvia Barta (Debrecen, Ungarn) sowie Sascha Trültzsch (Salzburg) und Christine Wijnen (Wien). Axel Schenz (Erlangen-Nürnberg) schließlich hat sich in einer erziehungsphilosophisch orientierten Reflexion mit dem Problem beschäftigt, die Begrenzung der Freiheit zu legitimieren. Die Tagung hat das Problem der Normativität (in) der Pädagogik neuerlich auf die Agenda gesetzt und insofern neu aufgenommen, als konkreter und vielfältiger nach Ausprägung und Verortung gefragt wurde. Im Aufzeigen unterschiedlicher Perspektiven wurde es dabei möglich, Normativität in ihrer Vielschichtigkeit herauszuarbeiten und so auch in ihrer Bedeutung für die Pädagogik diskutierbar zu machen. Ein beim Verlag Königshausen & Neumann voraus-


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sichtlich im Sommer 2013 erscheinender Sammelband4 wird die Beiträge der Tagung dokumentieren und einige weitere aufschlussreiche Inblicknahmen von Normativität (in) der Pädagogik bereithalten. Auch ist ein weiterer ausführlicher Bericht zur Tagung in Druck.5 Auf diese Weise wird die Diskussion zu diesem wichtigen Thema (hoffentlich) weiter in Gang bleiben.

4 Fuchs, Thorsten/Jehle, May/Krause, Sabine (Hg.) (2013): Normativität und Normative (in) der Pädagogik, Würzburg: Königshausen & Neumann. 5 Der Bericht von Marina Tomic Hensel und Nina Wlazny wird erscheinen in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 89. Jg., H. 1.


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Anu Pöyskö/Thomas Adrian/Renée Frauneder

Identitätsarbeit, Selbstwirksamkeit, gemeinsame Erfolgserlebnisse Medien-Projektarbeit mit Video in sozialpädagogischen Kontexten Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/552

Abstract In der Medien-Projektarbeit in sozialpädagogischen Kontexten sind subjekt- und bedürfnisorientierte Zugänge gefragt. Ein Erfahrungsbericht von Anu Pöyskö, Thomas Adrian und Renée Frauneder, die ihre Arbeit im Wiener Medienzentrum zusammenfassen. Negotiating identities, self-efficacy, shared sense of achievement. In media-project work in the context of social pedagogy, subject and needs-oriented approaches are needed. An experience report by Anu Pöyskö, Thomas Adrian and Renée Frauneder, who summarize their work at the Wiener Medienzentrum.

1. Einleitung Projektinitiativen, die Jugendliche am zweiten und dritten Arbeitsmarkt betreuen, integrativ- mehrfachtherapeutische Angebote, soziale Einrichtungen für junge Zielgruppen – im sozialpädagogischen Bereich eröffnet sich ein eigenes medienpädagogisches Handlungsfeld. Für die Medien-Projektarbeit findet man hier ähnliche Rahmenbedingungen vor wie in der Schule – der Besuch ist für die TeilnehmerInnen meist Pflicht, es gibt einen relativ klar vorgegebenen Zeitrahmen, die Gruppegröße ist fix und die TeilnehmerInnen kennen sich in der Regel untereinander. In der Methodik dominieren jedoch – mit einer größeren Ähnlichkeit zur Freizeitpädagogik – subjekt- und bedürfnisorientierte Zugänge. Neben Einrichtungen der offenen Jugendarbeit und Schulen kooperiert das wienXtra-medienzentrum seit seinem über 35-jährigen Bestehen auch mit Einrichtungen und Projekten im sozialpädagogischen Bereich. In einer Zeit, wo immer mehr Jugendliche damit Schwierigkeiten haben, am ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, und für sie sukzessive mehr Auffangangebote entwickelt werden (Stichwort „Wiener Ausbildungsgarantie“), wächst die Bedeutung dieses Bereichs. Der folgende Beitrag basiert auf einem Gespräch von Anu Pöyskö, Leiterin des wienXtra-medienzentrums, mit Renée Frauneder und Thomas Adrian, zwei MedienpädagogInnen, die in ihrer Tätigkeit einen Arbeitsschwerpunkt auf den sozialpädagogischen Bereich setzen.


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2. Projektsetting Praxiseinrichtungen wie das wienXtra-medienzentrum entwickeln in diskursiven Prozessen ihre eigenen Arbeitsprinzipien und Qualitätskriterien. Welche dieser Arbeitsgrundsätze behalten bei Projekten im sozialpädagogischen Bereich genauso ihre Gültigkeit, wo bedarf es Adjustierungen und anderer Fokussierungen? Auch im sozialpädagogischen Bereich sind die Gruppen und die TeilnehmerInnen individuell verschieden. Wovon man jedoch als MedienpädagogIn ausgehen muss, ist, dass die Jugendlichen aufgrund ihrer Biografien, wo sich ggf. schon mehrmals ein Scheitern manifestiert hat (abgebrochene Schulausbildung, erfolglose Suche nach einem Ausbildungsplatz, missglückte Versuche am ersten Arbeitsmarkt), ein eher geringes Selbstwertgefühl und wenig Glaube an die eigenen Fähigkeiten haben. Ein guter Projekteinstieg ist daher wichtig – noch viel wichtiger als sonst. Renée Frauneder: „Viele sagen mir zunächst, sie wollen nicht im Bild sein. Bei der Einstiegsphase tauen sie dann auf und sind später doch bereit, eine Rolle im gemeinsamen Film zu übernehmen. Die Art, wie wir im medienzentrum Projekte aufbauen, ist sehr einbeziehend. Der achtsame Umgang mit den TeilnehmerInnen und ein ‚einschleichendes‘ Gewöhnen daran, das eigene Bild im TV zu sehen, ist wichtig. Zunächst probiert jeder Jugendliche das Schwenken, Zoomen und Aufnehmen mit der Kamera aus und am TV sehen die TeilnehmerInnen das eigene Bild so nebenbei. Bei den ersten inszenierten Probeaufnahmen lasse ich es den Jugendlichen frei, wie viel sie von sich zeigen wollen, ob das Gesicht im Bild ist oder eine Großaufnahme vom Fingernagel oder nur der Schuh. Dadurch beginnen sie darauf zu vertrauen, dass sie sich wirklich so inszenieren können, wie sie wollen.“ Einerseits wünschen sich die Jugendlichen Aufmerksamkeit, andererseits fällt es ihnen aber unter Umständen sehr schwer, die Aufmerksamkeit auszuhalten. Thomas Adrian: „Einiges kann man schon mit der Reihenfolge der Aufnahme steuern: Der/ die Schüchternste soll nicht als ErsteR drankommen. Man kann auch selbst anfangen und rollenspielartig vorzeigen, wie man mit dem Bild und mit der Kritik umgehen kann: ,Ach, ich habe eine komische, hohe Stimme. Aber es ist schon ok so.‘“ Renée Frauneder: „Eine Probe, die nicht aufgenommen wird – das bietet auch Schutz. Viele versprechen sich beim ersten Mal, wenn sie vor der Kamera etwas sagen sollen. Der Satz kann so geübt werden und die Aufnahme wird besser verständlich, was sich beim anschließenden Ansehen auf das Selbstbewusstsein der Jugendlichen positiv auswirkt. Auch finde ich es wichtig, dass die Jugendlichen wissen, wann und wie sie aufgenommen werden und auch lernen zu sagen: ,Nein, so will ich nicht aufgenommen werden, sondern so …‘ Das versteckte oder überfallsartige Aufnehmen hat bei uns keinen Platz. Es geht um Vertrauensaufbau.“ Eine andere Möglichkeit ist es, die ersten Versuche der Selbstinszenierung etwas hinter den technischen und gestalterischen Fragen zu verbergen: Thomas Adrian: „Wenn ich Zeit habe, mache ich es mit Storyboard. Jeder soll aufzeichnen, wie er/sie bei den Probeaufnahmen im Bild sein möchte. Und dann geht es auch um die Handhabung der Technik. Ich sage immer, bitte macht bei den ersten Aufnahmen möglichst viele Fehler … Und da ist es gut, wenn der Gruppenstärkste als Erster drankommt und gerade bei ihm alle technischen Fehler auffallen. Und nebenbei hören und sehen sie sich mal.“ Auch wenn die Jugendlichen heute von Aufnahmegeräten (Mobiltelefonen und Fotokame-


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ras mit Videofunktion) umgeben sind, darf man nicht davon ausgehen, dass sie es gewohnt sind, gemeinsam mit anderen Bilder von sich anzusehen und darauf Reaktionen zu bekommen. Renée Frauneder: „Eine Sharing-Runde ist wichtig. Ich stelle jeder/m die Frage, wie es ihr/ ihm mit den ersten Probeaufnahmen geht. Der Erste sagt dann so was wie: ‚Ich hasse meine Stimme …‘ und dann sagen oft die anderen: ‚Ich meine auch, ich auch …‘ und das ist entlastend.“

Projektsetting: Werkstatt für Jugendliche mit starken physischen und psychischen Beeinträchtigungen, 10 Jugendliche, 3 Tage Renée Frauneder: „Geplant war: ein Tag ausprobieren, ein Tag gezielt Aufnahmen machen und am letzten Tag Schnitt. Die Probeaufnahmen am ersten Tag waren aber eigentlich schon das, was für die Jugendlichen wichtig war: sich selbst zu inszenieren und das vor der Kamera zu machen, was sie sonst im Fernsehen sehen. Wie sie das erste Mal ihr Bild gesehen haben, ist die Spannung in der Gruppe deutlich gestiegen. Das Selbstbild war ein großes Fragezeichen. Aber die anderen haben immer die Person im Bild ganz toll gefunden, und das hat sie bestärkt. Der wertvolle Prozess – zu dem eigenen Bild Bestätigung bekommen – ist bei jedem Videoprojekt so, aber so basal wie bei diesem Projekt habe ich es nie erlebt. Am nächsten Tag habe ich sie gefragt, ob sie ihren Arbeitsplatz vorstellen wollen, und einige wollten es. Sie gingen mit der großen Kamera durch die Werkstätten und filmten und waren dadurch für alle dort Arbeitenden etwas Besonderes. Das hat sie sehr gestärkt.“

Projektsetting: Jugendnotschlafstelle, sieben Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahre, halber Tag Thomas Adrian: „Wir haben mit Handyvideo gearbeitet und mit ungewöhnlichen Einstellungen und Perspektiven experimentiert. Das Projekt war sehr niederschwellig angelegt – der Zugang für die Jugendlichen lief über Fun. Kleine Medienprojekte haben diesen ,Schwan, kleb an‘-Effekt. Man stolpert quasi vorbei und bekommt das Handy in die Hand gedrückt: ,Filme du mich mal geschwind.‘ ,Schau, wie cool das aussieht, wenn man aus der Waschmaschine rausfilmt.‘ Da fallen gleich die Hemmschwellen und man ist sofort dabei. Beim Schnitt kam dann der Aha-Effekt der Bildwirkung. Das ist also meine Stimme, so wirke ich. Es waren Jugendliche, die ganz selten vor dem Spiegel stehen und eigentlich keine Selbstwahrnehmung haben.“

3. Ideenfindung Die Themen der Jugendlichen spiegeln ihre Lebenssituation in der Übergangsphase zum Erwachsen-Sein wider – eine Phase, die sich für sie häufig brüchig gestaltet. Inszeniert werden Wünsche: sexy sein, Freund/Freundin haben, Rausch erleben, tolle Party feiern. Die Jugendlichen bauen auch Erlebnisse aus realen Bewerbungs- und Arbeitssituationen in ihre Filme ein oder arbeiten sich an den gerade aktuellen medialen Vorbildern ab. Ein wichtiger Arbeitsgrundsatz, der bei allen Projekten des medienzentrums umzusetzen versucht wird, ist, dass alle in der Gruppe mit der Idee einverstanden sein sollten. Die Zufriedenheit und die Einsatzbereitschaft der Einzelnen sind immer so groß wie die Identifikation mit dem Produkt.


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Thomas Adrian: „Am Anfang der Ideenfindung ist es meine Aufgabe, für Balance zu sorgen: die Dominanten zu bremsen, die Schüchternen zu ermutigen. Das ist aber auch eine Zeitfrage… eine Idee, mit welcher alle können, ist ab einer Gruppengröße von 7–8 schon sehr mühsam. Und dann muss man immer wieder überprüfen: Kennen jetzt alle die Idee? Kann jemand das, was wir gerade gemeinsam ausgemacht haben, von Anfang bis Ende nacherzählen? Manchmal ist es allerdings so, dass die Idee der ganzen Gruppe eher klar ist und nur mir nicht mehr (lacht).“ Zweitens legt das medienzentrum Wert darauf, dass jeder selber entscheiden darf, welche Rolle er/sie übernehmen möchte, da u. a. bei Rollenzuteilungen durch andere Zuschreibungen mittransportiert werden und diese mitunter sehr verletzend sein können. Thomas Adrian: „Wo ich bei diesen Gruppen ganz besonders aufpasse, ist die Geschlechteraufteilung. Wenn eine Gruppe z. B. sagt, wir wollen eine Geschichte, wo ein Mädchen entführt wird, und es sind sieben Burschen und nur zwei Mädchen, kann es eine schlimme Dynamik annehmen. Es müssen ganz abgeklärte Mädchen sein, die man unter vier Augen fragt, ob sie es auch so wollen. Und das Mädchen braucht viel Vertrauen zu der Gruppe, weil sie es vielleicht gar nicht so einschätzen kann, wie das dann wirklich ist, wenn sie im Keller gefesselt wird und eine gruselige Stimmung aufkommt.“

Projektsetting: AMS-Maßnahme für arbeitslose Jugendliche, 15 Jugendliche, zwei Wochen Thomas Adrian: „Die AMS-Kurse werden von Jugendlichen häufig als sinnlos empfunden, besonders zum wiederholten Male den gleichen Kurs machen müssen (z. B.: Bewerbungstraining). Diese AMS-Gruppe hatte allerdings eine gute Woche Zeit für die Produktion eines Kurz-Spielfilms und es war ein ganzheitlicher Prozess, wie ich ihn selten erlebt habe. Die Jugendlichen brachten in diesem Fall viel Medienkompetenz mit, im Sinne von Medienhandling und technischem Know-how, und waren dankbar, das anwenden zu können. Das Thema war ,Mobbing am Arbeitsplatz‘ und in der Geschichte waren viele autobiografische Bezüge drin. Bei der Gruppe hat man sehr deutlich gemerkt, wie der Selbstwert im Produktionsverlauf gestiegen ist. Die KursbetreuerInnen, die die TeilnehmerInnen auch anders kennen, waren erstaunt über das Potenzial, das sie gezeigt haben. Jugendliche, die sich sonst vor allem drücken, waren aktiv dabei und haben es z. B. geschafft, einen Drehort zu organisieren und pünktlich da zu sein mit allen erforderlichen Kostümen und Requisiten.“

4. Die Grenze zwischen fiktiver Inszenierung und Realität verschwimmt Der/die MedienpädagogIn muss gut einschätzen können, inwieweit die Gruppe und die einzelnen Jugendlichen das Spielerische von der Realität unterscheiden können. Diese Grenze beginnt leicht zu verschwimmen, besonders, aber nicht nur, wenn die Gruppe ein Thema mit autobiografischen Bezügen behandelt. Als ProjektbetreuerIn lernt man aus eigenen Erfahrungen und Fehlern. Thomas Adrian: „Eine Gruppe wollte eine Modellshow à la , … sucht das Supermodel‘ nachmachen und sagte bei der Planung einstimmig: Wir machen es auf lustig, wir wollen genauso gemein über die Kandidaten schimpfen wie die im Fernsehen. Aber im Spiel ist es dann gekippt: Das Mädchen hat sich hübsch gemacht und konnte nicht abstrahieren, dass die ab-


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schätzige Bewertung zu der Rolle des Jurors dazugehört, sondern nahm es persönlich und war ganz verstört. Seither lasse ich bei Castingshow-Remakes nur Feedback zu, das letztendlich positiv rüberkommt.“ Besondere Sensibilität ist dort angesagt, wo die TeilnehmerInnen psychische Probleme haben: Renée Frauneder: „Die Jugendlichen sehen viel Horror und Thriller und die Sehnsucht, einen solchen Film zu drehen, kann ich total nachvollziehen. Aber wenn in einer Gruppe viele TeilnehmerInnen Medikamente nehmen und psychisch labil sind, kann ich nicht darauf vertrauen, dass sie die Grenze zur Inszenierung ziehen können. Und so habe ich bei bestimmten Gruppen begonnen, das Lustige, Komödienhafte zu forcieren. Ich möchte damit ev. Auslöser für Psychosen/Realitätsverlust vermeiden. Wenn solche Jugendliche unbedingt einen Krimi mit Mord drehen wollen, mache ich genau das Gegenteil, was sonst als eine gute filmische Auflösung empfunden wird. Der Mord wird in der Totale und so weit weg wie möglich aufgenommen, damit das Bild emotional nicht so anregend wirkt …“ Dort, wo das Projekt thematisch in der Selbstinszenierung bleibt, ist es wichtig, die Würde der Beteiligten zu wahren: Renée Frauneder: „Die persönliche Grenze, wie mag ich mich inszenieren, ist ja stets ein Balanceakt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Machen die Jugendlichen bestimmte Dinge vor der Kamera, weil sie die Vorbilder vom Fernsehen kennen und glauben, dass es sich so gehört, oder ist es etwas, das sie wirklich selbst wollen? Wie weit kannst du sie gehen lassen, ohne dass sie sich selbst entstellen/entwerten? Hier ist auch noch der Kontext der Gruppe mitzudenken und wer vielleicht die Aufnahmen sieht.“

5. Planung vs. Spontanität In der Medienarbeit lernen die TeilnehmerInnen viel über Projektabwicklung: was es bedeutet, aus einer vagen Idee ein griffiges Konzept zu entwickeln, die Umsetzung zu planen und es auch tatsächlich zu schaffen. Als BetreuerIn setzt man die Projekte gerne an der Obergrenze des Machbaren an und versucht, mit der Gruppe in der vorhandenen Zeit das Maximum zu erreichen. Im sozialpädagogischen Bereich muss das Zeitmanagement anders ausschauen. Mitunter geht es auch darum, weniger Planung zu forcieren und offener zu sein für Dinge, die im Projektverlauf passieren können. Thomas Adrian: „Es ist ein stressloseres Arbeiten mit ein bisschen mehr Fokus auf den Prozess und weniger resultatorientiert.“ Jeder einzelne Arbeitsschritt benötigt – und bekommt – mehr Zeit in der Vorbereitung und Durchführung: Renée Frauneder: „Was ich normal bei Projekten – oft aus Zeitgründen – nicht mache, ist bei diesen Gruppen besonders wichtig. Nachdem eine Szene fertig gedreht wurde, setzen wir uns gemeinsam hin und schauen uns die Aufnahmen an. Die Jugendlichen brauchen diese Pause und auch die Bestätigung: Die Aufnahmen sind super, die DarstellerInnen haben gut gespielt …! Oft wollen die Jugendlichen im Freien drehen, u. a. weil sie – als Filmteam mit der Kamera unterwegs – gesehen werden und Aufmerksamkeit bekommen möchten. Ich lasse sie die Drehsituationen zuerst im Raum proben, damit später alle genau wissen, was sie zu tun haben. So können sie draußen, vor Zuschauern, wie ein tolles, professionelles Team agieren. Dafür sind sie zu erstaunlichem Einsatz bereit und präsenter bei den Außendrehs.“


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Projektsetting: AMS-Maßnahme für arbeitslose Jugendliche, zwölf Jugendliche zwischen 17–21 Jahren, 4 Tage Renée Frauneder: „Das Auffällige an diesem Projekt war die starke Fluktuation – von den 12 TeilnehmerInnen waren pro Tag durchschnittlich neun anwesend. Das hatte auch mit ihren Krankheiten zu tun. Die Ideen sind nur so gesprudelt. Mein Eindruck war, dass sich die Jugendlichen teilweise bei der Fülle der Ideen für den Film sowie bei der Wahl der Rolle und der Zusage, welche Kostüme und Requisiten sie morgen für den Dreh mitnehmen, selbst überfordert haben. Aufgrund dieser Überforderungen haben sie es am nächsten Tag nicht geschafft zu kommen. Ein Produktionsprozess, der sich von der Idee bis zur Umsetzung über mehrere Tage zieht, ist unter diesen Voraussetzungen nicht möglich gewesen. Was aber sehr gut funktioniert hat, war, eine spontane Idee, die in der Gruppe greift, sofort zu planen und umzusetzen. So ist dann ein Film mit einer Reihe kurzer Episoden und Sketches entstanden.“

6. Rolle des Betreuers/der Betreuerin Im Vergleich zur Arbeit z. B. mit Schulklassen erleben sich Frauneder und Adrian in der Arbeit im sozialpädagogischen Kontext „näher dran“ an den Jugendlichen. Thomas Adrian: „Es ist ein Seiltanzakt. Du streckst die Fühler aus und versuchst zu spüren, was sie brauchen, du musst ganz empathisch sein. Wer braucht was und, wie gesagt, manche musst du mit Scherz packen, andere vertragen gar keinen Spaß …“ Als MedienpädagogIn arbeitet man daran, sich selbst zu erübrigen: die Gruppe dazu zu befähigen, eigenständig als Team zu agieren und sich selbst im Laufe des Projektes sukzessive immer mehr zurückziehen zu können. Mit den Gruppen im sozialpädagogischen Bereich ist dies nicht immer möglich: Die kurze Aufmerksamkeitsspanne der Jugendlichen verlangt nach einer stärkeren Präsenz bis zum Schluss. Der/die ProjektleiterIn entwickelt mit den TeilnehmerInnen Gruppenregeln und versucht auf einen respektvollen Umgang untereinander zu achten: Renée Frauneder: „Nach jeder Aufnahme Beifall zu klatschen, ist eine Kultur der Wertschätzung, die ich erst einführe. Damit wird sichtbar gemacht, dass sie gerade etwas gut gemacht haben. Das ist gerade für diese Jugendlichen besonders wichtig.“

7. Technik und Gestaltung: Weniger ist mehr Durch kurze Inputs und Selbst-Ausprobieren lernen die Jugendlichen technische und gestalterische Basics einer Videoproduktion. Das ist umso nachhaltiger, je besser es gelingt, die Inputs an das Niveau der Gruppe anzupassen. Reneé Frauneder: „Einstellungsgrößen, filmische Gestaltungselemente – das ist häufig nicht das, was wichtig ist. Gestalterische Inputs hallen eher nur bei denen nach, die bereits Vorwissen hatten. Diese Sachen fließen so nebenbei ein, weil ich bestimmte Begriffe zwischendurch immer erwähne, aber es wird nicht zu ihrem aktiven Wortschatz.“ Thomas Adrian: „Am ehesten geht es über Fragen zur Bildwirkung: so schaut es in der Großaufnahme aus und so in der Totale. Was gefällt Dir besser, wie möchtest du das Bild haben?“ Der Schnitt stellt für integrativ-mehrfachtherapeutische Gruppen häufig eine Hürde dar, entweder ist dieser Arbeitsschritt eine Überforderung für die Konzentrationsfähigkeit der TeilnehmerInnen oder er wird in seiner Abstraktion gar nicht verstanden.“


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Renée Frauneder: „Mit diesen Jugendlichen ist Schnitt eher ein gemeinsames Sichten: Jede/r kann bestimmen, was auf ihre DVD kommt. Und das ist für sie schon sehr viel an Selbstbestimmung in der Gestaltung. Was will ich vor der Kamera machen und welche der Aufnahmen möchte ich zeigen. Oft ist es für sie sehr wichtig, die Aufnahmen in voller Länge zu zeigen. Auch wenn sich im Bild nicht viel tut, jemand steht vielleicht nur da, ein anderer dreht sich drei Minuten lang zu einem Musikstück. Als MedienpädagogIn gibt man den Gruppen am Schnittplatz häufig den Rat, einen Clip zu kürzen, damit eine Sequenz flüssiger wird. Aber es gibt eben auch Gruppen, die eine Kürzung ihrer Aufnahmen weder verstehen noch akzeptieren würden.“

8. Das Produkt Die Jugendlichen wissen, dass sie auf ein gemeinsames Produkt hinarbeiten und dass dieses Medienprodukt ihnen gehört. Renée Frauneder: „Ein Produkt ist wichtig, aber das Niveau des Produktes darf das sein, was die TeilnehmerInnen gefilmt haben und für sie passend ist. Die filmische Qualität ist nicht mit herkömmlichen Maßstäben zu messen.“ In der Regel wird erst anhand des fertigen Films gemeinsam festgelegt, was damit passieren soll und wer ihn sehen darf. Häufig findet eine Präsentation im kleinen Kreise statt: vor anderen KursteilnehmerInnen, BetreuerInnen, ggf. auch Freunden oder Eltern der Beteiligten. Thomas Adrian: „Es bedarf des Einverständnisses aller, in Bezug auf welche Öffentlichkeit adressiert werden soll. Das hat allerdings wieder mit Vertrauen zu tun – wenn alle eine DVD bekommen, kann man ja nie genau wissen, was die Einzelnen damit machen. Die Jugendlichen wünschen sich vielleicht eine größere Öffentlichkeit, können aber nicht unbedingt einschätzen, was das bedeutet. Wie es sich anfühlt, den Film vor einem größeren Publikum zu präsentieren, weißt du erst, wenn es so weit ist. Man kann die Jugendlichen nur anhand der Erfahrungswerte darauf vorbereiten.“ Es soll nicht passieren, dass das Produkt den Händen der Jugendlichen entrissen wird. Eine Präsentation, die mit den Beteiligten so nicht ausgemacht war, eine Fremdverwendung des Produkts ist ein klarer Vertrauensmissbrauch.

9. Ein ganzheitlicher Prozess Das Besondere an Videoprojekten ist für Frauneder und Adrian ihre Ganzheitlichkeit. Neben dem technischen Prozess des Produzierens läuft ein runder, abgeschlossener Gruppenprozess ab. Ein Projekt ist gelungen, wenn alle Beteiligten daraus gestärkt, um ein Erfolgserlebnis reicher, herausgehen. Dieser Aspekt kommt im sozialpädagogischen Bereich, wo die TeilnehmerInnen „mit ihrem Selbstwert nicht so toll dastehen“, besonders zum Tragen. Thomas Adrian: „Nach der Einführung geht es graduell vom Spielerischen ins Produzieren über. Man kann die Aufgaben so gut aufteilen, dass alle Jugendlichen ihre Stärken einbringen können. Am Ende steht ein Erfolg, sie identifizieren sich damit, sind stolz drauf, zeigen es gerne her. Es ist eine schöne Mischung aus einem Fantasieprodukt und ehrlichem Feedback; du schlüpfst in eine Rolle und hast trotzdem das gleiche Gesicht wie vorm Spiegel. Die Kids unterhalten sich auch ganz oft bei der Präsentation ihrer Filme über die sogenannten ,Hoppalas‘


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und wollen diese Outtakes auch als Erinnerung auf der DVD. Die Präsentation hat einen feierlichen Charakter nach all den Strapazen, das empfinde ich immer als den harmonischen Moment – die finale Gruppenfreude.“ Renée Frauneder: „Mich freut es, wenn die Jugendlichen ihre Fähigkeiten, ihr Potenzial kennenlernen. Was sie sich zu Beginn selbst nicht zugetraut haben, wird im Laufe des Produktionsprozesses immer selbstverständlicher – die Technik bedienen und vor der Kamera zu agieren. Bei der Präsentation sieht man den Stolz auf ihren Film. Der gemeinsame Produktionsprozess ist zwar nicht direkt sichtbar, aber für die Jugendlichen kann er beim Anschauen ihres Filmes immer wieder erinnert werden.“


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Olivia Horak/Milanka Jovanovic-Tesulov/Bernhard Damisch

Medienpädagogik in der offenen Kinder- und Jugend­arbeit Reflexionen aus der Praxis Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/546

Abstract Überlegungen zu medienpädagogischem Handeln im Feld der offenen Kinder-, Jugendund Erwachsenenarbeit werden im folgenden Beitrag exemplarisch am Jugend- und Stadtteilzentrum Margareten dargestellt. Die AutorInnen diskutieren dabei vor allem die damit verbundenen Anforderungen an PädagogInnen. Media pedagogy in open child and youth work. Reflections on media-pedagogical practice in the field of open child, youth and adult work are presented using the example of the Jugendund Stadtteilzentrum Margareten. The authors mainly discuss the demands on educators in this context.

1. Definition Anfänglich erscheint eine weitere Differenzierung der Definition „außerschulische Medienpädagogik“ erforderlich, die in der Arbeit im Jugend- und Stadtteilzentrum Margareten – im Folgenden auch 5erHaus genannt – nicht weit genug führt, da ein bedeutender Teil der Zielgruppen – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – aktuell an keine Institution gebunden ist bzw. dies in einigen Fällen auch nie war: nicht alphabetisierte Frauen, Kinder, Jugendliche, AsylwerberInnen, Menschen, die aus allen Institutionen „herausgefallen“ sind und für die niemand zuständig scheint, und Menschen, die keine Grund- und Kulturtechniken beherrschen und somit nicht über die „Kategorie Schule“ eingeordnet und definiert werden können, da dies einfach zu kurz greifen würde. Sie alle besuchen das 5erHaus und nehmen dessen Angebote wahr. In diesem Sinne ist im folgenden Beitrag von „Medienarbeit in der offenen Kinder-, Jugend-, und Erwachsenenarbeit“ die Rede.

2. Institution und Zielgruppe Die BesucherInnengruppen stehen eng in Zusammenhang mit der Historie und Entwicklung der „Institution 5erHaus“, das als eine Einrichtung des Vereins Wiener Jugendzentren 1964 beim Matzleinsdorfer Platz als „Haus der Jugend“ für die umliegenden Gemeindebauten im südwestlichen Teil des fünften Wiener Gemeindebezirks eröffnet wurde. In den 1980er-Jahren wurde eine gemeinwesenorientierte Konzeption für das Jugend- und Stadteilzentrum Mar-


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gareten entwickelt, in der durch einen systemischen und sozialräumlichen Ansatz auf die sich verändernden Bevölkerungsstrukturen eingegangen wurde. Das Haus hat sich bis in die Gegenwart als wichtige Begegnungsstätte der unterschiedlichen „Communities“ und Generationen im Sinne einer gelebten Diversität etabliert und sich die Förderung von Ideen zur Weiterentwicklung durch Partizipation und Empowerment zum Ziel gesetzt. Der überwiegende Teil der BesucherInnen kommt aus Familien mit geringen Einkommen, meist aus Mehrkindfamilien mit beengten Wohnverhältnissen. Durch die zentrale Lage des Hauses kommen nicht nur BesucherInnen aus der näheren Umgebung, sondern auch aus angrenzenden Bezirken und ganz Wien ins 5erHaus. Durch Projektarbeit und Raumvergaben können neben den StammbesucherInnen überdies auch Gruppen erreicht werden, die sonst kaum ein Jugendzentrum besuchen würden, wie beispielsweise TheaterbesucherInnen oder AnrainerInnen. Die Bandbreite der BesucherInnen ist enorm und damit verbunden sind es auch ihre Sozialisierungs- und Bildungshintergründe. Bei der jugendlichen BesucherInnengruppe reicht die Palette von SchulabbrecherInnen über an keine Institution gebundene, sogenannte „Null-Bock-Kids“ (vgl. Sonnenschein 2005) bis hin zu BesucherInnen und AbsolventInnen höher bildender Schulen, die das Jugendzentrum eher über bildungsspezifische Angebote und Projekte erreichen. Mehrheitlich sind die BesucherInnen zwei- bzw. mehrsprachig, bei Kindern und Jugendlichen liegt der Mädchenanteil nahe bei 50 %, was unter anderem auf intensive Eltern- und integrative Bildungsarbeit zurückzuführen ist – ein Umstand, der auch in der Konzeptionierung von Angeboten in der Medienarbeit berücksichtigt wird.

3. Chancen und Herausforderungen Aus schulischer Perspektive scheint die medienpädagogische Arbeit in der offenen Kinderund Jugendarbeit den großen Vorteil zu haben, dass sie geprägt von Freiheit ist. Das stimmt – einerseits. Für die Motivation, an Projekten teilzunehmen, ist es ein großer Gewinn, dass Zielgruppen, mit denen medienpädagogisch gearbeitet wird, dies freiwillig und interessengeleitet tun und damit keinem Leistungsdruck durch Lehrpläne und Benotung ausgesetzt sind. Der Faktor Freiwilligkeit erscheint durchaus als ideale Voraussetzung für medienpädagogisches Handeln (vgl. Sonnenschein 2005). Diese Freiheit wird sowohl von BesucherInnen als auch von MitarbeiterInnen der Einrichtungen für offene Kinder- und Jugendarbeit hoch geschätzt und für medienpädagogische Vorhaben praktisch genutzt. Bedürfnisorientiert, spontan, nach Lust und Laune – der Rahmen wird durch Öffnungszeiten, Ressourcen und technische Möglichkeiten definiert, doch innerhalb dieser Grenzen scheint fast alles möglich. Doch auch die Kehrseite dieser Freiheit und was diese „Nichts ist fix“-Situation für Projekte und PädagogInnen bedeutet, wird im Weiteren noch zu betrachten sein. Die medienpädagogische Arbeit im Jugend- und Stadtteilzentrum Margareten lässt sich – neben dem grundsätzlichen Bereitstellen von Ressourcen und Know-how in allen medialen Bereichen: Audio, Video, Fotografie, Print, digitale Medien – grob weiter unterteilen in tägliche, sich aus den Bedürfnissen der BesucherInnen ergebende Aktionen und geplant initiierte Aktionen und Projekte, die sich an Themen der Lebenswelten der Zielgruppen orientieren, neue Gestaltungsräume eröffnen, sowie den Wünschen und Vorlieben der unterschiedlichen BesucherInnengruppen Rechnung tragen. Unter den erstgenannten „alltäglichen Handlungen“ sind medienpädagogische Tätigkeiten zu verstehen, die im laufenden of-


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fenen Betrieb stattfinden, sich spontan ergeben, für die keine Vorbereitung seitens der PädagogInnen möglich ist und die es erfordern, fachliches Wissen sofort abrufen zu können bzw. sich so weit zurückzuziehen, dass mit einzelnen BesucherInnen kurz recherchiert und gearbeitet werden kann. Dies bedeutet fast immer ein „Ressourcenproblem“, da sich die Belastung der mitarbeitenden KollegInnen für diese Zeit erhöht, da ein/e BetreuerIn im laufenden Betrieb fehlt und damit nicht für den Rest der BesucherInnen zur Verfügung steht. Beispielhaft für diese Tätigkeiten sind Internetrecherchen für Schule, Hausübungen, Referate, Hilfe beim Verfassen von Bewerbungsschreiben und Lebensläufen, Fotobearbeitung, Videoschnitt, Ausdrucken, kleinere Reparaturen und Wartungsarbeiten: „Der Computer/Drucker funktioniert nicht!“, beratende Unterstützung beim Einrichten neuer Accounts für E-Mail und soziale Netzwerke, vergessene Passwörter, Account-Änderungen, Sicherheitseinstellungen, Löschen von Einträgen und/oder Fotos, bis hin zur Hilfe beim Verfassen von Fachbereichsarbeiten und Spezialgebieten. Ergänzend zur täglichen situationsbezogenen Arbeit steht die Projektarbeit, die je nach Umfang und Komplexität ein gewisses Maß an Planung verlangt und bei der die klassisch pädagogische Herangehensweise, im Sinne von Lernziel- und Wirkungsanalyse, methodisch didaktischen Überlegungen, Vorbereitung von Materialien etc. noch am ehesten möglich ist. Jedoch sind auch hier der Planung durch Faktoren wie Zeit-und Personalressourcen enge Grenzen gesetzt. Die Projektarbeit reicht von spontan durchführbaren Kleinprojekten, an denen alle Besucher, die sich gerade im 5erHaus aufhalten und dies möchten, teilnehmen können, bis hin zu komplexen, lange geplanten Projekten mit umfangreicher Vorarbeit und relativ fixer TeilnehmerInnengruppe. Als exemplarisch können folgende Projekte verschiedener Größenordnungen genannt werden (die Kurzbeschreibungen hervorzuhebender Projekte werden am Ende des Beitrags ausgeführt): • • • • • • • • • • • •

Fotowettbewerbe Filmbeiträge Projekt Handy-Klingeltöne Zeitungsbeiträge Audioaufnahmen von und mit Jugendlichen Digitale Fotobearbeitung LAN-Parties Produktion von Videobeiträgen (CU Jugendredaktion) Einsatz von Filmen (Kooperation mit dem Internationalen Filmclub) Radio 5erHaus (Projekt im Rahmen der Langen Nacht der Jugend) EU Projekt „Community Media“ Medienpädagogische Veranstaltungen für Erwachsene und Eltern (z. B. Sicherheit im Internet, Mediennutzungsverhalten der Kinder etc.)

Als wesentlich erweisen sich auch hier große Flexibilität in der Projektumsetzung und die Bereitschaft, bei Bedarf die gesamte Planung „über den Haufen zu werfen“ und der gegebenen Situation anzupassen. Möglich ist alles, erst zum Zeitpunkt der Durchführung wird es Gewissheit über die teilnehmende Zielgruppe geben, über deren Größe und Zusammensetzung, oftmals unabhängig von vorhergegangenen Vereinbarungen. Ist die thematische Freiheit abseits von Leistungsdruck durchaus als Stärke zu definieren, sind es andererseits genau jene Faktoren wie Freiheit, Zwanglosigkeit und Unverbindlichkeit,


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durch welche medienpädagogisches Handeln in der offenen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenarbeit für PädagogInnen zur großen Herausforderung wird. Ist ein Projekt geplant, sind Ressourcen bereitgestellt – personell, zeitlich und technisch –, Termine vereinbart usw., gibt es keinerlei Garantie, dass dieselben Kids, die darauf „brannten“, am Projekt teilzunehmen, überhaupt zum Termin erscheinen werden. So kann ein intensiv geplantes und vorbereitetes Projekt auch komplett ins Leere laufen. Sind es bei einem Termin zehn begeisterte TeilnehmerInnen, können es beim Folgetermin auch nur zwei sein oder überhaupt niemand. Eventuell interessieren sich auch ganz andere plötzlich für eine Teilnahme, was es notwendig macht, wieder von vorne zu beginnen. Hier ist maximale Flexibilität gefordert, sowohl in der Planung als auch in der Durchführung. Konzepte für Inhalt und Ablauf müssen jederzeit – sollen die Zielgruppen erreicht und einbezogen werden – angepasst und verändert werden können. Dies ist oft sehr nervenaufreibend für die involvierten PädagogInnen und das Potenzial an Frustration, das ein gut vorbereitetes Projekt, in das viele Ressourcen und viel Motivation gesteckt wurden und zu dem die TeilnehmerInnen nicht erscheinen, in sich birgt, sollte nicht unterschätzt werden. Im Kontrast dazu „funktionieren“ Projekte, die in der Planung recht chaotisch erscheinen, dann wieder überraschend gut. Vor allem die Arbeit mit BesucherInnen aus sozial massiv benachteiligten Familien – mit geringem Bildungshintergrund, oft nur fragmentarischen Deutschkenntnissen, Schulabbrechern oder Kids mit Hafterfahrung – ist sowohl von großen Herausforderungen als auch enormen Chancen geprägt. Das 5erHaus stellt für diese Jugendlichen oft den einzigen Rahmen dar, in dem es die Möglichkeit gibt, mit gewissen Strukturen und Themen in Berührung zu kommen, an Projekten mitzuarbeiten oder einfach partizipativ dabei zu sein und so im Idealfall ein Mindestmaß an gestaltender Teilhabe an der Informationsgesellschaft zu erlangen. Diese Gruppe zu „gewinnen“ und zur Teilnahme an Projekten zu motivieren, erscheint als ständige Gratwanderung, die von Sonnenschein sehr treffend formuliert wird: „Einerseits den Sichtweisen, Vorlieben und Wünschen der Kids Rechnung zu tragen und sich ggf. auch in Gestaltungsfragen an attraktiven Elementen der kommerziellen Freizeitkultur (zu) orientieren, andererseits aber ein klares eigenes Profil (zu) entwickeln. Mit unterscheidbaren Zielen, Inhalten und Arbeitsformen geht es darum den Kindern Medienplätze zu bieten, die ihnen nichtkommerzielle, neue Gestaltungsräume eröffnen. Dort sind vor allem auch die benachteiligten Kinder im Blickpunkt, die besonderer Unterstützung bedürfen, ihre Interessen und Fähigkeiten zu erkennen.“ (Sonnenschein, 2009) Die Möglichkeit des Zuganges zu Medien, die medienpädagogische Begleitung und damit die Chance auf Erlangen von Medienkompetenz erscheint vor allem bei dieser Gruppe besonders bedeutungsvoll, trifft aber selbstverständlich als Ziel auf alle BesucherInnen des 5erHauses – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – zu. Sich vorhandener Medien zu bedienen, sie für eigene Zwecke pragmatisch wie kreativ einzusetzen und sie im Idealfall noch kritisch zu reflektieren, soll im Sinne einer aktiven Medienarbeit von allen MitarbeiterInnen für alle Zielgruppen gefördert und gefordert werden (Schorb 2005: 257–262). Bei Kindern, die in der Informationsgesellschaft mit einer großen Flut an ständigen Neuerungen sozialisiert werden, erscheint es wichtig, ihre Medienkompetenz auch im Sinne von Prävention zu fördern (Theunert 2005: 194), sie für den Umgang mit neuen Technologien zu rüsten und in der Entwicklung einer eigenverantwortlichen und kritischen Reflexionsfähigkeit zu unterstützen, ohne Angst zu machen. Auch Eltern sind in diesem Sinne zu stärken, medienpädagogische Eltern- und Informati-


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onsveranstaltungen werden zu diesem Zweck seit Jahren im 5erHaus angeboten und gut angenommen. Sie bieten Gelegenheiten, das eigene Mediennutzungsverhalten zu hinterfragen, Kompetenzen zu erwerben und auszubauen sowie Ängste und Schwellen abzubauen. Von der Informations- und Aufklärungsarbeit können positive Synergien auf das Verhalten der Kinder erhofft werden.

4. Anforderungen und Voraussetzungen Medienpädagogisches Handeln in der offenen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenarbeit mit den beschriebenen Besonderheiten und Ausprägungen führt zu einer ganzen Reihe an Anforderungen und Voraussetzungen für die Institution einerseits und die pädagogischen MitarbeierInnen in diesem Bereich andererseits. Neben der technischen Ausstattung, die keine Selbstverständlichkeit darstellt und immer auch Budgetfragen aufwirft, ist die Qualifikation der MitarbeiterInnen im technischen und pädagogischen Bereich ein ständiges Thema. Das technische Wissen über Hard- und Software, Funktionsweisen, Bedienung, Wartung etc. muss erworben und ständig aktualisiert werden, medienpädagogisches Wissen sollte zumindest als Basiskompetenz vorhanden sein und in Fortbildungen vertieft und erweitert werden können. Das Wissen um die Bedeutung von Medien für die Entwicklung von Kindern erscheint in der Arbeit mit dieser Zielgruppe unerlässlich, der Einblick in die Lebenswelt Jugendlicher ebenso, um nicht an „den Jugendlichen“ vorbei zu agieren, sondern nah an ihrer Lebenswelt anknüpfen zu können. Um Orientierungswissen in der komplexen medialen Welt zu vermitteln, scheint es wichtig, wesentliche Eckpfeiler der medialen Jugendkultur zu kennen, ohne sie für die Erwachsenenwelt vereinnahmen zu wollen, damit Medienkompetenz auch auf Lebensbewältigung ausgerichtet und damit – meist über informelle Lernprozesse – immer auch ein Prozess individueller Lebens-Bildung sein kann (Hüther/Podehl, 2005: 127). Als weitere pädagogische Kompetenz erscheint ein Repertoire an Methoden hilfreich, innerhalb dessen flexibel gewechselt werden kann. Die Arbeit mit Jugendlichen, die an keinerlei schulisches Setting gewöhnt sind, verlangt nach anderen didaktischen Überlegungen und Methoden als beispielsweise die Arbeit mit AHS- oder HTL-Schülern, die in ihrer Freizeit eigenständig experimentieren, Zugang zu Medien besitzen und im Jugendzentrum an inhaltlich anspruchsvollen Projekten mitarbeiten wollen oder sich in komplexe Programme einschulen lassen, eigenständig Videos produzieren etc. Oft gibt es auch eine bunte Durchmischung der unterschiedlichen Gruppen. Hier gilt es, zu differenzieren und individuell zu betreuen bzw. eigenverantwortliches Arbeiten zu ermöglichen und die eigenen didaktisch methodischen Überlegungen ständig zu evaluieren, zu verändern und an wechselnde Zielgruppen oder Settings anzupassen. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass in einer Gruppe, in der die ausdauernden Kids für Film- und Videoschnitt-Tätigkeiten eingesetzt werden, jene Kids mit weniger Durchhaltevermögen interviewt werden, passende Musik aus dem Internet suchen oder sonst eine Rolle in der Produktion spielen, die schnelle Erfolge und/oder nur eine kurze Beteiligung erfordert. Brauchen die einen schnelle Ergebnisse, um weitere Motivation zu erlangen, können die anderen prozessorientiert arbeiten und sich in Einzelheiten vertiefen. Eine Ergebnisorientiertheit – mag sie auch noch so einen Motivationsschub bei TeilnehmerInnen hervorrufen – sollte nicht zum Dogma erhoben werden. Auch diese Erfahrung konnte in der Arbeit mit den verschiede-


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nen Zielgruppen bereits oftmals gemacht werden. Vieles wurde begonnen, ohne beendet zu werden, einfach weil die beteiligten Kids nicht mehr erschienen sind oder die Lust am Projekt verloren haben. Trotzdem konnten sie von durchlaufenen Teilprozessen profitieren und hatten die Chance, sich mit Inhalten und Techniken auseinanderzusetzen. Fragmente können als ebensolche stehen bleiben oder zu einem späteren Zeitpunkt evtl. wieder aufgegriffen oder in anderer Form verwendet und/oder verwertet werden. So anspruchsvoll dieser Spagat für die begleitenden PädagogInnen auch sein mag, für die Dynamik innerhalb der Gruppe über ihre Cliquengrenzen hinaus birgt es unglaublich viel Potenzial abseits von „vorzeigbaren Projektergebnissen“. Methodisch didaktisches Fingerspitzengefühl ist auch in der medienpädagogischen Arbeit mit der erwachsenen Zielgruppe gefragt. Inhalte lustvoll und ansprechend zu gestalten, kann sich positiv auf Motivation und Lernerfolg auswirken. Vor allem in sprachlich sehr heterogenen Gruppen oder mit nicht-alphabetisierten Erwachsenen kann der Einsatz von spielerischen Materialien, die aus der Arbeit mit Kindern „entlehnt werden“, wie Maus- und Tastaturübungen, sehr hilfreich sein, jedoch sollte Achtsamkeit hinsichtlich einer drohenden Infantilisierung erwachsener KursteilnehmerInnen herrschen. Nicht alle Materialien, die im Einsatz mit Kindern hilfreich sind, können eins zu eins für Erwachsene verwendet werden, sinnvolle Überschneidungen erscheinen aber durchaus angebracht und lustvoll. Unerlässlich im Bereich der Anforderungen und Voraussetzungen erscheinen, nicht zuletzt, Freiraum und Kreativität in der Planung und Umsetzung von medienpädagogischen Projekten, ohne den Druck, Ergebnisse liefern zu müssen, und mit der Möglichkeit, „erfolgreich zu scheitern“. Dies ist nicht in jeder Institution selbstverständlich, wirkt sich aber äußerst positiv auf TeilnehmerInnen und BetreuerInnen medienpädagogischer Vorhaben aus. Die dadurch entstehende Lust am Tun, am Experimentieren, und die daraus resultierende Motivation, trotz aller beschriebener Herausforderungen und Schwierigkeiten medienpädagogischen Handelns in der offenen Kinder- Jugend- und Erwachsenenarbeit, sind die treibende Kraft in der Entwicklung und Realisierung immer neuer, interessanter Ideen und Projekte seitens der MitarbeiterInnen des Jugend- und Stadtteilzentrums Margareten und ihrer Zielgruppen.

5. Zusammenfassung Der Aspekt der Freiheit im medienpädagogischen Arbeiten mit Zielgruppen der offenen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenarbeit kann von allen Beteiligten, BesucherInnen wie BetreuerInnen, als großer Bonus geschätzt werden. Gleichzeitig birgt diese Freiheit auch Schwierigkeiten – vor allem in der Planung medienpädagogischer Projekte – hinsichtlich Verbindlichkeit und Verlässlichkeit, was auch durch die Besonderheiten der Zielgruppen offener Jugendund Stadtteilzentren zu erklären ist. Schulische Medienpädagogik sollte nicht in Kontrast, sondern ergänzend zur „außerschulischen“ Medienpädagogik gesehen werden. In beiden Arbeitsfeldern können, neben vielen Überschneidungen, auch sehr unterschiedliche Wege in dieselbe Richtung beschritten werden – zur Unterstützung und Begleitung (junger) Menschen in der Erlangung von Medienkompetenz und damit zur eigenverantwortlichen Teilhabe an der Informationsgesellschaft.


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6. Kurzbeschreibung Medienprojekte im 5erHaus – exemplarische Auswahl • Projekt „Vorher-Nachher“ Zielgruppe: Jugendliche Fotos von „ungeschminkten Jugendlichen“ wurden von Profi-Fotografen angefertigt, danach wurden die Jugendlichen von Stylisten geschminkt, professionell beleuchtet und noch einmal fotografiert. Anschließend wurden die Fotos zusammen mit den Jugendlichen digital retouchiert und mit dem Ausgangsfoto verglichen. • Audioaufnahmen von und mit Jugendlichen Zielgruppe: Jugendliche Bands oder Solosänger werden unterstützt beim Komponieren und Texten ihrer Werke, die Resultate werden in gemeinsamer Arbeit mit Jugendlichen im 5erHaus aufgenommen. • Zeitungsartikel verfassen Zielgruppe: Jugendliche In Kooperation mit der Zeitung „Augustin“ wurden Jugendliche beim Verfassen von Zeitungsartikeln unterstützt, die im „Augustin“ in einer eigenen Jugendrubrik veröffentlicht wurden. • Produzieren von Fernsehbeiträgen – CU Jugendredaktion Zielgruppe: Jugendliche Einmal monatlich erscheint eine Fernsehsendung des Vereins Wiener Jugendzentren auf OKTO TV, Jugendliche produzieren mit Unterstützung selbst ihre Beiträge, filmen und schneiden. Die Jugendredaktion hat ihren Sitz im 5erHaus, produziert und moderiert Beiträge. • Projekt T-Media Box – in Kooperation mit T Media Systems Zielgruppe: Kinder, Jugendliche, Erwachsene Box mit 15 Computerarbeitsplätzen im benachbarten Park, um den Zugang zu Ressourcen für EinwohnerInnen des Theodor-Körner-Hofs zu ermöglichen. MitarbeiterInnen des 5erHauses arbeiten mit Zielgruppen in dieser Box. Workshops, e-Bassena und medienpädagogische Veranstaltungen werden darin abgehalten • Radio 5erHaus Zielgruppe: Jugendliche Projekt im Rahmen der Langen Nacht der Jugend. Jugendliche machen Radio, das im 5erHaus und im Internet gesendet wird. Moderation und Beiträge wurden selbst gestaltet. • Makey-Makey Zielgruppe: Kinder und Jugendliche Musizieren mit Apfelscheiben und Controller; Tastatur selber bauen – „Obstorchester“ • EU-Projekt: „Community Media“ Multilaterales EU-Projekt in Kooperation mit dem Jugendzentrum MexTreff, unter der Beteiligung von fünf Ländern, die in Wien ihre Medienkompetenzen in den Bereichen Video, Print, Audio austauschen. Ein Follow-up-Projekt ist bereits in Planung.


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• e-Bassena Zielgruppe: Erwachsene/Frauen Vermittlung bedürfnisorientierten Computerwissens, abseits von kommerziellen Computerkursen, im Basisbereich. Einschulung in Programme, Internet, Fotobearbeitung, Verfassen von Bewerbungsschreiben am PC etc. Zeit: zweimal wöchentlich, vormittags. • Medienpädagogische Informationsveranstaltungen für Eltern Zielgruppe: Erwachsene, Eltern Informationsveranstaltungen zu verschiedenen Themen wie Sicherheit im Internet etc.

Literatur Gräßer, Lars/Pohlschmidt, Monika (Hg.) (2007): Praxis Web 2.0. Potentiale für die Entwicklung von Medienkompetenz, München: kopaed. Hüther Jürgen/Podehl, Bernd (2005): Geschichte der Medienpädagogik, in: Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (Hg.): Grundbegriffe der Medienpädagogik, 4. Aufl., München: kopaed, 116–127. Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (Hg.) (2005): Grundbegriffe der Medienpädagogik. 4 Aufl., München: kopaed. Schell, Fred (2005): Aktive Medienarbeit, in: Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (Hg.): Grundbegriffe der Medienpädagogik, 4. Aufl., München: kopaed, 9–17. Schell, Fred (2005): Jugend und Medien, in: Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (Hg.): Grundbegriffe der Medienpädagogik, 4. Aufl., München: kopaed, 178–195. Schorb, Bernd (2005) Medienkompetenz, in: Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (Hg.): Grundbegriffe der Medienpädagogik, 4. Aufl., München: kopaed, 257–262. Sonnenschein, Sabine (2005) Ganz nach Lust und Laune. Außerschulische Jugendarbeit mit Medien – Trends und Tendenzen, in: Baacke, Dieter (Hg.) (1999): Handbuch Medien: Medienkompetenz. Modelle und Projekte, Bonn: Bundeszentrale fuer politische Bildung, 15–22. Sonnenschein, Sabine (2009): Die wunderbare Medienwelt der Marlene M. – Kreative Medienarbeit mit Kindern, in: Dieter Baacke Preis Handbuch 4, 2009, 51–59, unter: http://www.gmk-net.de/fileadmin/pdf/Materialien-Artikel/db4_sonnenschein2009.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Christian Sevcik/Jakob Rudelstorfer

Medienarbeit in der Freizeitpädagogik Von der Theorie zur Umsetzung Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/548

Abstract Medienarbeit in der Freizeitpädagogik. Christian Sevcik und Jakob Rudelstorfer berichten von einem Hochschullehrgang an der PH Wien und diskutieren erste medienpädagogische Überlegungen zum Sektor „Freizeit“. Dabei geht es sowohl um Theorie als auch um deren Umsetzung. Die (damalige) Offensive des bm:ukk in der schulischen Tagesbetreuung umfasste nicht nur quantitative, sondern auch zahlreiche qualitative Ausbaumaßnahmen. So wurden im Herbst 2011 mit dem neu geschaffenen Berufsbild des akademischen Freizeitpädagogen/der akademischen Freizeitpädagogin erstmals österreichweit einheitliche Qualifikationsstandards für den Freizeitteil der schulischen Tagesbetreuung festgelegt. Media work in leisure education. Christian Sevcik and Jakob Rudelstorfer report on an academic course at the University of Teacher Training Vienna, and discuss initial media-pedagogical reflections on the field of “leisure.” They address both theoretical questions as well as their implementation. The (former) offensive of the Federal Ministry of Education, Art and Culture (bm:ukk) regarding school day-care involves not only quantitative but also a number of qualitative measures. Thus, in autumn 2011, uniform qualification standards for the leisure part of school day-care in the form of a job profile for academic leisure educators were introduced in Austria for the first time.

1. Kurz aber gut – der Weg der Umsetzung Die Pädagogische Hochschule Wien ist eine der ersten PHs Österreichs, die umgehend die Umsetzung eines Hochschullehrgangs für Freizeitpädagogik in Angriff genommen haben. Möglich wurde der Hochschullehrgang für Freizeitpädagogik durch zahlreiche Gesetzesnovellen, die Ende Oktober kundgemacht wurden. Daraufhin wurde in der Verantwortung der damaligen Vizerektorin für Fortbildung Mag. Ruth Petz (jetzt Rektorin) gemeinsam mit der damaligen Institutsleiterin Mag. Barbara Huemer (jetzt Vizerektorin für Lehre) umgehend ein Freizeitpädagogik-Team eingerichtet. Dieses Team erarbeitete, motiviert durch das breite Interesse an dieser neuen Ausbildung, binnen kürzester Zeit ein den neuen gesetzlichen Rahmenvorgaben entsprechendes Curriculum. Das Ziel „Start Sommersemester 2012“ vor Augen, gelangen die zeitgerechte Erlassung des Curriculums durch die Studienkommission sowie die Genehmigung durch das Rektorat und das bm:ukk. Große organisatorische Anstrengungen machten es so möglich, bereits mit 16. Ap-


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ril 2012 den ersten „Hochschullehrgang für Freizeitpädagogik“ an der PH Wien mit 80 Teilnehmer/innen zu starten, von denen die meisten diesen bereits im Februar 2013 positiv absolvieren konnten. Das Interesse an der neuen Ausbildung ist anhaltend groß – bereits mit Wintersemster 2012/2013 startete der zweite Hochschullehrgang für Freizeitpädagogik mit 200 Teilnehmer/innen und im Wintersemester 2013/14 wird der dritte Hochschullehrgang für Freizeitpädagogik starten.

2. Inhalte und Zulassungsbedingungen Mit dem Abschluss als „Akademische Freizeitpädagogin/Akademischer Freizeitpädagoge“ wird die Befähigung zur Arbeit im Freizeitteil der schulischen Tagesbetreuung erworben. Die Studiendauer umfasst 2 Semester und 60 ECTS (1500 Arbeitsstunden). Enthalten sind darin sowohl betreute als auch unbetreute Studienanteile. Basierend auf der Hochschul-Curricula-Verordnung besteht der Hochschullehrgang für Freizeitpädagogik aus folgenden Modulen: 1. Semester • Hospitation und Praxis • Pädagogische Grundlagen • Freizeitpädagogische Grundlagen • Persönlichkeitsentwicklung und Kommunikation • Kunst und Kreativität • • • • •

2. Semester Hospitation und Praxis Rechtliche Grundlagen Diversität Musik Sport

Medienbildung In den Modulen Kunst- und Kreativität und den Freizeitpädagogischen Grundlagen wird Medienbildung durch besonders ausgewählte Vortragende aus diesem Bereich gelehrt. Qualitätskriterium Praxisbezug Die Pädagogische Hochschule Wien sieht sich in besonderer Weise der Verschränkung von Theorie und Praxis verpflichtet. Besonderes Qualitätsmerkmal des Hochschullehrgangs für Freizeitpädagogik an der PH Wien ist daher der hohe Praxisanteil (wöchentliches Tagespraktikum und eine Praxiswoche pro Semester), der aktiv in der schulischen Tagesbetreuung an zahlreichen Wiener Schulen absolviert wird. Der starke Praxisbezug macht es auch möglich, dass theoretisch Erlerntes direkt in der Praxis umgesetzt werden kann, wie es die nachfolgenden drei Best-Practice-Beispiele des Teilnehmers Jakob Rudelstorfer am zweiten Hochschullehrgang für Freizeitpädagogik zeigen.


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

3. Praxisbeispiele Erstes Praxisbeispiel – Pivot Mit dem Freeware-Programm Pivot (http://pivotanimator.net [letzter Zugriff: 01.04.2014]).

Abb. 1: Screenshot vom Freeware Programm ‘Pivotanimator’

Ein kleines Strichmännchen kann durch die Benutzerin oder den Benutzer platziert und verändert werden (Position und Haltung). Bei jeder Veränderung wird ein neues Einzelbild abgespeichert (durch Klick auf NEXT FRAME) und mit diesen Einzelbildern entsteht dann ein bewegter Film ähnlich einem Daumenkino. (Arbeitszeit für Vor- und Volkschüler/innen: 10–15 Minuten, dann müsste der erste Film fertig sein.) Fortgeschrittene NutzerInnen können vorab ein Hintergrundbild einfügen (unter FILE – LOAD BACKGROUND), der Hintergrund muss aber mit einem anderen Zeichenprogramm (Paint, Gimp usw.) gezeichnet werden. Es gibt auch die Möglichkeit, andere (unter FILE – LOAD FIGURE TYPE) oder mehrere Figuren einzusetzen. Auch eigene Figuren können gebaut werden (unter FILE – CREATE FIGURE TYPE). Wichtig ist, den Kindern zu vermitteln, je mehr Bilder sie produzieren und umso kleinere Veränderungen sie zwischen den einzelnen Bildern machen, desto flüssiger werden die Bewegungen im fertigen Film. Ich habe das Programm ab dem Kindergarten bis zur Unterstufe eingesetzt und es wurde immer sehr gut aufgenommen.

Zweites Praxisbeispiel – Papercraft Papercraft ist im Moment sehr „in“ und im Internet gibt es Tausende Druckvorlagen und Anleitungen in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen und Themengebieten, aus denen dreidimensionale Figuren entstehen, z. B. auf http://paperkraft.blogspot.co.at/ (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Abb. 2: Druckvorlage Bild: http://minecraftpapercraft.com (letzter Zugriff: 01.04.2014)

Benötigt werden ein PC mit Drucker und Internet sowie Papier, Schere und Klebstoff. Das Schöne an Papercraft ist: Die Schülerinnen und Schüler können ihre Helden aus TV oder Comics ausdrucken und aus Papier herstellen. Es gibt auch die Möglichkeit, die Figuren-Modelle selbst zu bemalen.

Abb. 3: Mit Papier und Schere Bild: Jakob Rudelstorfer

So kann man vor allem für ältere Kinder ein Angebot machen, mit dem man dann auch in Medienprojekten weiter kreativ arbeiten kann: z. B. große Landschaften mit Figuren und Häusern bauen und diese dann etwa als Kulisse für einen Stopmotion-Trickfilm verwenden. Es bietet sich auch sehr an, Papercraft-Figuren aus dem Spiel Minecraft (www.minecraft.net) zu verwenden, da dieses Spiel sehr beliebt ist, die Figuren leicht zu bauen sind und Kinder, die das Spiel haben, sich sogar ihre eigenen Spielfigurenskins ausdrucken können. Unter www.pixelpapercraft.com gibt es zum Beispiel einige Vorlagen zum Download.


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

Abb. 4: Papercraft-Projekt in der Unterstufe Bild: Jakob Rudelstorfer

Drittes Praxisbeispiel – Childsplay Childsplay ist ein Freeware-Tool (www.schoolsplay.org), das gleich mehrere Lern- und Geschicklichkeitsspiele mitbringt: • • • •

verschiedene Memospiele (Klang-, Kleinbuchstaben-, Großbuchstaben-, Zahlen-Memory), Maus- und Tastaturtrainingsspiele, Puzzles und Geräuschzuordnungsspiele und ein Pac-Man-Spiel, in dem es darum geht, ein Wort zu lesen und dann im Labyrinth in der richtigen Reihenfolge (mit den Pfeiltasten) zu den entsprechenden Buchstaben zu fahren.

Das Programm richtet sich an Vorschüler/innen und Erstklässer/innen. Damit können spielerisch Buchstabenlernen, Lesen und Schreiben wie auch der Umgang mit dem Computer vertieft werden. Das Programm eignet sich gut für ein freies Angebot, da es viele Varianten bietet und wenig Betreuung erfordert.


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Elisabeth Eder-Janca

Aus der Praxis Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/559

Abstract Elisabeth Eder-Janca, die Leiterin des Zentrums für Medienkompetenz in Brunn am Gebirge, lotet in ihrem stark an der Praxis orientierten Beitrag die Schnittstellen zwischen Schule, Medienpädagogik und Freizeitbereich aus und diskutiert dabei auch verschiedene Begriffe der Medienkompetenz. Practical Experience. In her strongly practically inspired contribution, Elisabeth Eder-Janca, director of the Zentrum for Medienkompetenz (centre of media competence) at Brunn am Gebirge, explores the intersections between school, media pedagogy and the field of leisure, and also discusses a number of concepts of media competence.

1. Einleitung Der erste Satz, den ich als Kind gehört habe, als es zum ersten Mal in die Schule ging, lautete: „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens!“ Als meine Tochter dreißig Jahre später in derselben Situation war, hatte sich an dem Spruch noch immer nichts geändert. Und auch heute, Jahre später, höre ich diese „aufmunternden“ Worte noch immer von Eltern. Trotz allen Ernstes habe ich mich seit 2000 entschlossen, genau in diesem schulischen Umfeld zu arbeiten – und es macht riesigen Spaß, in Workshops, fortlaufenden Wochenveranstaltungen und Ferien-/Mediencamps Kindern und Jugendlichen in der Freizeit und Schule medienpädagogische Inhalte zu vermitteln. Interessant ist es, sich die Entwicklung an der Schnittstelle von Schule, Medienpädagogik und Freizeitbereich anzusehen. Alle meine/unsere Projekte basieren auf dem Medienkompetenz-Modell von Baacke. Auch wenn es vielleicht oft diskutiert und hinlänglich bekannt ist, sollen hier nochmals die für unsere Arbeit relevanten Fakten erwähnt werden. Dieter Baacke geht in seiner Habilitationsschrift von 1973 von einer engen Verbindung von Medienkompetenz und Kommunikativer Kompetenz aus. Diese Kompetenz ist dem Menschen angeboren. Nichtsdestotrotz muss sie geübt, erweitert und weiterentwickelt werden. Das heißt, wir sind in der praktischen Arbeit am Zentrum für Medienkompetenz immer davon ausgegangen, dass speziell Kinder und Jugendliche Wissen haben und dieses Wissen geformt und erweitert werden kann und muss, um sie (medien-)kompetent zu machen. Wichtig ist, dass sie sehr wohl als Kinder/Jugendliche und nicht als kleine Erwachsene gesehen wurden/werden. Speziell in letzter Zeit werden Kinder sehr häufig überschätzt und überfordert – sie sind aber immer noch Kinder!


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2. Medienkompetenz nach Baacke Bekanntlich finden wir bei Baacke die vier Dimensionen Medienkunde, Medienkritik, Mediennutzung und Mediengestaltung. Vereinfacht: • Medienkunde – Wie bediene ich ein Medium? • Medienkritik – Was wollen Medienmacher von mir, was bewirkt ein Medium bei mir/in der Gesellschaft? • Mediennutzung – Wofür nutze ich Medien? • Mediengestaltung – Wie produziere ich selbst mit und in Medien? Im Laufe der Jahre hat sich das angesprochene angeborene und bereits erworbene Grundwissen verändert. Wir müssen dem in den jeweiligen Projekten auch immer wieder Rechnung tragen.

Praxisbeispiel Nr. 1: Cyberspider 2002 etwa konnte ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Medienpädagogischen Beratungsstelle bei CISA (Consumers Internet Safety Awareness – EU Safer Internet Action Plan) mitwirken. Das Ziel unserer Aktionen war eine Sensibilisierung für die Gefahren des Internet. Praktisch hat sich das Projekt in Niederösterreich folgendermaßen gestaltet: Das Motto war: „Mit dem Cyberspider ins Internet“. Die Grundidee war, zu den Kids zu gehen, dorthin, wo man sie in der Freizeit antrifft bzw. sie Veranstaltungen besuchen, und ihnen in einfacher, verständlicher Weise zu erklären, wie das Internet funktioniert und worauf man aufpassen sollte. Es zeichnete sich ab, dass die Kinder das Internet in Zukunft auch in der Freizeit nutzen würden, also sollten sie gerüstet sein. Die Kooperation mit Büchereien verschaffte uns die Möglichkeit, an den Lebensraum der Kinder heranzukommen, denn damals konnte man Kinder noch in den Büchereien antreffen. Wir hatten Laptops zur Verfügung. In der Zeit, die wir mit den Kindern hatten, wollten wir versuchen, mit ihnen über die Gefahren zu sprechen bzw. ihnen Verhaltenstipps geben. Es sollte in teilweise spielerischer Form sein – ein Brettspiel ermöglichte den Einstieg genauso wie ein Quiz. Es entstand dabei auch ein Mousepad mit verschiedenen Tipps (vgl. Abb. 1). Andererseits sollten sie praktisch das Gerät ausprobieren können. Wenn ich heute daran zurückdenke, muss ich teilweise schmunzeln. Die Laptops wurden alle mit meterlangen Kabeln LAN-mäßig internettauglich gemacht. Die Geschwindigkeit war entsprechend „berauschend“. Von WLAN und Highspeed noch keine Idee. Internet überhaupt in Bibliotheken zu finden, war schon eine Herausforderung. Interessant war, dass wir die Kinder zunächst medienkundlich fit machen mussten. Das heißt, es begann die Einschulung absolut pragmatisch mit dem Einschalten des Computers. Ganz aufgeregt machten die meisten die ersten Mausklicks an den Geräten. (Damals konnte man den Eltern auch noch Computerkurse für Kinder mit dem Argument anbieten, dass sie das Wissen für den Beruf brauchen könnten.) Um es zu verdeutlichen: Die angesprochenen Kids waren in den Altersgruppen bis 10 und bis 12 Jahre. 2013 können wir bereits auf einem anderen technischen Grundwissen aufsetzen. Die Kids muss ich immer zuerst einbremsen, weil sofort geklickt und geschaut wird. Man muss die Kinder teilweise erst wieder „einfangen“, um sie auf das Thema zu konzentrieren. Dafür wissen sie sofort, welche Spiele und Programme auf dem PC sind. Ich bemerke teilweise bei jüngeren


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Kindern, dass man ihnen die Funktionen der Maus erklären muss, weil sie inzwischen bereits das Wischen über Bildschirme gewohnt sind. Auch die Gefahren im Internet sind vielfältiger geworden. Wobei die Tipps sicherlich nach wie vor ihre Berechtigung haben. Die medienkundliche Erfahrung der Kids beginnt schon viel früher und ist zum Teil bereits sehr ausgeprägt. Die Regel ist: Gib einem Dreijährigen ein Handy in die Hand und er wird dir erklären wie es funktioniert! Das heißt aber auch, dass wir uns in der Arbeit mit Kindern/Jugendlichen auf andere Bereiche der Medienkompetenz konzentrieren können.

Abb. 1: Mousepad Bild: Eder-Janca

Auffällig ist, dass die Kinder und Jugendlichen (egal welcher Altersklasse) wesentlich weniger Geduld und Ausdauer haben als die Kids, die wir z. B. 2002 hatten. Es ist immer wieder eine Herausforderung, Kinder/Jugendliche zu betreuen und die nonverbale bzw. die verschlüsselt verbale Kommunikation zu verstehen. Ich habe bereits gelernt, dass es nicht mehr wie frü-


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

her heißt: „Ich kenn mich nicht aus. Kannst du mir bitte helfen?“, sondern: „Das ist fad – das ist blöd.“ Dies betrifft auch direkt die Mediennutzung. Es bedeutet, dass ich mir bewusst bin, wofür ich Medien einsetze. In der Kinder-/Jugendarbeit ist dieser Aspekt insofern interessant, als wir den Kindern und Jugendlichen das „Werkzeug“ Medium näherbringen können. Die Kinder lernen zu Hause Medien meist als Spielzeug kennen. Das nutze ich halt, damit mir nicht fad ist! Wir haben in Kursen, Camps etc. zwar auch den Effekt, dass ihnen nicht fad ist, aber sie wissen bzw. lernen, wozu ich Medien nutzen kann, was ich damit tun kann … Andererseits ist die gezielte Mediennutzung ebenso Anknüpfungspunkt für die Aufarbeitung von Themen.

Praxisbeispiel Nr. 2: Hochwasserhilfe anders Im August 2002 gab es ein Jahrhunderthochwasser. Das Kamptal war unter anderen massiv betroffen. Die Kinder hatten zu diesem Zeitpunkt noch Ferien und haben das Geschehen daher noch intensiver verfolgen und miterleben können/müssen. Zu Schulbeginn konnten sie teilweise nicht in ihre Schulen. Wir wussten, dass viele Kinder traumatisiert waren. In Kooperation mit einigen Sponsoren setzten wir „Hochwasserhilfe anders“ um. Die Basisüberlegung war, dass Medien auch zur Verarbeitung unterschiedlicher Themen verwendet werden können. Mit einem ganzen Paket sind wir in Kindergärten aufgebrochen. Wir haben mit den Kindern zunächst das Thema behutsam angetastet. Dabei war eine Schildkröten-Handpuppe (vgl. Abb. 2) die Ansprechperson.

Abb. 2: Schildkröten-Handpuppe Bild: Eder-Janca

Wir haben mit dieser Puppe einen Film präsentiert: Winnie Puuh und das Hundewetter. Eine Folge, in der es zu einer Überschwemmung kommt, natürlich alles gut ausgeht und die kindgerecht gestaltet ist. Danach konnten die Kinder mit der Schildkröte sprechen. Ich empfehle speziell seit damals, bei heiklen Themen eine passende Handpuppe agieren zu lassen. Welche Vorteile das hat, möchte ich am Beispiel eines vierjährigen Buben erläutern. Er hat versucht, mir als Trainerin zu erklären, wie das Hochwasser war, was passiert ist und wie furchtbar das Ganze war. Er war so aufgeregt, dass er nur stotterte. Der Schildkröte an meiner Hand konnte er das aber komplett fließend erzählen. Die Schildkröte durfte ihn dann auch trösten. Nach dem Reden und der ersten Aufregung wurden die Kinder in einer Bewegungseinheit „entstresst“. Es gab vorgegebene Übungen, die körperchemisch/technisch zum Abbau des Adrenalins eingesetzt wurden. Daneben gab es auch freie Abschnitte, wo mit Stoffen gearbeitet


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wurde und die Kinder sich zu „Wassermusik“ bewegen durften. Im Anschluss nutzen wir das Medium Papier und erarbeiteten mit den Kindern gemeinsam Wasserbilder. In diesem Stadium kamen nur mehr positive Bilder hoch – also Bilder zum Schwimmen, Trinken, Baden etc. Abgeschlossen wurde das Ganze durch den Blick ins Wasser. Was findet sich denn in den Gewässern eurer Gegend? Welche Tiere? Welche Pflanzen? … und ähnliche Fragen. Die Kinder waren begeistert und merklich entspannt. Das einzig negative Feedback kam in einem Kindergarten von den Eltern: Die Kinder wollten sich nach dem Abholen auch noch bewegen und sie konnten sie nicht wie gewohnt vor den Fernseher setzen. Für die medienpädagogische Tätigkeit bedeutet das, dass wir mit geeigneten Medien und Produkten Themen aufgreifen und diese bearbeiten können. Voraussetzung ist, dass der/die jeweilige PädagogIn seine/ihre eigenen Grenzen kennt. Speziell bei sehr tief greifenden Themen wie Krieg oder auch Mobbing. Nach den Ereignissen des 11. September bzw. zum Irakkrieg mussten wir auch in Freizeitprojekten immer wieder zu diesem Thema arbeiten, weil es sich aus dem Wunsch bzw. Verhalten der Kinder/Jugendlichen ergeben hat. In Kooperation mit dem IZI wurde wissenschaftlich untersucht, wie Kinder/Jugendliche auf die Berichterstattung reagieren, wie es ihnen dabei geht und wie man sie unterstützen kann. Eine Zusammenfassung findet sich unter folgendem Link: http://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/16_2003_2.htm (letzter Zugriff: 01.04.2014). Das alles bedeutet, dass es für Freizeit- und MedienpädagogInnen äußerst wichtig ist, das Tagesgeschehen im Auge zu behalten. (Dies war auch beim „Fritzl-Fall“ [Missbrauch in der Familie] im räumlichen Nahegebiet zu beobachten.) Zu dieser Zeit durfte ich in einem Ferienspiel Kinder/Jugendliche von 7–14 Jahre betreuen. Es sollte mithilfe der Trickbox das Animationsprinzip erlernt werden. Auch hier hat sich meine Erfahrung bestätigt, dass ich in keine Veranstaltung mit dem erklärten Ziel „Lerne Medienkompetenz“ gehen kann, sondern das eigentliche Thema im Vordergrund stehen muss. Das Thema packt die Kinder/Jugendlichen und sie lernen das, was ich im Grunde vermitteln möchte, „nebenbei“. Auch Erwachsene sind dabei keine Ausnahme.

Praxisbeispiel Nr. 3: Trickfilm Die Arbeit von PädagogInnen kann jeder selbst in ihrer Tiefe und Breite steuern. Beispiel: In einem Kindergartenprojekt wurde ein Trickfilm mit der Trickbox erstellt. „Weitersagen“ ist eine Geschichte à la „Stille Post“ im Urwald. Die Kollegin hat mit den Kindern vorab Figuren produziert, den Text fixiert und geübt, Lieder einstudiert etc. Sie hat in ihrer täglichen Arbeit bereits unterschiedliche Medien eingesetzt. Als Abrundung sollte die Geschichte verfilmt werden. Im Einsatz wurden alle Wissensinhalte wiederholt … ich musste aus Kindersicht ja auch auf dem Laufenden sein. In der Umsetzung des Trickfilms selbst wurde den Kindern bewusst, wie viel Arbeit so ein Film ist. Es waren dann natürlich „Hundertausende“ Bilder, die sie gemacht haben. Sie konnten den Eltern danach auch ganz genau erklären, wie ein Trickfilm entsteht. Und sie wussten, dass es „ganz toll viele“ Bilder sein mussten, die den Film im Fernsehen ausmachten. Das heißt, wir haben neben der Ebene der „einfachen“ Umsetzung die Ebene der Produktion mit allem, was in Produktionsstudios passiert, geöffnet. Die Kinder hatten sehr viele Fragen, wie denn das in „Wirklichkeit“ ist. Dazu kam ganz unbewusst die Ebene der Manipulation – die Kinder erkannten Filmtricks und konnten sie in „ihren“ Sendungen/Filmen verorten. Die Ebene des sozialen Lernens ist daher in solchen Projekten immer zugegen. Und diese Projekte funktionieren nur im Team, wes-


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halb auch erfahrungsgemäß Gemeinschaft entstehen kann. In dieser Richtung durfte ich unterschiedliche Klassen (von Volksschule bis HLW) betreuen. Der Prozess hat immer gezeigt, dass die Klassengemeinschaft sich wesentlich verbessert hat und auch von Dauer war. (Auch wenn jetzt nicht alle best friend waren.) Ich sehe in solchen Arbeiten auch die Chance, dass in den Nachmittagsbetreuungen durch FreizeitpädagogInnen soziale Kontakte geschaffen und vertieft werden können bzw. auch Teams und Interessengemeinschaften entstehen können. Speziell in Betreuungen, die schul- und altersübergreifend sind. Ein Beispiel für einen solchen Trickfilm findet sich unter folgendem Link: http://www.youtube.com/watch?v=rtFvVU_4UzI (letzter Zugriff: 01.04.2014). Dabei ist medienpädagogisch zu betonen, dass mit dem Vertonen und Verfilmen auch an Sprachfehlern gearbeitet werden konnte bzw. diese hörbar wurden. Gerade deshalb muss an der Aussprache gearbeitet werden bzw. wurde gearbeitet. Daraus entstand dann auch im Kindergarten selbst die Idee, Tonaufnahmen für das „Sprachticket“ (also richtige Aussprache) zu verwenden.

3. Medienkompetenz nach Aufenanger Die unterschiedlichen Ebenen greifen in den Projekten (speziell Mediencamps) im Grunde immer ineinander, weil wir die Kids über längere Zeit betreuen. Hier ist für mich die Begrifflichkeit der Medienkompetenz von Aufenanger fast noch stimmiger als jene von Baacke. Aufenanger unterscheidet sechs Dimensionen: kognitive, ästhetische, affektive, soziale, moralische und Handlungsdimension. Sie seien hier kurz beschrieben – speziell im Hinblick auf Projekte, die ich danach skizziere: • Die kognitive Dimension bezieht sich auf das Verstehen und Analysieren von Medien – also z. B. auch auf das Entschlüsseln von Symbolen und Codes in Medien. • Die moralische Dimension ist nicht nur ethisch-moralisch, sondern kann sich auch auf die Umweltverträglichkeit einer Produktion beziehen. • Die soziale Dimension beinhaltet etwa die „politische Vertretbarkeit“. • Die affektive Dimension beinhaltet den Unterhaltungsfaktor. • Die ästhetische Dimension bezeichnet die Gestaltung eines Medieninhaltes. • Die Handlungsdimension beinhaltet das aktive Gestalten. Speziell in unseren Mediencamps (Zentrum für Medienkompetenz/Brunn) können wir uns diesen Dimensionen länger widmen, da die Kids eine Woche mit uns arbeiten. Dabei entstehen unterschiedlichste Produkte.

Praxisbeispiel Nr. 4: Werbevideo 2012 galt es etwa in einem unserer Mediencamps, dem Wunsch eines Vaters nach einem Werbevideo für den neu entstandenen Orientierungslauf-Verein medienpädagogisch nachzukommen. Man kann dazu sagen, dass es eine „Stammgruppe“ von Kids gibt, die dieses Mediencamp schon länger besuchten. Es wurde zur Vorbereitung thematisiert, was denn Werbung überhaupt ist und will. Wie wirkt sie? Welche Elemente werden verwendet? Danach ging es in die Ideen-Findung … Wie entsteht aus einer Idee ein Drehbuch? Bis zur tatsächlichen Umsetzung wurden dann Requisiten, Ablaufplan, Kameraeinstellung etc. geklärt. Unter Begleitung entstand der Film: GO Harzberg (Vgl. Abb. 3).


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Abb. 3: Film GO Harzberg

Der Film findet sich unter folgendem Link: http://vimeo.com/49613820 (letzter Zugriff: 01.04.2014).

Praxisbeispiel Nr. 5: Recht auf Gleichheit Die soziale Dimension war in folgendem Projekt „tonangebend“: Es ging dabei um den Trickfilmpreis 2002 und 2003 in Niederösterreich. Ich durfte einige 3. Klassen aus Volksschulen bei der Umsetzung des „Kinderrechts auf Gleichheit“ begleiten. Stellvertretend hier der Link zur VS Gmünd: http://vimeo.com/50152369 (letzter Zugriff: 01.04.2014). Ein Projekt, das sich über drei Tage erstreckt und etwa 60 Kinder gleichzeitig beschäftigt hat. Obwohl so viele Kinder vor Ort waren, konnte ich mit ihnen sehr gut über das Thema diskutieren. Während der Produktion sind ihnen immer wieder Situationen eingefallen, wo das Recht auf Gleichheit in ihrem Umfeld gebrochen wurde. Sei es, dass es körperliche, klassengesellschaftliche oder ethnische Unterschiede gab, die zu entsprechenden Problemen und vor allem Vorfällen geführt hatten. Es wurde ihnen bewusst, dass sie auch selbst Mitschüler diskriminieren würden.

Praxisbeispiel Nr. 6: Handy-/Tablettfilme 2012 waren wir schon im Zeitalter von Tablett und Smartphone angekommen. Im Mediencamp haben wir dem teilweise durch die Umsetzung von Handy-/Tablettfilmen Rechnung getragen. Auch für uns eine Herausforderung der technischen Natur, da nicht alle Handys mit allen Laptops und schon gar nicht untereinander kompatibel waren. Darüber hinaus gab es noch die Anforderung, bei einem Handyfilmwettbewerb von KollegInnen in NRW einzureichen. Das Thema: „Deine Stadt“. So entstanden die beiden Teile – Gespräch der Jungen/Gespräch der Alten: http://vimeo.com/49601560 (letzter Zugriff: 01.04.2014). Es gibt noch eine Unzahl von Projekten. Ich möchte gerne die ausführliche Beschreibung eines meiner Projekte im Praxishandbuch der Medienpädagogik hier verlinken: http://www.medienpaedagogik-praxis.de/2012/12/02/animierte-strichmannchen/ (letzter Zugriff: 01.04.2014).


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

4. Schluss Eine der wichtigsten Dimensionen dürfen wir in unserer Arbeit aber auf keinen Fall vergessen: die affektive Dimension, also den „Spaßfaktor“. Lernen geschieht mit Emotion. Alles, was mir Freude macht, macht mich auch neugierig auf Neues. Genau an diesem Punkt können wir die Kids packen. In der Praxis finde ich die gängigen Aussagen bestätigt: Die Kinder wissen nichts mit sich anzufangen. Eltern haben scheinbar keine Zeit. Kinder haben materiell alles … Das ist gerade die Chance, dass in einer betreuten Freizeit gezielt angesetzt werden kann. Aus meinen Kursen und Projekten weiß ich, dass die Kinder die Inhalte auch zu Hause weiter umsetzen. Manchmal zum Leidwesen der Eltern – wenn ich an meine Anfänger denke, die alle möglichen und unmöglichen Einstellungen verändern, von denen die Eltern keine Ahnung haben. Positiv ist auch, wenn mir dann eine Mutter nach Jahren erzählt, dass wir die Arbeit in der Volksschule so gut gemacht haben, dass der junge Mann jetzt etwas mit Medien studieren und als Beruf ausüben möchte. Es gibt im Zentrum für Medienpädagogik auch mit vielen Schüler­ Innen Kontakt, die sich jetzt noch immer Infos und Anregungen holen. Mein absolutes Lieblingsfeedback auf unsere Kurse und unsere Arbeit ist aber, wenn sogar die Woche danach eingeteilt wird. So ist der Kurs am Freitag für manche das Highlight der Woche. Nur mehr so und so viele Tage bis zum nächsten Kurs …


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Birgit Eickelmann/Mario Vennemann/Sandra Aßmann

Digitale Medien in der Grundschule Deutschland und Österreich im Spiegel der internationalen Vergleichsstudie TIMSS 2011 Beitrag online im Ressort Forschung unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/540

Abstract Mit der internationalen Grundschulleistungsstudie Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS 2011; vgl. Bos/Wendt/Köller/Selter 2012; Suchań/Wallner-Paschon/ Bergmüller/Schreiner 2012) liegen aktuelle Daten zur schulischen und außerschulischen Nutzung digitaler Medien durch GrundschülerInnen sowie Lehrerdaten über den Einsatz von digitalen Medien in der Schule und im Fachunterricht in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften vor. Mit diesem Beitrag sollen die für die beteiligten Länder repräsentativen Daten genutzt werden, um Einblicke in die schulische und außerschulische Nutzung digitaler Medien durch Grundschulkinder am Ende der vierten Klasse zu geben. Dabei werden die Länder Deutschland und Österreich fokussiert und verglichen. Die Befunde werden theoretisch im Gesamtkontext der Medienpädagogik und vor dem Hintergrund der Qualitätsentwicklung von Schulsystemen im internationalen Vergleich diskutiert. Digital media in primary school. With the international large-scale assessment study TIMSS 2011 (Trends in International Mathematics and Science Study; cf. Bos/Wendt/Köller/Selter 2012; Suchań/Wallner-Paschon/Bergmüller/Schreiner 2012) rich data concerning primary students’ and teachers’ use of computers are available. These data allow insights into the use of digital media both at school and in subject-specific courses such as mathematics and science. With this contribution, representative TIMSS-data are used to examine the role of new technologies at the end of Grade 4. With a focus on Germany and Austria, the countries will be compared. Findings will be discussed in the light of media education and the quality of school systems in the context of international developments.

1. Einleitung Seit fast 20 Jahren beteiligen sich Österreich und Deutschland an international vergleichenden Schulleistungsstudien wie PISA (Programme for International Student Assessment), TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study) und IGLU (Internationale Grund­schulLese-Untersuchung)/PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study). Diese Studien dienen dem Bildungsmonitoring und bilden seither die empirischen Grundlagen zur Verbesserung von Bildungssystemen. Die Studien fokussieren in erster Linie auf die fachlichen Kompetenzen in den Testbereichen der Studien – vor allem Lesekompetenz, mathematische sowie na-


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turwissenschaftliche Kompetenzen. Die Ergebnisse werden weltweit vor dem Hintergrund von Schul-, Unterrichts-, Lehrer- und vor allem Schülermerkmalen (wie Geschlecht, Migrationshintergrund, soziale Lage) mit unterschiedlichen Zugängen analysiert, national interpretiert und international verglichen. Die Berichtslegungen der Studien greifen überdies die Lehr- und Lernbedingungen auf und geben dabei auch Auskünfte über die schulische Nutzung digitaler Medien sowie über schulische Ressourcen, die im Kontext von digitalen Medien als distinkte Ausstattungsmerkmale eingeschätzt werden (vgl. u. a. Drossel/Wendt/Schmitz/Eickelmann 2012). Die Datengrundlagen solcher Studien im Grundschulbereich bieten die Möglichkeit für sehr umfassende Analysen hinsichtlich der Qualität und Nutzung digitaler Medien in der Primarstufe, welche aber bisher nur in verhältnismäßig geringem Umfang tatsächlich ausgewertet wurden. Dabei bilden derartige Daten wichtige Informationen über die Entwicklung von Bildungssystemen ab: Für die Sekundarstufe konnten beispielsweise Senkbeil und Drechsel (2004) mit PISA 2003 für 15-jährige SchülerInnen zeigen, dass diese sowohl in Deutschland als auch in Österreich im internationalen Vergleich stark an computerbezogenen Aktivitäten interessiert sind, aber ihre unterrichtliche Nutzung insbesondere in Deutschland deutlich unter dem OECD-Durchschnitt lag. Senkbeil und Wittwer (2008) zeichneten in der nachfolgenden PISA-Studie darüber hinaus geschlechterspezifische Unterschiede in der Mediennutzung von Mädchen und Jungen nach. Für die Grundschule liegen Auswertungen für die Daten aus PIRLS/IGLU 2006 vor (u. a. Schulz-Zander/Eickelmann/Goy 2010). Neben geschlechtsspezifischen Unterschieden konnte hier gezeigt werden, dass Variablen zur schulischen und außerschulischen Mediennutzung zumindest im geringen Umfang Erklärungskraft hinsichtlich der Leseleistung von SchülerInnen haben. Aktuelle Berichte über die Entwicklung der Nutzung digitaler Medien im Grundschulbereich fehlen jedoch, obwohl die diesbezügliche Datengrundlage mit den Grundschulleistungsstudien vorliegt und vertiefend auch mit der TIMS-Studie Einblicke in fachliches Lernen in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaft bereitgestellt werden.

2. Ergebnisse zur Mediennutzung in TIMSS international Die Datenerhebung der aktuellen TIMS-Studie fand in 59 Bildungssystemen im Jahr 2011 statt. Die internationale Berichtslegung sowie erste nationale Analysen wurden zeitgleich Ende 2012 in den beteiligten Bildungssystemen veröffentlicht (Bos/Wendt et al. 2012; Martin et al. 2012; Mullis et al. 2012; Suchań/Wallner-Paschon/Bergmüller/Schreiner 2012). Im Gesamtergebnis zeigt sich, dass Deutschland und Österreich zu den Ländern gehören, in denen fachlicher Kompetenzerwerb einerseits im internationalen Vergleich überdurchschnittlich ist, andererseits hängt der Bildungserfolg von Grundschulkindern in diesen Ländern, wie auch schon in den vorangegangenen Studien gezeigt werden konnte, immer noch deutlich von Hintergrundmerkmalen der SchülerInnen – wie etwa ihrem Migrationshintergrund oder ihrem sozio-ökonomischen Status – ab. Spezielle Informationen über digitale Medien werden in der österreichischen Berichterstattung nur zusammen mit der Verfügbarkeit eines eigenen Zimmers, eines Schreibtischs zum Lernen, eigener Bücher und schließlich mit der Verfügbarkeit eines Computers und eines Internetzugangs als Lernressourcen angesprochen. In Deutschland werden sie im Kapitel zu Lehr-Lernbedingungen aufgegriffen (Drossel et al. 2012). Damit erfolgte Ende 2012 die Berichterstattung gemäß dem übergeordneten Ziel der Studie, den fachlichen Kompetenzerwerb in Mathematik und Naturwissenschaften zu fokussieren. Da digitale


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Medien nur als ein Teilaspekt der verfügbaren Lernressourcen angesehen werden, entfielen zunächst detaillierte vertiefende Analysen im Kontext von TIMSS 2011 – sowohl in Deutschland als auch in Österreich. Der vorliegende Beitrag greift diese Lücke in der Berichterstattung auf und nutzt die mit TIMSS 2011 umfangreich vorliegende Datengrundlage zur Analyse der Entwicklung in Deutschland und Österreich. In der Erhebung sind Instrumente zur Nutzung neuer Technologien in Grundschulen, im Fachunterricht und im häuslichen Bereich zum Einsatz gekommen. Die Instrumente sowie die internationale Datenbasis von TIMSS 2011 bilden die Grundlage für den vorliegenden Beitrag (Wendt/Tarelli/Bos/Frey/Vennemann 2012).

3. Forschungsstand und offene Fragestellungen In Deutschland wie in Österreich findet seit den 1990er-Jahren die Nutzung von Computern und digitalen Medien Eingang in den Unterricht der Grundschulen. Dazu existieren in beiden Ländern zahlreiche kleinere und umfangreichere Ausstattungsprojekte (u. a. in Bailicz/ Seper/Sperker 2006) sowie die an Inhalte und Kompetenzen gebundenen Einführungen zur Nutzung von Computern und des Internets (u. a. in Österreich eJunior oder in Deutschland der e-Pferdchen-Pass). Neben Modellprojekten zum didaktischen Einsatz digitaler Medien in der Grundschule im Allgemeinen gibt es Sammlungen von Unterrichtsprojekten und Unterrichtsmaterialien, die in den letzten Jahren zunehmend webbasierte Angebote einbeziehen (vgl. Anskeit/Eickelmann 2011; Büttner/Schwichtenberg 2001; Heyden/Lorenz 2003). Diese gehen vielfach von dem Ansatz aus, dass digitale Medien das Potenzial haben, Unterricht zu modernisieren und eine neue Lernkultur zu unterstützen. Wichtige Aspekte bilden dabei die Individualisierung von Lernen im Sinne eines vielfältigeren Angebots an Lernmaterialien für unterschiedliche Schülergruppen, das Lernen im eigenen Tempo sowie die Unterstützung kooperativer Lernformen (Anskeit/Eickelmann 2011; Eickelmann 2010a, 2010b). Neben der theoretischen und konzeptionellen Beschreibung der Nutzung digitaler Medien in der Grundschule liegen empirische Studien vor, die sich auf die Nutzung und Implementierung digitaler Medien in Schulen beziehen (Breiter/Aufenanger/Averbeck/Welling/Wedjelek 2013; Eickelmann/Schulz-Zander/Gerick 2009) oder die die Veränderung des Lernens in den Blick nehmen (Eickelmann/Schulz-Zander 2010). Vielfach werden diese Aspekte mit Fragen der unterschiedlichen Nutzung zwischen Jungen und Mädchen sowie der Nutzung digitaler Medien in der Freizeit verbunden. Studien zeigen diesbezüglich, dass tendenziell und über die Jahre unverändert Jungen digitale Medien in der Freizeit anders als Mädchen nutzen, die schulische Nutzung keine großen geschlechtsspezifischen Unterschiede aufweist und der Umfang der Nutzung neuer Technologien in der Freizeit sich über die Jahre angeglichen hat (Hornberg et al. 2007; Jansen-Schulz/Kastel 2004; MPFS 2013). Darüber hinaus wird im schulischen Kontext diskutiert, ob die Mediennutzung die fachlichen Leistungen von SchülerInnen verbessern kann und welche SchülerInnengruppen mithilfe digitaler Medien besonders gefördert und gefordert werden können. Diese Studien greifen häufig auf Einschätzungen von Lehrpersonen zurück, die für Grundschulen darauf hinweisen, dass lernschwache SchülerInnen mit digitalen Medien (z. B. Übungsprogrammen) gefördert werden können und lernstarke Kinder von dem vielfältigen Angebot des Internets und der Möglichkeit der Selbststeuerung des Lernens profitieren (vgl. u. a. Eickelmann/Schulz-Zander 2010). In vielen Studien für den Grundschulbereich bleibt es jedoch bei der Einschätzung von Lernerfolgen. Analysen zum Zusammenhang der Nutzung neuer Technologien mit dem Ler-


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nen und dem Erwerb fachlicher Kompetenzen liegen bisher für den Grundschulbereich nur in geringem Umfang vor (beispielsweise mit Schulz-Zander/Eickelmann/Goy 2010), da sie neben der Befragung zur Nutzung von neuen Technologien auch des Einsatzes von standardisierten Leistungstests bedürfen. Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass derzeit aktuelle belastbare Berichte über die Nutzung von digitalen Medien im Grundschulbereich sowohl in Deutschland als auch in Österreich fehlen. Diese Lücke schließt der vorliegende Beitrag, der auf der Grundlage der für die beteiligten Bildungssysteme repräsentativen Daten von TIMSS-2011 die computerbezogenen Lehr- und Lernbedingungen von Grundschulkindern beschreibt. Vertiefend werden Einblicke in die Nutzung digitaler Medien im Fachunterricht in zwei zentralen Lernbereichen – Mathematik und Naturwissenschaften – gegeben. Die forschungsleitenden Fragestellungen dieses Beitrags lauten daher: Welche häuslichen und schulischen Rahmenbedingungen der Nutzung digitaler Medien bilden sich in Deutschland und Österreich für Kinder im 4. Jahrgang ab? Wie werden digitale Medien in Deutschland und Österreich unterrichtlich im Mathematikund Naturwissenschaftsunterricht der Primarstufe genutzt und wie stellen sich beide Länder im europäischen Vergleich dar?

4. Eigene Untersuchung Die vorliegende Untersuchung gewährt auf der Grundlage der repräsentativen Daten der TIMS-Studie 2011 der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) für die Jahrgangsstufe 4 für Grundschulen in Deutschland und Volksschulen in Österreich Einsichten in die schulische und unterrichtliche Nutzung digitaler Medien und fokussiert hierbei auf den fachlichen Einsatz in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften. Der Bereich der Naturwissenschaften wird in den meisten deutschen Bundesländern als Sachunterricht oder Sachkundeunterricht im Verbund mit anderen Fächern unterrichtet, wobei in der Regel neben fächerübergreifendem Unterricht die Bestandteile des späteren Fachunterrichts in den Fächern durch eigene Unterrichtsreihen mit Schwerpunkten in Biologie, Physik und Chemie vorbereitet werden. In Österreich ähnelt die Anlage des Faches Sachunterricht diesem Ansatz und zu dem Kontext des Fachunterrichts gehören laut Lehrplan die Aspekte Gemeinschaft, Natur, Raum, Zeit, Wirtschaft und Technik (vgl. bm:ukk 2012).

4.1 Stichprobe, Datengrundlage und Analysesoftware Für TIMSS 2011 besteht in Deutschland die Stichprobe aus 3.995 ViertklässlerInnen an insgesamt 197 Schulen. In Österreich nahmen im gleichen Jahrgang 4.668 SchülerInnen an 158 Schulen teil. Die teilnehmenden Schulen, deren SchülerInnen in der vierten Klasse sowie ihre Lehrpersonen bilden die Datengrundlage für die hier dargestellten Analysen, die für beide Länder repräsentativ ist. Im Folgenden werden deskriptive Auswertungen sowie bivariate Analysen berichtet. Gruppenunterschiede sind – wenn nicht anders berichtet – mit einem T-Test zufallskritisch mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 % abgesichert worden. Sämtliche Analysen berücksichtigen die komplexe Datenstruktur der TIMS-Studien und wurden mit der Analysesoftware IDB-Analyzer (vgl. Rutkowski/Gonzalez/Joncas/von Davier 2010) berechnet. Neben den Ergebnissen für Deutschland und Österreich werden Vergleichsmittelwerte zur relati-


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ven Einordnung der Mittelwerte beider Länder angegeben. Der dazu angegebene Vergleichswert des EU-Mittels bezieht sich auf den Durchschnittswert aller 21 Länder der EU, die an TIMSS 2011 teilgenommen haben und damit zur sogenannten Vergleichsgruppe VG EU gehören (Wendt et al. 2012). Zusätzlich zum Vergleichsmittelwert der EU-Länder wird ein Mittelwert der 26 an TIMSS teilnehmenden OECD-Staaten angegeben.

Tabelle 1: Übersicht über die Vergleichsgruppen in TIMSS 2011 Quelle: Wendt et al. (2012: 39)

4.2 Analysen und Ergebnisse zur Verfügbarkeit von Computern und Internet in Deutschland und Österreich Sowohl in Deutschland als auch in Österreich geben 97 % der SchülerInnen an, über einen Computer im Elternhaus zu verfügen (vgl. Abbildung 1). Damit liegen trotz der Werte nahe der Sättigungsgrenze von 100 % beide Länder signifikant über dem europäischen Durchschnitt.

Abb. 1: Computerbesitz im Elternhaus nach Angaben der SchülerInnen in TIMSS 2011 Diagramm: Eickelmann/Vennemann/Aßmann


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

Um zu zeigen, wie der Besitz eines Computers mit dem Leistungsunterschied in Mathematik und Naturwissenschaft korrespondiert, bildet Abbildung 2 die mittlere Leistungsdifferenz von Kindern, die angeben, einen Computer zu besitzen, im Vergleich zu denen, die angeben, keinen Computer zu besitzen, ab.

Abb. 2: Leistungsdifferenz in Mathematik und den Naturwissenschaften nach Computerbesitz im Elternhaus in TIMSS 2011 Diagramm: Eickelmann/Vennemann/Aßmann

Es zeigt sich, dass sowohl in Deutschland als auch in Österreich die mittleren Leistungen der SchülerInnen mit und ohne Computer substanziell unterschiedlich sind: Innerhalb der internationalen Vergleichsgruppe der Länder der VG OECD kann denjenigen SchülerInnen, die angeben, einen Computer zu besitzen, international ein Leistungsvorsprung in beiden Domänen von etwa 45 Punkten attestiert werden. In Deutschland fällt dieser Unterschied für den Kompetenzbereich der Mathematik mit 21 Punkten geringer aus. In den Naturwissenschaften beträgt diese Leistungsdifferenz etwa 34 Punkte. Nominell höher ausgeprägt sind die Differenzen allerdings in Österreich: Hier betragen die Leistungsunterschiede 37 Punkte für den Kompetenzbereich der Mathematik und 35 Punkte für den naturwissenschaftlichen Bereich. Eine weitere relevante Information ist, wie sich der Anteil der Personen, die einen Computer besitzen, in den letzten Jahren entwickelt hat. Zu diesem Zweck vergleicht Abbildung 3 den Anteil der SchülerInnen, die vier Jahre zuvor in TIMSS 2007 auf diese Frage mit „Ja“ geantwortet haben, mit dem Anteil der SchülerInnen, die dies im aktuellen Studienzyklus tun.

Abb. 3: Antworten der SchülerInnen zum Computerbesitz in TIMSS 2007 und TIMSS 2011 im Vergleich Diagramm: Eickelmann/Vennemann/Aßmann


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Abbildung 3 veranschaulicht, dass das absolute Niveau des Computerbesitzes in den letzten Jahren angestiegen ist: In Österreich und Deutschland gaben 2007 nur 93 bzw. 93,5 % der Kinder an, einen Computer zu besitzen. Beide Zunahmen in den Prozentwerten um etwa 4 % sind signifikant und zeigen, dass sich die häusliche Verfügbarkeit von digitalen Lernressourcen in den letzten Jahren nochmal verändert hat. In der TIMS-Studie wurde weiterhin danach gefragt, ob die SchülerInnen über einen Internetanschluss verfügen. Hier ergeben sich im Vergleich zum häuslichen Computerbesitz deutlich niedrigere Zahlen. Insgesamt verfügen etwa nur 89 % der österreichischen GrundschülerInnen über einen häuslichen Internetanschluss und in Deutschland geben sogar nur 83 % der SchülerInnen an, über einen Internetanschluss zu verfügen. Die europäische Vergleichsgruppe VG EU kommt auf 87 %. Damit liegt Deutschland signifikant unterhalb des EU-Mittelwerts. In Österreich dagegen unterscheidet sich der Prozentsatz signifikant positiv vom europäischen Mittel. Im zeitlichen Verlauf der letzten vier Jahre ist eine erfreuliche Entwicklung für Österreich zu erkennen: Während im Jahre 2007 lediglich etwa 73 % der SchülerInnen angaben, über einen heimischen Internetanschluss verfügen zu können, geben dies im Jahre 2011 etwa 89 % der befragten SchülerInnen an. Damit hat Österreich in dieser Hinsicht die deutschen SchülerInnen im Vergleich zu 2007 überholt. Dementsprechend hat sich der Anteil der SchülerInnen mit Internetanschluss in Österreich signifikant vergrößert, während dies für die deutsche Substichprobe nicht zufallskritisch abgesichert werden kann. Auch lassen die TIMSS-Daten eine Aussage über die Verteilungen der Verfügbarkeit einer Internetverbindung und der mittleren Ausprägung der Mathematik- bzw. Naturwissenschaftskompetenz zu:

Abb. 4: Leistungsdifferenz in Mathematik und den Naturwissenschaften nach Vorhandensein eines Internetanschlusses im Elternhaus in TIMSS 2011 Diagramm: Eickelmann/Vennemann/Aßmann

Es zeigt sich, dass in den internationalen Vergleichsgruppen der EU und der OECD die Leistungsunterschiede domänenübergreifend relativ einheitlich zugunsten der Kinder ausfallen, die zu Hause über einen Internetanschluss verfügen. Auch in Deutschland und Österreich sind die Leistungsunterschiede zwischen SchülerInnen, die angeben, keinen Internetanschluss zu Hause zu haben, im Vergleich zu denjenigen SchülerInnen, die angeben, dass dies der Fall sei, ausgeprägt, jedoch nicht so hoch wie im internationalen Mittel (ca. 40 Punkte). In Mathematik beträgt der Leistungsunterschied in Österreich etwa 27 und in den Naturwissenschaften etwa 22 Punkte. In Deutschland schlagen die Leistungsdifferenzen in Mathematik und Naturwissenschaften mit jeweils etwa 20 Punkten zu Buche.


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4.3 Nutzung von Computern und Internet durch SchülerInnen zu Hause und in der Schule Teil des Fragenkatalogs von TIMSS 2011, der in Deutschland und Österreich sowie in allen anderen beteiligten Bildungssystemen zum Einsatz gekommen ist, war, nach der häuslichen Computernutzung der SchülerInnen zu fragen. Es zeigt sich, dass Österreich und Deutschland hinsichtlich der häuslichen Computernutzung signifikant vom Anteil der SchülerInnen nach unten abweichen, die in der Vergleichsgruppe EU angeben, oft einen Computer zu Hause zu benutzen (85,5 %) (Abbildung 5).

Abb. 5: Anteile von SchülerInnen, die den Computer selten bzw. oft zu Hause nutzen Diagramm: Eickelmann/Vennemann/Aßmann

In Österreich geben dies 74 % und in Deutschland etwa 69 % der SchülerInnen an. Trägt man die Unterschiede in Mathematik und den Naturwissenschaften ab, wird ersichtlich, dass die Kinder in den Vergleichsgruppen EU und OECD jeweils höhere Kompetenzstände in Mathematik und Naturwissenschaften erreichen, je öfter sie den Computer zu Hause nutzen. Bei den Vergleichsgruppen fallen diese Unterschiede numerisch etwa gleich aus (Mathematik: 8 vs. 7 Punkte; Naturwissenschaften: jeweils 5 Punkte). Interessanterweise stellen sich die Leistungsdifferenzen in Deutschland und Österreich in zweierlei Hinsicht unterschiedlich dar: Zum einen ist der Zusammenhang in beiden Ländern unterschiedlich hoch ausgeprägt und zum anderen erreichen die Kinder niedrigere Leistungen in den Kompetenzbereichen, je öfter sie nach eigener Angabe den Computer zu Hause nutzen. In Österreich betragen die Differenzen für Mathematik etwa 8 Punkte und für Naturwissenschaften 15 Punkte. Das Niveau der Unterschiede ist in Deutschland mit 13 Punkten für den Kompetenzbereich Mathematik stärker ausgeprägt; für Naturwissenschaften ist das Niveau der Unterschiede jedoch ähnlich (16 Punkte). Für die eingangs postulierten Forschungsfragen ist jedoch nicht nur der häusliche Gebrauch von Computern relevant, sondern vor allem der unterrichtliche Einsatz, der ebenfalls differenziert nach der Häufigkeit der Nutzung in TIMSS 2011 erhoben wurde (vgl. Abb. 6).


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Abb. 6: Anteile von SchülerInnen, die den Computer selten bzw. oft in der Schule nutzen Diagramm: Eickelmann/Vennemann/Aßmann

Verglichen mit den teilnehmenden Ländern der Europäischen Union geben in Deutschland und Österreich signifikant weniger SchülerInnen an, dass sie den Computer oft in der Schule nutzen. Während fast jedes zweite Kind in der Vergleichsgruppe OECD angibt, den Computer oft in der Schule zu nutzen, tun dies in Deutschland und Österreich etwa 28 % bzw. 25 % der SchülerInnen. Beide Länder weichen also signifikant nach unten von den Vergleichswerten der Europäischen Union ab, während die Anteile für die OECD signifikant über dem EU-Mittel liegen. Vergleicht man die prozentuale Verteilung der SchülerInnen mit den damit verbundenen Unterschieden in den Kompetenzdomänen Mathematik und Naturwissenschaften (Abbildung 7), fällt auf, dass in allen hier berichteten Ländern – im Kontrast zur häuslichen Computernutzung – eine eindeutige Richtung festzustellen ist: Die Kinder, die angeben, dass sie in der Schule oft den Computer nutzen, sind jene SchülerInnen, die weniger gute Leistungen erzielen als SchülerInnen, die angeben, dass sie den Computer in der Schule eher selten nutzen.

Abb. 7: Leistungsdifferenz in Mathematik und Naturwissenschaften von SchülerInnen, die in der Schule oft den Computer nutzen Diagramm: Eickelmann/Vennemann/Aßmann

Zur Einordnung dieses Befunds ist allerdings an dieser Stelle in aller Deutlichkeit zu sagen, dass es sich hier auf der Grundlage der Analysen der vorliegenden Querschnittstudie nicht um einen Kausalzusammenhang handelt. Zu vermuten ist, dass tendenziell vor allem Kinder mit Schwächen oder Übungsbedarf durch den Einsatz digitaler Medien (z. B. Übungssoftware) im Unterricht gefördert werden, was den vorliegenden Befund erklären könnte.


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Nutzung im Mathematikunterricht Die in den TIMSS-Schulen befragten PrimarstufenlehrerInnen wurden nach dem konkreten Einsatz von Computern in ihrem Mathematik- und/oder Sachkundeunterricht befragt. Dabei wurden für die Unterrichtsfächer besonders wichtige Teilbereiche wie die Exploration mathematischer Prinzipien oder das Einüben von Fähigkeiten und Routinen sowie das Suchen nach Ideen und Informationen im Internet aufgegriffen. In Abbildung 8 sind beispielsweise die Anteile von SchülerInnen dargestellt, deren MathematiklehrerInnen den Computer in ihrem Mathematikunterricht benutzen, um mathematische Prinzipien zu vermitteln.

Abb. 8: Angaben der Mathematiklehrkräfte auf die Frage, ob sie Computer im Unterricht nutzen, um mathematische Prinzipien zu explorieren Diagramm: Eickelmann/Vennemann/Aßmann

Als übergeordneter Befund kann im Zusammenhang mit dem fachbezogenen Computereinsatz der Exploration mathematischer Sachverhalte im Mathematikunterricht festgestellt werden, dass in allen teilnehmenden Ländern – und somit auch in den beiden Vergleichsgruppen – nur ein geringer Teil der SchülerInnen von MathematiklehrerInnen unterrichtet werden, die angeben, häufig diesen Einsatzbereich digitaler Medien zu nutzen. In der Vergleichsgruppe OECD ist dies mit 14 % nur jedes siebte Kind und in der Vergleichsgruppe EU nur jedes neunte (11% Zustimmung). Während der Anteil österreichischer SchülerInnen nicht signifikant vom Anteil der SchülerInnen in der Europäischen Union abweicht, zeigt die deutsche Substichprobe eine nochmalige Abweichung nach unten und einen signifikant niedrigeren Anteil von SchülerInnen (nur 6 %), die von Mathematiklehrkräften unterrichtet werden, die angeben, den Computer im Mathematikunterricht häufig für die Exploration von mathematischen Prinzipien zu nutzen. An dieser Stelle sei ergänzend erwähnt, dass die Leerstellen (Ergänzungen zu 100 %) im Diagramm den Anteil der SchülerInnen widerspiegeln, auf deren MathematiklehrerInnen die Frage nicht anwendbar ist, da sie zuvor angaben, den Computer für unterrichtliche Zwecke gar nicht zu nutzen. Die MathematiklehrerInnen wurden weiterhin nach der Häufigkeit der Computernutzung für das Üben von Fähigkeiten und Routinen befragt: International werden etwa ein Viertel (OECD: 24 %; EU: 20 %) der SchülerInnen von MathematiklehrerInnen unterrichtet, die angeben, dass sie den Computer oft für das Üben von Fähigkeiten und Routinen nutzen. In Deutschland und Österreich betragen die Anteile etwa 18 bzw. 22 %. Österreich weicht somit im internationalen Vergleich nicht ab und für Deutschland ergeben sich wieder unterdurchschnittliche Nutzungsraten. Insgesamt zeigt sich, dass das Potenzial, mit digitalen Medien im Mathematikunterricht zu üben und zu fördern, längst nicht ausgeschöpft wird.


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Weiterhin belegt TIMSS 2011, dass das Suchen nach Ideen und Informationen für den Mathematikunterricht bisher nur eine ungeordnete Rolle spielt und vor allem in Deutschland kaum zum Einsatz kommt: Etwa jede/r neunte SchülerIn wird im internationalen Vergleich (OECD: 12 %) von Mathematiklehrkräften unterrichtet, die digitale Medien für die Informationsrecherche im Mathematikunterricht nutzen. Im europäischen Durchschnitt ist dies sogar nur jede/r zehnte (etwa 10 %) SchülerIn. Österreich (9 %) unterscheidet sich nicht statistisch bedeutsam von den anderen EU-Ländern. Deutsche SchülerInnen werden jedoch signifikant seltener von MathematiklehrerInnen unterrichtet, die den Computer zu diesem Zweck einsetzen: Lediglich 6 % der SchülerInnen werden von Mathematiklehrkräften unterrichtet, die angeben, dass sie den Computer oft dazu einsetzen, um die SchülerInnen nach Ideen und Informationen suchen zu lassen.

Nutzung im Sachkundeunterricht Die FachlehrerInnen des Sachkundeunterrichts wurden ebenfalls danach gefragt, welche fachbezogenen Einsatzmöglichkeiten des Computers sie in ihrem Unterricht einsetzen. Im Fokus standen dabei die für den Sachkundeunterricht auf internationaler Ebene fachdidaktisch als bedeutsam festgestellten Aktivitäten wie die Vermittlung naturwissenschaftlicher Fähigkeiten und Vorgehensweisen, die Informationsrecherche für sachunterrichtliche Themen sowie das Üben naturwissenschaftlicher Prozeduren und Experimente. Es zeigt sich, dass auf internationaler und europäischer Ebene etwa jede zehnte SchülerIn von einem/r SachkundelehrerIn unterrichtet wird, der/die Computer oft im Unterricht nutzt, um naturwissenschaftliche Prinzipien zu vermitteln:

Abb. 9: Angaben der Sachkundelehrkräfte auf die Frage, ob sie Computer im Unterricht nutzen, um naturwissenschaftliche Fähigkeiten und Vorgehensweisen zu vermitteln Diagramm: Eickelmann/Vennemann/Aßmann

Der Anteil der österreichischen SchülerInnen (etwa 7 %) ist geringer, weicht jedoch tatsächlich nicht statistisch bedeutsam vom EU-Mittel ab. Allein die deutschen SchülerInnen werden signifikant weniger häufig von Sachkundelehrkräften unterrichtet, die den Computer zum Zweck der Vermittlung von naturwissenschaftlichen Fähigkeiten und Vorgehensweisen nutzen als die SchülerInnen in der Vergleichsgruppe EU. Hinsichtlich weiterer fachdidaktisch für den naturwissenschaftlichen Unterricht in der Grundschule relevanter Aktivitäten zeigt sich international, dass fast jedes fünfte Grundschul-


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kind von SachkundelehrerInnen unterrichtet wird, die Computer für die Informationsrecherche im Sachunterricht einsetzen (EU: 17 %; OECD: 18 %). In Österreich liegt der Wert mit 22 % numerisch höher und in Deutschland mit 15 % niedriger. Für beide Länder kann aber im Vergleich zu den internationalen Werten keine statistische Abweichung festgestellt werden. Es ergibt sich ein einheitliches Gesamtbild, das der Informationsrecherche im Sachunterricht trotz der Fülle des im Internet verfügbaren und mittlerweile auch didaktisch und kindgerecht aufbereiteten Materials in deutscher Sprache noch nicht Rechnung trägt. Noch deutlich weniger (<5 % der SchülerInnen) spielt das Üben naturwissenschaftlicher Prozeduren oder Experimente eine Rolle.

5. Zusammenschau und Diskussion Der vorliegende Beitrag untersucht auf der Grundlage der Daten der TIMS-2011-Grundschulstudie die häuslichen und schulischen Rahmenbedingungen der Nutzung digitaler Medien in Deutschland und Österreich. Dabei betrachtet er vertiefend die unterrichtliche Nutzung neuer Technologien im Mathematik- und Naturwissenschaftsunterricht in der Primarstufe. Die Ergebnisse beider Länder werden miteinander verglichen und zur Gesamteinschätzung der Entwicklungen in Deutschland und in Österreich sowohl in einem europäischen als auch in einem internationalen Vergleich betrachtet. Dabei werden einerseits Unterschiede zwischen den beiden Ländern deutlich. Vor allem aber zeigt sich, dass beide Bildungssysteme im Bereich des Zugangs und der Nutzung digitaler Medien trotz ihrer langen Tradition in der Implementierung digitaler Medien in der Primarstufe nicht in allen Bereichen international anschlussfähig sind und in vielen Bereichen allenfalls im Mittelmaß abschneiden. Die Ergebnisse für Deutschland zeigen stellenweise einen höheren Rückstand als dies für Österreich auf der Grundlage der TIMSS-Daten erkennbar ist: Die Auswertungen zu den häuslichen Zugangsmöglichkeiten zu digitalen Medien zeigen, dass Deutschland und Österreich auf den ersten Blick im Bereich des europäischen Mittelwertes liegen, wobei Österreich tendenziell (zumindest für den Internetzugang) eher über dem Vergleichswert liegt, während Deutschland – nicht unbedingt erwartungskonform – sogar unter dem europäischen Mittel abschneidet. Das heißt konkret, dass beispielsweise immer noch nicht, wie zu oft gemeinhin angenommen wird, alle Kinder über einen Internetzugang verfügen und diesen als Lernressource bildungs- oder schulrelevant nutzen könnten. Weiterhin liegen die Häufigkeiten der häuslichen Computernutzung sowohl in Deutschland als auch in Österreich unter dem europäischen Durchschnitt. Bezüglich der schulischen Nutzung neuer Technologien im europäischen und im internationalen Vergleich liegen beide Länder, Deutschland und Österreich, unter den entsprechenden mittleren Nutzungsfrequenzen auf internationaler Ebene, wobei europäische Länder insgesamt im Mittel unter dem OECD-Mittelwert liegen. Hinsichtlich der schulischen Nutzung digitaler Medien kann ein Zusammenhang mit der Verteilung der Kompetenzniveaus festgestellt werden: Kinder, die in der Schule häufig digitale Medien nutzen, sind auch tendenziell die Kinder, die in den betrachteten Domänen Mathematik und Naturwissenschaften schlechtere Ergebnisse aufweisen. Auch wenn hier mit den vorliegenden Daten und Analysen kein Kausalzusammenhang geschlossen werden darf, kann als möglicher Erklärungsansatz vermutet werden, dass vor allem lernschwache SchülerInnen die Möglichkeit im Unterricht erhalten, mit computerbasierten Angeboten zu üben (vgl. auch Schulz-Zander et al. 2010). Dies hieße gleichbedeu-


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tend, dass die Potenziale, leistungsstarke SchülerInnen durch erweiterte computerbasierte Angebote und durch weitere fachdidaktische Potenziale zu fördern, längst nicht ausgeschöpft werden. Dies zeigt sich auch in der allgemeinen und fachbezogenen Nutzung digitaler Medien: Üben oder Informationsrecherche spielen im Mathematik- und Sachunterricht in Grundschulen in Deutschland und Österreich sowie im internationalen Bereich eine insgesamt geringere Rolle, wobei vor allem für Deutschland bezüglich verschiedener fachdidaktischer Nutzungsmöglichkeiten vergleichsweise niedrige Werte sowohl für den Mathematik- als auch für den Sachunterricht gefunden wurden. Dies macht für beide in diesem Beitrag adressierten Länder deutlich, dass sie für eine internationale Anschlussfähigkeit einen Nachholbedarf in der fachdidaktischen Nutzung digitaler Medien aufweisen, der auf der Praxisebene in der Konsequenz auch in der Lehreraus- und -fortbildung anzusiedeln ist. In der weiteren Zusammenschau fachbezogener Analysen zeigt sich, dass Kinder, die zu Hause einen Computer besitzen, in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften einen Leistungsvorsprung haben. Diese Vorsprünge sind in Österreich für beide Domänen deutlich, während in Deutschland der Unterschied in den Naturwissenschaften größer als in Mathematik ist. Weiterhin kann gezeigt werden, dass Kinder, die zu Hause über einen Internetanschluss verfügen, diejenigen sind, die bessere Leistungen in diesen Fächern erzielen. Erklärungsansätze liefert die TIMS-Studie dafür nicht und solche sind im Weiteren genauer zu untersuchen, wobei ein Kausalzusammenhang ausdrücklich mit der hier vorliegenden Studie und den dargestellten Analysen nicht interpretierbar ist. Derartige Differenzen sind auf der Grundlage einer Querschnittstudie wie TIMSS 2011 einerseits zwar nicht kausal interpretierbar und der Vorsprung, den Kinder aus Haushalten mit Computern offenbaren, lässt sich möglicherweise auf deren höheres ökonomisches Potenzial sowie eine mögliche größere Bildungsnähe der Haushalte zurückführen. Andererseits ergibt sich hinsichtlich des Zusammenhangs des Besitzes von modernen Lernressourcen für beide Länder eine Schieflage, wie sie sich aus der Perspektive der Diskussion um die Entwicklungsaufgabe eines chancengerechten Bildungssystems insgesamt in TIMSS 2011 für beide Länder abzeichnet. Für weitere Analysen hinsichtlich der Lernwirksamkeit digitaler Medien wäre es in Zukunft wichtig, den Einfluss oder die Wirksamkeit der Nutzung digitaler Medien durch SchülerInnen in der Grundschule und im Mathematik- und Sachunterricht auf die fachlichen Leistungen weiter zu untersuchen. Dies kann vertiefend auf der Grundlage der vorliegenden TIMSS-Daten geschehen. Methodisch zufriedenstellender wären jedoch Interaktions- und Vergleichsgruppendesigns und damit unterrichtsbezogene Forschung, die auch Aufschluss über die Art der Computernutzung gibt. Zusätzlich wird neben der fachlichen Nutzung auch in der Grundschule der Erwerb von computer- und informationsbezogenen Kompetenzen als querschnittliche Schlüsselkompetenzen im 21. Jahrhundert eine zunehmende Rolle spielen, wie sie mit der IEA-Studie ICILS 2013 (International Computer and Information Literacy Study, vgl. Eickelmann & Bos, 2011) derzeit zunächst für die Sekundarstufe untersucht werden (Berichtlegung: Ende 2014). Zusammenfassend kann festgestellt werden: Für den Bereich der Nutzung digitaler Medien in der Schule einerseits als Lernbedingung und anderseits für den fachlichen Kompetenzerwerb liegen mit den bisherigen Grundschulleistungsstudien jedoch – wie der Beitrag und die dargestellten Analysen zeigen konnten – umfangreiche und belastbare Daten vor, die zur Qualitätsentwicklung von Bildungssystemen im Bereich des Einsatzes neuer Technologien in schulische Lehr-Lernprozesse wichtige Steuerungsimpulse liefern, die bisher noch zu wenig genutzt wur-


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den. Auch wenn der vorliegende Beitrag aktuelle Zahlen und Entwicklungen im deutschen und österreichischen Bildungssystem über die Nutzung digitaler Medien in Grundschulen gibt, zeigt sich, dass die Forschung an dieser Stelle noch nicht so weit fortgeschritten ist, um fachdidaktisch wirksame Möglichkeiten des Computereinsatzes und des Einsatzes neuer Technologien für verschiedene Schülergruppen empirisch begründet abzuleiten. Hier wird deutlich, dass auch nach mehr als 20 Jahren des Computereinsatzes in der Grundschule noch erheblicher Forschungsbedarf in beiden Ländern, Deutschland und Österreich, besteht, der in den folgenden Jahren zusätzlich mobile Technologien sowie unterschiedliche webbasierte Angebote einbeziehen sollte. Dies schließt auch die Untersuchung schülereigener mobiler digitaler Medien ein, deren Nutzung bisher nicht mit der schulischen Nutzung digitaler Medien verzahnt ist, woraus sich aus der Perspektive der Kinder Brüche in ihrer Bildungsbiografie in einer Informations- und Wissensgesellschaft ergeben.

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Ausgabe 3/2013 Visuelle Historiografien. Comics zwischen Reflexion und Konstruktion von Geschichte(n)


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Beiträge zur Medienpädagogik 2012–2013

Christina Wintersteiger

Die Lücke als Aufforderung Comic-Adaptionen von Franz Kafkas Leben und Werk Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/578

Abstract Christina Wintersteiger untersucht anhand von zwei Beispielen die Verarbeitung der Person und des Werks von Franz Kafka im Medium des Comics. Dabei wird deutlich, dass Kafka nicht nur eine literarische Größe darstellt, sondern inzwischen zu einer Pop-Ikone geworden ist. Inviting gaps. Comic adaptations of Franz Kafka’s life and work. Using two examples, Christina Wintersteiger examines the treatment of the person and work of Franz Kafka in the medium of the comic strip. It is shown that Kafka not only represents a literary figure, but has by now advanced to the status of a pop icon.

1. Einleitung „Man kann kein Buch über Kafka voraussetzungslos beginnen.“1 Und ebenso wenig eine Arbeit. Über kaum einen modernen Autor wurde dermaßen viel geschrieben, gedacht, spekuliert, interpretiert. In der vorliegenden Arbeit möchte ich – nach einer Einführung in die von Milan Kundera „Kafkology“ genannte Masse an Zugängen zu Kafka – Adaptionen seiner Werke in Comics bzw. Graphic Novels beleuchten. Besonders hervorgehoben werden soll hierbei der Faktor der Unvollständigkeit: Der unfertige Status des Kafkaschen Werks bietet sich, meiner These zufolge, dazu an (sprich: fordert geradezu dazu auf ), es zu bearbeiten, zu revisionieren und zu deuten. Dem entspricht auch der inhärent fragmentarische Charakter des Mediums Comic. Da ich dem Anspruch auf Vollständigkeit der Kafkaschen Interpretationen und Adaptionen in diesem Rahmen nicht gerecht werden kann und will, möchte ich mich auf die Umsetzungen von Der Prozess2 bei Mairowitz und Montellier3 im grafischen Bereich konzentrieren. Im zweiten Teil der Arbeit wird es um die Auseinandersetzung mit Kafkas Leben gehen, das selbst als „unfertig“ und demnach mysteriös und geradezu Interpretationen und biografische Lesarten seiner Werke provozierend wahrgenommen wurde, nicht zuletzt aufgrund der Fülle des von Kafka selbst produzierten Materials über sich selbst in Form von Briefen und Tagebüchern. Kafka fungiert mittlerweile als popkulturelles Icon, dessen Bild (sowohl in medialer 1 Jahraus, Oliver (2006): Kafka. Leben – Schreiben – Machtapparate, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 9. 2 Kafka, Franz (1973): Der Prozeß, Frankfurt/M.: Fischer TB. 3 Mairowitz, David Z./Montellier, Chantal (2008): Franz Kafka’s The Trial. A Graphic Novel, London: SelfMadeHero.


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als auch in symbolischer Hinsicht) in vielfältigster Weise reproduziert wurde: Sein Leben wurde ebenso behandelt und stilisiert wie sein Werk. Diesen Punkt möchte ich anhand von Robert Crumbs Kafka for Beginners4 näher ausführen.

Abb. 1 und 2: David Zane Mairowitz & Robert Crumb: Kafka kurz und knapp. Texte von David Zane Mairowitz. Illustrationen von Robert Crumb. Deutsch von Ursula Grützemacher-Tabori. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1995. © für die deutsche Ausgabe: Zweitausendeins 1995. © für die Originalausgabe Kafka for Beginners (Icon Books 1993): David Zane Mairowitz/Robert Crumb 1993.

2. Das Problemfeld Kafka Zugang zu Kafkas Leben und Werk zu finden, erweist sich als durchaus problematisch, oft wird hier eine Parallele zu seinem Schloss-Roman5 gezogen: Das Schloss als eine „Struktur, die Zugänge gewährt und zugleich verschließt“6 steht hier paradigmatisch für die Unzugänglichkeit einer Interpretation, eines endgültigen Sinns bei Kafka. Oliver Jahraus benennt diese „paradoxe Ambivalenz“ der Kafkaschen Romane und Erzählungen, zu Interpretationen zu provozieren und diese gleichzeitig zu verwehren.7 Auf die Flut an verschiedenen Lesarten werde ich in diesem Kapitel später noch eingehen und auch auf die Problematik dieser „Massenvergewaltigung“, wie es Susan Sontag treffend genannt hat.8 Doch zunächst möchte ich einen weiteren Aspekt erwähnen, der die Arbeit mit und über Kafka so spannend und zugleich schwierig

4 Crumb, Robert/Mairowitz, David Z. (1995): Kafka kurz und knapp, Frankfurt/M.: Zweitausendeins (Orig. Kafka for Beginners, London: Icon Books Ltd. 1973). 5 Kafka, Franz (1926): Das Schloss, München: Kurt Wolff. 6 Vgl. Jahraus, Kafka, 12. 7 Ebd., 13. 8 Vgl. Sontag, Susan (1982): „Gegen Interpretation“, in: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch, 16.


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macht: die Unvollständigkeit. Kafka schrieb in seinem kurzen Leben, das 1924 früh durch Tuberkulose endete, zahlreiche Erzählungen und drei unvollendete Romane. Sein langjähriger Freund und Schriftstellerkollege Max Brod ignorierte den testamentarischen Wunsch des Verstorbenen, seine Werke zu verbrennen, und verhalf ihnen stattdessen zu Bekanntheit und Kafka postum zu Ruhm und einem festen Platz in jedem Literaturkanon. Durch die Editionsarbeit Brods und dessen „Vermarktung“ seines verstorbenen Autorenfreundes wurde Kafka zu einer mythenumrankten Persönlichkeit, deren undurchdringlich scheinende Werke mit ihren mehrdeutigen Interpretationsangeboten den Neologismus kafkaesk prägten. Nach Michael Müller in der kritischen Ausgabe des Prozesses zeigte Brod die „Tendenz, die Person des Dichters zu überhöhen, ihn aus dem Bereich des Normal-Menschlichen herauszuheben“9 und das von ihm kreierte Image des Kafkaesken wird heute oft angefochten: „Es gilt, das Kafkaeske zu negieren, um das Schreiben in seiner Bedeutung zu erkennen.“10 Vor allem der tschechische Schriftsteller Milan Kundera, der „Brod’s posthumous pseudo-Kafka, and the self-propagating system of exegesis of his image”11 pejorativ als „Kafkology“ bezeichnet hat, schreibt dem populären Bild des Kafkaesken ein Eigenleben zu, das nicht (mehr) als intrinsische Qualität des Kafkaschen Schreibens selbst gesehen werden kann. Doch nicht allein Brod war „schuld“ an der Entstehung dieses „kanzerogenen“ Adjektivs, sondern Kafka selbst trug viel dazu bei, indem er sich in seinen zahlreichen überlieferten Briefen und Tagebüchern als Schriftsteller präsentierte und „das eigene Schreiben als solches erst [ … konstituierte]“12. „Das Kafkaeske fiktionalisiert Kafka, wie umgekehrt Kafka auch seine Erfahrungen vielfach fiktionalisiert hat“13, so Oliver Jahraus. Die Zeugnisse und Kommentare aus Kafkas Briefen (vor allem an seine Geliebten Felice und Milena) und Tagebüchern können als Angebote gesehen werden, die (vermeintlichen) Lücken in Kafkas unvollendeten Romanen zu füllen. Der Verschollene14 (oder: Amerika), Das Schloss und Der Prozess gelten als Fragmente. Ein Fragment, „défini généralement comme le morceau d’une chose brisée, en éclats […] désigne une œuvre incomplète, morcelée“15. Die Notion des Fragments, des unvollendeten Werkes, des „literarischen Brockens“16, hat im Laufe der Literaturgeschichte schwerwiegende Veränderungen durchgemacht: Von der Romantik und ihrer Vorstellung von Dichtung und Schönheit als organischer Ganzheit17 bis hin zur Dekonstruktion bei Derrida, welcher den Illusionscharakter der ästhetischen Grenze aufzeigt und den Text zugleich als Fragment und Ganzheit sieht, dessen Lücken und Ambivalenzen inhärent sind und durch die Methode der Dekonstruktion designiert 9 Müller, Michael (1993): Franz Kafka. Der Proceß, Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 96. 10 Jahraus, Kafka, 31. 11 Malone, Paul M. (2000): „Trial and Error: Combinatory Fidelity in Two Versions of Franz Kafka‘s The Trial“, in: Cartmell, Deborah et al. (Hg.): Classics in Film and Fiction, in: Classics in Film and Fiction, London: Pluto Press 2000, 179. 12 Jahraus, Kafka, 88. 13 Ebd., 27. 14 Kafka, Franz (1927): Amerika, München: Kurt Wolff. 15 Montandon, Alain (1999): „De différentes sortes de fragment“, in: Camion, Arlette et al. (Hg.): Über das Fragment. Du fragment. Band IV der Kolloquien der Universitäten Orléans und Siegen, Heidelberg: Univ-Verlag C. Winter, 1. 16 Vgl. Zinn: „Fragment über Fragmente“, in: Das Unvollendete als künstlerische Form. 17 Vgl. Ostermann, Eberhard (1991): Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee, München: Wilhelm Fink.


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werden können.18 Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy halten fest, dass sich über das Fragment kaum schreiben lässt: „Es ist kein Gegenstand, es ist kein Genre, und es macht noch kein Werk.“19 Fest steht für die Autoren aber, dass der fragmentarische Text fragil und zerbrechlich ist,20 was ihn in meinen Augen besonders anfällig macht für Interpretationen und auch Adaptionen, die versuchen, etwaige Lücken zu füllen und Widersprüchlichkeiten aufzuklären. Kafkas Werk kann als Ruine gesehen werden (analog zu Foucaults „Archäologie des Wissens“ und seiner Methode der Diskursanalyse zur Freilegung der tieferliegenden Schichten, also der Diskurse). Es gilt, so hat es den Anschein, wenn man die zahlreichen Forschungen über Kafka heranzieht, Kafkas Werk und Leben Schicht für Schicht abzutragen und in archäologischer Feinstarbeit (unter Zuhilfenahme [auto-]biografischer Zeugnisse und Analysen der Diskurse, sei es nun Kafkas Judentum, das Herannahen des Zweiten Weltkriegs, Frauenbilder, Machtstrukturen, etc.) die Ruine seiner Romane (und seines Lebens) zu rekonstruieren.21 Doch es steht fest, dass es auch „œuvres volontairement fragmentaires […] qui visent ni la totalité ni la complétitude“22 gibt. Der fragmentarische Charakter des Kafkaschen Werks ist nicht unstrittig: Natürlich weisen die drei Romane Lücken auf, im Schloss und im Verschollenen fehlt auch das Ende, doch es drängt sich die Frage auf: Wäre Kafkas Werk überhaupt vollendbar gewesen?23 Eines der immer wiederkehrenden, zyklischen Themen ist das Streben der Protagonisten nach Sinn, nach Einsicht, nach einem Verständnis der Welt, einem Zugang zu ihr, der jedoch immer verwehrt wird.

3. „Kafkafactory“: Über-Interpretationen Doch genau diese Suche nach einem „Schlüssel“ zeichnet die Kafka-Forschung, von Bernd Neumann24 treffend „Kafkafactory“ genannt, aus. Wie bereits angedeutet und wohl auch schon bekannt, gibt es immens viele verschiedene Ansätze in der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Kafka. Die von Jahraus genannte „Interpretationswut“ reicht von methodologischen und thematischen Ansätzen über linguistische, biografische bis hin zu diskursanalytischen und historischen. Der Mythos Kafka entsteht laut Neumann erst durch die hypertrophierte Literaturtheorie, die (vergebens) nach einem „richtigen“ Schlüssel für das als enigmatisch empfundene Schreiben sucht.25 Jacques Derrida hingegen meint, Kafka sei undeutbar und sieht, unter Rückgriff auf die Torhüter-Parabell im Prozess, das Faktum der Undeutbarkeit der Kafkaschen Texte als Unmöglichkeit des Zugangs zu Sinn per se.26 Auch Walter Benjamin und Theodor W. Adorno hatten, die Über-Interpretationen kritisierend, ähnliche Überlegun18 Ebd. 19 Lacoue-Labarthe, Philippe/Nancy, Jean-Luc (1984): „Noli me frangere“, in: Dällenbach, Lucien/Hart Nibbig, Christiaan L. (Hg.): Fragment und Totalität, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 64. 20 Ebd. 21 Vgl. Zymner, Rüdiger/Hölter, Achim (Hg.) (2013): Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 249ff. 22 Montandon: „De différentes sortes de fragment“, 1. 23 Vgl. hierzu Stach, Reiner (2004): Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt/M.: Fischer, 270. 24 Neumann, Bernd (2008): Franz Kafka. Gesellschaftskrieger – Eine Biographie, München: Wilhelm Fink. 25 Ebd., 15. 26 Vgl. Hiebel, Hans (1993): „Später! – Poststrukturalistische Lektüre der ‚Legende‘ Vor dem Gesetz“, in: Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Neue Literaturtheorien in der Praxis, Opladen: Westdeutscher Verlag, 19.


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gen zur Unmöglichkeit eines Sinns bei Kafka.27 Auf der anderen Seite wurden vor allem Deutungsansätze propagiert, die – an die Psychoanalyse angelehnt – die Existenz universaler psychischer Tiefenstrukturen herauszulesen vermochten oder die Analysen von Machtverhältnissen und -strukturen in Kafkas Roman anstrebten, wie z. B. die historische Diskursanalyse. Auch der Topos des überforderten modernen Menschen, verloren in der anonymen und bürokratischen Großstadtmasse, ist omnipräsent.28 Die symptomale Lektüre untersucht die Texte im Hinblick auf ihre Repräsentationsfunktionen, zusammen mit der Diskursanalyse wurde versucht, die materiellen und strukturellen Prozesse aufzudecken: zugrunde liegende Machtprozesse, die der Entstehung von Bedeutung vorausgehen. Ein für meine weitere Untersuchung sehr fruchtbarer Ansatz ist jener, der den Schreibprozess des Autors und die Körperlich- und Zeichenhaftigkeit von Kafkas Schreibstil in den Blick nimmt. Sein an Metaphern reicher Stil und seine oftmals in Briefen dargelegte Identifikation mit dem Schreiben selbst lassen biografische Schlussfolgerungen wie jene, Kafkas Texte seien „Experimente auf das ungelöste Problem der Kommunikation“29, zu (Kafka hält selbst seine Geliebten mithilfe von Briefen auf Distanz, jedoch ohne sie loszulassen; interessant ist auch das Motiv der tödlichen Schrift in der Erzählung „Die Strafkolonie“). „Die Schrift ist selbst zur Waffe geworden, die die Geister zur Hand nehmen, um den Schreiber zu durchbohren“30, so Roberto Calasso. Gerhard Neumann untersucht in seinen Arbeiten zu Kafka die Figur des Autors als Zeichner und zugleich als Gezeichneten anhand seiner eigenen Zeichnungen in Briefen und Tagebüchern, die manchmal genau dann auftauchen, wenn Dinge anders nicht mehr ausgedrückt werden können. Die Zeichnung als Ausweg, als Performativität, eine pratique signifiante, wie es bei Barthes heißt.31 Dass Performativität einen wichtigen Stellenwert in Kafkas Schaffen hat, zeigt sich auch in seiner regen Begeisterung für das Theater und das neu aufkommende Kino. Letzteres, mit seinem Zeigegestus und inhärent fragmentarischen Charakter bietet sich augenscheinlich für das Bearbeiten Kafkascher Stoffe an, ebenso wie das Medium des Comic, welches in seiner Eigenschaft als repräsentatives Medium (im Sinne der Indexikalität) Konnotationen von Derridas Konzept der différance hervorruft, das durchaus auf Kafkas Geschichten anwendbar scheint. Die Suche nach dem „Schlüssel“ zum Tor des Sinns bei Kafka involviert die Identifikation von Symbolen und Diskursen, die das Verständnis durch ihre indexikalische Qualität gewährleisten sollen, jedoch, wie es sich bei Derrida zeigt, ist dies nicht so einfach: Kafkas Literatur „negiert die Tendenz der Moderne, ‚Tiefe‘ zu simulieren und so eine ‚Bedeutung‘ zurückzugewinnen, die sie in den gesellschaftlichen Modernitätsschüben seit Ende des 19. Jahrhunderts längst verloren hat“.32 27 Vgl. Galle, Roland (1993): „Zur Kafka-Rezeption“, in: Bogdal, Neue Literaturtheorien in der Praxis, Opladen: Westdeutscher Verlag, 115–139: hier 122. 28 Vgl. hierzu u. a. Schmitz-Emans, Monika (2010): Franz Kafka. Epoche – Werk – Wirkung, München: C. H. Beck, und Bogdal, Klaus-Michael (1999): Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. 29 Neumann, Gerhard (2012): Franz Kafka. Experte der Macht, München: Hanser, 161. 30 Calasso, Roberto (2006): K., München: Hanser, 132. 31 Barthes bei Neumann, Gerhard (2009): „Überschreibung und Überzeichnung. Franz Kafkas Poetologie auf der Grenze zwischen Schrift und Bild“, in: Bach, Friedrich Teja/Pichler, Wolfram (Hg.): Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, München: Wilhelm Fink. 32 Bogdal (1993): „Das Urteil kommt nicht mit einemmal. Symptomale Lektüre und historische Diskursanalyse von Kafkas ‚Vor dem Gesetz‘“, in: Bogdal, Neue Literaturtheorien in der Praxis, 61.


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4. Comic und Adaptionen Das Fragmentarische, Bruchstückhafte sticht einem förmlich ins Auge, wenn man einen Comic liest: Die Einteilung des Erzählten in panels, die durch den gutter getrennt sind, macht die abgehackte Wahrnehmung sicht- und lesbar. Auch bietet sich die prinzipielle Hybridität des Mediums für intermediale und interdisziplinäre Betrachtungen an.33 Comics sind mittlerweile selbstständiger Forschungsgegenstand, dennoch erfahren Literatur-Comics durch ihre Verbindung mit literarischen Vorlagen eine Aufwertung, laut Monika Schmitz-Emans profilieren sie sich eben dadurch als Kunstform und haben teil an der Kanonisierung. Ein besonders interessanter Ansatzpunkt ist die Eigenschaft des Comics, die Abgrenzung zwischen Sprachlichem und Visuellem infrage zu stellen, wie Schmitz-Emans betont.34 Er fungiert als eine Art „Meta-Schrift“ durch die Vermählung von Schriftzeichen und visuellen Bildern. Der kleinste gemeinsame Nenner verschiedener Comic-Definitionen ist der, Comic sei eine „sequential art“35, eine genauere Definition findet sich in Scott McClouds berühmtem Metacomic Understanding Comics: „Juxtaposed pictorial and other images in deliberate sequence, intended to convey information and/or to produce an aesthetic response to the viewer.“36 Hierbei kommt nach McCloud das Prinzip „amplification through simplification“ zum Tragen, welches besagt, dass die abstrakten Gesichter im Comic dank der „universality of cartoon imagery“37 als Projektionsfläche dienen können und somit mehr Beteiligung des Lesers hervorrufen. Doch wie kann ein Comic erzählen? Juliane Blank wendet in ihrem Aufsatz Erzählperspektive im Medienwechsel. Visuelle Fokalisierung in Comic-Adaptionen von Texten Franz Kafkas38 Genettes Konzept der Fokalisierung an: Ähnlich wie im Film haben nur wenige Comics einen figuralen Erzähler, jedoch wird die Narration nicht objektiv dargeboten, sondern durch den Einsatz der Kamera und andere visuelle Fokalisierungstechniken vermittelt. Der Comic hat sowohl eine visuelle als auch eine verbale Erzählebene, die statt durch die Instanz der Kamera und der Montage etc. durch die Panelstruktur, die Beschaffenheit des gutters (also des Abschnitts zwischen den Bildern) und die Perspektive die drei von Genette benannten Fokalisierungstypen Nullfokalisation, interne und externe Fokalisation verwenden können. Innerhalb des Panels gelten ähnliche Fokalisierungstechniken wie im Film: Einstellungsgrößen, Kameraposition, Montage etc.39 Doch beim Comic kommt es zu einer „Verdoppelung des Blicks“: „Doch das Bild bestätigt, wiederholt und ergänzt nicht nur die Botschaft des Textes, sondern fügt auch ein Mehr an Bedeutung hinzu. Denn im Roman wird das Sehen beschrieben, die Wahrnehmung in Worte

33 Vgl. Eder, Barbara/Klar, Elisabeth/Reichert, Ramón (Hg.) (2011): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript, 10ff. 34 Schmitz-Emans, Monika (2012): Literatur-Comics. Adaptionen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin: De Gruyter, 9. 35 Vgl. u. a. Scott McCloud (1993). 36 McCloud, Scott (1993): Understanding Comics. The invisible art, New York: Harper Collins Publishers, 9. 37 Ebd., 30. 38 Blank, Juliane (2011): „Erzählperspektive im Medienwechsel. Visuelle Fokalisierung in Comic-Adaptionen von Texten Franz Kafkas“, kunsttexte.de, online unter: http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2011-1/blank-juliane-9/PDF/blank.pdf (letzter Zugriff: 01.04.2014). 39 Vgl. Hermann, Christine (2011): „Wenn der Blick ins Bild kommt. Visuelle Techniken der Fokalisierung im Literaturcomic“, in: Eder et al.: Theorien des Comics, 25–42.


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gefasst und kommentiert, während im Comic das Sehen gezeigt wird […].“40 Die visuelle und die verbale Erzählung stehen in Konkurrenz zueinander oder sie ergänzen sich perfekt, je nachdem, welcher Theorie man folgen möchte.41 Doch die Narration kann erst durch die Sequenzialität, die Aneinanderreihung von Panels, entstehen. Da die Montage des Comics Lücken hervorruft, bezeichnet McCloud den Prozess des closure als grundlegende Grammatik des Mediums: „Comic panels fracture both time and space, offering a jagged, staccato rhythm of unconnected moments. But closure allows us to connect these moments and mentally construct a continuous, unified reality.“42 Dieses Modell scheint vielen Kritikern, wie zum Beispiel dem Comic-Theoretiker Ole Frahm, zu einfach: Laut Frahm kann es nicht darum gehen, das Fragmentarische des Comics durch closure auszugleichen, sondern gerade in der Heterogenität liegt seine Anziehungskraft und seine Stärke: „Die Sehnsucht nach der Identität, dem Original und der Wahrheit außerhalb der Zeichen wird immer durch die ambivalente Konstellation der Zeichen hervorgerufen und zugleich durchkreuzt. Immer gibt es diese gefährdete, parodistische Dissonanz, die allzu oft zu einer der beiden Seiten aufgelöst wird. Nur weil Comics das Begehren nach einer Einheit erzeugen, können sie es zerstreuen.“43 Indem er McClouds zwanghafte Harmonisierung der Comic-Struktur kritisiert, bekennt sich Frahm zu der postmodernen Auffassung, das Fragmentarische und das Widersprüchliche als etwas der Kunst (und dem Menschen) Inhärentes zu akzeptieren. Dies erinnert an Foucaults „epistemologischen Bruch“, welcher in diesem Kontext Comics von einfachen Bildergeschichten trennt, indem der Comic einen Bindungsverlust der repräsentationistischen Prinzipien aufweist, ein Abwenden von der Indexikalität.44 Laut Jens Balzer ist die Geschichte des Comics geprägt von einer „Zerstörung der Totalitäten“45 und somit ein zutiefst postmodernes Medium. Auch in der „Kafkafactory“ wird teils noch eifrig nach einer homogenen und lesbaren Interpretation gesucht. Im Vergleich zu den Suchenden, die fest an die indexikalische Qualität jedes Elements glauben, sind Ansätze, die die Existenz heterogener und ambivalenter Deutungs- und Aussagemöglichkeiten der Kafkaschen Werke vertreten, rarer gesät. Das Bruchstückhafte des Comics wird laut Elisabeth Klar46 schon auf der Panelebene deutlich, wo die Körper durch die Ränder zerstückelt werden: „Das Zerschneiden des Körpers durch den Panelrand schließlich ist wiederum eine Maßnahme, die zwar die Lektüre destabilisiert, sie aber andererseits auch erst möglich macht. Nur durch das Einteilen der Seite in Zeitpunkte kann eine Leserichtung, eine Sequenz, und damit Sinn hergestellt werden.“47 Was die Leserichtung betrifft, changiert der Leser dennoch zwischen simultaner und sequenzieller Lektüre, wobei er den konstruktiven Akt der Interpretation und das Füllen von 40 Hermann (2011): „Wenn der Blick ins Bild kommt“, 38. 41 Der strukturalistische Theoretiker Thierry Groensteen zum Beispiel vertritt die These, das Visuelle habe vorzuherrschen. 42 McCloud (1993): Understanding Comics, 67. 43 Frahm, Ole (2011): „Weird Signs“, in: Eder et al.: Theorien des Comics, 156. 44 Als bekanntes Beispiel für diesen Bruch, diese Krise der Repräsentation muss zumeist René Magrittes Kunstwerk mit der Aufschrift „Ceci n’est pas une pipe“ herhalten. 45 Balzer, Jens (2011): „Dies ist keine Bildergeschichte. Über Michel Foucault, René Magritte und George Herrimans Krazy Kat-Comics“, in: Eder et al.: Theorien des Comics, 189. 46 Klar, Elisabeth (2011): „Wir sind alle Superhelden! Über die Eigenart des Körpers im Comic und über die Lust an ihm“, in: Eder et al.: Theorien des Comics. 47 Ebd., 230.


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Leerstellen bewerkstelligen muss, was durch die vorhin beschriebene Beschaffenheit des Comics nicht gerade vereinfacht wird: „An die Stelle von Eindeutigkeit und Linearität treten Polyphonie und Kontingenz.“48 Dazu Groensteen: „But comics is not only an art of fragments, of scattering, of distribution; it is also an art of conjunction, of repetition, of linking together.“49 Hierbei wichtig sind die narrativen Funktionen des Rahmens und auch des gutters: Durch die Montage wird die Bilderfolge mit Bedeutung aufgeladen und auch Leerstellen entstehen. Die zwischen den Panels, also im gutter ablaufenden Ereignisse, werden vom Leser ergänzt.50 Bei einem Literatur-Comic kann dies teilweise einfacher ablaufen, da manche Adaptionen, vor allem bekannter Stoffe, ein gewisses Wissen über die Handlung voraussetzen. Einige jedoch, wie z. B. die Reihe Ex Libris, sind dazu gedacht, den Stoff schnell (und leicht) auch für Uneingeweihte zugänglich zu machen. Kafkas Stoffe scheinen besonders interessant für Comic-Adaptionen zu sein. Kafka bietet sich nach Monika Schmitz-Emans, deren Monografie Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur eine hervorragende Quelle zu diesem Themengebiet darstellt, besonders durch die ihnen selbst innewohnende Thematik der medialen Verwandlungen und durch Reminiszenzen an das Theater und den Stummfilm an. Auch Kafkas Zeichnungen weisen Ähnlichkeit zu Comics auf; Kafkas Zeichenhaftigkeit der Sprache und Körperlichkeit der Schrift51 wurde schon oft ins Visier genommen: „Betont wird die Schriftbildlichkeit von Texten im Comic auch durch Techniken der Fragmentierung und Dekomposition. Die Schrift lebendig und beweglich erscheinen zu lassen, ist ein für viele Comics konstitutiver Einfall. Insofern liegt es nahe, bei Umsetzungen Kafkascher Texte in Comic-Erzählungen besondere Formen der Schriftpräsentation zu erproben und an den Topos einer physisch-sinnlichen, „körperlichen“ und metamorphotischen Schrift anzuknüpfen.“52 Literatur-Comics können sich konservativ oder subversiv verhalten.53 Die Erzählweisen von Comic und Film sind miteinander verwandt, beide bestehen aus Bewegungsbildern, Kompositionen von Syntagmen, Wiederholungen und Variationen.54 Nach Schmitz-Emans haben beide Medien ähnliche sozialhistorische und mediengeschichtliche Kontexte (beide sind Massenmedien) und bieten sich für autoreferentielle Anknüpfungen an.55 Am Beispiel des Literatur-Comics L’Amerique von Casanave und Cara56 nach Kafka zeigt sich auch gut die wechselseitige Bespiegelung der Künste, indem die Inszenierung des Kafkaschen Stoffes eindeutige Züge des frühen Slapstickkinos aufweist. Als weiteres Merkmal der besonderen Eignung des Comics für die Umsetzung Kafkascher Stoffe gilt, dass er das gestische Potenzial der Schriftzei48 Eder, Barbara (2011): „Zeit der Revolution – Revolution der Zeit. Figuren der Zeitlichkeit in Marjane Satrapis Persepolis“, in: Eder et al: Theorien des Comics, 287. 49 Groensteen, Thierry (2007): The System of Comics, Jackson: University Press of Mississippi, 22. 50 Hermann (2001): „Wenn der Blick ins Bild kommt“, 35. 51 Ganz zu schweigen von der thematischen Auseinandersetzung in „Die Strafkolonie“. 52 Schmitz-Emans (2012): Literatur-Comics, 179. 53 Vgl. Schmitz-Emans, Monika (2012): „Gezeichnete Romane, gezeichnete Schauspiele, gezeichnete Gedichte. Der Comic und die literarischen Gattungen“, in: Kohns, Oliver/Liebrand, Claudia (Hg.): Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie, Bielefeld: transcript, 86. 54 Vgl. Seesslen, Georg (2011): „Bilder für die Massen. Die prekäre Beziehung von Comic und Film und die dunkle Romantik des Neoliberalismus im neueren Comic-Kino“, in: Eder et al.: Theorien des Comics. 55 Schmitz-Emans (2012): „Gezeichnete Romane, gezeichnete Schauspiele, gezeichnete Gedichte“, 99. 56 Casanave, Daniel/Cara, Robert (2012): Franz Kafka. L‘Amérique, Paris: 6 Pieds Sous Terre éditions.


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chen betont und diese sozusagen als einen Protagonisten auftreten lässt57, wo sich Kafka selbst an einer Stelle der „Friktion zwischen Schreiben und Zeichnen“ befindet, bereit für das „Sich-Auflösen im Performativen der Linien“58, wie es im Comic geschieht. Kafka experimentierte zwischen Schrift und Zeichnung, zwischen „strömender Dynamik und innehaltender Repräsentation“59. So meint auch Peter Kuper, der in seinem Comic Give it up!60 Erzählungen von Kafka paraphrasierte und visualisierte, Kafkas Charaktere seien „ideally suited to this medium“61.

5. Analyse 1: Der Prozess Kafkas Der Prozess entstand 1914/15, wurde aber erst 1925 postum von Max Brod herausgegeben, welcher durch seine eigenwilligen Bearbeitungen des Manuskripts beziehungsweise überhaupt aufgrund der Tatsache, die Bitte Kafkas, seine Werke zu verbrennen, missachtet zu haben, einige Kontroversen hervorgerufen hat.62 Der Vorwurf der Mythisierung des Autors und der Interpretation des Werks, unter anderem im Nachwort von 192563, wurde schon anhand der Debatte um das Kunstwort kafkaesk angesprochen. Doch der Eingriff Brods in das Schicksal der Kafkaschen Schriften wurde auch gelobt, zum Beispiel von Walter Benjamin, der das Handeln des Freundes als wahren Treuebeweis verstand, der die Veröffentlichung, gegen welche sich Kafka aufgrund der Unvollständigkeit der Werke und nicht aufgrund ihrer Unbrauchbarkeit gewehrt hätte, möglich machte.64 Kritik erntete jedoch vor allem Brods editorisches Vorgehen: seine Eingriffe in die Kapiteleinteilung und die Benennung und Ordnung der Fragmente des als „großes Papierbündel“65 bezeichneten Manuskripts. Der Prozess stellte den Freund vor eine anspruchsvollere editorische Aufgabe als die beiden anderen Romane, die zwar auch Fragmente sind, jedoch auf eine andere Art: Der Prozess besitzt ein Schlusskapitel und somit einen Rahmen und vermittelte so einen Eindruck von (Ab)Geschlossenheit66, obwohl der Mittelteil unvollendet blieb. Brod selbst schrieb im Nachwort, dass dieser Mittelteil noch aus weiteren Etappen des Gerichtsverfahrens bestehen sollte, wobei K. niemals zur höchsten Instanz gelangen solle: „Da aber der Prozeß nach der vom Dichter mündlich geäußerten Absicht niemals bis zur höchsten Instanz vordringen sollte, war in einem gewissen Sinne der Roman überhaupt unvollendbar, das heißt in infinitum fortsetzbar.“67 Ein Ansatz, der auch bei diversen Interpretationsansätzen zum Tragen kommt: Wenn man die verhandelten Diskurse und grundlegenden Topoi betrachtet, wie das Streben nach Erkenntnis, nach Gerechtigkeit, nach einer verständlichen Welt, während man die Welt als Laby57 Vgl. Schmitz-Emans (2012): Literatur-Comics, 214f. 58 Neumann, Gerhard (2009): „Überschreibung und Überzeichnung“, 186. 59 Ebd. 60 Kuper, Peter (1995): Give it up! And other short stories, New York: NBM Publishing. 61 Schmitz-Emans (2012): Literatur-Comics, 197. 62 Vgl. Müller (1993): Franz Kafka. Der Proceß, 80ff. 63 Brod, Max (1973): Nachwort zur ersten Ausgabe in Kafka, Der Prozeß, Frankfurt/M.: Fischer TB, 193–198. 64 Müller (1993): Franz Kafka. Der Proceß, 82. 65 Ebd., 84. 66 Ebd. 67 Brod (1973): Nachwort, 197f.


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rinth wahrnehmen muss, so kann es zu gar keinem Abschluss kommen. Liegt nicht das Scheitern des Sinnsuchenden in Kafkas Geschichten verborgen? Brods Bestreben war es, den – vor allem in diesem Hinblick – schwer verdaulichen Text zugänglicher zu machen, was er durch die Herstellung des Eindrucks einer abgeschlossenen Handlung zu erreichen hoffte.68 In der zweiten Ausgabe von 1935 jedoch erweiterte Brod den Roman um einen Anhang mit den Fragment gebliebenen Kapiteln, beließ aber weiterhin die Änderungen einiger Kafkascher Wendungen ins Hochdeutsche. Etliche Jahre später gestand er dann, dass ihm auch bei der Kapitelanordnung Fehler unterlaufen sein könnten, so sei zum Beispiel das als 5. Kapitel herausgegebene vielleicht doch als 2. Kapitel gedacht gewesen.69 Seit 1975 entstand eine kritische Ausgabe im Fischer Verlag, welche sich auf die handschriftlichen Originale stützt. In dieser ist das von Brod eingesetzte 1. Kapitel in zwei Teile gegliedert, entsprechend Kafkas Notizen, in den Text eingegliederte Fragmente wie „B.’s Freundin“ wurden als Fragment bezeichnet und hintangestellt und die Kapitel erschienen nicht nummeriert, außerdem wurde nur in den nötigsten Fällen in die Schreibweise eingegriffen.70 Die Arbeit an dem Roman schien Kafka selbst nicht leichtzufallen: Er schrieb den Roman mit einigen Unterbrechungen und in mehreren Etappen, die Schwierigkeiten seines Fortkommens lassen sich anhand seiner Tagebücher und Briefe nachvollziehen: „Ich kann nicht mehr weiterschreiben. Ich bin an der endgiltigen [sic] Grenze, vor der ich vielleicht wieder Jahre lang sitzen soll, um dann vielleicht wieder eine neue, wieder unfertig bleibende Geschichte anzufangen. Diese Bestimmung verfolgt mich.“71 So schreibt er zum Beispiel am 30. November 1914. Danach sollte er noch am Prozess weiterarbeiten, jedoch recht behalten, was seine Bestimmung betrifft: Vollendet hat er ihn, wie seine anderen beiden Romane, tatsächlich nicht. In der Kafkaforschung wird oft Kafkas Trennung von Felice als Auslöser für die Arbeit am Prozess gesehen, ebenso das Heraufdämmern des Kriegs, doch eine einfache biografische Auslegung stößt bald an ihre Grenzen. Wie Reiner Stach meint, ist der Prozess ein „Monstrum“ und „Finsternis, wohin man blickt“.72 Die Metapher des undurchdringlichen Labyrinths wird bemüht und der Roman als ausweglos und kreisförmig angelegt gesehen, der seine eigene Unabschließbarkeit in sich trägt. Der Roman bedient mit seinen dystopischen Vorstellungen der Bürokratie den „Albtraum der Moderne“73, selbst die viel zitierte und oft bearbeitete Torhüter-Parabel scheint keinen Deutungsschlüssel zu liefern, wie Klaus-Michael Bogdal in seinem Aufsatz über Kafkas „Vor dem Gesetz“ schreibt.74 Vielmehr muss diese Parabel (wie meines Erachtens der gesamte Werkkorpus Kafkas) als ein „Kreuzungspunkt heterogener Diskurse, Diskurse der Literatur, der Macht, des Wissens, der Sexualität“75 gesehen werden, ein diskursanalytischer Ansatz hilft, die Mehrdeutigkeit von Kafkas Erzählungen sowie den äußerst komplexen Unterbau zu erkennen, der nach der Freilegung von Schichten, gemäß unseres Bildes des fragmentarischen Werks als Ruine, dessen Interpretation gleichsam Archäologie betreibt, zum Vorschein kommt. 68 69 70 71 72 73 74 75

Müller (1993): Franz Kafka. Der Proceß, 84f. Ebd., 88. Ebd., 90f. Kafka, Franz (1990): Tagebücher (hg. von Hans Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley), Frankfurt/M.: Fischer 1990, 702. Stach (2004): Kafka, 537. Ebd., 553. Vgl. Bogdal (1993): „Das Urteil kommt nicht mit einemmal“. Ebd., 45.


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Abb. 3 und 4: Chantal Montellier & David Zane Mairowitz: Franz Kafka’s The Trial. A Graphic Novel. Illustrated by Chantal Montellier. Adapted and translated by David Zane Mairowitz. London: SelfMadeHero 2008. © SelfMadeHero 2008.

Besonders tief mussten Chantal Montellier und David Zane Mairowitz nicht graben: Ihre eher konservative Comic-Adaption The Trial aus dem Jahre 2008 hält sich sehr an das Werk (nach Brod), wobei sie auf eine Interpretation verzichtet, wenn man von dem dystopisch anmutenden, in kontrastreichem Schwarz/Weiß gehaltenen Zeichenstil absieht, der sich in den Kanon der Kafkaadaptionen, die das Kafkaeske zumeist mit Film noir-Optik gleichsetzen, eingliedert. In den Paratexten machen die Autoren deutlich, dass es ihnen nicht um eine Deutung geht, denn gerade aus der Unerschöpflichkeit des Textes entstehe die eigentümliche Faszination des Werks.76 Die monoperspektivische und „einsinnige“ Narration Kafkas77, die auch in der dritten Person wirksam ist, wird in den Comic übertragen, indem die beobachtende Perspektive des Romans aufrechterhalten und zusätzlich dazu durch inszenierte Elemente des Beobachtens, wie einen Blick durchs Fenster oder „Nahaufnahmen“ von Augen und somit das Festhalten von Blicken, verstärkt wird. Das Bild K.s, welches den bekannten Fotos von Kafka selbst nachgezeichnet zu sein scheint, erhält hierbei eine leitmotivische Funktion, der Autor und sein Protagonist verschmelzen zu einer Person. Der Text wurde paraphrasiert, in den kleinen Bildüberschriften stehen prägnante Sätze aus dem Original, wie in vielen Adaptionen herrschen hier die Dialoge vor, im Gegensatz zu Kafkas Prozess. Um Scott McClouds Anleitungen zur Comic-Analyse zu folgen, verhalten sich Schrift und Bild in einem additiven Verhältnis zueinander, wobei die eine Ebene durch die andere verstärkt wird: Kafkas nüchterne Sätze werden mit bedrückenden Bildern und eindrücklichen Nahaufnahmen konfrontiert und umgekehrt wird die Sachlichkeit und Unumstößlichkeit der Aussagen durch die dramatische Inszenierung auf der Bildebene auf groteske Weise unter76 Montellier/Mairowitz (2008): The Trial, 5. 77 Vgl. Schmitz-Emans (1982): Franz Kafka, 114ff.


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strichen, wobei an einigen Stellen, vor allem wenn der chaotische Gefühlszustand der Überforderung dargestellt wird, die Montagetechnik eingesetzt wird, also das Verwenden von Wörtern und Satzzeichen als integraler Bestandteil des Bildes.78 Die Rahmung wirkt nicht intakt, sondern wie zerbrochen, ständige Entgrenzungen auf der Bildebene spiegeln das Geschehen wider, dessen Dramatik durch das zweite leitmotivische Element, tanzende, hämische Skelette, unterstrichen wird. Die von Schmitz-Emans propagierten reflexiven Potenziale des Literatur-Comics79 zeigen sich in der Thematik von Blick und Sehen selbst, ebenso im gestischen Potenzial der Schriftzeichen, welche gleichsam als Protagonisten agieren,80 und durch explizite Bildzitate, die auf Mairowitz’ Zusammenarbeit mit Robert Crumb bei Kafka for Beginners sowie auf echte Fotos von Kafka anspielen. Nicht nur im Nachwort wird die biografische Lesart der Autoren deutlich, mit der Widmung „To you, dear K.!“ und den Geburtsdaten Kafkas ziehen Mairowitz/Montellier eine Parallele von Kafka zu K., wie schon so viele vor ihnen. Das „Mehr an Bedeutung“, welches die Comic-Fassung in sich birgt, wird hier durch eben diese Parallelsetzung von K. und Kafka erreicht, sie bietet somit gleich eine Interpretation an (auch wenn dies in den Paratexten von den Autoren anders suggeriert wird). Der Prozess wird nicht wie ein Fragment behandelt, es wurde nach Brods Ausgabe als eine Quasi-Einheit übernommen und als vollständige Geschichte behandelt. Der Anreiz für das Projekt war das Albtraumhafte, aber auch die Unvollständigkeit – wenn auch nicht auf der editorischen und materiellen Ebene, so zumindest auf der Ebene der Interpretation, der unmöglichen Suche nach Sinn. Die Lücken in der Interpretation haben Mairowitz und Montellier zu einer künstlerischen Auseinandersetzung gereizt, wieder einen Versuch zu starten, vielleicht doch einen Zugang zu finden, zumindest einen persönlichen. Denn dafür eignet sich ein fragmentarisches Medium wie der Comic besonders gut: Es ist ein Medium, das als Projektionsfläche dienen kann (ähnlich wie der Roman) und das es erlaubt, seine eigenen Weltanschauungen und Assoziationen miteinzubringen. So wie Kafkas Werk viele darunter liegende Diskurse erkennen lässt – sei es politisch, biografisch, romantisch, dystopisch, surreal, expressionistisch, familiär, juristisch, gesellschaftskritisch oder doch komisch – so hilft der Comic-Leser bei der Rekonstruktion eines Stücks Literaturgeschichte mit, indem er die gutter mit seinem Vorwissen und die abstrakten Figuren und Räume mit seinen Assoziationen füllt.

6. Kafka als Popkultur-Icon Unvollständigkeit, Lücken in seinem Werk und Versagen jeglicher „Schlüssel“ zum Sinn seines Werks treiben die Mythisierung rund um Autor und Romane an. Die zahlreichen Adaptionen sind Interpretationsversuche, die oftmals den fragmentarischen Charakter negieren und meist biografische Parallelen ziehen. Die „reale“ Figur Kafkas, in der Forschung und vor allem in der Alltagskultur überhöht durch das Adjektiv kafkaesk, wird zum Forschungsgegenstand und im Zuge der Popularisierung seines literarischen Schaffens auch zum popkulturellen Icon. Im Zuge der intensiven postumen Auseinandersetzung mit Kafkas Schriften, der Assoziation seiner Themen und vermeintlichen Aussagen mit dem gängigen Bild der Moderne, mit Ein78 Vgl. McCloud (1993): Understanding Comics, 153ff. 79 Schmitz-Emans (2012): Literatur-Comics, 214f. 80 Ebd.


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flüssen aus dem Stummfilm und in der Folge auch Einflüssen Kafkas auf den Film (in Form von Adaptionen oder Inspiration) sowie mit existenzialistischen Strömungen, der Psychoanalyse und der Ästhetik und Thematik des Film noir wurde Kafka zu einem Schlagwort, das auch in popkulturellen und nicht-wissenschaftlichen Sphären häufig genutzt wird. Durch die Kommentare und Deutungen durch so illustre und wichtige Theoretiker wie Walter Benjamin, Theodor W. Adorno oder Michel Foucault gilt die „Wichtigkeit“ des Kafkaschen Werks gleichsam als bestätigt, aber das Aufgreifen seiner Stoffe durch wichtige Persönlichkeiten der Popkultur wie Orson Welles, den Independent-Filmemacher Steven Soderberg (Sex, Lies and Videotapes, 1989) und den Underground-Comic-Künstler Robert Crumb, welcher heute vor allem für seine eher deftigen Fritz the Cat-Comics bekannt ist, machte ihn einem weiteren Publikumskreis zugänglich. Es kam zu einer Mythisierung des Kafkaesken, zur Überhöhung und gleichzeitigen Erniedrigung des Autors als komplexbeladener Ästhet, der Probleme mit Frauen und seinem übermächtigen Vater hat, der tagsüber in einem „langweiligen“ Job arbeitet und nachts wie besessen schreibt und verwirrende, zum Teil als prophetisch betrachtete Erzählungen verfasst, welche vielen der Menschen, die das Wort kafkaesk wie alltäglich benutzen, möglicherweise nur durch Adaptionen geläufig sind.

7. Analyse 2: Kafka for Beginners In der Comic-Arbeit Kafka kurz und knapp (Kafka for Beginners) des Underground-Comic-Zeichners Robert Crumb und des Texters David Zane Mairowitz von 1993, der auch für die Texte in The Trial verantwortlich ist, rahmt Kafkas Leben seine Werke. In seiner grob chronologischen Struktur, seinem Aufbau und auch der Bildsprache und -regie ähnelt der Comic filmischen Autorenporträts und wirkt teilweise wie eine Kollektion von „Fotos“ bzw. Zeichnungen, die realen Fotos von Kafka und seiner Familie nachempfunden sind, ebenso wie Buchcovers und Filmplakaten. Er verweist somit auf sich selbst als eine Kompilation vorgefundener Materialien. Die Bildregie wirkt filmisch, indem sie eindeutige Schnitte und Überblendungen herstellt, der Stil ist anders als in The Trial: Hier herrschen anstatt eindeutiger Panelfolgen Montagetechniken, die Schrift und Bild vermischen und dem Ganzen eine Fotoalbumoptik geben, vor. In der Visualisierung von Sprachbildern wird Kafkas Stil, seine Tendenzen zu Verfremdung und Verzerrung, nachgeahmt.81 Nach Schmitz-Emans wird Kafkas Leben „von Crumb mit einer Theatralik inszeniert, wie sie der Stummfilm vom Theater übernommen hatte und wie sie sich auch in kafka’schen Szenendarstellungen prägend ausgewirkt hat. Mehr noch: Crumb stellt seinen Helden so theatralisch dar, wie dieser sich den eigenen autobiographischen Texten zufolge dargestellt – im Sinne von ausgestellt – gefühlt hatte. […] Crumbs Comic stellt gleichsam zeichnerisch den Stummfilm dar, den man auf der Basis von Kafkas Selbstdarstellungen über sein Leben hätte drehen können […]“82 Das in Kafkas Selbstdarstellung so oft vorkommende Thema des Schreibens selbst und der Schriftstellerexistenz wird auch hier verhandelt (siehe Abbildung), sowie das Verhältnis des Autors zu seinem Körper und Körperlichkeit. Hierbei werden paraphrasierte Erzählungen Kafkas mit Elementen aus seiner Biografie und zeitgeschichtlichen Fakten verwoben. Wie auch The 81 Vgl. Schmitz-Emans (2012): Literatur-Comics, 184. 82 Ebd., 187.


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Trial thematisiert der Comic Sehen als solches, der Beobachterstandpunkt kommt durch Montage und Perspektive mit ins Bild.83 Nach einer Einführung in die Kontexte von Kafkas Leben, wie Prager Stadtgeschichte und Judentum, und den Eckdaten seiner Biografie gehen Crumb und Mairowitz auf die Erzählungen Das Urteil, Die Verwandlung, Der Bau und In der Strafkolonie ein, jeweils unter Bezugnahme auf ein spezifisches „Kafka-Thema“ wie die Diskurse um Sexualität oder jüdische Selbsterniedrigung. Bei der Paraphrase des Prozesses ist die Unvollständigkeit des Werks wiederum kein Thema, wie bei Brod anfangs auch, siegt der durch die Existenz eines Schlusskapitels hervorgerufene Eindruck eines abgeschlossenen Werks über die fehlenden Kapitel. Erst bei der Bearbeitung vom Schloss wird dem Fragmentcharakter Rechnung getragen. In Kafka for Beginners finden sich auch Reflexionen über Kafkas Arbeits- und natürlich Liebesleben, Sexszenen sowohl des realen Kafka als auch seiner Figuren werden von Crumb mit Freude gezeichnet. In einem Interview erzählte David Zane Mairowitz, dass Crumb begeistert von der Vorstellung war, einen Comic über Kafka zu machen, die sehr biografische Lesart des Adapteurs lässt sich laut Mairowitz auch auf dessen eigene Angst vor Frauen zurückführen: „Robert Crumb hat genau dieselbe Angst vor Frauen wie Kafka. Wenn sich Crumb selbst als kleinen und zitternden Wicht vor den kräftigen Frauen mit großen Ärschen zeichnet, dann macht er sich da genauso klein, wie sich Kafka in seinen Werken klein macht.“84 Auch Kafkas Nachleben und die Rezeption seiner Werke werden angesprochen, und das in sehr kritischer Art und Weise: Die Absurdität des Kafkaesken als Adjektiv, seine Ehrung als „Prä-orwell’scher Visionär“ und der Missbrauch des Kafka-Mysteriums durch den Tourismus („Kitsch“) werden zur Schau gestellt und die von Kundera verdammte „Kafkology“ wird angedeutet. Die Inszenierung Kafkas als Pop-Icon wird dargestellt, zeigt sich aber auch schon an der Beschäftigung eines Zeichners wie Robert Crumb mit ihm. Laut Mairowitz ging es beiden darum, das „Erlebnis des Lesens als solches“, welches auch in Kafkas Literatur vordergründig sei, zu ermöglichen: „Wenn man Kafka heute liest, kann es nicht darum gehen, eine Geschichte von Anfang bis zum Ende zu lesen. Es geht um das Erlebnis ‚Lesen als solches‘.“85 Und das ist ihnen wohl gelungen. In Kafka for Beginners wird auch dem Nicht-Leser Kafkas Werk nahegebracht, jedoch in sehr einseitiger und vor-interpretierter Weise. Durch die Parallelsetzung mit biografischen Fakten wird eine biografische Lesart forciert, aber auch darunterliegende Diskurse wie das Judentum, das Herannahen des Weltkriegs, Sexualität und Moral etc. werden nicht ignoriert: „Crumb und Mairowitz bemühen sich um eine möglichst ‚kafkaeske‘ Umsetzung der Texte, das heißt die Umsetzung folgt einer populären Interpretationsrichtung, die versucht, das Werk in eine enge Beziehung mit dem Leben des Autors zu setzen.“86 Das Kafkaeske kommt auch bei Crumbs/Mairowitz’ Bearbeitung der Stoffe nicht zu kurz, trotz ihrer Kritik an der populärkulturellen und (pseudo-)wissenschaftlichen Vereinnahmung Kafkas, tragen sie ihren Teil zu der Stärkung des kafkaesken Franz Kafka bei.

83 Ebd., 192. 84 Vgl. Hummitzsch, Thomas (2013): „Crumb hat dieselben Ängste wie Kafka. Interview mit David Z. Mairowitz“, tagesspiegel.de 14.05.2013, online unter: http://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/interview-mit-david-z-mairowitz-crumb-hat-dieselben-aengste-wie-kafka/8203776.html (letzter Zugriff: 01.04.2014). 85 Ebd. 86 Blank, „Erzählperspektive im Medienwechsel“, 4.


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Chris Boge

Visualizing Histories and Stories Revisionary Graphic Novels of the 1980s and 1990s Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/571

Abstract Der Beitrag gibt einen Überblick über einige der wichtigsten grafischen Romane der 1980er- und 1990er-Jahre und diskutiert anschließend zwei bedeutende Werke dieser Zeit: Art Spiegelmans „Maus“ und Alan Moores „Watchmen“. Revisionäre grafische Romane sind sowohl visionär als auch revisionistisch und laden LehrerInnen und SchülerInnen ein, über die Prämissen der historiografischen Arbeit nachzudenken: In Prozessen, die ebenso auf Vorstellungskraft wie Mutmaßungen und Schlussfolgerungen basieren, werden Daten gesammelt und anschließend in einer kohärenten Erzählung als „Fakten“ präsentiert. Indem sie Bild- und Sprachelemente kombinieren und oft (deren unterschiedlichen ontologischen Status) kontrastieren, fordern uns grafische Romane heraus, unsere herkömmlichen Annahmen über Linearität, Fortschritt, Tradition und Kanonizität zu überdenken und über (die kognitiven Voraussetzungen für) menschliches Raum- und Zeitempfinden ebenso nachzudenken wie über unsere Veranlagung, kausale Verknüpfungen zu schaffen. Letztere hilft, Kontingenz in kontrollierbare Erzählmuster zu übersetzen, die die Welt für uns erklärbar, sinnhaft und navigierbar machen. The article gives an overview of some of the most important graphic novels of the 1980s and 1990s, and discusses two seminal works in detail, Art Spiegelman’s “Maus” and Alan Moore’s “Watchmen.” Revisionary graphic novels are both visionary and revisionist, inviting teachers and students to reflect on the premises of the historiographer’s task who, through processes of reimagining and conjecture as much as deduction, assembles data that is next presented in a coherent narrative as “facts.” Graphic novels in particular challenge our received ideas of linearity, progress, tradition, and canonicity. Combining and often sharply contrasting (the different ontological status of ) pictorial and linguistic elements, they ask us to reflect on (the cognitive prerequisites for) human spatial and temporal perception and our propensity to create causal connections. Ultimately, stipulating causality creates order out of chaos, turning contingencies into manageable patterns of storytelling that make the world explicable, meaningful and navigable for us.

1. Introduction The paradigm shift caused by the American school of New Historicism not only changed the way academics came to view historiographical processes and their own role in history, it also


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made an impact on the wave of 1980s and 1990s revisionary graphic novels in GB and the US.1 This period was the heyday of postmodernism whose foundations had been laid in the preceding decades. In the late 1960s, structuralism attempted to reduce the author of a piece of writing to a set of textual traces and functions (cf. Barthes 1968, and Foucault 1969). An even more radical form of scepticism, poststructuralism put into doubt the existence of any text-external or concept-independent, form of “world.” Thus, the notion of what constitutes “facts” about the “world” and how “events” might become “historical facts,” was seen as refracted through the prism of human language use. Cultural products like the revisionary graphic novels didn’t simply try to keep up with theory – the linguistic turn was mutually beneficial for the sciences and the arts. Postmodernist literature’s achievements have helped transcend “the illusions of objectivism in the modern social and human sciences,” such as the distinction between fact and fiction: “Since facts are themselves linguistic constructions, ‘events under a description,’ facts have no reality outside of language. So while events may have happened, the representation of them as facts endows them with all the attributes of literary and even mythic subjects” (White 1999: 312–13, italic original). To some extent, the advent of postmodernism, and the political stance taken by the New Historicists, was a reaction to extreme forms of poststructuralism that were regarded as untenable. “[T]o say that the past is only known to us through textual traces is not […] the same as saying that the past is only textual, as the semiotic idealism of some forms of poststructuralism seems to assert. This ontological reduction is not the point of postmodernism: past events existed empirically, but in epistemological terms we can only know them today through texts. Past events are given meaning, not existence, by their representation in history” (Hutcheon 2002, 78, italic original). Giving meaning is part and parcel of the process of interpretation, and the revisionary graphic novels of the 1980s and 1990s radically reinterpreted the conventions of their genre, forming artistic investigations into the question, How can history be represented in all its complexity? The works of Frank Miller and Alan Moore put in doubt concepts such as vigilantism that were key to the history of white settlement in the American colony (see discussion under 3.). In Batman: The Killing Joke the crime fighter’s “quest for justice” is exposed as a maniacal folie à deux contingent on the madness of his gaudy other, the Joker. Batman: The Dark Knight Returns recharges the heterosexual normativity and biopolitics typical of the superhero genre (cf. Boge 2012a) by setting the showdown between the aging protagonist and his eternal antagonist in the Tunnel of Love at a funfair. The pictorial and linguistic information makes us sceptical about the validity of role models representing eternal principles. As changing (sexual) politics, fashion trends and aesthetics come into focus, “changing values” are exposed as historically contingent constructs. Yet reevaluation cannot result in deletion. Illustrator Brian Bolland ironically depicts himself as (fantasizing about) killing the Batman: a hopeless undertaking. As symbols (perpetually re)inscribed in the canon of imperialist cultural products these iconic figures need

1

On revisionary (superhero) narratives, cf. Klock 2002. German editions of all the graphic novels discussed in this article are available from online bookstores. In some cases the publishers have retained the English title despite the content being in German. Hence: Watchmen (Panini Manga und Comic Verlag, ); V wie Vendetta (Panini, 2007); Batman: Die Rückkehr des dunklen Ritters (Panini); Batman: The Killing Joke (Panini); Die vollständige Maus (Fischer Taschenbuch Verlag, 2008); Kingdom Come – Die Apokalypse (Carlsen Verlag, 1997).


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to be reinterpreted from new vantage points yet they can no longer be erased from the unconscious of global consumerism. In Miller and Moore, water – in the form of puddles, raindrops, and rivers – signifies the tension between linear and cyclical models of history, and between constancy and change in the flow of time. Plutarch’s paraphrase of Heraclitus’ theory of flux has become a commonplace: you cannot step into the same river twice, meaning “some things stay the same only by changing. One kind of long-lasting material reality exists by virtue of constant turnover in its constituent matter. Here constancy and change are not opposed but inextricably connected. […] Heraclitus believes in flux […that] is, paradoxically, a necessary condition of constancy, at least in some cases (and arguably in all)” (Graham 2011). The graphic novels use different forms of signifying systems (linguistic and pictorial) to transform this recognition into self-reflective comments on the premises of the genre’s tradition. Each new take on established characters and subjects must take into account its predecessors. Mark Waid’s Kingdom Come not only cites Superman and Batman’s 1930s origin stories (cf. Figure One) but elaborates on the idea proposed by Miller ten years earlier that the characters represent different types of patriotism, resulting in opposed forms of governance – legal coercion and private policing – that can become equally totalitarian and oppressive. Moore’s V for Vendetta rewrites world history by depicting an Orwellian dystopia set in late-90s England. In the tradition of political philosophy reaching back to Plato’s Politeia and Hobbes’s Leviathan, the fascistic state, subdivided into “body parts” with specific functions, signifies the embodiment of the collective. The symbolism created by Moore and Lloyd – the Guy Fawkes mask – has been adopted by Occupy Wall Street protestors, in the Arab Spring, and the Snowden affair.2 As life imitates art(istic reinterpretations of historical events), fiction traverses the boundaries of the factual, reminding us how closely aligned the real and the imagined are: if it’s unthinkable, it cannot be envisaged as an alternate reality, but if it is imaginable it can become real.

2. Contingency, memory and emplotment: Art Spiegelman’s “Maus” Maus: A Survivor’s Tale has been categorized as fiction and non-fiction; the recently published MetaMaus illustrating the work’s conception and production process is classified as „Graphic Nonfiction/History/Memoir.” Initially published in two volumes in 1986 and 1992, Maus contains an overt symbolism that learners find easy to identify. Borrowings from the genre of fable result in a food chain where dogs (Americans) fight cats (Nazis/Germans) who exterminate mice (Jews). While standing outside the direct logic of this chain other nationalities/ ethnicities (Britons: fish; Swedes: moose; Poles: pigs) can equally fall prey to predators. At one point (2003: 127) the crossroads Vladek, the narrator of the embedded narrative, and his wife Anja walk on forms a swastika. Their paths are predetermined, they must follow a preordained direction; captivity seems inevitable. These are also crooked paths: in order to survive, you must resort to criminal means. Earlier, Vladek is shown as being confined by a David star, formed from the ground he stands on and mirrored in the star stitched on his breast (82). What should be a guiding star, offering metaphysical certainty and the safety of belonging to a stable reli2 In an interview with the Guardian, Moore says that “it feels like a character I created 30 years ago has somehow escaped the realm of fiction.” (http://www.theguardian.com/books/2011/nov/27/alan-moore-v-vendetta-mask-protest. Cf. also http://theweek.com/article/index/245685/a-brief-history-of-theguy-fawkes-mask [last access: 01 April 2014 ])


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gious community, becomes an omnipresent stigma. In a chapter titled “The Honeymoon,” the swastika emblem replaces the full moon like an oversized searchlight shining over a “Jew free” town (35). At times the use of symbolism may seem simplistic, yet scrutiny reveals that the survivor’s tale is complex and layered. This can be explained by the following example.

Figure One (bottom left): Self-referentiality in Kingdom Come, inset: title page of Detective Comics #27 (May 1939). Photo credits: © 1996 DC Comics. Art by Alex Ross. © 1939 DC Comics. Cover art by Bob Kane. Upper left and right: Auschwitz orchestra, ‘time flies’ and broken swastika in Maus. From MAUS II: A SURVIVOR’S TALE/AND HERE MY TROUBLE BEGAN by Art Spiegelman, copyright © 1986, 1989, 1990, 1991 by Art Spiegelman. Used by permission of Pantheon Books, a division of Random House, Inc.

In Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Hayden White argues that the task of reconstructing past events and (re)presenting them as “facts” is contingent on strategies of emplotment that are common to fiction.3 What does that mean? In historical narrative, the use of plot helps turn a chronicle into a seemingly more coherent, yet inevitably dramatized and fictionalized sequence of events. Thus, emplotment is a textual strategy used by historians to stipulate causal connections between otherwise disconnected data, aiming to provide the most consistent explanation of the events in question, especially in cases where the “truth” is no longer available, where it has become impossible to “know” what “truly” happened. Faced with the task of using language to decode and encode data, human beings will usually opt for the version of events (and strings of words/sentences) that appears most coher3

Kevin F. Hilliard of Oxford and Vicki Rea of Lehigh University provide accessible overviews of White’s theory of emplotment that come in handy when teaching the principles of “meta-history” to students. Cf. http://users.ox.ac.uk/~spet0201/lectures/histlink/whiteho.html and http://www.lehigh. edu/~ineng/syll/syll-metahistory.html (last access: 01 April 2014).


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ent. Put differently, as „story-making animal[s]” (Achebe 2000, 59) humans are suckers for plot. Many of us feel happier when the stories we’re told appear logical and conclusive than when they don’t. Otherwise we may begin to wonder if the person whose account we’re reading or listening to is a liar, or just confused. A simple experiment lets us put these observations into practice. If you ask your students whether they think the following sequence of events/words is interesting or makes a good story, the majority will reply in the negative: The king died in 1547. The queen died in 1603. The reaction is predictable because the sequence is not much of a story. It’s a chronicle, giving us, rather arbitrarily, the dates of the deaths of Henry VIII and Elizabeth I. We feel we’re missing some kind of vital information, but what is it? By slightly modifying our example, we get what is called a minimal narrative: The king died, and then the queen died of grief. This is the example E. M. Forster uses in Aspects of the Novel (cited in Jahn 2001) to explain plot. Apart from our leaving out the dates, what has changed is that we have created a causal connection between otherwise disparate events. We have added a “because” answering an imaginary “why.” In our mind, the formerly disparate elements are linked, and we’re eager to learn more about the situation and the persons involved.4 Adding detail and some Shakespearean sense of drama, the sequence might also read, When, after protracted pain, King Bernard Stuart finally died in 1603, it broke his wife’s heart: In her terrible grief, Elizabeth pulled a dagger from the sheaf hanging from the leather belt around the waist of a servant, and stabbed herself to death right beside her husband’s cold body. Clearly, this is a made up story: for all we know, Elizabeth was never married, and there was no King Bernard Stuart. And yet, we’re in the middle of what might be an interesting, albeit undeniably melodramatic, story. It’s a what-if scenario that allows us to play with possibilities, inciting further questions that need to be answered. What disease did Bernard Stuart suffer from? Or was he poisoned, perhaps? Why was the servant allowed to carry a dagger, and why was he unable to prevent the suicide? If it were an excerpt from the literary subgenre of historiographic metafiction, our little (pseudo-)historical narrative might continue thus: Professor Sabbaticus crumpled up the page, capped the fountain pen, and rubbed his aching forehead. Why on earth had he agreed to writing this stupid revisionist history of the British monarchy? Historiographic metafiction is an overtly self-reflexive form of storytelling in which the use of anti-illusionist techniques such as the narrator’s metafictional commentary is the rule rather than the exception. Cultural products using metafictional techniques debunk the illusion of uninterrupted narrative flow in a seamless story world. As teaching aids, they alert readers to the relevance of extratextual contexts in the products’ creation, and the problems that may arise for the historiographer in (re)constructing (hi)stories. Spiegelman’s Maus lets the reader partic4 Seymour Chatman thinks that a chronicle is hard to write since readers will attempt to interpret it as some kind of story: “[…T]he interesting thing is that our minds inveterately seek structure, and they will provide it if necessary. Unless otherwise instructed, readers will tend to assume that even ‘The king died and the queen died’ presents a causal link, that the king’s death has something to do with the queen’s. We do so in the same spirit in which we seek coherence in the visual field, that is, we are inherently disposed to turn raw sensation into perception. […] A narrative without a plot is a logical impossibility” (Chatman 1978, 126).


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ipate in the processes of writing the biography/his father’s (hi)story, and it is the metafictional elements that save the book from being melodramatic. The right-hand side of Figure One shows a page titled, “Time flies” which is a play on words: the passage of time is embodied in the flies hovering over the pile of corpses that Spiegelman’s drawing table is situated on. The historiographer is haunted by images of death and destruction but also in charge of his subject matter. The lights and shadows on the page reveal a refracted symbolism: a broken swastika that registers subconsciously, “made out of the angled black shadows that define the spotlight on the drawing table” (Spiegelman 2011: 165). Maus pits subjective memories against official histories. When Vladek’s account is at odds with historical veracity, as in the orchestra scene (Spiegelman 2003: 214; cf. Figure One upper left), Art leaves the question unresolved. His father’s story blots out the seemingly more objective canonical data yet does so only partially and only after some time has elapsed for the reader to dwell on the “official” account. We can still catch a partial glimpse of the instruments peeping out over the heads of the Auschwitz inmates, whose daily parade at once signals the linear march of time and cyclicality. Thus history, time, and memory intersect and blot out yet also complement and cause one another. History becomes tangible as a form of collective memory that as a particular type of storytelling can be revised and overwritten by competing strands of narrative, as in a palimpsest.5 Both history and memory serve psychological functions: “History’s collective nature sets it apart from memory […] Historical awareness implies group activity. […] Just as memory validates personal identity, history perpetuates collective self-awareness. […] Indeed, the enterprise of history is crucial to social preservation. […] Collective statements about the past help to conserve existing arrangements, and the diffusion of all manner of history, whether fact or fable, fosters the feeling of belonging to coherent, stable, and durable institutions” (Lowenthal 1997: 213–14). The last part of the quotation indicates that fictitious accounts too help foster “„the feeling of belonging to coherent, stable, and durable institutions”, and Spiegelman, who recalls attending a Holocaust conference in LA in 1988, is clearly aware of the responsibility artists have in this respect: “I was part of a Theodor Adorno-inspired ‘Can there be art after the Holocaust?’ panel with a couple of historians and Harry Mulisch […who] as a novelist […] felt he couldn’t deal with what happened in Auschwitz because it was too indescribable – that it’s best left to the […] historians of the world. There were a lot of historians on the panel and in the audience, and they were happy with Mulisch’s answer, but I took it as a personal challenge. I felt we need both artists and historians. I tried to explain that one has to use the information and give shape to it in order to help people understand what happened – that historians, in fact, do that as much as any artist – but that history was far too important to leave solely to historians” (Spiegelman 2011: 100). It is important to note that the author’s emotional involvement in his father’s (hi)story – he draws himself as attending therapy – need not be seen as a disadvantage. Maintaining “professional detachment,” “impartiality,” and “objectivity” may just not be what the historiographer ought to do: “History should 5 The palimpsest found at http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Palimpsest_of_Street_Posters_-_ Pondicherry_-_India.JPG (last access: 01 April 2014) can be used to illustrate the principle. The legend reads, “Palimpsest of street posters in Pondicherry (Puducherry), India. July 2008. Jawaharlal Nehru, India’s first post-independence Prime Minister, described his country as ‘an ancient palimpsest on which layer upon layer of thought and reverie had been inscribed, and yet no succeeding layer had completely hidden or erased what had been written previously’.”


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not be value-free [...] but should have as part of its task a moral reckoning with the past and a celebration of a particular political standpoint” (Fulbrook 1997, 178).

3. History, closure and the challenge of simultaneity: Alan Moore’s “Watchmen” Set in a totalitarian America at the time of the Cold War conflict, Watchmen challenges our craving for coherence and the transformation of distinct concepts into single ideas. The graphic novel is replete with allusions to American history, but gives us a radical revisionist reconstruction rather than mimetic representation of the topics. Vigilantism, common in superhero narratives, is historically rooted in frontier conflicts. Outlawed by the Keene Act, the guardians of law and order in Watchmen have become violent perpetrators who act as an extension of the totalitarian state’s reach (cf. Boge 2012b). An embedded narrative, a tale within the tale called Tales of the Black Freighter, constantly interweaves with the main storyline. In its tone of voice and drawing style, the pirate story is cheap and sensationalist; its “printing quality” is made to look inferior to that of other layers of narrative. This piece of pulp fiction constantly reminds the reader of extratextual aspects such as a text’s materiality and mode of production. Yet on the level of content the Black Freighter story also connects different temporal layers, and regional/national histories to events on a global scale. From 1767 to “until about 1900,” historical vigilance committees, set up by white settler elites in the US targeted “outlaws” and other “alienated and marginalized elements” of the lower strata of society that were seen as threatening “the brittle social fabric” in a “frontier society where social bonds were fragile and weak […]. Fearing the takeover of newly settled areas by such alienated elements, vigilante or ‘Regulator’ movements responded with vigour against groups of horse thieves, robbers, counterfeiters, arsonists, murderers, slave stealers, and land pirates in areas such as East Texas in the 1830s, Northern and Southern Illinois in the 1840s, and Northern Indiana in the 1850s […]” (Johnston 1992: 12–14). The protagonist in the Tales of the Black Freighter is shipwrecked off the US coast (cf. Figure Two, page 12, panels 1–3). In a sudden outbreak of violence (panels 6–9) the pitiable survivor figure and “wretched refuse” (cf. E. Lazarus’s poem New Colossus, plaque on the Statue of Liberty) that would be welcomed to the New World is transformed into a monstrous murderer, horse thief, and land pirate. The reference to “pirate sentries” in panel 8 on page 13 is repeated in panel 4 on page 23 (cf. Figure Three), where the depiction of historical lynch mob justice (cf. Arellano 2012) makes the informed reader aware of the thematic implications for the main plot: is the ‘justice’ meted out by the vigilant super-“heroes” in 1980s America as wilful and unjust as that witnessed in the subtext? Unlike cliffs, beaches form parts of shorelines that humans coming from the sea can use to enter a landmass. Beaches are therefore zones of potential intercultural contact and conflict (cf. Brewster 2003), and in the last panel of page 13 the frontier violence on the beach is both mirrored and contrasted with a conflict on distant shores that is all too close to home (America) as it threatens to escalate in nuclear disaster. Narratologically speaking, this piece of information is on the same level as the Black Freighter story: it is a newspaper headline that is only partly readable for us, but like a historian interpreting his data we infer the missing letters. The headline is printed in bold terms, making it no less sensationalist and “cheap” than the Black Freighter tale. The newspaper article makes us wonder how the concepts of vengeance and retaliation might be connected. It is read by one of the minor characters in the main storyline, who has more information than we do: he gets a fuller picture of the sit-


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uation in Eastern Europe than us. In the same panel, in the right-hand corner, we can see the person reading the pirate comics: both readers share the same plain of (un)reality – after all, we’re reading a comic book whose layers are equally fictitious for us. Watchmen continually forces the reader’s focus to shift. We find it difficult to tell which storyline is truly relevant, which piece of pictorial or linguistic information needs processing first, what can be disregarded. It thus challenges a simplistic prioritization and selective amplification of information common to political slogans and commercial advertising – examples of which can be found in the text itself, often by studying the panels closely. One strategy used to achieve this effect on the reader is the juxtaposition of sequentiality and simultaneity in ways that are unique to a medium such as comics combining narrative and pictorial elements.

Figure Two: Examples of embedded and matrix narratives in Watchmen (chapter X, pp. 12–13). Photo credits: © 1986 DC Comics. Watchmen and all related characters and elements are trademarks of and © DC Comics. © 2009 Warner Bros. Entertainment Inc. All rights reserved.

While we’re reading page 12 of chapter X (Figure Two), our mind is bent on reading part of the story someone else is reading. Put differently, we’re “inside” the comic (the Black Freighter tale) that is read by a minor unnamed character in the comic (Watchmen) that we think we’re reading. For the moment, this embedded narrative constitutes “absolute reality” for us before this illusion is shattered by the intrusion of a different layer of (un)reality: A speech bubble in the first panel on p.13 “intrudes” into the Black Freighter story. It belongs to the newsvendor, and its content is unrelated to what has gone before. Or is it? What we also see in the same panel is one of the newsvendor’s regular customers, smoking and reading the Black Freighter comics.


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Figure Three (clockwise from upper left): Vigilante lynching, Krystalnacht concert, Martian (sur)face in Watchmen. Photo credits: © 1986 DC Comics. Watchmen and all related characters and elements are trademarks of and © DC Comics. Smiley Logo: ™ The Smiley Company. © 2009 Warner Bros. Entertainment Inc. All rights reserved.

We realize that our mental representations were conflated on page 12: we saw and read just what he saw and read, no more or less. For that duration, he was our perceptual anchor and vantage point, but now we see its limitations. Other than in a strictly sequential narrative, where every part of the story would be presented one piece at a time, one after another, the mental representation of the customer character reading the Black Freighter story does not end with the intrusion of the new layer of narrative (the reality he is situated in) on top of page 13. In Watchmen, the moment of transition between different layers of graphic narration is always ambiguous. What happens in those panels situated at such transition points can be interpreted as simultaneously taking place in or referring to each respective layer of (un)reality. The neat idea that it is in “the limbo of the gutter” – the white space between two comics panels – that “human imagination takes two separate images and transforms them into a single idea” (McCloud 1993, 67, italic deleted) to achieve plot coherence is rendered problematic. Page 12 ends with captions in which the protagonist of the Black Freighter story narrates that “this took considerably longer than I had anticipated.” Panel 1 on the next page shows a speech bubble that at first glance seems to continue this line of thought (“Y’know, I didn’t expect all this to take so long …”) but in fact belongs to a different speaker situated in a different layer of “reality” whose reference point isn’t the strangling of a woman but the vague fear of atomic annihilation. Over the course of page 13, the two layers of narrative continue zooming into and out of focus. The bottom of page 13 again is ambiguous: “Two figures had ridden here, now two rode back” on the one hand refers to the cyclists that can be seen approaching in panels 1 and 3, purchasing a magazine in panels 5 and 7, and receding into the background in the last panel on page 13. This


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event takes place on the plane of “reality” of the newsvendor and his customers. Yet the sentence can also be read as an explication of an earlier sequence of events taking place in the embedded narrative of the pirate story where we see two horse riders approaching. The activities of riding a bike and riding a horse seemingly become connected through the polysemy of the verb. “Seemingly” is the crucial word in this context. It is our innate sense of plot that lets us make these connections. As in our example of the king and queen’s deaths, the sequences of events aren’t logically connected – nor can they be: they take place in different eras and places. In the scene that follows superhero Nite Owl almost strangles a suspect when he and Rorschach follow a red herring. This creates a moral dilemma that lets us recall the need for the historian’s “moral reckoning with the past” and unflinching “celebration of a particular political standpoint” (Fulbrook): lynching and strangling may be extreme results of taking the law into your own hands, but isn’t that a “good thing”, perhaps, so long as it targets “bad” people? Clearly, the couple murdered in the Black Freighter story were “innocent” and “undeserving” of meeting a violent end, but how about the ponytailed suspect who is a fan of the right-wing rock band Pale Horse? As the doomsday clock strikes midnight at the beginning of the apocalyptic chapter XII many carefully interwoven strands of (hi)story are starting to reveal an intricate picture: The supporting act for Pale Horse’s Madison Square Garden concert is called Krystalnacht, an overt reference to the Reichskristallnacht (Night of Broken Glass) on the night of November 9–10, 1938. The concert ends in heaps of broken glass and corpses (Figure Three). The scene visualizes the outcome of the extremist politics of former Watchman Adrian Veidt who, drawing conclusions from utilitarian premises, kills millions to save billions. On the next pages, history and philosophy are run into Greek mythology and consumerism when amidst the rubble an advertisement announces “Promethean cab company: Bringing light to the world” – an ironic allusion to the futility of giving to “man all the arts and sciences as well as the means of survival” (Encyclopaedia Britannica). The writing on a toppled bus refers to the “Gordian Knot” that was untied by the future conqueror of Asia, Alexander the Great – role model of the fascistic Veidt. The knot symbolizes the reading process, and the challenge it poses for anyone trying to disentangle the intertwined strands of histories and stories. Like all literature worth reading, the revisionary graphic novels of the 1980s and 1990s ask us to be empathic, to imagine what the world looks like from someone else’s viewpoint. At times, this gets us on a slippery slope where we may find good reason for rejecting the other’s worldview. Yet the endeavour is worth the effort, for the experience may transform us. In Watchmen, after an episode set on Mars, we think we can detect a gigantic smiley on the surface of the Red Planet (Figure Three) – but is it really there or just an impression “forced on us” by our perception of the many smileys dispersed throughout the book? As the image fades from view, the superhuman Dr. Manhattan narrates: “We gaze continually at the world and it grows dull in our perceptions. Yet seen from another’s vantage point, as if new, it may still take the breath away” (chapter IX, p. 27).


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Paolo Caneppele/Günter Krenn

Kurze, aber nackte Geschichte der Malerei in den Comics Milo Manaras „A riveder le stelle“ Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/575

Abstract Paolo Caneppele und Günter Krenn untersuchen in ihrem Beitrag wie Kunst- und Filmgeschichte bei Milo Manaras in der Ikonografie von Comics verarbeitet werden. Dabei ist es ihnen darum zu tun, die Formprinzipien von Comics – nicht zuletzt in Erinnerung an Sandro Botticelli – eingehend zu diskutieren. Short, but stark stories of paining in comics. Milo Manaras’ “A riveder le stelle.” In their contribution, Paolo Caneppele and Günter Krenn examine how art and film history are used by Milo Manaras in the iconography of comics. They aim for a close examination of the formal principles of comics – not least remembering Sandro Botticelli.

1. Einleitung Wo ist dein Pinsel, Botticelli? Kam Venus’ Liebreiz muschelher Hebt sich das Land im Lichte, schwer Aus Arbeitshänden, ölgepeinigt Des finstren Amboß-Heers. Jaroslav Seifert, Frühling 1935 Die sechs Buchstaben seines Familiennamens, mit denen er gerne in Zweiergruppen unterteilt seine Werke signiert, sind längst zur Trademark manieristisch-lustbetonter Frauendarstellungen geworden. Maurillo, besser bekannt als Milo Manara, geboren am 12. September 1945 in der Südtiroler Gemeinde Luson/Lüsen, begann seine Karriere als Maler und Werbegrafiker. Ab 1968 arbeitete er anonym für die Jolanda-Serie der italienischen Comic-Zeitung Fumetti neri und erlangte 1976 mit Le Singe/Der Affenkönig internationale Beachtung. Manara war in allen Comic-Genres tätig, von Noir über Abenteuergeschichten bis hin zu Erotika, auf die er sich – bekannt für seine verführerischen „donnine“ – spezialisiert hat. Ein großer kommerzieller Erfolg auf diesem Gebiet war Il gioco/Le Declic/Außer Kontrolle (1982), das 1985 auch verfilmt wurde. Milo Manara illustrierte Geschichten nach Szenarien von Hugo Pratt, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband: Tutto ricominiciò con un’estate indian/Indianischer Sommer (1983) und El Gaucho (1992), sowie zwei Bände nach nicht realisierten Drehbüchern von Fe-


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derico Fellini. Der populärste davon wurde Viaggio a Tulum/Die Reise nach Tulum, nach einem Film, den Federico Fellini nicht mehr gedreht hat (1994). Fellini hatte 1986 damit begonnen, Texte zu seinem geplanten Filmprojekt Die Reise nach Tulum im Corriere della Sera zu veröffentlichen, versehen mit dem erklärenden Untertitel: Zum erstenmal spricht der große Regisseur über seinen nächsten Film. Auf Fellinis Wunsch wurden die Kolumnen von Milo Manara illustriert, der daraufhin seinerseits dem Regisseur anbot, aus der Textvorlage einen Comic zu machen. Der zweite Comic nach Fellini war 1995 Die Reise des G. Mastorna. Zu den bekanntesten Figuren unter Manaras Eigenkreationen gehört Giuseppe Bergman, in seinem Aussehen unverkennbar dem jungen Alain Delon nachempfunden, der 1978 in A Suivre debütierte und zum Protagonisten einer eigenen Reihe wurde: „Bergman geht im Auftrag eines Medienkonzerns, der gegen Überlassung aller Auswertungsrechte die Spesen trägt, stellvertretend für die werktätigen Massen auf Abenteuerreise, nur um am Schluß festzustellen, daß das größte Abenteuer im eigenen Kopf stattfindet.“1 In den Bergman-Comics gehören Kunstzitate zu den bewährten Stilmitteln, reale Figuren aus der Film- und sonstigen Welt mischen sich in die Handlung. Natürlich zeigt sich ein Zeichner wie Manara beeinflusst von den Meistern der Kunstgeschichte, durchaus in doppeltem Sinne, wie zu demonstrieren sein wird, und lässt dies in seine Arbeiten einfließen. Das Spiel von Verspiegelungen und Zitaten hat Manara freilich nicht erfunden, er konnte auf eine Tradition zurückgreifen, die bereits etliche Comic-Zeichner vor ihm begannen. Die interessantesten Beispiele finden sich bei Manaras Landsmann Guido Crepax.2 Wie niemand vor ihm, suchte der Mailänder Künstler Inspirationen aus Film, Musik, bildender Kunst und Literatur in seine Geschichten einzubauen und schuf, ohne jemals in bloße Nachahmung zu verfallen, dadurch ein eigenes, unverwechselbares Universum.3 Die Ikonografie von Crepax’ Tafeln zitiert einige der bedeutendsten Maler. Seine Heldin Valentina betritt – im wahrsten Sinn des Wortes – das Sujet von Picassos Demoiselles d’Avignon, verliert sich in einem Kandinsky-Bild oder erläutert Yves Kleins Technik. In La calata di Mac Similiano XXXVI verwendet er Zitate aus verschiedenen Kunstepochen, etwa mittelalterliche Hinrichtungsszenen von Albrecht Altdorfer oder Jacques Callot neben Goyas Los Fusilamientos; Delacroix’ Die Freiheit führt das Volk inspirierte das Titelbild, die Schlachtszenen erinnern an Paolo Uccello. Nach dem Vorbild von Crepax werden Kunstzitate auch für Manara zu Instrumentarien, etwas bereits Bekanntes neu darzustellen, indem er wie ein versierter Regisseur bei der Inszenierung eines traditionellen Stückes verfährt.

1

Knigge, Andreas (1996): Comics. Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer, Reinbek bei Hamburg: Rohwolt, 291. 2 Zu Crepax siehe: Caneppele, Paolo/Krenn, Günter (1999): Film ist Comics. Wahlverwandtschaften zweier Medien. Die Projektionen des Filmstars Louise Brooks in den Comics von John Striebel bis Guido Crepax, Wien: Filmarchiv Austria. 3 Diese Affinität bemerkte auch Karl Riha, der eine Tafel von Crepax verwendete, um die Verwandtschaft mit Künstlern wie Roy Lichtenstein zu zeigen, in: Zimmermann, Hans Dieter (1975): Comic Strips. Vom Geist der Superhelden, München: dtv, 28. In seinem grafischen Stil weist Guido Crepax vor allem in seinen Anfängen hohe Affinität zum Detailreichtum des Jugendstils und den plakativen Bildflächen der Pop-Art auf.


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2. Ein sehr individueller Kunstführer Manchmal gehen die Arbeiten der Zeichner über eine bloße Interaktion von Comics und Malerei hinaus. Ein regelrechter kleiner Kunstführer findet sich in Milo Manaras Geschichte A riveder le stelle. Le avventure metropolitane di Giuseppe Bergman/ … Zu schaun die Sterne.4 Über die Entstehung erzählt Manara: „Ich sprach mit Fellini darüber, denn ich wollte den Stoff als Zeichentrickfilm realisieren. Oder besser gesagt: Ich suchte nach einer Idee für einen Zeichentrickfilm und mir fiel nichts Besseres ein, als ein Kunstwerk, in dem sich meine Hauptfigur bewegt. Ich hatte die van Gogh-Episode im Film Yume: Akira Kurosawa’s Dreams gesehen und mir dabei gedacht, es wäre besser gewesen, wenn auch die Hauptfigur [Martin Scorsese, Anm.] dabei keine reale Person, sondern im Stil der Bilder gemalt gewesen wäre. Kurosawa verwandelte ein Bild von van Gogh in ein Kinobild. Ich wollte das Gegenteil: Eine gezeichnete Figur schaffen, die in Bilder hineingeht. A riveder le stelle ist praktisch das Storyboard für einen Zeichentrickfilm. So dachte ich wenigstens zu Beginn. Ich schlug die Geschichte der Zeichentrickfirma France Animation vor, als Regisseur stand Roman Polanski zur Verfügung, die geplante Länge sollte über 90 Minuten gehen. Ich traf Polanski mehrmals in Paris wegen des Projektes. Wir hatten schon begonnen, die erste Sequenz war bereits abgedreht. Dann stiegen die amerikanischen Partner an der Produktion wegen Problemen mit Polanski aus. Polanski ärgerte sich sehr darüber. Es gibt mehrere Interviews in der Presse, in denen er sich gegen die Amerikaner wegen ihres Ausstiegs äußert, über den Film und mich redet. Bis heute stagniert das Projekt, aber es ist nicht vom Tisch.“5

Abb.1: Milo Manara: A riveder le stelle. Le aventure metropolitane di Guiseppe Bergman. Milano: Mondadori 1999. © Arnoldo Mondadori Editore S.P.A., Milano 1999. 4 Manara, Milo (1999): A riveder le stelle, Mailand: Mondadori. Die erste deutsche Ausgabe betitelte sich 1998 … Zu schaun die Sterne, München: Schreiber & Leser. Im Rahmen der Milo Manara Werkausgabe erschien die Geschichte 2013 erneut als Nummer 10: Die Reisen des G. Bergmann – Zu schaun die Sterne – Die Odyssee des Giuseppe Bergmann, Stuttgart: Panini Manga und Comic. 5 Interview mit Milo Manara vom 11. Juni 1999, geführt von Paolo Caneppele und Günter Krenn.


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3. Reconstructing Sandro „Körperliche Materie, die sich in einer Umrißlinie verzehrt, wie ein Lebenselexier, das sich unaufhaltsam über den Rand einer magischen Phiole ergießt“6 – das wurde nicht über Manara geschrieben, sondern über einen Maler, den er manchmal zitiert und an dessen Vorliebe für einen bestimmten Frauentypus als Hauptmodell auch der Modus Operandi Manaras erinnert: Sandro Botticelli. Auf dem Titelbild der ersten deutschen Ausgabe von A riveder le stelle / …Zu schaun die Sterne sieht man daher eine Montage aus La nascita di Venere/Die Geburt der Venus, in die Manaras Frauenmodell eingefügt wurde. In der italienischen Buchausgabe von 1999 verzichtete man auf das klassische Ambiente, das sowohl das Auge des Betrachters fesseln als auch den kulturellen Kontext, in dem das Werk steht, a priori manifestieren sollte. Der Schutzumschlag der italienischen Version zeigt das ekstatisch-expressive Frauengesicht der Heldin, das der Leser schließlich als drittletztes Panel der Geschichte wiederfindet. Erst auf dem inneren Titelbild sieht man das Mädchen in der Venus-Pose, jedoch vor schwarzem Hintergrund, ohne Botticelli-Kulisse, die einzufügen offensichtlich südlich der Alpen als allegorischer Pleonasmus empfunden wurde.7 Die Zeichnungen erinnern an Stummfilmästhetik: Schwarz-Weiß mit Viragen8, die aus Sepia-, Violett-, Rosa- und Grautönen gemischt sind. Die Handlung der Geschichte ist einfach konstruiert: Wir befinden uns auf einem der Schauplätze von Fellinis Film La Voce della Luna/ Die Stimme des Mondes. Ein sterbender Junge überträgt Giuseppe Bergman die Aufgabe, sich um ein namenloses Mädchen zu kümmern. Das enigmatische Geschöpf introduziert sich ohne weitere Erläuterungen selbst. Als Zentrum einer perspektivischen Flucht, gebildet von einem für die Emilia Romagna typischen Heuspeicher mit hohen Rundbögen, steht sie langbeinig, mehr offenbarend als verhüllend bekleidet da, die Hände in den Bund ihrer hautengen Leggins verkrallt. Ihre Frage „Kommst du mit ins Spielzeugland?“ scheint sich zunächst an den Leser zu wenden, auf dem nächsten Bild sieht man sie jedoch an Giuseppe Bergman adressiert, der vor ihr steht. Sie verwechselt Bergman mit Lucignolo, einer Figur aus Carlo Collodis Pinocchio. Manara vermengt hier willkürlich, denn in Collodis Geschichte macht Lucignolo Pinocchio das Angebot, mit ins Spielzeugland zu kommen. Hier bietet das Mädchen, das optisch eher an die gute Fee in der Geschichte erinnert, in der Person Pinocchios Bergman/Lucignolo die Reise an. Die deutsche Übersetzung löste das Problem mit der zwar zum Buch gehörenden, aber hierzulande praktisch unbekannten Figur des Lucignolo, indem man die genannte Person in „Jiminy“ umbenannte. „Jiminy Crickett“ ist der für die Walt-Disney-Fassung des Werkes erfundene Name für Pinocchios Freund, die Grille. Plötzlich ist die Unbekannte verschwunden und hinterlässt das einzige Objekt, das sie mit sich führt, einen reich illustrierten Kunstgeschichteband. Die aufgeschlagene Seite zeigt das Bild der ertrunkenen Ophelia von John Everett Millais aus dem Jahre 1852. Der sterbende jun6 Longhi, Roberto (1996): Kurze, aber wahre Geschichte der italienischen Malerei, Köln: Dumont, 147. 7 Botticellis Bilder wurden ob ihrer Bekanntheit und ihrer zeitlosen Symbolsprache auch mehrfach für Werbegrafiken genützt. 2000 bediente sich auch eine österreichische Joghurtmarke dieser Motive. Die Autoren dieses Beitrages überlegen daher eine künftige Modifizierung desselben: „Kurze, aber süße Geschichte der Malerei in den Joghurts“. 8 Unter „Viragieren“ versteht man das in der Stummfilmzeit übliche Einfärben von Schwarz-Weiß-Filmmaterial, bei dem die Kader sequenzweise in bestimmten, zur jeweiligen Stimmung passenden Farben koloriert wurden, etwa in blau für Nachtaufnahmen, rot für Feuerszenen etc.


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ge Mann aus dem Introitus der Geschichte herrscht Bergman an, sofort einen Teich zu finden, denn sonst würde das Mädchen ertrinken. Dem ob der Auskunft Verwirrten wird erklärt, die Namenlose erlebt jeweils, was sie auf dem Bild sieht, indem sie empathisch nachempfindet, was dort abgebildet ist. Tatsächlich findet Bergman die Fremde in der Pose Ophelias langsam in einem Gewässer versinkend und, um das Bild beinahe überzukomplettieren, aus Shakespeares Hamlet zitierend. Manara hat seinen Bergman zuvor ein paar Informationen mit einer Bildbeschreibung geben lassen: „Ophelias Tod von Millais. Ein Präraffaelit … Ein Mädchen, das in einem Teich mit Blumen ertrunken ist.“ In seiner Zeichnung wählt der Zeichner zunächst denselben Blickwinkel wie der Maler, gestaltet jedoch die Fauna rund um den Körper etwas verdorrter als bei Millais, der sich 1852 nach den Angaben Königin Gertruds in Shakespeares Schauspiel leiten ließ: Es neigt ein Weidenbaum sich übern Bach Und zeigt im klaren Strom sein graues Laub Mit welchem sie phantastisch Kränze wand Von Hahnenfuß, Nesseln, Maßlieb, Kuckucksblumen9

„Gib mir mein Buch!“, fordert das Mädchen, nachdem Bergman sie aus dem Wasser gezogen hat und sie in die Realität zurückzubringen versucht, „ich will wissen, wer ich bin.“ Bergman kontert: „Wer du bist, kann ich dir sagen. Ein Mädchen, das in Behandlung gehört. Sofort.“ Das Mädchen beharrt darauf, ohne dieses Wissen nicht leben zu können, und gibt sich sicher, die Antwort in dem Buch zu finden. Während Bergman auf einem Arzt beharrt, setzt bei der Frau die nächste Transformation ein. Durch den in der Welt der Fotografie inflationär benutzten Wet-T-Shirt-Effekt eingeleitet, fällt eine weitere Verwandlung etwas leichter. Mit sehr sinnlichen Bildern, die den vollen Mund des Mädchens zeigen, in den sie ihren Zeigefinger schiebt, um schließlich an ihrem Daumen zu nagen, begleitet Manara einen Text, der wie ein Quiz das folgende Bild introduziert. Pferdehufe in Fontainbleau werden angesprochen, Henri, der von der Jagd zurückkehrt, Gabrielle, die Schwester, mit der das Mädchen ins Bad steigt … Um die – für die Kunstkenner bereits eindeutige – Pose, die das Mädchen eingenommen hat, richtig zu deuten, blickt Bergman in das aufgeschlagene Buch und sieht: Gabrielle D’Estrées und eine ihrer Schwestern, das Doppelbildnis eines Meisters aus der Schule von Fontainbleau um 1594, das dank seines rätselhaften Inhalts breite Bekanntheit erlangt und immer Anlass zu Interpretationsversuchen gab. Die Vorlage dafür ist ein Bild von François Clouet, das die Geliebte Heinrichs IV., Diane de Poitiers, im Bade darstellte.

4. „Die Bilder finden mich“ Ab diesem Moment verliert die eigentliche Handlung an Bedeutung und wird von den im Kunstgeschichtsbuch gesehenen Bildern (vor)bestimmt. Um das Geschehen voranzutreiben, wechselt Manara den Schauplatz. Es kommt – wie in der eingangs zitierten Buchvorlage von Pinocchio – eine von Eseln in Stiefelchen gezogene Kutsche (zumindest sieht das Mädchen ein solches Gefährt, für Bergman ist es ein schlichter Linienbus), mit der/dem sie schließlich das „Spielzeugland“ erreichen. Manara entwirft auf einer ganzseitigen Tafel ein architektonisches 9 Shakespeares dramatische Werke (1979): Band I, Romeo und Julia, Hamlet, Othello, Basel: Diogenes, 203.


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Babylon der Postmoderne, das einige der wichtigsten Baustilzitate anachronistisch in sich vereinigt (man erkennt den Peters- und den Kölner Dom, das Pantheon neben Gebäuden aus Indien, China, Mexiko, Italien, Griechenland unter riesigen anonymen Wolkenkratzern). Die Tafel variiert Fritz Langs Zukunftsvision von Metropolis sowie Stiche von Giovanni Battista Piranesi. Auf der Suche nach Pinocchio entwischt das Mädchen Bergman, als er aber das aufgeschlagene Buch mit Manets Le déjeuner sur l’herbe/Das Frühstück im Grünen (1863) findet, ist ihm klar, dass er sie in einem Park zu suchen hat und er sie nackt vorfinden wird. In der Pose des französischen Modells sitzt sie neben zwei Rockern, die sie in ihrer Fantasie für den Fuchs und den Kater hält, womit Manara sein Pinocchio-Zitat abrundet. Um den beiden Fremden das seltsame Benehmen des Mädchens zu erklären, schlägt Bergman das Buch auf und wählt ein willkürliches Beispiel daraus: Susanna im Bade – ohne zu bedenken, dass er damit die nächste Verwandlung vorbestimmt. Nachdem das Mädchen sich vor einigen Greisen im Park des ihr von Bergman umgehängten Hemdes wieder entledigt und ein Bad nimmt, lässt Manara seine Protagonisten insgesamt siebzehn Variationen des Bildes dem Leser vorführen und teilweise erläutern. Er dürfte damit so manchen Kunstführer zu diesem Thema bei Weitem übertroffen haben.

Abb. 2: Milo Manara: A riveder le stelle. Le aventure metropolitane di Guiseppe Bergman. Milano: Mondadori 1999. © Arnoldo Mondadori Editore S.P.A., Milano 1999.

Für die Männer – und für den Leser – erklärt Bergman Sinn und Aufbau des Bildes, nennt verschiedene Beispiele der zahlreichen Interpretationen dafür, etwa von Jacopo Tintoretto, Franz von Stuck, Gustave Doré, Jean-Baptiste Santerre, Paolo Veronese, Antonis van Dyck, Lorenzo Lotto. In Bergmans Deutung wird dem Motiv der badenden Susanna abseits der Pose viel Positives abgewonnen, er spielt auf den Trost des Alters beim Anblick des jungen Frauenkörpers an. Tatsächlich reagieren die Greise freundlich auf das Mädchen, erst als Bergman die letzten Bilder – van Dyck und Lotto – aufschlägt, deren Susanna sichtlich in Bedrängnis gerät, verkehrt sich die Stimmung der Betrachter ins Negative und Bergman muss das Mädchen wieder einmal retten. „Such Dir Deine Bilder demnächst besser aus, kleine Närrin!“, empfiehlt er, doch das Mädchen beharrt: „Ich suche sie nicht aus … Sie finden mich!“ Wieder sieht sie in das Buch, erstarrt ihr Gesicht zu einer Transformation, sie fantasiert von Flucht. Unmittelbar darauf werden die beiden von einer fanatischen Menschenmenge ge-


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trennt, die „Liebe und Geld!“-Parolen skandierend einer Veranstaltung zueilt, die Manara als unverhohlene Berlusconi-Parodie („Es lebe unser Führer, unser Milliardär!“) gestaltet. Bergman studiert das Buch und findet eine Abbildung von Botticellis Nastagio degli Onesti. Das Gemälde entstand 1483 unter Mitarbeit seiner Gehilfen Bartolommeo di Giovanni und Jacobo del Sellaio für den Medici Lorenzo il Magnifico und illustriert die Boccacchio-Novelle Die gespenstische Mädchenjagd aus dem Decamerone, in der ein Toter aus dem Jenseits zurückkehrt, um sich an einer Frau zu rächen, die ihn als Freier abwies. Auf seinem Pferd verfolgt er die Flüchtende, seine Hunde zerfleischen schließlich das Mädchen. Das vollzieht sich beinahe auch in der Realität. Von den beiden Rockern drangsaliert, erreicht das Mädchen gejagt und zerschunden die Tafel eines Banketts, wo sie ihr schmerzvolles und letales Ende – getreu der Vorlage – erwartet. Bergman reißt die Malträtierte mühevoll aus ihrem Traum, doch beide werden von der Polizei wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses aufgegriffen und verhaftet. Bergman landet in einer Zelle, währenddessen wird die Frau verhört, desinfiziert, ebenfalls inhaftiert und sie erhält ihr Buch zurück. Das ist für sie gleichbedeutend mit Freiheit, denn: „Mit meinem Buch kann ich überall hin.“ Ihr Eskapismus führt sie über ein Wandgemälde von Pompeij nach Knossos in den Palast von König Minos und seiner Gemahlin Pasiphaë, deren Rolle sie übernimmt. Mit nun schwarz gefärbtem Haar durchlebt sie die amouröse Episode dieser Tochter des Helios mit einem weißen Stier, die zur Geburt des Minotaurus führen sollte. Einige Tafeln mit dem sagenumwobenen Stier wirken wie eine Reminiszenz aus Fellinis Film Amarcord. Als die Polizei sie mitten in ihren obskuren Fantasieträumen auffindet, entlässt man die Frau, die Bergman ein paar Blätter aus dem Buch – wie eine Fährte – zurücklässt: Abbildungen von Botticellis Illustrationen zu Dante Alighieris Inferno, was Bergman vor das Problem stellt: „Wo finde ich heute die Hölle? Oder etwas Ähnliches, wo das verrückte Ding hingeraten sein könnte?“

5. Die einzige moderne Hölle Auf sieben Tafeln zeigt Manara Variationen von Botticelli und Doré, dazwischen mischt er Bilder des Mädchens, das sich in ähnlich düsterer Umgebung zu befinden scheint. Manara nützt wieder die Zeit für Kommentare: „Das ist die Hölle mit all ihren Qualen und Foltern für die Verdammten. Botticelli hat sie kurz vor seinem Tode gemalt, in seiner düsteren Periode nach Savonarolas Martyrium.“ Tatsächlich entstanden Botticellis Inferno-Illustrationen vermutlich 1481–84. Man weiß, dass er zum Entwurf einen weichen Metallstift verwendete und den Großteil der Blätter mit schwarzer und brauner Tinte ausführte, manche davon auch kolorierte. Sie illustrierten eine handgeschriebene Ausgabe der Divina commedia für Piero Francesco de Medici.10 Das letzte Bild zeigt eine der berühmtesten Passagen der Divina commedia: Paolo und Francesca inmitten der Verdammten. Inzwischen ist auch das Mädchen in dieses Bild eingetreten. Die Verse aus der Göttlichen Komödie werden von der vermeintlichen Francesca, die nackt in Paolos Armen liegt, mit einem jähen Illusionsbruch unterbrochen: „Wenn der Kerl mich weiter betatscht, kann ich nicht spielen.“ Manara löst damit das Rätsel der pittoresken Szenerie: Es sind Schauspieler, die das Mädchen betrachtet, die eine Episode aus dem 10 Dante (1974): Die Göttliche Komödie. Mit fünfzig Zeichnungen von Botticelli. Deutsch von Friedrich Freiherrn von Falkenhausen, Frankfurt/M..: Insel .


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Inferno darstellen. Um die Verwandlung in die „Hölle“ plausibel zu gestalten, lässt der Zeichner den Betrachter erkennen, dass sich das Mädchen auf einem Film-Set befindet, und verbindet damit die Welt der gemalten Bilder mit jener der bewegten Bilder. Das Mädchen versteht nicht, dass es sich in einer kinematografischen Szenerie befindet und wird von den Bildern verwirrt. Ein Mensch, der die Welt nur über auf Öl fixierte Bilder wahrnimmt, kann offenbar nur durch „lebende Bilder“ getäuscht werden. In einer Drehpause freundet sich das Mädchen mit einem als Hermaphrodit maskierten „Höllenwesen“ an, das ihm versichert, die „Hölle“ hier wäre nicht real und hielte keinen Vergleich mit dem stand, was sich tatsächlich in der Welt ereigne. In einer Traum und Realität metaphorisch verbindenden Szene schwebt das Mädchen auf dem Rücken des Wesens hoch über Filmszenerien in Ruinenbögen und mit Tierdekorationsköpfen in Art-deco-Manier auf eine hell erleuchtete Großstadt-Skyline zu – eine Kombination, die unwillkürlich an Batmans Gotham City erinnert. Währenddessen erfährt Bergman per Zufall, dass in der Cinecittà ein Film über Dantes Inferno gedreht wird, worauf sich für ihn die Frage klärt, wo er die Hölle – und damit das Mädchen – zu suchen hat, in der „Hölle aus Pappmaché! Die einzige moderne Hölle!“ Doch das Mädchen wird währenddessen mit einem Inferno ganz anderer Art konfrontiert. Aus all den ikongrafischen Allegorien heraus, in die es sich zu flüchten versuchte, konfrontiert die Statistin sie mit der Realität: Wirkliche Menschen, die geschunden und geschlagen werden, eine Autobombe, die einen Autobus mit Unschuldigen zerreißt, „um wer weiß was zu demonstrieren …“. Die Fahrt durch die piktorale Geisterbahn soll belegen: Auch nach dem Holocaust hat sich nichts am animalischen Gebaren der Spezies Mensch geändert, „da wird vergewaltigt, geraubt, gemordet und gequält. Kinder, Frauen, Alte werden massakriert, in Europa, Afrika, Asien, Amerika.“ Nach zwei realistischen Katastrophenbildern kreiert nun auch Manara eine an Alfred Kubins Zeichnungen erinnernde Allegorie. Menschen, klein wie Ameisen, auf der Flucht vor einem überdimensionalen Wesen, das seinen Rachen mit scharfen Zähnen weit geöffnet hat und Leichenberge in sich trägt, die seinen Leib wie zu einem Relief marmorieren. Das nächste Bild beschwört die bekannte Fotografie eines nach einer Ölpest im Schlamm erstarrten Seevogels, im Hintergrund explodiert eine Atombombe. Wesen in Anzug und Krawatte brüten, ein Cognac-Glas in der Hand, neues Unheil aus, ihre Köpfe sind die von Haien. Es gäbe nur eine Art, aus dieser Wirklichkeit zu fliehen, meint die Statistin zu dem Mädchen: den Tod. Nach den Höllenreisen in diese Bilder des realen Schreckens entscheidet sich das Mädchen also dafür, aus der Welt zu entfliehen. Der einzige Ausweg aus der Realität, der Spielzeug-Welt und der Welt der Bilder, ist der Tod. Auch dafür hat das Zauberbuch die passende Abbildung als Fluchtpunkt: Arnold Böcklins Die Toteninsel (1880). Mit fühlbarer Liebe zum Detail lässt Manara Böcklins Vorlage zur plastischen Szenerie werden. Das Mädchen nähert sich – wie auf dem Bild vorgegeben – in einem Boot der dunklen Insel. Dort findet die Seele unter einem bewölkten Himmel, aus dem es Rosen regnet (wie in Botticellis Geburt der Venus), das personifizierte Pantheon von Milo Manara vor: Als Charon fungiert Groucho Marx – ein Tribut an Fellini, der auf die Frage, wem er nach dem Tode als Erstem begegnen möchte, den amerikanischen Komiker nannte. Ihm folgen u. a. Picasso und Raffael. In ihrer Begleitung ist auch der mittlerweile offensichtlich verstorbene Aidskranke, der das Mädchen zu Beginn der Geschichte in die Obhut Bergmans gab, im Kreise historischer Figuren. Dahinter Manaras persönliche Freunde, die Comic-Zeichner Hugo Pratt und Andrea Pazienza sowie – wieder auf einer Einzeltafel – Fellini.


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Abb. 3: Milo Manara: A riveder le stelle. Le aventure metropolitane di Guiseppe Bergman. Milano: Mondadori 1999. © Arnoldo Mondadori Editore S.P.A., Milano 1999.

Währenddessen findet Bergman in der Realität das tote Mädchen und versucht vergeblich, sie aus diesem letzten Traum zu erwecken. Ein vorbeikommender Graffiti-Künstler bietet sich an, positive Dinge an eine Mauer zu malen, um zu helfen. Bergman kombiniert: „Durch die Kunst ist sie gestorben, warum sollte die Kunst sie nicht zum Leben erwecken?“ Neue Zeichnungen entstehen, an eine Wand gesprayt, die somit den vorher gezeigten bildnerischen Werken gleichgesetzt werden: Motive aus Comics formen „eine schöne Welt, in der sie existieren kann“. Manara lässt den unbekannten Sprayer Motive seiner Freunde und Kollegen als Rettung anbieten. Er zitiert Hugo Pratt (Die Südseeballade, Corto Maltese und die Kelten), Federico Fellini (Motive aus La Strada, Prova D’orchestra, Intervista, La Voce Della Luna)11 und Figuren von Andrea Pazienza12. Die an der klassischen Kunst gestorbene Comic-Figur soll also mittels der von anderen Comic-Künstlern geschaffenen Motive zum Leben wiedererweckt werden. Aber das epigonale Unternehmen gelingt nicht, die Schatten der verstorbenen Meister wirken nicht mehr, die Toten können die Tote nicht auferwecken. Wie in einer homerischen göttlichen Konferenz beratschlagen Pratt und Fellini, sie zu retten, denn sie verabscheuen es, wenn Geschichten allzu traurig enden. Nur ein Lebender kann offenbar das Mädchen zurückholen, Manara wendet sich daher in einer leeren Tafel seiner Geschichte an die Leserschaft, auf diese etwas zu schreiben oder zu zeichnen, um das Wunder zu vollbringen. Durch diesen Kunstgriff wird den Betrachtern ihre aktive Rolle bewusst gemacht: Nur durch das Lesen wird ein Text (wieder) lebendig, nur durch das Betrachten ein Bild. Der Schöpfer hat allerdings das Ende der Geschichte bereits vorweggenommen, auf den letzten drei Tafeln sieht man das wiederauferstandene Mädchen, das nun, im Danteschen Sinne, die Sterne wieder sehen kann, bezieht sich doch der Titel der Geschichte auf die letzten Verse aus Dantes Inferno: 11 Ein Eigenzitat: Manara hat Plakate für Fellinis Filme Intervista (1987) und La Voce della Luna (1990) entworfen. 12 Andrea Pazienza gestaltete 1980 das Plakat zu Fellinis La Città delle Donne.


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Wir schlugen ein dann den verborgenen Gang, Der Herr und ich, zur lichten Weltenseite, Und ohne uns noch auszuruhen lang, So ging es, er der erste, ich der zweite, So lang, bis ich dann, in der Ferne Des Himmels Schmuck durch eines Loches Weite: Dort schritten wir hinaus, zu schaun die Sterne!13

6. Comics und Kunst „Ein Schlußwort? Ich hatte zunächst daran gedacht, aber jetzt verspüre ich wenig Lust dazu“14 – so beendet Roberto Longhi 1914 seine Breve ma veridica storia della pittura italiana/Kurze aber wahre Geschichte der italienischen Malerei. Hat Milo Manara auf seine Art etwas Ähnliches versucht? Statt einer „kurzen, aber wahren“ eine „kurze, aber nackte Geschichte der Malerei“, ist sich doch jeder, der ein Buch von Manara öffnet, des Anblicks nackter Frauenkörper gewiss? Manara kalkulierte zweifellos mit einer Gleichsetzung seiner Kunst – und der seiner Kollegen – mit den tradierten Meisterwerken, in funktionaler Hinsicht geht die Gleichung bruchlos auf. Möglicherweise suchte er Longhis Frage zu beantworten: „Ist denn zu hoffen, daß auch heutztage in Italien wieder ein Künstler geboren wird? Warum nicht? – Aber warum auch? Wie ich euch schon gesagt habe: Das Wesentliche ist nicht, daß es italienische Künstler, sondern daß es überhaupt Künstler gibt. Das Wesentliche! Wäre dies nicht die letzte meiner nostalgischen Wunschvorstellungen, die ich aufgeben sollte: daß sich wenigstens einer von euch nach vierzig Stunden Kunstgeschichte hin und wieder daran zu erinnern meinte, daß es außer Steaks und Zigaretten auch so etwas wie Bilder und Skulpturen gibt. Ich kann nun also sehr viel oder auch gar nichts erhoffen: etwa, daß jemand von euch in wenigen Jahren auf eine intelligentere Weise als ich der niveaulosen italienischen Kunst und Kulturkritik begegnen wird.“15 Das Lapidar-Lässige in Longhis Formulierung klingt bereits sehr verbindend mit Manara. Comics und Kunst, Kunst in Comics ist gerade im deutschen Sprachraum ein nach wie vor nicht spannungsfreies Thema. Für viele Dogmatiker scheint noch zu gelten, was bereits 1969 formuliert wurde: „Der künstlerische Comic ist unter den gegenwärtigen, von einer gerissenen Kulturindustrie dirigierten Verhältnissen kultureller Produktion ein Widerspruch in sich, weil er eben auf jenen massenhaften Konsum verzichtet, dem der normale Comic Strip seine Vitalität verdankt. Wenn Comics sich in Kunst verwandeln, verlassen sie ihre eigentliche Sphäre, verlieren ihr angestammtes Publikum, das problemlose Unterhaltung verlangt. Wer die Comics dadurch vor sich selbst zu retten versucht, daß er sie zum Kunstprodukt veredelt, betreibt naiven Selbstbetrug.“16

13 Dante (1974): Die Göttliche Komödie. Mit fünfzig Zeichnungen von Botticelli. Deutsch von Friedrich Freiherrn von Falkenhausen, Frankfurt/M.: Insel, 155. 14 Longhi, Roberto (1996): Kurze, aber wahre Geschichte der italienischen Malerei, Köln: Dumont, 246. 15 Ebd., 244–245. 16 Pehlke, Michael: Die Zukunft der Comics Strips, in: Zimmermann, Hans Dieter (1969): Comic Strips, Katalog zur Ausstellung in der Akademie der Künste, Berlin: Akademie der Künste, 50.


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In Europa entzündete sich die Debatte rund um den Stellenwert von Comics immer an ihrem Verhältnis zur Kunst. Im Grunde zollte man dem Comic schon eine gewisse Anerkennung, da man es immer mit Kunstdefinitionen aus dem späten 18. Jahrhundert maß, selbst wenn man ihn fast durchwegs für minderwertig hielt. „Der europäische Comic wuchs in den einer pädagogischen Beobachtung unterliegenden Jugendbeilagen und -zeitschriften heran und ist deshalb geprägt von einem bürgerlichen Bildungsideal …“17 Spätestens seit Warhol und Beuys hat sich die Betrachtungsweise von Kunst geändert. Ein wenig ähnelt das Problem dem der Avantgarde. Diese provoziert den traditionellen Kunstbegriff, sucht aber ebenso nach Anerkennung. Anerkennung bedeutet aber auch Wertschätzung und ist „geschätzte Avantgarde“ nicht ein Widerspruch in sich? Funktional muss man feststellen: Manara hat, anders als in anderen Comics üblich, eine kurze, individuelle, leicht verständliche Kunstgeschichte illustriert. Als Transportmittel wählte er eine Story nach der Bauart klassischer Kurzgeschichten, ohne markantes Ende oder Anfang. Natürlich gibt es ähnliche und weiter zurückliegende Beispiele für das plötzliche Versenken in ein anderes Medium, in der Literatur etwa Woody Allens Kurzgeschichte The Kugelmass Interlude, oder im Film beispielsweise den Danny Kaye-Streifen The Secret Life of Walter Mitty (1947) und Spike Jonzes Being John Malkovich (1999). Faktum ist: Manara verleugnet sich in … Zu schaun die Sterne keineswegs, bleibt dem erotischen Genre, das ihn bekannt und (erfolg)reich machte, treu, wodurch die Wahl mancher Sujets vorbestimmt ist. Strukturell folgt er tradiertem abendländischem Kunstgeschichteverständnis, in dem die Renaissance als Herzstück angesehen wird, weil hier die uneinheitliche Stilpluralität des Mittelalters in bindende Schemata kategorisiert wurde. Neue Definitionen von Schönheit und Hässlichkeit forcierten auch das Stilmittel der Karikatur, akzentuieren das Komische und in der Folge Comic-hafte. Roberto Longhi betrachtet Kunst nach drei ideellen Formprinzipien, die er in ihre Entstehung zurückverfolgt: die Idee der Linie bei den Griechen, der plastische Stil der Römer und der Kolorismus von Byzanz. Demgegenüber folgt Manara keinem strukturierten Aufbau, sondern vermengt seine Beispiele mit dem dramaturgischen Fluss einer Geschichte, allerdings so geschickt, dass man nach kurzer Zeit nicht mehr unterscheiden kann, was in seinen Überlegungen zuerst kam. Longhi potenziert Giorgio Vasari mit den von Hegel im deutschen Idealismus aufgestellten Konstanten in der Kunstbetrachtung, Manara, dessen Rezeption in der Postmoderne stattfindet, bedient sich des darin gepflogenen strikten Stilpluralismus, in dem das Abtauchen ins Unerwartete forciert wird. Was ihm dabei hilft, ist, dass er als Künstler nicht theoretisiert, sondern interpretiert, was ihn aber mit Longhi vereint, ist, dass beide die Kunstwerke in eine abstrakte Komposition von Metaphern auflösen, die allerdings Manara dramaturgisch für den eigenen Erzählfluss benützt. Manaras Kategorien werden seiner Handlung gegenüber nie autonom, der piktorale Fluss ist nur als Ganzes konzipiert. Longhi trennt gleich zu Beginn Literatur von den bildenden Künsten und vermag diese Separierung bis zum Ende durchzuhalten: „Während der Dichter die geistige Essenz der Wirklichkeit über den Weg der Sprache gestaltet und verändert, verändert und gestaltet der Maler den sichtbaren Kern ebendieser Wirklichkeit. Die Ziele des bildenden Künstlers beziehen sich ausschließlich auf das Sehen.“18 Bei 17 Knigge, Andreas (1996): Comics. Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer, Reinbek bei Hamburg: Rohwolt, 328. 18 Longhi, Roberto (1996): Kurze, aber wahre Geschichte der italienischen Malerei, Köln: Dumont, 49.


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Milo Manara steht der Maler Botticelli im Zentrum, aber ebenso wichtig ist ihm die literarische Komponente, symbolisiert durch den aus dem Mittelalter in die Neuzeit blickenden Dante. Passenderweise wählte Manara, wie oben angeführt, als erstes kunstgeschichtliches Beispiel Millais’ Ophelia. Interessant ist dabei, dass er die Erwähnung der Zentralgestalt der Präraffaeliten, Dante Gabriel Rosettis, die sich aufgrund des ersten Vornamens des Künstlers für den weiteren Handlungsverlauf angeboten hätte, vermied. Vielleicht hat auch Manara an ein literarisches Schlusswort gedacht, aber ebenso wie Longhi bleibt er es schuldig. Die beiden letzten Bilder sind ohne Text, doch das ausdrucksvolle Gesicht des Mädchens öffnet sich bereits wieder zu einer neuen Geschichte.

Literatur Caneppele, Paolo/Krenn, Günter (1999): Film ist Comics. Wahlverwandtschaften zweier Medien. Die Projektionen des Filmstars Louise Brooks in den Comics von John Striebel bis Guido Crepax, Wien: Filmarchiv Austria. Dante (1974): Die Göttliche Komödie. Mit fünfzig Zeichnungen von Botticelli. Deutsch von Friedrich Freiherrn von Falkenhausen, Frankfurt/M.: Insel. Knigge, Andreas (1996): Comics. Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer, Reinbek bei Hamburg: Rohwolt. Longhi, Roberto (1996): Kurze, aber wahre Geschichte der italienischen Malerei, Köln: Dumont. Manara, Milo (1999): A riveder le stelle, Mailand: Mondadori. Pehlke, Michael: Die Zukunft der Comics Strips, in: Zimmermann, Hans Dieter (1969): Comic Strips, Katalog zur Ausstellung in der Akademie der Künste, Berlin: Akademie der Künste. Shakespeares dramatische Werke (1979): Band I, Romeo und Julia, Hamlet, Othello, Basel: Diogenes. Zimmermann, Hans Dieter (1975): Comic Strips. Vom Geist der Superhelden, München: dtv.


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Eva Horvatic

Rezension: Le Moyen Age par la bande (herausgegeben von Alain Corbellari und Alexander Schwarz) Beitrag online im Ressort Neue Medien unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/568

Abstract Eva Horvatic rezensiert den Band „Le Moyen Age par la bande“ und hebt dabei die ikonische Wichtigkeit des Mittelalters für die Comic-Gestaltung hervor. Dabei werden Comics als komplexe Interaktionsformen verschiedener Codes verstanden. Review: Le Moyen Age par la bande. Eva Horvatic reviews the volume “Le Moyen Age par la bande“ and emphasizes the iconic importance of the Middle Ages for comic design. Comics are understood as complex forms of interaction between different codes. Verlag: Université de Lausanne Erscheinungsort: Lausanne Erscheinungsjahr: 2001 ISSN: 0014-2026

1. Comics und Mittelalter Die geisteswissenschaftliche Fakultät der Universität von Lausanne hat einen Band ihrer Reihe Etudes de Lettres dem Thema Comics gewidmet. Dieser Sammelband in französischer1 Sprache mit dem Titel „Le Moyen Age par la bande“, herausgegeben von Alain Corbellari und Alexander Schwarz, beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Comics und Mittelalter. Hierin ist die grundlegende Hypothese, dass die Comics mit keiner anderen historischen Epoche in so enger Beziehung stehen wie mit dieser Ära. Dies betrifft neben ihrem narrativen Gehalt und ihrer immanenten Struktur, welche sich in ihrer Machart manifestiert, auch ihre Ideologie. Das Werk verfolgt die Intention, neue Erkenntnisse über den Status, die grundlegenden mythologischen Wurzeln und die mittelalterlichen hierarchischen Positionen der Comics zu liefern und entwirft dabei auch eine medienspezifische Epistemologie. Die einzelnen Beiträge zielen darauf ab, Comics als Kunstform zu begreifen, welche nicht nur eine Synthese zwischen Grafischem und Narrativem in sich birgt, sondern auch die doppelte Intervention in sich trägt, das Eigene und das Metaphorische zu repräsentieren. Hierbei spielt das multiple Er-

1

Lediglich der Artikel von Alexander Schwarz ist auf Deutsch.


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greifen der Sinne der RezipientInnen eine entscheidende Rolle, die Schräge eines Blicks, der eine Abkehr von einer Sprache der Zeichen in sich birgt. Danielle Chaperon leitet die Struktur von Comics aus dem Aufbau mittelalterlicher Texte und Schriften folgendermaßen ab: Er zeigt, dass die mittelalterliche Tradition der grafischen Allianz zwischen Anfangsbuchstaben eines Textes und dessen bildhafter Ausgestaltung sowie anderer verzierender bildhafter Elemente eine Weiterführung und Ausdifferenzierung im Comic erfahren, indem dort Text und Bild zwar aufeinander bezogen, aber gleichsam getrennt dargestellt werden. Dies entspricht einer doppelten Ausdifferenzierung im Sinne der Narration: einerseits die Narration in den Bilderabfolgen in Form des Strips, andererseits der Erzählstrang in Sprechblasen und Textkästen, welche als grafische Unterstützung der Schrift angesehen werden können. Somit können mittelalterliche Texte in struktureller Hinsicht als Vorläufer von Comics betrachtet werden. Für die inhaltliche Ebene zeigt Florence Plet anhand der mittelalterlichen Figur des Jongleurs oder Spielmanns, dass Comics zwischen historischer Rekonstruktion und der Schöpfung einer originären Figur schwanken. Der Spielmann, den Plet von der Figur des Barden, Troubadours und Minnesängers abgrenzt, ist künstlerisch multipel. Er beherrscht neben Musikinstrumenten und Gesang auch Tanz und Akrobatik. Zwar besitzt der Spielmann in der mittelalterlichen Vorstellungskraft auch Eigenschaften von Troubadouren, Barden und Minnesängern, doch hat er im Comic zusätzlich die Fähigkeit, immer „auf seine Füße zu fallen“. Gleichzeitig fungiert diese Figur im Comic nun als eine Art Spiegelbild des Ritters, wodurch sie nicht mehr bloß dekorativen Zwecken dient, sondern für die Narration große Bedeutung erhält. Es geht nun um ihre Persönlichkeit. Einige Beispiele solcher Comic-Figuren sind Pfiffikus aus der im Mittelalter angesiedelten Comic-Reihe „Johann und Pfiffikus“ des belgischen Zeichners Peyo2 oder der Barde, Poet und Philosoph Volsungs aus „Roland, Ritter Ungestüm“: Er stammt zwar von Odin ab, ist aber kein Heroe, sondern im Gegensatz zu Roland ein sanftmütiger Mensch, was sich in kämpferischen Auseinandersetzungen immer wieder zeigt. Die historische Rekonstruktion von Figuren liegt auch im Fokus der Betrachtungen von Alain Corbellari. Dass eine solche Rekonstruktion von der Entstehungszeit der jeweiligen Comics abhängt und sich dies nicht zuletzt in den Abbildungen und Darstellungen niederschlägt, dient ihm als Beweis dafür, dass sich im Comic verschiedene semiotische Codes in außerordentlich komplexer Art überlagern. Ausgehend von der Figur des Herrschers als einem präzisen ikonischen Ausgangspunkt, reflektiert Corbellari die Möglichkeiten und Grenzen von Repräsentationen historischer Figuren in Hinblick auf deren Sinnbildlichkeit. Man hat immer wieder darauf verwiesen, dass die Comics als Vorgänger des populären Romans verstanden wurden und ein Bild des Helden aufrechterhalten. Dass zwar gewisse grafische Repräsentationsformen übernommen werden, diese sich aber im Laufe der Zeit verändern, sieht man beispielsweise an Prinz Eisenherz. Während der Titelheld bei Hal Foster seine Frisur noch Jeanne d’Arc verdankt und König Arthus mit seinem wallenden Bart ein mythischer Herrscher ist, greift René Goscinny die Kontinuität des wallenden Bartes für den Herrscher zwar auf, indem er seinen Karl den Großen grade nicht mit einem wallenden Bart ausstattet, sondern mit einem Schnurrbart. Aber auch dieser wird ihm von seinem Friseur abrasiert.

2 Pierre Culliford (1928–1992)


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2. Komplexe Interaktionsformen Durch solche Darstellungen – man könnte sie durchaus als subversiv bezeichnen – wird die Rolle des Herrschers als Herrschender zur Disposition gestellt und in ein neues Verhältnis zu seinen Rittern und Untergebenen gesetzt. (So ist etwa Asterix der Schlaueste in seinem Dorf, der jede Schwierigkeit meistert, Majestix hingegen gleicht eher einer Witzfigur. Er hat zwar Insignien der Herrschaft – er geht beispielsweise nicht zu Fuß, sondern wird auf seinem Schild herumgetragen –, aber diese Insignien dienen eher einer Verunglimpfung seiner Person als der Darstellung seiner Herrscherwürde.) Genau in solchen Darstellungen verortet Corbellari einen Beweis dafür, dass Comics gleichsam als komplexe Interaktionsform der Codes fungieren und eine Umkehr der traditionellen Vorherrschaft des Textes über das Bild repräsentieren. Was die Darstellungen von Persönlichkeiten der Herrscher anbelangt, konstatiert Corbellari eine Tendenz, in der die Präzisierung ihrer zeitlichen Verankerung in den Vordergrund rückt, traditionelle Schablonen einer Herrscherpersönlichkeit aber immer mehr aufgegeben werden. Dies führt zu einer Laisierung der Abenteuer. Ausgangspunkt seiner methodologischen Überlegungen ist, dass seit der Renaissance die Sorge um historische Genauigkeit bezüglich der Darstellung der Vergangenheit Präzisierungsbestrebungen mit sich gebracht hat. Die heute vorherrschende Genauigkeit hinsichtlich der Historizität aber scheint fatalerweise eine Annäherung an das Morgen zu sein: Während Mittelalter-Comics in den 1950er- und 1960er-Jahren noch von einem Heiligenschein des Idealismus durchdrungen waren, besteht heutzutage die Tendenz zur Prosaik. Der mythische König wird gleichsam zu einer neuen Form von ikonografischem Potenzial, dessen Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft sind. Jean-Claude Mühlethaler beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Figur des Herrschers in ganz anderer Hinsicht. Er stellt die Figur des Helden einem Herrscher gegenüber, der das Stereotyp des absoluten Tyrannen verkörpert. Ein solcher Kampf zwischen Gut und Böse hat die Comics immer schon beschäftigt. Dieses Stereotyp lässt sich relativ leicht in die visuelle Sprache der Comics übersetzen. In den Erzählungen von Thorgal Aegirsson, wie sie von Grzegorz Rosinski und Jean Van Hamme realisiert wurden, geht es um einen Helden, der im ständigen Kampf gegen das absolut Böse steht, das sich in der Figur des Herrschers Gandalf manifestiert. Gandalf zur Seite steht die Zauberin Slive. Mühlethaler konstatiert, dass wir heutzutage noch immer Menschen des Mittelalters sind. Wir sind noch immer von der mittelalterlichen Mentalität durchdrungen, die uns beherrscht, weil sich unsere Sensibilität für mythologische Stoffe und für herrschende Machtverhältnisse aus Stereotypien ableitet, die ihre Verwurzelung im Mittelalter haben. Dies zeigt er an der Comic-Reihe „Thorgal“. In diesen Abenteuergeschichten werden historische Persönlichkeiten aus mehreren Jahrhunderten als Vorlagen für tyrannenhaftes Verhalten herangezogen: Nicht in Form einer Reprise der Sage aus dem 13. Jahrhundert wird hier die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich gegen Grausamkeit und Ungerechtigkeit erhebt, sondern als eigenständiger Erzählstoff entwickelt. In den mythischen Verstrickungen, in denen Bezüge zum Verhalten Alexanders des Großen und anderer historischer Persönlichkeiten hergestellt werden, tauchen in Metamorphosen sowohl die Figur des Magiers als auch das Monster auf. Die Verquickung der Narration mit Sagengestalten aus anderen Kulturkreisen zeigt die Auflehnung Thorgals gegen eine Tyrannei, welche in der Nähe von Albert Camus’ „Caligula“ angesiedelt ist, und legt Vergleiche mit historischen Persönlichkeiten wie Hitler und Stalin nahe.


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Die Figur des Thorgal ist das Sprachrohr seiner Autoren, die Geschichte des 20. Jahrhunderts wird mit einbezogen und der Geist des Mittelalters, von den Eroberungszügen der Wikinger bis hin zu den Tyrannen in ihren Sagen, bildet den Hintergrund einer Narration, innerhalb derer die Abenteuer von Thorgal nicht nur bloßes historisches Couleur darstellen, sondern darüber hinaus auch die moralischen Haltungen und Einstellungen der Autoren gegen die Tyrannen der neueren Geschichte widerspiegeln. Ausgehend von der Idee, dass bestimmte Elemente des Vokabulars der Comics nach heutiger Sicht mit dem Mittelalter eng verbunden sind, analysiert Alexander Schwarz die sprachliche Ebene des Comics „Suske und Wiske“ von Willy Vandersteen und vergleicht diese mit jener des mittelalterlichen Vorbilds „Van den vos Reynaerde“ aus dem 13. Jahrhundert, das als Versepos konzipiert ist. Der Vergleich der beiden Werke setzt im Sinne einer Erzählgrammatik bei der Analyse von Satzgliedstruktur und -stellung, Satzgliedinnenbau sowie Wortarten an. Hierbei geht es sowohl um Übereinstimmungen als auch um Differenzen der beiden Fassungen. Schwarz kommt zu dem Ergebnis, dass in besagtem Comic gegenüber dem mittelalterlichen Werk ein Verlust an Differenziertheit in allen drei Bereichen zu verzeichnen ist: Er konstatiert, „dass der vorliegende Comic dem Mickey Maus-Syndrom zum Opfer gefallen ist und sich einem Gegenstand verschrieben hat, der zwar mit seinen Tieren (und seinen mittelalterlichen Burgen, Kleidern und Waffen) vordergründig zum Zeichnen einlädt, aufgrund seiner sprachlich/rhetorischen Form und Thematik aber schlecht für einen Wechsel in ein anderes als ein primär sprachliches Medium geeignet ist“. Dies hat auch Auswirkungen auf die einzelnen Tiercharaktere. Entgegen dem mittelalterlichen Epos bringen Reinaerts Lügen im Comic nun andere Tiere dazu, die Ungerechtigkeiten in ihrer Gesellschaft zu akzeptieren, Reinaert wird vom Lügner zum Katalysator.

3. Heldenfantasien Im letzten Beitrag, welcher von Marc-Antoine Renard stammt, geht es um die Heldenfantasie. Dieses Genre ist in den Comics weit verbreitet. Die Heldenfantasie ist eng verknüpft mit den mittelalterlichen Erzählstoffen. Es handelt sich hierbei um Welten, in denen sich eine bestimmte historische Wirklichkeit mit Klischees und fantastischen Elementen verbindet. Ein Beispiel dafür ist die bereits erwähnte Comic-Serie „Thorgal“. Warum gerade das Mittelalter? Nach Renard gibt es drei Typen der Darstellung dieser Periode: erstens die Anlehnung an die historische Realität, zweitens das Mittelalter als Quelle der Inspiration, und drittens die Verwendung des Mittelalters in punktueller Weise. Die Kluft zwischen dem verherrlichten Rittertum und der historischen sozialen Realität, in der soziales Elend und Heroisierung vor allem des Ritterstandes aufeinandertreffen, eröffnet Möglichkeiten, die gerade für das Comic außerordentlich inspirativ wirken. Das Mittelalter wird zum Ursprung und zur Bühne, auf der sich das kollektive Unbewusste entfaltet und so ins Bewusstsein tritt. Aber die Heldenfantasie siedelt sich nicht nur in einer fantastischen mittelalterlichen Welt an, sondern erzeugt auch etwas Atmosphärisches, wo Götter und Menschen, Kreaturen außerirdischer Art, die dennoch unserem Planeten zugehören, miteinander in Streit geraten. So hat beispielsweise John Ronald Reuel Tolkien, der große Inspirator dieser „Heroic phantasy“ ein ganzes mythologisches Universum eröffnet, in dem verschiedene legendäre Gestalten auftreten. Die Heldenfantasie ist von der Gattung der Science Fiction folgendermaßen abzugrenzen: Während Erstere immer in der Vergangenheit angesiedelt ist, also gleichsam in einer Chronologie steht, ist die Science Fiction


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auf die Zukunft ausgerichtet. Man könnte sagen, dass die Heldenfantasie den zeitbezogenen Gegenpol zur Science Fiction darstellt. Renard zeigt weiters, dass der Protagonist der Heldenfantasie im Comic zutiefst im Mittelalter verwurzelt und zugleich auf sich allein gestellt ist. Die Heldenfantasie mittelalterlichen Typs simplifiziert zweifellos, aber sie zeigt dennoch, dass Helden auch scheitern können – wie etwa im Fall der Templer oder anderer militärischer Orden. So wird beispielsweise die Heldenfantasie „Le Troisième Testament“ von Xavier Dorison herangezogen, in welcher Dorison Anleihen bei dem Filmschauspieler Sean Connery und dem Film „Der Name der Rose“ macht und gleichzeitig auch auf „Thorgal“ Bezug nimmt. Die Heldenfantasie ist nach Renard zwar ein leichtes Genre, das die Klischees des Mittelalters nur allzu gerne aufgreift, damit riskiert sie aber, das Mittelalter auf eine reine Dekorationsfunktion zu reduzieren und hierdurch zu simplifizieren. Dennoch gelingt es Renard, zu zeigen, dass gerade diese historischen Erzählungen und Bezüge wichtig sind und man sich – allen Simplifizierungen zum Trotz – durch die Aufarbeitung und Neubearbeitung in Comics an den Geschichten der siegreichen Ritter und arglistigen Zauberer besonders erfreuen kann.

4. Conclusio Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Band von seinem wissenschaftlichen Anspruch her die Bedeutung des Mittelalters vor allem aus mediävistischer Sicht in Hinblick auf die gegenwärtige Comics-Szene darstellt. Nicht nur für Spezialisten der Mediävistik ist dieses Werk ein wertvoller Beitrag, indem es neue Analysenperspektiven für Comics eröffnet.

Bibliografische Angabe Corbellari, Alain/Schwarz, Alexander (Hg.) (2001): Le Moyen Age par la bande. Etudes de Lettres, 2001/1, Lausanne: Université de Lausanne, 174 Seiten, 60 Frs.


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Christine W. Trültzsch-Wijnen

Internationale Medienpädagogik Beitrag online im Ressort Forschung unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/572

Abstract Medienpädagogik ist keineswegs nur ein deutschsprachiges Phänomen. Christine W. Trültzsch-Wijnen vergleicht deshalb die Ausprägungen auf internationaler Ebene und hebt die unterschiedlichen historischen Entwicklungen hervor. International Media Pedagogics. Media pedagogics is by no means only a phenomenon of the German-speaking world. Christine W. Trültzsch-Wijnen therefore compares its forms on the international level, and highlights its diverse historical developments.

1. Einleitung Internationale Vergleiche sind nicht immer einfach, denn sie verlangen große Sensibilität und die Offenheit, sich auf fremde Kulturen einzulassen. Dies betrifft auch die Medienpädagogik, denn wie in einer Kultur mit Medien umgegangen wird, hängt von verschiedenen Einflussfaktoren ab. Dies macht es schwer, einheitliche Kategorien für den internationalen Vergleich von Medienpädagogik zu finden. Es lassen sich aber einige Rahmenbedingungen definieren, welche die Entwicklung der Medienpädagogik in einer bestimmten Kultur oder einem bestimmten Land beeinflussen können: das Mediensystem und Medienangebot, historische Entwicklungen (gesellschaftlich, politisch), das Bildungssystem, theoretische Ansätze (Wissenschaft, Kunst) und kulturelle Besonderheiten (vgl. Wijnen 2008; Süss/Lampert/Wijnen 2013: 198–200). Auch wenn in westlichen Industrienationen eine Durchdringung des Alltags mit Medien selbstverständlich erscheint, ist dies nicht überall der Fall. Gerade die sogenannten Informations- und Kommunikationstechnologien sind in vielen Ländern nach wie vor noch breiten Bevölkerungsgruppen unzugänglich. Dies beeinflusst wiederum den Stellenwert, der bestimmten Medien (und deren flächendeckender Verbreitung) beigemessen wird, sowie die damit verbundenen pädagogischen Ziele. Aber auch das Mediensystem und dessen juristische Rahmenbedingungen sowie der Einfluss ausländischer Medienangebote können die pädagogische Auseinandersetzung mit Medien beeinflussen. Das Bildungssystem und dessen gesetzliche und organisatorische Voraussetzungen, beispielsweise ob Medienerziehung vorwiegend in schulischen Kontexten (als eigenständiges Fach oder fächerübergreifend) oder in der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit erfolgt, ist ebenfalls ein wichtiger Einflussfaktor. Besonders primär medienpädagogischen Bestrebungen übergeordnete Ziele, wie etwa eine Erziehung zu mündigen StaatsbürgerInnen, die (Medien-)Suchtprävention oder Gesundheitskommunikation (siehe auch Lampert 2007), dürfen dabei nicht vernachlässigt werden. In diesem Zusammenhang


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sind ferner ethische und moralische Vorstellungen, wie etwa das in einer bestimmten Kultur vorherrschende Bild vom Kind bzw. von Kindheit von Bedeutung. Wenn man medienpädagogische Ansätze anderer Länder begreifen will, sind aber auch wissenschaftliche sowie künstlerische Auseinandersetzungen mit Medien zu berücksichtigen. Zum einen stellt sich die Frage, in welchen wissenschaftlichen Disziplinen man sich vorrangig mit medienpädagogischen Fragestellungen beschäftigt und in welcher Weise beispielsweise bildungswissenschaftliche, aber auch philosophische, psychologische, soziologische sowie medien- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze Berücksichtigung finden. Zum anderen können aber auch Diskurse aus dem künstlerischen Bereich – beispielsweise zur (Medien-)Ästhetik – medienpädagogische Konzepte beeinflussen. Zudem sind aktuelle medienpädagogische Ansätze immer auch ein Produkt historischer Herausforderungen und Auseinandersetzungen mit Medien und Erziehung; gerade politische und gesellschaftliche Entwicklungen können die Medienpädagogik eines Landes nachhaltig prägen. So lässt sich beispielsweise häufig beobachten, wie autoritäre Regime Medien für politische Zwecke funktionalisieren und damit entweder eine ideologisch gelenkte Medienerziehung fördern und/oder bewahrpädagogische Ansätze als Mittel der Zensur verfolgen. Solche funktionalistische Ansätze können nach Überwindung des betreffenden Regimes zu einer besonders kritisch-bewahrenden Ausrichtung der Medienpädagogik führen. Aber auch gegenteilige Entwicklungen sind möglich, wenn beispielsweise im Untergrund solcher Regime (medien-)emanzipatorische Widerstandsbewegungen entstehen und über diese autoritäre Zeit hinauswirken.

2. Medienpädagogik in Europa Zwischen den europäischen Ländern finden sich viele kulturelle Gemeinsamkeiten, die zum Teil in einer gemeinsamen Geschichte begründet sind und auch die Ausrichtung der heutigen Medienpädagogik bestimmen; unterschiedliche medienpädagogische Traditionen zeigen sich erst bei näherem Hinsehen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei vor allem der britischen und der deutschen Medienpädagogik zu, da Ansätze aus diesen Ländern seit Langem einen starken Einfluss auf die Medienpädagogik in anderen europäischen Ländern haben. So erweist sich die deutsche Medienpädagogik als prägend für den gesamten deutschen Sprachraum und teilweise findet sich auch in Italien Interesse für deutsche Ansätze. Die britische Medienpädagogik dient wiederum als Vorbild für italienische und skandinavische MedienpädagogInnen; zudem lässt sich seit 1990 feststellen, dass sich VertreterInnen aus den ehemaligen sozialistischen Ländern häufig an Großbritannien, aber auch den USA und Kanada orientieren. Will man die europäische Medienpädagogik verstehen, lohnt es sich also, einen näheren Blick auf die Entwicklungen in Deutschland und Großbritannien zu werfen. Betrachtet man die Gegenüberstellung der historischen Entwicklung der Medienpädagogik in diesen beiden Ländern, so überwiegen auf den ersten Blick die Gemeinsamkeiten. In Deutschland fällt eine stärkere Funktionalisierung der Medien und der Medienpädagogik auf, die ihren Höhepunkt in der nationalsozialistischen Propaganda des Dritten Reichs hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der BRD Medien vor allem von den westlichen Alliierten (aber auch danach) zur politischen (Um-)Erziehung der Jugend und der Popularisierung des „american way of life“ (Vollbrecht 2001: 39) genutzt, während in der DDR auf ähnliche Weise sozialistische Werte vermittelt wurden. Dies wiederum führte seit Kriegsende bei vielen PädagogInnen zu einer stark bewahrpädagogischen Einstellung gegenüber Medien.


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Die funktionalistische Medienpädagogik war und ist in Großbritannien wesentlich schwächer ausgeprägt, jedoch findet sich hier, als größter Unterschied zu Deutschland, bis in die 1990er-Jahre eine starke ideologiekritische Tradition, die besonders durch die Schriften Len Mastermans (vor allem Teaching the Media aus dem Jahr 1986) auch einen erheblichen Einfluss auf andere Länder hatte. Beispiele dafür sind die USA, Italien, aber auch einige ost- und zentraleuropäische Länder, in denen der Erziehung Heranwachsender zu kritischen und politisch mündigen BürgerInnen eine besondere Bedeutung zukommt. Parallel dazu entwickelte sich in Deutschland seit den 1960er-Jahren der Emanzipationsgedanke weiter bis zur, besonders von Dieter Baacke geprägten, handlungsorientierten Medienpädagogik, die auch in den anderen deutschsprachigen Ländern sowie partiell in Italien großen Anklang fand. Dies führte in weiterer Folge dazu, dass der Medienkompetenzdiskurs in Deutschland wesentlich stärker ausgeprägt und auch theoretisch anders als in Großbritannien ausgerichtet ist. Heute ist in Großbritannien der Blick jedoch ebenfalls stärker auf Medienaneignungsprozesse Heranwachsender und damit verbundene medienpädagogische Herausforderungen gerichtet.

Abb. 1: Historische Entwicklung der Medienpädagogik in Großbritannien und Deutschland Diagramm: Süss/Lampert/Wijnen 2013: 205 in Anlehnung an Wijnen 2008: 187.

Aber auch US-amerikanische und zum Teil kanadische Entwicklungen haben Einfluss auf die europäische Medienpädagogik, sei es entweder, um sich bewusst davon abzugrenzen, was zum Teil in Deutschland und Großbritannien zu beobachten ist (vgl. Wijnen 2008: 112–114),


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oder um sich, wie in vielen ehemals sozialistischen Staaten und nordeuropäischen Ländern, ein Vorbild zu nehmen.

Abb. 2: Historische Entwicklung der Medienpädagogik in den USA Diagramm: Süss/Lampert/Wijnen 2013: 208 in Anlehnung an Wijnen 2008: 187.

Historisch fallen in den USA einerseits eine lange bewahrpädagogische Tradition und andererseits ein vollständiges Erliegen jeglicher medienpädagogischer Bestrebungen in den 1980er-Jahren auf. Während sich in Europa bereits emanzipatorische Ansätze durchgesetzt hatten, wurde bis weit in die 1970er-Jahre zwischen „guten“ und „schlechten“ Medieninhalten unterschieden (vgl. Davis 1993: 14–15; Hobbs 2004: 53–54). Der sich daraus entwickelnde Ansatz des „critical viewing“ ist jedoch kaum mit der europäischen Ideologiekritik, die vor allem auf politische und ökonomische Machtverhältnisse fokussiert ist, vergleichbar. Vielmehr steht in den USA der vermeintliche Zusammenhang zwischen bedenklichen Medieninhalten (z. B. Gewalt, Drogenkonsum) und deren vermutete Auswirkungen auf das reale Leben im Vordergrund (vgl. Heins/Cho 2002: 7; Levaranz/Tyner 1993: 3; Tyner 1998: 136). In den 1960er- und 1970er-Jahren sind auch funktionalistische Ansätze und eine damit verbundene Entdeckung des Fernsehens als kompensatorische Vorschulerziehung für Kinder aus sozial benachteiligten Milieus zu finden; besonders die in diesem Zusammenhang entstandene Kindersendung Sesame Street wurde in vielen europäischen Staaten übernommen (vgl. Paus-Haase 1986; 1998: 74). In den 1980er-Jahren erloschen das staatliche Interesse und finanzielle Förderungen und die sogenannte „back to basics“-Bewegung führten zu einer zehnjährigen medienpädagogischen Pause (vgl. Heins/Cho 2002: 11), bis Anfang der der 1990er-Jahre Medien im Zuge der Modernisierung von Lehrplänen wieder ins Blickfeld von PädagogInnen traten und man sich zunehmend an britischen und kanadischen Ansätzen orientierte (vgl. Süss/Lampert/Wijnen 2013: 208–211; Wijnen 2008: 177–182). Charakteristisch für die heutige Medienpädagogik in den USA ist eine sehr kritische und bewahrende Grundhaltung bei gleichzeitiger Funktionalisierung von Medien und Medienerziehung mit dem Ziel der Förderung kritischer, informierter und vor allem politisch mündiger BürgerInnen (vgl. Lewis/Jhally 1998: 109–120; Hobbs 1998; Considine 2002b: 23–29). In der Schule lässt sich zum einen im Hinblick auf die Entwicklungen der Informations- und Kommunikationstechnologien eine Instruktionspädagogik, die sich mehr von der Lerntheorie als von den Medien her definiert und diese vor allem als Lehr- und Lernmaschinen betrachtet, beobachten. Zum anderen ist die Medienerziehung stark von übergeordneten Zielen wie der Gesundheitserziehung oder der Drogenprävention geprägt (vgl. Brown 1998: 44–46; Lewis/Jhally


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1998: 109–120; Kubey/Hobbs 2000; Considine 2002a: 5). In einzelnen europäischen Staaten, vor allem aber in EU-Programmen, lassen sich deutliche Hinweise auf einen Einfluss dieser US-amerikanischen Ansätze finden. Was aber ist nun das spezifisch Europäische? Die Ausführungen im ersten Teil dieses Beitrags legen nahe, dass es trotz der vielen Gemeinsamkeiten und gegenseitigen Einflüsse die europäische Medienpädagogik nicht gibt. Es lässt sich zwar eine ähnliche historische Entwicklung rekonstruieren, die Besonderheiten und damit auch das eigentlich Interessante liegen bzw. liegt jedoch im Detail. Die europäische Medienpädagogik kann somit nur partiell als Einheit, sondern muss eher als eine Summe interessanter Einzelfälle begriffen werden. In jedem einzelnen Land lässt sich Besonderes und manchmal auch Unbekanntes finden, das in seiner Einzigartigkeit geschätzt werden muss, denn oft finden sich gerade in diesen Besonderheiten Potenziale, die den gesamteuropäischen Diskurs befruchten können. Daher kann die nachfolgende Beschreibung der Entwicklung der europäischen Medienpädagogik anhand einzelner Länder nicht als vollständig betrachtet werden und nur einen groben Überblick darstellen. Blickt man zurück ins 18. und 19. Jahrhundert, zeigen sich in vielen europäischen Ländern erste Auseinandersetzungen mit Medien in der Angst des Klerus und der Aristokratie vor der Verbreitung aufklärerischer Ideen durch das Lesen (vgl. Vollbrecht 2001: 29). Diese Art der Bewahrpädagogik wurde im Kampf gegen sogenannte „Schundliteratur“ weiter verfolgt. In Großbritannien wurde im Zuge dieses, auch als „inoculative paradigm“ (vgl. Mastermann 1998: viii; 1991: 9) bekannten, Ansatzes beispielsweise vor einem Bildungsverfall durch die einfache Sprachform von Zeitungen und Zeitschriften gewarnt (vgl. Buckingham 1998: 34). Die Übertragung dieses Ansatzes auf das neu aufkommende Medium Film rechtfertigte zudem die Filmzensur in den absoluten Monarchien Europas (vgl. Süss/Lampert/Wijnen 2013: 202; Schorb 1995: 23). Parallel wurde, wie beispielsweise in Deutschland (vgl. Endler 2006: 35–51; Vollbrecht 2001: 38) und Ungarn (vgl. Jáki 1982: 31–44; Szíjártó o.J.: 41–59), der Film bereits Anfang des 20. Jahrhunderts als Bildungsmedium entdeckt; man entwickelte erste mediendidaktische Konzepte (vgl. Schorb 1995: 28; Jáki 1982: 167–178) und setzte sich mit der psychologischen Wirkung des Films auf RezipientInnen auseinander (vgl. Hüther/Podehl 2005: 119). Diese Ansätze wurden in den bald darauf entstehenden nationalistischen bzw. faschistischen Regimen in Deutschland, Österreich, Ungarn und Italien weiter verfolgt und führten zu einer ersten Blüte der Mediendidaktik. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel man aufgrund der negativen Erfahrungen mit den faschistischen Manipulationsmechanismen in den genannten Ländern wieder stark in bewahrpädagogische Ansätze zurück (vgl. Süss/Lampert/Wijnen 2013: 203). Ein Teil dieser medienkritischen Erziehung wurde mittels sogenannter Filmklubs verfolgt, in denen Heranwachsende durch eine gemeinsame, pädagogisch angeleitete Rezeption und anschließende Diskussion von Filmen zu einem kritischen Medienumgang erzogen wurden. An diesem Beispiel zeigt sich besonders gut, wie unterschiedlich sich, bei gleichzeitig großen Gemeinsamkeiten, die Medienpädagogik in den verschiedenen europäischen Ländern entwickelt hat. Während in der BRD Filmklubs sowohl für Kinder als auch Erwachsene (die sich an den Cinéclubs und Film Societies der Alliierten orientierten) nur bis in die 1960er-Jahre en vogue waren (Hickethier o. J.: 4–6), erlebten sie in der damaligen DDR gerade in jener Zeit ihre Blüte und existierten dort bis zur politischen Wende (vgl. Becker/Petzold 2001: 192–197). In den dortigen Filmklubs, die vor allem an Erwachsene gerichtet waren, spielte einerseits die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Medium Film eine große Rolle. Andererseits bewegte man sich auf einer Gratwanderung zwischen politischer Instrumentalisierung und der Funktion als


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Plattform für relativ freie (Film-)Diskussionen und öffentlicher Meinungsbildung (vgl. Becker/ Petzold 2001: 18; Wijnen 2008: 164–167). Ähnliche Entwicklungen lassen sich in vielen anderen ehemaligen sozialistischen Ländern finden. Besonders beliebt waren Filmklubs in Ungarn, wo sie auch heute noch auf Interesse treffen. Damit verbunden ist auch die ungarische Besonderheit, dass der Filmästhetik von jeher große Bedeutung beigemessen wird, was dort auch Einfluss auf heutige medienpädagogische Ansätze hat (Wijnen 2008: 93–95). In Italien wiederum waren Filmklubs in den 1950er- und 1960er-Jahren das Mittel außerschulischer Medienerziehung. Besonders dominant war dabei die katholische Kirche, die ca. 4000 sogenannte Kinoforen zur Heranführung Kinder und Jugendlicher zu „guten“ Medieninhalten und katholischen Werten unterhielt (vgl. Felini 2004: 89–91). Die Marxisten als damalige große politische Gegenbewegung unterhielten mindestens ebenso viele Filmklubs, um Heranwachsende gegen katholische Ideologien und zu marxistischen Werten zu erziehen. Im heutigen Italien sind marxistische Bewegungen nicht mehr von Bedeutung. Die aus jener Zeit stammende dominante Rolle der katholischen Kirche blieb jedoch erhalten und prägt nach wie vor die italienische Medienpädagogik (vgl. Wijnen 2008: 91–93, Süss/Lampert/Wijnen 2013: 206–207). Verfolgt man die Entwicklung der Medienpädagogik in Europa weiter, so zeigen sich in den 1960er-Jahren in Großbritannien die Cultural Studies (vgl. Masterman 1986) und in Deutschland die Frankfurter Schule (vgl. Baacke 1997: 47; 1996: 4; Vollbrecht 2001: 46–48) von besonderer Bedeutung. Dabei rücken medienökonomische und medienpolitische Fragen zunehmend in den Mittelpunkt; Heranwachsende sollen daher lernen, sich durch ein kritisches Hinterfragen von Medien vor deren negativen Einflüssen zu schützen (vgl. Buckingham 1998: 35). Gleichzeitig herrschte zu jener Zeit eine große, behavioristisch geprägte Medieneuphorie und in vielen Ländern wurde versucht, durch den Einsatz von Medien Lehr- und Lernvorgänge zu rationalisieren (vgl. Pietraß 2001: 79; Vollbrecht 2001: 25). In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre erfolgte in Deutschland und ab den späten 1980er- bzw. frühen 1990er-Jahren zunehmend auch in Großbritannien eine Abkehr von ideologiekritischen Ansätzen und eine stärkere Hinwendung zu einer handlungs- und lebensweltorientierten Medienpädagogik; diese Entwicklungen hatten, wie bereits erwähnt, auch einen großen Einfluss auf andere europäische Länder (vgl. Süss/Lampert/Wijnen 2013: 204). Große Unterschiede zeigen sich nach wie vor in der tatsächlichen Umsetzung von Medienpädagogik. Im Kontext der schulischen Medienerziehung kann vor allem Großbritannien als Vorreiter betrachtet werden; die Anfänge reichen bis in die 1930er-Jahre zurück. Auch in Ungarn wurden bereits Anfang der 1940er-Jahre an der Budapester Pázmány Péter Universität (heute Eötvös Loránd Universität) medienpädagogische Vorlesungen gehalten und Studierende für die medienpädagogische Arbeit im Rahmen von Filmgesprächen vorbereitet; 1965 wurde an den Mittelschulen zudem Filmästhetik im Rahmen des Literaturunterrichts verpflichtend eingeführt (vgl. Szíjártó 2002: 64–66; o. J.: 41–59). Bislang existiert aber nur in wenigen Ländern wie in Großbritannien ein eigenes Schulfach (media studies), in dem die Auseinandersetzung mit Medien im Mittelpunkt steht. Auch in Skandinavien wie etwa in Finnland und Norwegen ist Medienpädagogik gut in den allgemeinen Lehrplänen verankert (vgl. Bernhard/Süss 2002: 8). In vielen anderen Ländern, wie etwa in Österreich, findet sich Medienpädagogik jedoch nur als allgemeines Unterrichtsprinzip und die tatsächliche Umsetzung ist vom Engagement einzelner Lehrpersonen abhängig. Die heutige außerschulische Medienpädagogik geht in den meisten Ländern auf das Aufkommen aktiver Medienarbeit in den 1970er- und 1980er-Jahren und die damit verbundene


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Entstehung entsprechender medienpädagogischer Institutionen zurück. Dabei steht zumeist die aktive und eigenständige Produktion von Medieninhalten im Mittelpunkt. In der Regel geht es dabei um die Förderung von Kreativität und des individuellen Ausdrucks sowie um den Erwerb entsprechender Kritikfähigkeit durch die eigene Medienproduktion sowie die Herstellung von Gegenöffentlichkeiten durch aktive Bürgerbeteiligung beispielsweise im Rahmen von Community Medien (vgl. Süss/Lampert/Wijnen 2013: 208).

3. Außereuropäische Medienpädagogik PädagogInnen aus Ländern mit einer ähnlichen Medienverbreitung wie in Europa sind auch mit ähnlichen Herausforderungen hinsichtlich des Medienumgangs und der Medienaneignung Heranwachsender konfrontiert. Die Medienpädagogik ist in diesen westlichen Demokratien zumeist auf die Chancen und Risiken der aktuellen Entwicklungen der Informationsund Kommunikationstechnologien fokussiert. Anders gestaltet sich die Situation in jenen Regionen, die mit gänzlich anderen politischen und sozialen Herausforderungen konfrontiert sind, in denen die Informations- und Kommunikationstechnologien nicht der gesamten Bevölkerung gleichermaßen zugänglich sind und/oder in denen das Mediensystem von autoritären Regierungen kontrolliert wird. So unterscheiden sich auch die verfolgten medienpädagogischen Ziele, die zumeist weniger auf die Erziehung medienkompetenter Individuen, sondern auf eine positive Entwicklung der gesamten Gesellschaft ausgerichtet sind. In lateinamerikanischen Ländern steht beispielsweise oft der Emanzipationsgedanke im Mittelpunkt, während in afrikanischen und asiatischen Ländern Medien und Medienpädagogik zumeist als Chance zur Unterstützung der Entwicklung der gesamten Bevölkerung begriffen werden (vgl. Süss/Lampert/Wijnen 2013: 212–214). Als Beispiel für medienpädagogische Entwicklungen außerhalb Europas soll nun die Region Lateinamerika, in der vor allem der Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen nach wie vor eine große Herausforderung darstellt (digitale Klüfte, Wissensklüfte, hohe Kosten für eine flächendeckende Implementierung der Informations- und Kommunikationstechnologien, infrastrukturelle und technische Probleme, schlechte Vernetzung etc.), dienen (vgl. UNESCO 2011). Denn gerade in dieser Region, die von großen sozio-ökonomischen Ungleichheiten geprägt ist, wird der Medienpädagogik eine besondere Bedeutung in der Förderung eines gleichberechtigten und selbstbestimmten Zugangs und Umgangs mit Informations- und Kommunikationstechnologien beigemessen. Ein gutes Beispiel ist Lateinamerika vor allem deshalb, weil die Länder dieser Region in ihrer historischen Entwicklung mit anderen Herausforderungen konfrontiert waren und sich daraus auch andere medienpädagogische Schwerpunkte als in Europa entwickelt haben. Die lateinamerikanische Medienpädagogik ist durch eine große Vielfalt gekennzeichnet. Wie in Europa zeigen sich in den einzelnen Ländern zum Teil unterschiedliche Ansätze, die besonders in verschiedenen sozialen und politischen Gegebenheiten sowie der allgemeinen Medienverbreitung und dem Mediensystem begründet sind; aber auch die Ziele und Agendas der jeweiligen Regierungen unterscheiden sich und finden in unterschiedlichen bildungspolitischen Strategien und Bildungssystemen, die wiederum Einfluss auf die Situation der Medienpädagogik haben, ihren Niederschlag (vgl. Donoso/Wijnen 2012). Blickt man zurück in die Geschichte der Medienpädagogik, so zeigt sich, dass in den lateinamerikanischen Ländern parallel immer wieder unterschiedliche Ansätze verfolgt wurden. Ein


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Beispiel ist die Funktionalisierung von Medienpädagogik als Mittel des ideologischen Widerstands gegen die politische und ökonomische Dominanz der USA, die in einer Furcht vor kultureller Kolonialisierung begründet ist. Hierbei wird vor allem US-amerikanischen Medien vorgeworfen, Menschen bewusst manipulieren und im Sinne kapitalistischer und neoliberaler Werte erziehen zu wollen (vgl. Fuenzalida 1992; 136–137); das Erlernen eines kritischen Medienumgangs soll Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene vor diesen Einflüssen bewahren. Ähnlich ist ein anderer Ansatz angelegt, der sich vor allem gegen die Manipulation der Bevölkerung durch eigene, autoritäre Regierungen richtet. Medienpädagogik wird auch hier als Mittel des ideologischen Widerstands gesehen mit dem Ziel, Menschen zu aufgeklärten BürgerInnen zu erziehen, die in der Lage sind, sich kritisch mit Medieninhalten auseinanderzusetzen, eigene Medieninhalte zu produzieren, alternative Kommunikationswege neben den politisch gelenkten Massenmedien zu finden und sich auf diese Weise für eine demokratische Gesellschaft einzusetzen (vgl. ebenda: 137–138; Donoso/Wijnen 2012: 9–11). Ähnlich wie in Italien zeigt sich auch in lateinamerikanischen Ländern seit jeher ein großer Einfluss der katholischen Kirche, besonders im Rahmen außerschulischer Medienarbeit. Auch die Kirche funktionalisiert zum Teil bis heute die Medienpädagogik, um ihre ethischen, moralischen und religiösen Werte zu verbreiten und durch die Erziehung zu einem besonders kritischen Umgang mit Medieninhalten, die diesen Werten widersprechen (z. B. Sexualität, Gewalt), zu verteidigen (vgl. Donoso/Wijnen 2012: 10). In den 1970er-Jahren erlebte die aktive Medienarbeit wie in Europa auch in Lateinamerika einen Aufschwung, der allerdings wesentlich stärker politisch motiviert war. Dabei standen weniger Kinder und Jugendliche, sondern erwachsene Mitglieder der Arbeiterklasse im Mittelpunkt. Aktive Medienarbeit sollte dieser Bevölkerungsgruppe über die Beteiligung an Bürgerradios als Gegengewicht zum einseitigen und politisch gesteuerten Nachrichtenfluss über die klassischen Massenmedien eine Stimme verleihen (vgl. Oliveira 1994: 273, zit. nach Aguaded 1995: 24). Diese Entwicklungen führten zu einer ideologiekritisch ausgerichteten Medienpädagogik; mithilfe der UNESCO konnten in jener Zeit auch erste medienpädagogische Projekte in die Tat umgesetzt werden. Neben der Ideologiekritik und der katholischen Kirche wurde die lateinamerikanische Medienpädagogik ebenso durch die Lehren der Befreiungstheologie gestützt. Ab den 1980er-Jahren wurden die genannten Bestrebungen zudem durch die Einrichtung medienpädagogischer Fortbildungsseminare, die vor allem auch der gegenseitigen Vernetzung dienen sollten, unterstützt. Trotz dieser fruchtbaren außerschulischen Bewegung war die Medienpädagogik zu jener Zeit in der formalen Bildung noch kaum vertreten. In den 1990er-Jahren wandte man sich der Einführung von Medienpädagogik in staatlichen Ausbildungsstätten zu; die Medienpädagogik jener Zeit verfolgte vor allem drei Ansätze: den funktionalistisch-moralistischen Ansatz (Kontrolle der Rezeption von Massenmedien vor dem Hintergrund spezifischer ethischer Werte), den funktionalistisch-strukturell-kulturalistischen Ansatz (Dekodierung von Medieninhalten im Mittelpunkt) und den dialektisch-induktiv-populären Ansatz, bei dem vor allem sozial Benachteiligte im Zentrum stehen (vgl. Oliveira 1984: 282). Auch heute zeichnet sich die Medienpädagogik in Lateinamerika im Vergleich zu Europa durch einen stärkeren Fokus auf soziale Probleme aus. Gravierende gesellschaftliche Herausforderungen der Länder dieser Region, welche sich auch auf den Umgang mit Medien und Medienpädagogik auswirken, sind heute im Besonderen strukturelle Probleme wie hohe Armutsraten und große soziale Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, ländlichen und städtischen


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Regionen sowie indigenen und nicht-indigenen Bevölkerungsgruppen (vgl. Donoso 2009). Außerdem erweisen sich hohe Analphabetenraten als zusätzliche Herausforderung für die Medienkompetenzförderung (Donoso/Wijnen 2012: 4–8). Martínez de Toda (vgl. 2010) betont jedoch, dass die Integration digitaler Medienerziehung in bereits existierende (medien-)pädagogische Programme das größte Problem in dieser Region darstellt, denn gerade in jenen lateinamerikanischen Ländern, in denen Medienerziehung in irgendeiner Form Berücksichtigung in der Bildungspolitik findet, erweist es sich als besonders schwierig, Ressourcen und geeignete Strategien für die tatsächliche Umsetzung der aktuellen medienpädagogischen Ziele zu finden (vgl. Hinostroza/Labbé 2011). Des Weiteren wird die Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Informations- und Kommunikationstechnologien für breite Bevölkerungsteile durch wenige frei zugängliche Bildungsressourcen, mangelnde Inhalte auf Spanisch bzw. Portugiesisch sowie fehlende medienpädagogische Kompetenzen von Lehrpersonen erschwert (vgl. UNESCO 2011; Donoso/Wijnen 2012: 3). Das Beispiel Lateinamerikas zeigt, wie unterschiedlich sich medienpädagogische Ansätze einer bestimmten Region in Abhängigkeit von verschiedensten sozialen, politischen und kulturellen Gegebenheiten entwickeln können. Was in unterschiedlichen Kulturen als medienpädagogische Herausforderungen betrachtet wird, kann daher nur schwer zusammengefasst oder verallgemeinert werden. Dies sollte beim Versuch, internationale Vergleiche anzustellen, besonders berücksichtigt werden. So kann beispielsweise schon ein oberflächlicher Umgang mit verschiedenen Begrifflichkeiten zu großen Verwirrungen führen. Dies zeigt sich etwa in den Unterschieden zwischen Japan und den USA, wo der Erziehung zu einem kritischen Medienumgang und vor allem dem Begriff Kritik („critical viewing“, „critical media literacy“) in der Medienpädagogik seit Langem eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Japan ist jedoch von einem anderen Gesellschaftssystem geprägt, in dem nicht so sehr das Individuum, sondern das Kollektiv im Mittelpunkt steht und der Staat sehr genau vorgibt, wie man sich zu verhalten hat, was der bzw. die Einzelne zu leisten hat und was in Schulen unterrichtet wird. Der Begriff „Kritik“ oder „kritisch“ ist in dieser Gesellschaft negativ konnotiert und wird in der Regel als Kritik am Staat und an der japanischen Gesellschaft aufgefasst und auch in akademischen Kontexten nach Möglichkeit vermieden (vgl. Suzuki 1992: 167). Japanische MedienpädagogInnen würden daher eine Erziehung zur Kritikfähigkeit bzw. einer „critical media literacy“ eher ablehnen; die Förderung eines kompetenten und reflektierten Medienumgangs wird jedoch auch in Japan verfolgt (vgl. Süss/Lampert/Wijnen 2013: 214).

4. Aktuelle Entwicklungen Gerade in Europa, aber auch darüber hinaus zeigt sich ein zunehmendes Interesse an einem internationalen Austausch. Dabei engagieren sich einerseits nationale Einrichtungen wie das British Film Institute (BFI) und das französische Centre de liaison de l’enseignement et des médias d’information (CLEMI), die beispielsweise 2004 gemeinsam die erste groß angelegte gesamteuropäische Tagung zum Thema Medienpädagogik organisierten, oder die italienische Associazione Italiana per l’educazione ai media e alla comunicazione (MED), die sich auch in Form von Summer Schools um den internationalen Austausch mit KollegInnen bemüht (vgl. Wijnen 2008: 212–213). Andererseits wird der Austausch auch von internationalen Einrichtungen gefördert. So wurden beispielsweise von der UNESCO bereits mehrere internationale Media Education Summits organisiert und auch in wissenschaftlichen Fachgesellschaften wie der ICA,


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der IAMCR und der ECREA finden sich Arbeitsgruppen, die sich dem Medienumgang Heranwachsender und damit verbundenen medienpädagogischen Fragen widmen. Die ursprünglich vom UK Film Council und British Film Institute gegründete European Charter for Media Literacy soll ebenfalls der Vernetzung europäischer Institutionen, die im Bereich Medienpädagogik tätig sind, dienen (vgl. Süss/Lampert/Wijnen 2013: 215). Die Europäische Union zeigt ebenso Interesse an der Auseinandersetzung mit Medienpädagogik und der Förderung von Medienkompetenz. Auf politischer Ebene bedient man sich dabei häufig des Begriffs Media Literacy und lehnt sich implizit an funktionalistische Konzepte, wie sie vor allem in den USA zu finden sind, an. Bei näherer Betrachtung geht es dabei in erster Linie häufig nicht unbedingt darum, medienpädagogische Ziele zu verfolgen, sondern um wirtschaftlich wettbewerbsfähig zu bleiben (z. B. gegenüber den USA und anderen Großmächten). “Media literacy is a matter of inclusion and citizenship in today’s information society. It is a fundamental skill not only for young people but also for adults and elderly people, parents, teachers and mediaprofessionals. Media literacy is today regarded as one of the key pre-requisites for an active and full citizenship in order to prevent and diminish risks of exclusion from community life.” (Ding 2011; offizielle Definition der Europäischen Kommission) Der Fokus liegt vor allem darauf, Menschen zur aktiven Teilnahme an politischen Prozessen zu animieren und aktuelle Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologien erfolgreich zu nutzen (vgl. Süss/Lampert/Wijnen 2013: 215–216; Europäische Kommission 2007). In Ländern, die auf eine lange Tradition pädagogischer Auseinandersetzungen mit Medien verweisen können, wie beispielsweise in Deutschland oder Großbritannien, finden sich daher auch immer wieder Kritiker dieser eher einseitigen Sichtweise. Es existieren unterschiedliche Initiativen, um die Medienkompetenz europäischer Kinder und Jugendlicher zu fördern. Unter anderem wird vom Europarat das Internet Literacy Handbook (Richardson et al. 2009), das sich an Eltern und Lehrpersonen richtet, herausgegeben. Es soll Erwachsene in der Vermittlung eines reflektierten und selbstbestimmten Medienumgangs an Heranwachsende unterstützen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Vermittlung von Fertigkeiten und Fähigkeiten zur aktiven Partizipation an der Gesellschaft mittels Medien. Direkt an Kinder wendet sich das Online-Spiel Through the Wild Web Woods (www.wildwebwoods. org), das in 20 europäischen Sprachen verfügbar ist und in dem Kinder neben den wichtigsten Regeln im Umgang mit dem Internet auch verschiedene Einrichtungen der Europäischen Union kennenlernen sollen. Des Weiteren wurde von der Europäischen Kommission das Insafe-Programm ins Leben gerufen, das nationale Einrichtung in der Aufklärung von Eltern, Lehrpersonen sowie Kindern und Jugendlichen mittels Workshops und diversen Informationsmaterialien fördert. Derzeit besteht ein großes Interesse an internationalen Vergleichen der Medienpädagogik in unterschiedlichen Ländern. Dies zeigt sich einerseits an internationalen Sammelbänden, in denen ExpertInnen aus unterschiedlichen Ländern ihre Perspektive auf Medienpädagogik oder Medienkompetenzförderung beschreiben (z. B. Frau-Meigs/Torrent 2009) und andererseits an vergleichenden Studien. Während die Beiträge in den Sammelbänden oft schwer vergleichbar sind, weil die unterschiedlichen AutorInnen verschiedene Schwerpunkte oder Darstellungsweisen wählen, wird bei den Studien eine zumindest partielle Vergleichbarkeit angestrebt. Unter anderem wurde von der Europäischen Kommission (vgl. 2008) eine Studie zur Erhebung nationaler Bestrebungen der Medienkompetenzförderung und Entwicklung von Vorschlägen für eine europäische Strategie in diesem Bereich in Auftrag gegeben; der größte Schwerpunkt liegt


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dabei wiederum auf dem Bereich der „citizenship als aktive Bügerbeteiligung (Süss/Lampert/ Wijnen 2013: 215). Die aktuelle Studie der European Association of Viewers’ Interests (Celot 2011; Celot/Tornero 2012) versuchte, ebenfalls im Auftrag der Europäischen Kommission, unterschiedliche Medienkompetenzniveaus in europäischen Ländern zu untersuchen und zu vergleichen. Hier wurde der Begriff Media Literacy etwas weiter gefasst und als Summe individueller Faktoren (technische Fertigkeiten, kritischer Medienumgang, Fähigkeit des Beziehungsmanagements über Medien) und Umweltfaktoren (Medienerziehung, Medienpolitik, Verfügbarkeit von Medien sowie Rolle der Medienindustrie und der Zivilgesellschaft) definiert. Dennoch zeigen sich bei derartigen quantitativen Studien Probleme in der Operationalisierung von Medienkompetenz und zumeist eine mangelnde Flexibilität hinsichtlich kultureller Besonderheiten. Dies liegt daran, dass in der Regel vorab eine bestimmte Definition von Medienpädagogik oder Medienkompetenz festgelegt wird und anschließend Hinweise darauf bzw. unterschiedliche Ausprägungen davon in einzelnen Ländern gesucht werden, anstatt umgekehrt zu untersuchen, in welchen unterschiedlichen Kontexten verschiedene Ansätze von Medienpädagogik und Medienkompetenz entstehen und verfolgt werden (siehe dazu Wijnen 2008). Eine große Herausforderung internationaler Vergleiche ist auch ein zum Teil oberflächlicher Umgang mit Begrifflichkeiten. Stillschweigend wird davon ausgegangen, dass bestimmte Fachbegriffe von allen gleichermaßen verstanden werden, was zu Missverständnissen führen kann (vgl. Wijnen 2008: 100–142). So ist beispielsweise auch der Begriff Medienkompetenz nicht eins zu eins als Media Literacy übersetzbar. Letzterer ist mehr auf einzelne Fertigkeiten ausgerichtet, entstand er doch ursprünglich als Bezeichnung für die Fertigkeit des Lesens und Schreibens in Abgrenzung zum Begriff literate als belesen und gebildet zu sein (vgl. Livingstone 2009: 183). Der Begriff Medienkompetenz geht jedoch auf Chomsky und dessen linguistische Unterscheidung zwischen Kompetenz als potenzielle Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, und Performanz als tatsächlicher Sprachgebrauch zurück (vgl. Baacke 1996: 5). Medienkompetenz bezieht sich daher auf die grundlegende Fähigkeit, Medien selbstbestimmt zu nutzen, während Media Literacy stärker auf einzelne Fertigkeiten und den konkreten Umgang mit Medien (Performanz) fokussiert ist. Ähnliche Ungenauigkeiten bzw. internationale Differenzen finden sich in der Verwendung der Begriffe Media Education, Media Pedagogy oder im selteneren Begriff Media Educology (vgl. Wijnen 2008: 100–142). Unterschiedliche Auffassungen von Fachbegriffen gehen zum einen auf Übersetzungsprobleme nationaler Besonderheiten in den internationalen Sprachgebrauch und zum anderen auf kulturelle und historische Unterschiede im Umgang mit Medien und Medienpädagogik zurück. Bislang wird bei internationalen Vergleichen jedoch selten auf diese sprachlichen Feinheiten eingegangen, wodurch manche Besonderheiten einzelner Länder zum Teil untergehen oder zu wenig berücksichtigt werden.

5. Zusammenfassung Medienpädagogik ist ein sehr vielfältiges und facettenreiches Forschungs-, aber auch Praxisfeld. Vor allem international zeigen sich zum Teil große Unterschiede, die auf verschiedene Einflussfaktoren zurückzuführen sind. Aber auch zwischen Ländern, bei denen, wie beispielsweise innerhalb der Europäischen Union, auf den ersten Blick viele Gemeinsamkeiten auffallen, zeigen sich bei näherer Betrachtung interessante nationale Besonderheiten. Die größte Herausforderung einer international angelegten Medienpädagogik ist es, diese Beson-


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derheiten nicht in oberflächlichen Vergleichen untergehen zu lassen, sondern sich damit auseinanderzusetzen und für eine internationale, gegenseitige Befruchtung nutzbar zu machen. Aktuell sind positive Trends hinsichtlich einer Internationalisierung der Medienpädagogik wahrnehmbar, die sich durch ein stärker werdendes Interesse an einem internationalen Austausch über spezielle Interessengruppen in einzelnen Fachgesellschaften, die Präsenz medienpädagogischer Themen auf internationalen Tagungen sowie international angelegte Sammelbände und sogar einschlägige Studien zeigen. Englisch als moderne lingua franca und damit verbundene gemeinsame Fachbegriffe wie Media Literacy und Media Education lassen die internationale Kommunikation einfach erscheinen. Dennoch sollte im Austausch mit internationalen KollegInnen Vorsicht vor Missverständnissen, die entweder in Übersetzungsfehlern von der nationalen Sprache ins Englische bzw. umgekehrt oder in kulturellen Differenzen begründet sind, geboten sein. Anstatt es bei oberflächlichen Vergleichen und der Suche nach Gemeinsamkeiten zu belassen, erscheint es daher ratsam, die eingangs beschriebenen Faktoren bzw. Rahmenbedingungen, welche die Entwicklung von Medienpädagogik in einem bestimmten Land beeinflussen können (Mediensystem, Medienangebot, historische Entwicklungen, Bildungssystem, theoretische Ansätze, kulturelle Besonderheiten), bei der Auseinandersetzung mit anderen medienpädagogischen Kulturen stets mitzudenken. Vergleichende Studien, wie sie etwa von der Europäischen Kommission in Auftrag gegeben werden, sind wünschenswert, um den internationalen Dialog zu bereichern. Bisher blieben diese Vergleiche allerdings auf einer eher oberflächlichen, deskriptiven Ebene; weitere tiefer gehende, qualitative Studien wären daher hilfreich, um das gegenseitige Verständnis zu fördern.

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Ralf Biermann

Medienkompetenz – Medienbildung – Medialer Habitus Genese und Transformation des medialen Habitus vor dem Hintergrund von Medienkompetenz und Medienbildung Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/604

Abstract Ausgehend von einer näheren Begriffsbestimmung der medienpädagogischen Grundbegriffe Medienkompetenz und Medienbildung erinnert Ralf Biermann an Dieter Baackes Ausspruch, das Lebenswelten Medienwelten und Medienwelten Lebenswelten sind. In diesen Lebenswelten spielt der Mediale Habitus eine wichtige Rolle im Umfeld der Debatten zur Mediensozialisation, da Bildungsprozesse prinzipiell vor dem Hintergrund soziokultureller Unterschiede zu betrachten sind. Dafür bietet sich das Habitus-Konzept Pierre Bourdieus geradezu an, da es den Hauptakzent auf (klassenspezifische) Handlungsbegrenzungen legt. In diesem Sinne begreift dieser Artikel den (medialen) Habitus hinsichtlich verschiedener (Medien-)Bildungsprozesse eher als Hindernis für Wandel und Transformation und fragt auf dreifacher Ebene nach möglichen Erweiterungen des Konzepts. So werden die Mehrdimensionalität, die Iterabilität und die Inkongruenz des Habitus diskutiert, um die medienpädagogischen Debatten zum Medialen Habitus auch theoretisch zu unterlegen. Media competence – Media education – Media habitus. Genesis and transformation of media habitus in the context of media competence and media education. Starting from a definition of the basic terms of media literacy and media education, Ralf Biermann reminds us of Baacke’s dictum that life-worlds are media-worlds and media-worlds are life-worlds. In these life-worlds, the Media Habitus has an important role in the context of debates about media socialization, since the development of identity is affected by sociocultural differences. Bourdieu’s concept of the Habitus is well-suited to understand those differences, since it emphasizes (class-specific) limitations to action. In this context, the paper discusses Media Habitus as an obstacle for change and transformation, and proposes a three-level expansion of the concept: multi-dimensionality, iterability and incongruity, which serve to ground media-pedagogical debates on Media Habitus theoretically.

1. Vorüberlegungen Mit den Begriffen der Medienkompetenz und der Medienbildung im Kontext der zunehmenden Mediatisierung der Gesellschaft und ihren Entwicklungsprozessen (vgl. Krotz 2007) sind zwei zentrale Arbeitsbegriffe der Medienpädagogik in praktischer und theoretischer Pers-


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pektive verbunden. Praktisch insofern, dass Medienkompetenz (vgl. Baacke 1997) und Medienbildung (Jörissen/Marotzki 2009) als elementare Prozesse und Ziele von Projekten verstanden werden können, theoretisch, da es sich um grundlegende Begriffe handelt, die im Kontext von medienpädagogischer Theorie inhaltlich und in ihrer Reichweite beschrieben und definiert werden. Die gesellschaftliche Bedeutung von Medienkompetenz lässt sich (verkürzt) aus der Aussage ableiten, dass Lebenswelten Medienwelten und Medienwelten Lebenswelten sind (vgl. Baacke 2004: 21). Die Ubiqität (digitaler) Medien in unserem Alltag und unserer Lebenswelt macht die Querschnittsbedeutung von Medienkompetenz deutlich: In nahezu allen Lebenslagen kann direkt oder indirekt von einer notwendigen Kompetenz im Umgang mit Medien gesprochen werden. Die Begründung für Medienbildung basiert dagegen vielmehr auf den gesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüchen, die dazu führen, dass die Menschen sich nicht mehr an den brüchig gewordenen Traditionen ausrichten können und sich so in ihrem Leben ständig neu orientieren müssen. Medien haben an diesem Prozess der individuellen Ausrichtung von Selbst und Welt einen bedeutenden Anteil (vgl. Jörissen/Marotzki 2010). Die sozialisatorische Bedeutung von Medien ist dabei zunehmend Thema wissenschaftlicher Publikationen. Allerdings erreichte dies seine ausgewiesene Bedeutung im wissenschaftlichen Kontext erst mit der Jahrtausendwende. Bis dahin war z. B. bis zur 7. Auflage der Einführung in die Sozialisationstheorie von Klaus Hurrelmann (2001) das Sozialisierende der Medien nicht aufgegriffen worden, was sich erst durch ein eigenes kleines Kapitel in der folgenden überarbeiteten Auflage änderte. War das Thema zunächst lediglich ein Randbereich der Sozialisationsforschung (vgl. z. B. das Handbuch Sozialisationsforschung von Hurrelmann/Ulich 2002), erschienen in den letzten Jahren Sammelwerke (z. B. Hoffmann/Mikos 2007; Voll­ brecht/Wegener 2010) und Monografien (Süss 2004), die sich explizit mit dem Thema Mediensozialisation beschäftigte. Die Hoffnung, dass Medien als „Gleichmacher“ zur Verringerung von sozialen Ungleichheiten führen könnten, hat sich durch verschiedene Studien zur digitalen Ungleichheit auf der Nutzungsebene nicht erfüllt (Wagner 2008; Feierabend/Klingler 2009; Kommer 2010; Otto/ Kutscher/Klein/Iske 2005). Medienkompetenz und Medienbildung sind damit Konzepte, die vor dem Hintergrund soziokultureller Differenzen betrachtet werden müssen. Bedeutsam für eine Analyse soziokultureller Unterschiede ist das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu, das auf den zahlreichen Werken des französischen Soziologen beruht (vgl. z. B. Bourdieu 1979/1982/1987). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Bedeutung und dem begrifflichen Zusammenspiel des Habitus-Konzepts in Bezug auf Medienkompetenz und Medienbildung. In diesem Beitrag werden deshalb zunächst die wichtigsten Implikationen der Begriffe Medienkompetenz und Medienbildung dargestellt. In Verbindung mit dem Konstrukt des medialen Habitus ist anschließend zu klären, inwiefern Überschneidungen existieren und wie diese in Bezug zur Habitus-Theorie einen Anschluss der medienpädagogischen Debatte erlauben. Im Fokus stehen dabei die Genese und Veränderbarkeit habitueller Muster des medialen Habitus vor dem Hintergrund der Begriffe Medienkompetenz und Medienbildung. Dieser Beitrag soll vor allem weitere Fragen aufwerfen und somit die Diskussion um die Nutzbarkeit des Zusammenspiels der drei Begriffe anregen.


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2. Medienkompetenz und Medienbildung1 Der Begriff Medienkompetenz geht in erster Linie auf Dieter Baacke zurück, der dieses Konzept in Anlehnung an seine Habilitationsschrift Kommunikation und Kompetenz (Baacke 1973) entwickelt hat. Zentral sind dabei die Bezüge auf Habermas (herrschaftsfreier Diskurs) und Chomsky (Kompetenztheorem), mit denen er das Konzept der kommunikativen Kompetenz entwickelt. Diese ist dem Menschen von Geburt an mitgegeben und stellt als Prozess eine Aneignung von Wirklichkeit über kommunikative Akte dar. Diese Form der Auseinandersetzung mit der Welt muss geübt und erlernt werden. Als Besonderung der kommunikativen Kompetenz ist Medienkompetenz auf den Bereich der Medien bezogen, die einen immer größeren Stellenwert in der Lebenswelt und im Alltag einnehmen. Baacke (1997: 98–99) unterscheidet vier Dimensionen, mit denen sich der Begriff Medienkompetenz beschreiben lässt: • • • •

Medienkritik (analytisch, reflexiv, ethisch) Medienkunde (informativ, instrumentell-qualifikatorisch) Mediennutzung (rezeptiv, interaktiv) Mediengestaltung (innovativ, kreativ)

Weitere Konzepte, rekurrierend auf Baackes Modell, folgten (z. B. Aufenanger 1999; Theunert 1999; Groeben 2002; zusammenfassend Zorn 2011). Die Popularität des Begriffs über die Medienpädagogik hinaus hatte eine inhaltliche Adaption an spezifische Anforderungen z. B. in Berufsfeldern zur Folge. Dieses Problem der beliebigen Nutzung und Auslegung außerhalb des medienpädagogischen Fachdiskurses führt teilweise zu starken Verkürzungen der begrifflichen Reichweite. Je nach Interessenlage wird aus dem umfangreichen medienpädagogischen Konzept eine Floskel, die kaum noch etwas mit den ursprünglichen Intentionen des Begriffs gemein hat. So findet sich eine Sammlung von 104 Begriffsdefinitionen bei Gapski (2001: 255– 293), die teils kaum mehr als das Bedienwissen spezifischer Bürosoftware beinhalten. Eine Frage, die sich daraus auch für den medienpädagogischen Diskurs ergibt, ist, ob sich ein Festhalten an dem Begriff überhaupt lohnt, wenn er in den meisten anderen Diskursen auf rudimentäre Lernprozesse reduziert wird? Können damit überhaupt die komplexen Anliegen einer Medienpädagogik in eine digitale Gesellschaft hineingetragen werden, wenn zunächst immer erst der „Allerweltsbegriff“ neu erklärt werden muss? Hinzu kommt – und das erscheint wesentlich für diesen Beitrag – ein zunehmendes Verständnis von Kompetenz als messbare Qualifikation wie es beispielsweise in Schulen vorherrschend ist (vgl. ausführlicher dazu Fromme/Biermann/Kiefer 2014), sodass eine Perspektive von Medienkompetenz als Beschreibung eines erreichten Niveaus entspricht: „Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich als Kernelemente [von Medienkompetenz, Anm. des Autors] in den meisten Modellen die Ausbildung der Fähigkeiten zu Selektion, Produktion, Nutzung und Bewertung von Medien finden lassen, wobei unter Produktion v. a. die Produktion und Gestaltung von Inhalten und kaum die technikbezogene Produktion und Gestaltung ausgeführt wird“ (Zorn 2011: 187).

1

Die Beschreibung der Konzepte Medienkompetenz und Medienbildung dient vor allem ihrer späteren Betrachtung bei der Genese und Veränderbarkeit habitueller Muster. Eine Neuauflage der Diskussion Medienkompetenz vs. Medienbildung ist hier nicht intendiert.


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Auch die empirische Betrachtung der individuellen Medienkompetenz bleibt dadurch insofern in ihrer Aussagekraft zurück, als diese allein nicht für eine Aussage über die subjektiven Erwerbsstrategien und die sozialen Entwicklungsbedingungen herangezogen werden (vgl. Sutter/Charlton 2002: 135). Das Konzept der Medienkompetenz muss hierfür mit anderen Zugängen und Theorien angereichert werden, damit soziokulturelle Unterschiede im Kontext von Medienkompetenz überhaupt eine Aussagekraft erhalten. So konstatiert Kutscher (2009: 7), dass bei der Auseinandersetzung mit dem Begriff Medienkompetenz die Aspekte sozialer Ungleicheit vielfach nicht oder nur beiläufig thematisiert werden. Obwohl Baacke (1996: 115–116) bereits früh auf Bourdieu verwiesen hat, wenn es um die ungleiche Verteilung von Kapital und damit auch um den Erwerb von Medienkompetenz geht, finden sich erst in den letzten Jahren verstärkt Bemühungen, die Perspektiven Medienkompetenz und medialer Habitus zusammenzuführen (Biermann 2009; Kommer 2010; Henrichwark 2009). Medienkompetenz und Medienbildung sind als zwei Leitbegriffe der Medienpädagogik in den letzten Jahren besonders kontrovers diskutiert worden (Schorb 2009; Spanhel 2010; Tulodziecki 2010; Fromme/Jörissen 2010; die Beiträge im Band von Moser/Grell/Niesyto 2011). Medienbildung wird zunehmend als ergänzende Perspektive zu Medienkompetenz angesehen (Jörissen 2011; Fromme/Biermann/Kiefer 2014). Mit den obigen Ausführungen entspricht Medienkompetenz einem Bildungsverständnis von 1.) einem standardisier- und evaluierbarem Output des Bildungswesens sowie 2.) einem erzielbaren Ergebnis vorangegangener individueller Lernprozesse (Qualifikation, Kompetenz …) (vgl. Jörissen 2011: 213). Medienbildung und ihre zugrunde liegenden Prozesse sind im Gegensatz dazu „als eine Form komplexer, selbstreflexiver Lern- und Orientierungsprozesse“ (Jörissen 2011: 223; allgemeiner zur Differenzierung des Bildungsbegriffs Wigger 2006: 105) zu verstehen. In diesen als Prozess aufzufassenden Veränderungen bestehender und Konstruktion von neuen Orientierungsrahmen verändert sich das eigene Verhältnis zur Welt (Jörissen/Marotzki 2009). Die hier vorgenommene Trennung und Einnahme einer spezifischen Perspektive wird im weiteren Verlauf als Basis für die Betrachtung der Entwicklung und Veränderung von habituellen Mustern verwendet. Medienkompetenz wird im Weiteren als Dispositionsgefüge im Sinne des kulturellen Kapitals und Medienbildung als Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen und somit als prozesshafte Transformationen von Dispositionen (internalisierte Schemata, Gefüge von habituellen Mustern) verstanden.

3. Grundlegendes zum (medialen) Habitus Das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu basiert auf dem umfangreichen Werk des französischen Soziologen, das über Jahre hinweg entwickelt und in verschiedenen zahlreichen Publikationen festgehalten wurde. Zentral dabei ist die Annahme einer Gliederung der Gesellschaft in – um den Sprachgebrauch Bourdieus zu verwenden – Klassen, die sich durch die unterschiedlichen Ausstattungen von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital (vgl. Bourdieu 1983) unterscheiden. Verbunden damit sind unterschiedliche Chancen und Grenzen auf gesellschaftliche Ressourcen zurückzugreifen: „Die Grundlage der Unterschiede zwischen den individuellen Habitusformen liegt in der Besonderheit der sozialen Lebensläufe, denen Reihen von chronologisch geordneten Determiniertheiten entsprechen, die jedoch nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Der Habitus, der mit den Strukturen aus früheren Erfahrungen jederzeit neue Erfahrungen strukturie-


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ren kann, die diese alten Strukturen in den Grenzen ihres Selektionsvermögens beeinflussen, sorgt für eine einheitliche, von den Ersterfahrungen dominierte Aufnahme von Erfahrungen, die Mitglieder derselben Klasse statistisch miteinander gemein haben.“ (Bourdieu 1987: 113) Der Habitus kann als Bindeglied zwischen dem Subjekt und den sozialen Strukturen angesehen werden. Vorhandene Dispositionen strukturieren dabei die neuen Erfahrungen. Es entsteht ein Dispositionssystem individueller und inkorporierter Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata. Bedeutsam ist die Abkehr von der Denkweise eines rational berechnenden Menschen im Sinne eines homo oeconomicus: „Ihre besondere Wirksamkeit verdanken die Schemata des Habitus, Urformen der Klassifikation, dem Faktum, daß sie jenseits des Bewußtseins wie des diskursiven Denkens, folglich außerhalb absichtlicher Kontrolle und Prüfung agieren“ (Bourdieu 1982: 727). Medien als Sozialisationsfaktor, quergelagert zu den Sozialisationsinstanzen, spielen als Erfahrungsraum im Sinne sozialer Strukturen eine bedeutsame Rolle. Die Spezifizierung auf den medialen Habitus erlaubt einen an Bourdieu orientierten Analyserahmen: „Unter medialem Habitus verstehen wir ein System von dauerhaften medienbezogenen Dispositionen, die als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für mediale Praktiken und auf Medien und den Medienumgang bezogene Vorstellungen und Zuschreibungen fungieren und die im Verlauf der von der Verortung im sozialen Raum und der strukturellen Koppelung an die mediale und soziale Umwelt geprägten Ontogenese erworben werden. Der mediale Habitus bezeichnet damit auch eine charakteristische Konfiguration inkorporierter, strukturierter und zugleich strukturierender Klassifikationsschemata, die für ihre Träger in der Regel nicht reflexiv werden. Der mediale Habitus ist Teil des Gesamt-Habitus einer Person und aufs engste mit diesem verbunden.“ (Kommer/Biermann 2012: 90, kursiv im Original) Wie sich aus dem Zitat ableiten lässt, verstehen wir die Entwicklung des (medialen) Habitus nicht als eine Reihe von Konditionierungen im behavioristischen Sinne, sondern als einen wechselhaften Prozess, in dem sich der Habitus als Konstruktionsleistung infolge von Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt ausbildet. Diese Erfahrungen bilden das Dispositionsgefüge und sorgen so auf Basis dieser für eine „gelenkte“ Betrachtung der Welt. Anders ausgedrückt: Das Aufwachsen in einem bestimmten Milieu, das einem sozialräumlichen Erfahrungsraum entspricht, erlaubt es dem Akteur, eine Bandbreite von Schemata aufzubauen, mit denen er wiederum die Welt wahrnimmt. Im Sinne einer strukturellen Koppelung wird so der Aufbau neuer Schemata in Abhängigkeit der vorhandenen aufgebaut. Zusammengefasst formuliert Henrichwark (2009: 37): „Der mediale Habitus integriert Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsschemata in Bezug auf Medien und damit auch Aspekte von Medienkompetenz und Medienbildung. Er verkörpert darüber hinaus milieuspezifische, medienbiografische Erfahrungen und daraus resultierende Gewohnheiten sowie die manifesten und latenten Ebenen von Meinungen, Verhaltensdispositionen und Einstellungen. Beeinflusst wird seine Genese u. a. durch Kapitalressourcen der Herkunftsfamilie, die im Zusammenhang der Reproduktion digitaler Ungleichheit […] stehen.“ Der mediale Habitus stellt somit die Besonderung des Habitus-Konzepts in Bezug auf Medien dar, wie es Medienkompetenz auf kommunikative Kompetenz und Medienbildung auf Bildung darstellen.


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4. Medialer Habitus und Medienkompetenz Die Betrachtungen von Medienkompetenz vor dem Hintergrund soziokultureller Unterschiede lassen sich in den letzten Jahren vielerorts vorfinden. So wurden die Daten der KIM-Studie mit den aus der Marktforschung bekannten Sinus-Milieus zusammengeführt (Feierabend/Klingler 2009). Ebenso können die Medienerziehungsstile in Familien nach Milieus differenziert betrachtet werden, wie es bei Wagner, Gebel und Lampert (2013) als Ergebnis der Studie formuliert wurde. Eine explizite Kombination der Habitus-Theorie und den medienpädagogischen Themen findet dagegen nur vereinzelt statt. Gerade die Verknüpfung der Theorie von Bourdieu mit dem Konzept der Medienkompetenz erscheint zunächst unproblematisch, denn Bourdieu sieht in der generativen Grammatik eine auf Erfahrung basierende Komponente zur Produktion unbegrenzt vieler Handlungen (vgl. Krais/Gebauer 2002, 31–32). Betrachtet man nun Medienkompetenz wie oben bereits formuliert als standardisierten Output des Bildungswesens und/oder als Ergebnis vorangegangener individueller Lernprozesse, dann können diese als Dispositionen des medialen Habitus betrachtet werden. Wie Baacke hat auch Bourdieu die generative Grammatik von Chomsky rezipiert und als Erklärungsmodell für das generative Prinzip des Habitus herangezogen, ohne die genetische Basis Chomskys zu übernehmen. Weiterführend lässt sich Medienkompetenz somit als kulturelles Kapital beschreiben. Zum einen in institutionalisierter Form von Zertifikaten etc. wie beispielsweise ein Computerführerschein und zum zweiten als inkorporiertes kulturelles Kapital, welches durch non-formelle und informelle Lernprozesse in Familie und Peergroup aufgebaut wurde. Das damit erworbene Dispositionsgefüge respektive kulturelle Kapital ermöglicht dem Akteur Handlungsoptionen, die in einem den bisherigen Erfahrungen (strukturierte Struktur) geschuldeten Rahmen eingefasst bleiben und zugleich „die Praxis und deren Wahrnehmung strukturierende Struktur“ (Bourdieu 1982: 279) bilden. „Da er ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist, können mit dem Habitus alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen. Über den Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt hat, die Praxis, und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen Determinismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen Erfindungen von vornherein gesetzt sind.“ (Bourdieu 1987: 102–103) Die extreme Auslegung des Zitats würde bedeuten, dass bestehende Erfahrungen grundsätzlich einschränkend wirken und der Habitus nur neue Muster, die passend oder kompatibel zu den alten sind, aufbauen könnte. Diesem Aspekt des Determinismus tritt Bourdieu auch an anderer Stelle entgegen: „Der Habitus, der mit den Strukturen aus früheren Erfahrungen jederzeit neue Erfahrungen strukturieren kann, die diese alten Strukturen in den Grenzen ihres Selektionsvermögens beeinflussen, sorgt für eine einheitliche, von den Ersterfahrungen dominierte Aufnahme von Erfahrungen, die Mitglieder derselben Klasse statistisch miteinander gemein haben.“ (Bourdieu 1987: 113) Der Grund für das Übergewicht der vorhandenen Muster liegt in der Beharrlichkeit des Habitus, der sich so vor Veränderungen und weitergeführt vor Krisen schützt. So kommt es, dass Orte, Ereignisse und Personen des Umgangs entsprechend bestehender Dispositionen ausgewählt werden (vgl. Bourdieu 1987: 113–114). Entsprechend ist der Aufbau von Medienkom-


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petenz zu sehen. Wir können – auch vor dem Hintergrund von Forschungsergebnissen zur Digitalen Ungleichheit (s. o.) – von ungleich existierenden Ausprägungen von Medienkompetenz ausgehen, bei denen zum Teil vielleicht von benachteiligenden habituellen Mustern gesprochen werden kann. „Fehlende“ Kompetenzen können ggf. über formale Bildungsprozesse in der Schule oder etwa über Jugendmedienzentren vermittelt beziehungsweise gefördert werden, doch dies vernachlässigt wichtige Aspekte: Dass Schule Bildungsungleichheit verstärkt und in Bezug auf Medienerziehung ein eher schwieriges Feld darstellt, ist mittlerweile mehrfach festgestellt worden, was die noch immer aktuelle Aussage von Senkbeil besonders in Deutschland widerspiegelt: „Den Schulen in den OECD-Staaten gelingt es also ganz offenbar nicht, die Defizite von Haus aus benachteiligter Jugendlicher im Vergleich zu komfortabel ausgestatteten Schülerinnen und Schülern bedeutsam zu verringern“ (2005: 106). Die sich daran anschließende Frage eröffnet einen weiteren Aspekt: Führt eine stärkere Berücksichtigung der in der Jugendarbeit etablierten Lebensweltorientierung in formalen Bildungseinrichtungen zu mehr Medienkompetenz und zur Verringerung von Benachteiligung oder lässt sie diese nur in den Grenzen einer habituellen Spirale wachsen, sodass diese weiterhin von einem qualitativen Schritt der Entwicklung abgehalten wird? Bezogen auf die medienpädagogische Praxis ist vor dem Hintergrund empirischer Ergebnisse eine pessimistische Sichtweise vielleicht angebracht. Eine Lösung besteht vielmehr in der Sensibilisierung der pädagogischen Fachkräfte (vgl. Niesyto 2000: 19–20 sowie Bremer 2006). Hierzu bedarf es jedoch weiterer medienpädagogischer Praxisforschung, bei der dieses Problemfeld genauer beleuchtet wird.

5. Medialer Habitus und Medienbildung War bisher von kulturellem Kapital und dessen Genese in den Grenzen des Habitus und unter Beachtung pädagogischer Einflüsse die Rede, stellt sich die Frage nach der Transformation habitueller Muster, um die Grenzen des generativen Prinzips des Habitus aufzuzeigen und auszuhebeln. Die Verknüpfung der Habitus-Theorie mit dem Bildungsbegriff ist zunächst nicht neu. Dass der Begriff Bildung für Bourdieu eine Sonderstellung hatte, erkennt man daran, dass er ihn in seinen originalen Texten in Deutsch wiedergegeben hat oder als Abgrenzung für Erläuterungen verwendet (vgl. hierzu Bourdieu 1983: 186). Nach Wigger (2006: 104) hat Bourdieu aufgrund der Bedeutungsvielfalt des Bildungsbegriffs den Habitus-Begriff vorgezogen. Neben Wigger, der sich über die Biografieforschung unter dem Fokus von Lern- und Bildungsgeschichten dem Habitus nähert, betrachten andere die Habitus-Formungen und -Umformungen (Alkemeyer 2006) oder Bildung als Habitus-Transformation (von Rosenberg 2011; Koller 2012). Die argumentative Struktur der Texte oben genannter Autoren ähnelt sich dabei sehr. Angefangen von der Betrachtung des Habitus als Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema werden die Grenzen und Limitierungen aufgezeigt, die mit einer milieuspezifischen Sozialisation einhergehen. Zunächst ist der Aspekt der unbewussten Ausführung der Schemata des (medialen) Habitus von Bedeutung, die – und das eröffnet im Weiteren dann den Weg zur Bildungstheorie – ergänzt werden durch Handlungen, die durch bewusste und damit auch reflexive Prozesse ermöglicht werden: „Der Habitus ist ein Produktionsprinzip von Praktiken unter anderen, und obwohl er sicher häufiger eingesetzt wird als jedes andere – »wir sind«, heißt es bei Leibniz, »in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten« –, ist doch nicht auszuschließen, daß unter gewissen Umständen – insbesondere in Krisensituationen, in denen die unmittelbare Angepaßtheit von Habitus und


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Feld auseinanderbricht – andere Prinzipien, so das bewußte und rationale Kalkül, an seine Stelle treten.“ (Bourdieu 1989: 397) Damit sind zwei Aspekte angesprochen, die für eine Betrachtung von Bildung und Habitus von Bedeutung sind. Der erste wird von Koller treffend wie folgt beschrieben: „Das Interesse Bourdieus gilt dabei insgesamt eher der relativen Stabilität gesellschaftlicher Verhältnisse bzw. der Bedeutung des Habitus für die Aufrechterhaltung und Reproduktion objektiver Strukturen als Phänomenen des sozialen Wandels oder individueller Transformationsprozesse. Vor diesem Hintergrund liegt die Bedeutung, die das Habituskonzept für eine Bildungstheorie haben könnte, die an der Beschreibung und Erklärung individueller Veränderungen interessiert ist, zunächst vor allem darin, dass es die Trägheit individueller Welt- und Selbstverhältnisse und damit die Schwierigkeiten betont, die solchen Veränderungen im Wege stehen. Bourdieus Theorie stellt so gesehen eine Beschreibung oder Erklärung weniger für die Möglichkeit als vielmehr für die Unwahrscheinlichkeit transformatorischer Bildungsprozesse dar.“ (Koller 2011: 26; Herv. im Original) Die Unwahrscheinlichkeit von Bildungsprozessen lässt sich auf die Automatismen des generativen Prinzips des Habitus und – als dessen Basis – die Inkorporierung sozialer Strukturen zurückführen. Damit einher geht ein Widerstand, eine Beharrlichkeit existierender Muster gegenüber Veränderungen. Damit hat der Habitus-Begriff „den entschiedenen Vorteil, dass er nicht nur die Limitationen solcher Welt- und Selbstverhältnisse durch gesellschaftliche Bedingungen beschreibt, sondern dabei auch die körperliche Verwurzeltheit einmal erworbener Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsdispositionen und damit den Widerstand hervorhebt, den diese jeder Transformation entgegensetzen“ (Koller 2002: 198). Der Habitus ermöglicht es uns, in unserer Welt problemlos zu handeln, und gleichzeitig sucht er danach den einfachsten Weg einzuschlagen: „Durch die systematische »Auswahl«, die er zwischen Orten, Ereignissen, Personen des Umgangs trifft, schützt sich der Habitus vor Krisen und kritischer Befragung, indem er sich ein Milieu schafft, an das er soweit wie möglich vorangepaßt ist, also eine relativ konstante Welt von Situationen, die geeignet sind, seine Dispositionen dadurch zu verstärken, daß sie seinen Erzeugnissen den aufnahmebereitesten Markt bieten.“ (Bourdieu 1987: 114; Herv. im Original) Folgt man diesen Aussagen und setzt sie in Bezug zum Bildungsbegriff ergibt sich eine bedeutende Diskrepanz: Während man im Kontext von Bildung von der „Möglichkeit einer Emanzipation von gegebenen und früheren Zuständen, die Möglichket einer radikalen Transformation der Subjektivität, ihres Denkens und Handelns“ (Wigger 2006: 109) ausgeht, bietet Bourdieu die Perspektive der Unwahrscheinlichkeit dieser Prozesse. Trotzdem verändert sich der Habitus durch ständige Aktualisierungsprozesse und durch die Versuche sich auch an die veränderten Lebensbedingungen anzupassen: „Erstens, der Habitus realisiert, aktualisiert sich lediglich in der Beziehung zu einem Feld, wie auch ein und derselbe Habitus je nach Zustand des Feldes zu höchst unterschiedlichen Praktiken und Stellungnahmen führen kann. […] Zum zweiten: Der Habitus, Produkt sozialer Konditionierungen, folglich einer Geschichte (im Gegensatz zum Charakter), ist in unaufhörlichem Wandel begriffen, sei es, daß er sich verstärkt, und zwar immer dann, wenn die inkorporierten Erwartungsstrukturen auf Strukturen von Chancen stoßen, die mit den Erwartungen objektiv übereinstimmen, sei es, daß er sich grundlegend verändert, wenn das Erwartungsniveau, die Anspruchslage sich erhöht oder aber sinkt (was zu sozialen Krisen führen kann).“ (Bourdieu 1989: 406–407)


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Bis hier kann also zunächst festgehalten werden, dass der Habitus bei Bildungsprozessen eher als Hindernis beschrieben werden kann und Veränderungen nur im Kontext der Handlungen und im Verhältnis zum Feld zu sehen sind. Dennoch – und das ist der zweite Aspekt mit dem Bildung vor dem Hintergrund des Habitus-Konzepts betrachtet werden kann – kann von Situationen gesprochen werden, die zu einer Transformation als einer tief greifenden Veränderung habitueller Muster und damit des Verhältnisses von Selbst und Welt führen können. Nach von Rosenberg (2011: 76–83) bestehen über einzelne Aspekte drei Möglichkeitsszenarien, bei denen habituelle Muster verändert werden können. Das erste basiert auf der Annahme der Mehrdimensionalität, eine komplexere Betrachtung des Konstrukts Habitus über einzelne Aspekte wie Geschlecht, Milieu, Alter und Bildung hinaus, indem diese ganzheitlich in ihren Überlagerungen der (auch gegensätzlichen und widersprüchlichen) habituellen Muster betrachtet werden. Genau hier liegt der Raum für Bildungsprozesse, indem diese Differenzpotenziale zu reflexiven Prozessen führen. Der zweite Aspekt der Iterabilität beruht auf der zeitlichen Differenz von Genese und der Reproduktion von habituellen Mustern: „Die Prozesshaftigkeit des Habitus beinhaltet eine Notwendigkeit der Wiederaufführung. In diesem Sinne ist der Habitus ein dynamisches Prinzip. Folgt man dem Konzept der Iterabilität, beinhaltet die Wiederaufführung jedoch auch immer ein Moment der konstitutiven Kontingenz. Die Wiederaufführung beinhaltet damit auch immer die Möglichkeit des Scheiterns oder des Fehlerhaften. Bei jeder Reproduktion des Habitus ist demnach ein Moment der Unruhe konstitutiv, der nicht stillzustellen ist.“ (von Rosenberg 2011: 80) Die dritte Möglichkeit ergibt sich nun aus der Relation Habitus und Feld. Bereits unter dem ersten Aspekt wurde mit dem Zitat von Bourdieu auf die Aktualiserungsleistung der Akteure in der Beziehung zu einem Feld hingewiesen. Wesentlich für die Veränderungen von Selbst und Welt ist die Transformation des Habitus. Die Diskrepanz zwischen Habitus und Feld muss also bedeutender ausfallen und als Folge muss die schleichende Aktualisierung als unzureichend klassifiziert werden. Gleichwohl muss eine solche Situation weniger Optionen offenlassen, mit denen sich der Habitus sein eigenes Milieu schafft und vor Veränderungen zu schützen versucht. Damit sind drei Möglichkeiten (Mehrdimensionalität, Iterabilität und Inkongruenz) aufgezeigt, die eine Transformation des Habitus erlauben. Bezugnehmend auf Koller (2002: 190) führt von Rosenberg aus, dass eine weitere Sichtweise möglich sei, die stärker auf symbolische Kämpfe als Ringen um die Durchsetzung der eigenen Sichtweise und somit Deutungshoheit bei der Unbestimmtheit von Objekten der sozialen Welt abzielt. Diese Sichtweise ergänzt letztlich den dritten Punkt mit der Relation von Habitus und Feld unter der Berücksichtigung von Machtverhältnissen. Damit einher geht die Frage, ob Medien an den Prozessen einer Transformation des Habitus beteiligt sein können oder gar passende Situationen evozieren. „Während es bei Wandlungsprozessen des Habitus zu der Transformation einer Logik der Praxis kommt, beziehen sich Transformationen des Habitus auf die Transformation der Relation unterschiedlicher Logiken der Praxis. Mit dieser Unterscheidung kann die Frage nach der Wandlungs- und Transformationsfähigkeit eines Habitus weiter differenziert werden“ (von Rosenberg 2011: 285; Herv. im Original) Wesentlich ist also die Förderung eines variantenreichen, für transformative Prozesse offenen medialen Habitus. Wie bereits zu Beginn erläutert, spielen dabei die Prozesse der Enttraditionalisierung und Mediatisierung eine wichtige Rolle und damit auch die Medienbildung.


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In diese Richtung zielt auch die Argumentation von Jörissen und Marotzki (2010: 107), wenn gesellschaftliche und individuelle Krisen als Signaturen hochkomplexer Gesellschaften gelten können und Subjekte somit immer häufiger gefordert sind, Orientierungswissen aufzubauen und ihr Verhältnis von Selbst und Welt zu reflektieren und ggf. neu auszurichten. „Es geht also letztlich darum, mit Unbestimmtheiten in adäquater Form umgehen zu lernen“ (Jörissen/Marotzki 2010: 108; Herv. im Original). Exemplarisch werden vier Momente (Fähigkeit im Umgang mit Kontigenz, Flexibilisierung, Tentativität, Einlassen auf Anderes und Fremdes) hervorgehoben (vgl. Jörissen/Marotzki 2010: 107–108), die entsprechend den obigen Möglichkeitsszenarien nach von Rosenberg als förderlich für eine erfolgreiche Transformation des medialen Habitus angesehen werden können. Insbesondere die digitalen Medien bieten Raum hierfür und ermöglichen somit Bildungsprozesse, die als Transformation der Relation unterschiedlicher Logiken der Praxis angesehen werden können.

6. Zusammenführung Zwei Aspekte vor dem Hintergrund des Habitus-Konzepts sind aus medienpädagogischer Sicht von besonderer Bedeutung. Zum einen der Aufbau von Dispositionen im Sinne des kulturellen Kapitals und zum anderen die Veränderung bzw. Transformation von Dispositionen im Sinne einer Veränderung des Welt-Selbst-Verhältnisses. Es bleibt zu beobachten, inwiefern die Enttraditionaliserung und Mediatisierung dazu führen, dass die Transformation des (medialen) Habitus aufgrund der Kontingenz von Lebensverhältnissen ein häufiger anzutreffendes Phänomen sein wird. Die Betrachtung von Medienkompetenz vor der Folie des medialen Habitus kann zunächst als größtenteils kompatibel bezeichnet werden. Medienkompetenz als kulturelles Kapital zu fassen, ermöglicht die Betrachtung soziokultureller Unterschiede und löst den Begriff somit aus der reinen Subjektperspektive heraus. Damit wird der Weg frei, nach Milieu unterschiedliche Ausformungen zu betrachten und strukturelle Einflüsse besser zu verstehen. Komplexer wird die Kombination von (Medien-)Bildung und (medialem) Habitus. Problematisch erscheint zunächst die Klärung der Begriffe und ihrer Reichweite (vgl. Wigger 2006: 103–104). Die Verbindung von Habitus und Bildung erscheint in vielfältiger Weise anschlussfähig zu sein, birgt jedoch zu bearbeitende Probleme, die im jeweiligen Blick oder Erkenntnisinteresse der Bildungs- oder Habitus-Theorie stecken. Während Bourdieu den Habitus als ein System von Grenzen und Limitierungen anspricht, geht es bei Bildungsprozessen gerade um die Aufhebung dieser Grenzen, wobei die prinzipielle Möglichkeit dieser Prozesse betont wird. Während Bildung auf das Subjekt rekurriert, kann diese Perspektive mit dem Habitus-Konzept um gesellschaftliche Einflüsse und Bedingungen von Bildung erweitert werden (vgl. dazu ausführlicher Wigger 2006: 101–104). Damit werden differente Zugänge zu Bildung ersichtlich (vgl. Bremer 2006) und erlauben so vielleicht auch eine gezielte Einflussnahme und Förderung. In diesem Kontext erlaubt der Fokus auf Medien, aktuelle Fragestellungen etwa bei Digitaler Ungleichheit von den Ursachen bis hin zu möglichen Ansätzen zur Überwindung der Klüfte detailliert zu bearbeiten und zu analysieren. Die Medienpädagogik schafft es so, sich zu aktualisieren und stärker als Ansprechpartner für gegenwärtige gesellschaftliche Probleme zu positionieren.


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Sven Kommer

Das Konzept des „Medialen Habitus“: Ausgehend von Bourdieus Habitus-Theorie Varianten des Medienumgangs analysieren Beitrag Online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/602

Abstract Sven Kommer fragt in seinem Beitrag, inwieweit das Habitus-Konzept als Erklärungsmuster für die beobachtbare Zementierung sozialer Ungleichheit im Schulsystem greift. Dabei konstatiert der Beitrag, dass alle an der Weiterschreibung des Habitus-Konzepts beteiligten AutorInnen sich darin einig sind, dass es wichtige Beiträge für die Selbst-Aufklärung einer weitestgehend mediatisierten Gesellschaft leistet. Der Artikel geht dabei – auch angesichts der PISA-Studien – von dem empirischen Befund aus, dass die individuelle Ausprägung der Medienkompetenz aufs Engste mit den Ressourcen des Elternhauses verbunden ist und sich dabei die elterlichen Formen der Medienerziehung unübersehbar mit den aktuellen medialen Handlungspraxen verbinden. Dieser Befund deckt sich auf weite Strecken auch mit den Ergebnissen der Bildungssoziologie Pierre Bourdieus, weshalb die Diskussionen zum medialen Habitus im Rahmen dieser Ausführungen auch mit empirischen Argumenten unterfüttert werden. Ganz in diesem Sinne arbeitet der Artikel auch heraus, dass die aus dem Kontext der Cultural Studies stammenden Thesen zur Nivellierung kultureller Milieu-Unterschiede wenig empirisch fundiert sind. The concept of “media habitus:” an analysis of varieties of media use based on Bourdieu’s theory of habitus. In his essay, Sven Kommer questions whether the notion of habitus is suitable to support the understanding of the obvious consolidation of inequality in the school system. He shows that all authors active in the continued use of the notion of habitus agree that it offers important contributions to the self-enlightenment of a largely mediatized society. The starting point of the essay is – also regarding the PISA studies – the empirical finding that individual media literacy is closely related to the resources of the parent’s household, and parental forms of media education are clearly linked to current media practices. These findings also coincide with the results of Pierre Bourdieu’s sociology of education, which is why discussions of media habitus are also based on empirical arguments. In this spirit, the essay also establishes that the assumptions of a leveling of cultural differences associated mainly with Cultural Studies are little substantiated by empirical data.

Einleitung Die Auseinandersetzung mit dem von Pierre Bourdieu über einen langen Zeitraum weiterentwickelten Habitus-Konzepts gewinnt – nach einer ersten Rezeptionswelle in den Erzie-


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hungswissenschaften in den 1980er-Jahren (vgl. Liebau 2006) – in jüngerer Zeit wieder (oder nochmals?) an Bedeutung. Die Lesarten sind dabei durchaus divergent, und es ist – insbesondere im Kontext der PISA-Studien – umstritten, inwieweit das Habitus-Konzept als Erklärungsmuster für die beobachtbare Zementierung sozialer Ungleichheit im Schulsystem greift. Die von der AutorInnengruppe um Baumert (z. B. Maatz et al. 2010) präferierte Orientierung an einem „rational-choice“-Ansatz erscheint aus Sicht der im Folgenden vorgestellten Überlegungen als durchaus problematisch.1 Das von Kommer (2006) in ersten Überlegungen vorgestellte Konzept des „medialen Habitus“ orientiert sich dann auch eng an Bourdieus Überlegungen (der 2003 von Swertz in Wien ebenfalls unter dem Label „medialer Habitus“ entwickelte Ansatz ist – mit einem expliziten Rekurs auf McLuhan – theoretisch zunächst anders konturiert). Von allen inzwischen an der Weiterschreibung beteiligten AutorInnen wird davon ausgegangen, dass eine auf Bourdieu rekurrierende Empirie und Theoriearbeit wichtige Beiträge für die Selbst-Aufklärung einer weitestgehend mediatisierten Gesellschaft leistet. So liegt hier ein Ansatz vor, der die vielfach zu beobachtenden Verkürzungen traditioneller Rezeptionsstudien wie auch die perspektivischen Einseitigkeiten kulturalistischer Analysen vermeidet. Besonders hilfreich erscheint die Orientierung auf den medialen Habitus bei der Analyse medial induzierter wie auch medial formierter gesellschaftlicher Ungleichheiten. Vor dem Hintergrund einer Entwicklung, die nicht nur Medien längst zu relevanten Sozialisationsinstanzen gemacht hat, sondern auch die lange postulierte klare Trennung zwischen „realen“ und „medialen“ bzw. „virtuellen“ Welten als obsolet erscheinen lässt (vgl. Luhmann 2004), gewinnt eine auf die „feinen Unterschiede“ orientierte Analyse des Medienumgangs nochmals an Relevanz. Im Folgenden wird zunächst die von konkreten empirischen Befunden angestoßene Genese des Konzepts „medialer Habitus“ skizziert. Im Anschluss daran werden einige zentrale Überlegungen zur Lesweise und Anschlussfähigkeit von Bourdieus Habitus-Theorie skizziert, bevor das Konzept des „medialen Habitus“ vorgestellt und auf seine Perspektivierungen und Leistungsfähigkeit hin befragt wird. Den Abschluss bildet ein kurzer Blick auf die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse und bestehende Desiderata.

Vorspiel: Warum medialer Habitus? – Kontextbedingungen Die erste Ausarbeitung des Konzepts „medialer Habitus“ war im Rahmen des Forschungsprojekts „Medienbiographien mit Kompetenzgewinn“ zunächst keineswegs intendiert und vorgesehen (vgl. Kommer/Biermann 2012; Kommer 2010; Biermann 2009; Kommer 2006). Ausgangspunkt für die Entwicklung waren erste Analysen der im Projekt erhobenen (vornehmlich qualitativen) Daten.2 Schon früh zeichnete sich die Notwendigkeit ab, eine theoretische Rahmung zu finden, die es ermöglichte, die empirischen Befunde einzuordnen und 1

So setzt eine derartige, als gegeben gesetzte, „rationale Wahl“ voraus, dass sowohl die nicht nur von Bourdieu vielfach beschriebene Illusio, sondern auch die für meine Überlegungen wichtige Annahme „blinder Flecken“ (sensu Varela/Maturana 1987) außer Kraft gesetzt wird. 2 Im Rahmen dieses Projekts wurden in den Jahren 2003 und 2004 insgesamt 37 SchülerInnen (Hauptund Realschulen) im 9. Schuljahr sowie 29 Lehramts-Studierende der PH Freiburg befragt. Zusätzlich wurden einige der ProbandInnen beim Umgang mit dem PC beobachtet und die von einem Teil der Befragten erstellten Präsentationen ausgewertet. Biermann (2009) hat in einem Folgeprojekt eine quantitative Erhebung mit über 1000 Lehramtsstudierenden durchgeführt.


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zu reflektieren. Projektimmanent galt dies insbesondere für die folgenden Punkte (vgl. Kommer 2010): • Zunächst einmal für die Beobachtung, dass die jeweilige individuelle Ausprägung der Medienkompetenz über weite Strecken meist aufs Engste mit den Ressourcen (Kompetenzen, Kapitalausstattung) des Elternhauses verbunden ist. Eine konsequente Entkoppelung/Individualisierung wie sie in der Rezeption von Beck (1986) vielfach geradezu gesetzt wurde, zeigte sich in unseren Daten keinesfalls. • Weiterhin deutete sich an, dass die elterlichen Formen der Medienerziehung (wie auch andere Aspekte einer kulturellen Sozialisation) unübersehbar mit den aktuellen medialen Handlungspraxen und Zuschreibungen verbunden sind. Somit ist auch hier eher eine intergenerationelle Transmission (mit Variationsbreite) als eine Entkoppelung von Herkunftsfamilie und Herkunftsmilieu (zum Milieubegriff vgl. u. a. Berger 2006; Bremer/Lange-Vester 2006) zu beobachten. • Ausgehend von den bei den SchülerInnen zu beobachtenden Medien-Kompetenzunterschieden stellte sich die Frage, warum es der Institution Schule trotz aller Wandlungsprozesse nicht bzw. kaum gelingt, die aus der bisherigen Sozialisation resultierenden Unterschiede zu nivellieren. • Mit Blick auf vorliegende Daten wurde in diesem Zusammenhang auch die Frage virulent, wie es dazu kommt, dass Lehrpersonen zwar in ihren Privathaushalten überdurchschnittlich gut mit Computern und Internet ausgestattet sind, die digitalen Medien im eigenen Unterricht aber kaum einsetzen. • Weiterhin war ein Erklärungsmuster für die Tatsache zu entwickeln, dass außerschulisch erworbene Medienkompetenzen der SchülerInnen im schulischen Kontext oft nicht anerkannt wurden. Die SchülerInnen wiederum hatten ihrerseits über weite Strecken nicht den Eindruck, in der Schule relevante Medienkompetenzen zu erwerben. Die Relevanz eines Konzepts, das auch (aber nicht allein) die subjektiven Perspektiven, Deutungsmuster und Dispositionen (sowie ihre Genese), die den Medien entgegengebracht werden, reflektiert und analytisch zugänglich macht, zeigte sich im besonderem Maße bei dem Vergleich der Lehramtsstudierenden mit den SchülerInnen. Hier wurden sehr unterschiedliche, längst habitualisierte und der Reflexion entzogene Zugangsweisen zu den verschiedenen Medien sichtbar. Da sowohl Aspekte von „kulturellem Kapital“, von Geschmack, aber auch von „Hysteresis“ eine große Rolle spielten, erschien die Rückbesinnung auf Bourdieu hilfreich und erkenntnisgenerierend. Jenseits des direkten Forschungskontextes waren für die Orientierung an Bourdieus Habitus-Theorie eine Reihe von weiteren Aspekten ausschlaggebend: • Die Rezeption des auf empirischen Daten beruhenden Modells der vor allem für die kommerzielle Zielgruppenanalyse genutzten „Sinus-Milieus“ (2004) wie auch die (ebenfalls empirisch grundierten) Befunde von Vester (2006) und Lange-Vester (2006) plausibilisieren die Annahme, dass nach wie vor von einer gesellschaftlichen Segmentierung und Formen sozialer Ungleichheit auszugehen ist und die Herkunftsfamilie dabei eine hoch relevante Rolle spielt. • Die Daten der PISA-Studien, insbesondere zu den vom elterlichen Bildungsmilieu abhängigen Chancen des Übergangs auf das Gymnasium, weisen in eine ähnliche Richtung. • Daten zur Medienkompetenz und zum Medienumgang (z. B. Göttlich u. a. 2001) zeigten


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(und zeigen), dass der individuelle Medienumgang wie auch die beobachtbare Medienkompetenz häufig in engem Zusammenhang mit dem Herkunftsmilieu stehen. Besonders deutlich wird die Koppelung zwischen elterlichem Medienumgang und dem der nachfolgenden Generation im Kontext der Leseforschung. • Vor diesem Hintergrund verstärkte sich nochmals der Vorbehalt gegenüber den – zumindest in meiner Wahrnehmung – überzogenen (und zugleich verkürzten) Rezeptionen des Beck’schen Individualisierungstheorems. Daneben erschienen mir auch manche, insbesondere aus dem Kontext der cultural studies stammende Thesen zur Nivellierung (wenn nicht gar Auflösung) kultureller Milieu-Unterschiede wenig empirisch fundiert. Überspitzt ausgedrückt liegt hier der Verdacht einer unreflektierten Infiltration durch genuin neoliberales Gedankengut nahe. Nur so kann die Annahme einer auf einer freien Entscheidung beruhenden Wahl von Lebensweg, Milieuzugehörigkeit und auch Gender plausibel gelesen werden. • Eine weitere Wurzel der Konzept-Genese stellte die Auseinandersetzung mit den Thesen des biologischen Konstruktivismus (insbesondere Maturana/Varela 1987) und dem streckenweise darauf aufbauenden systemtheoretischen Ansatz Luhmanns dar. Eine daran orientierte Lesweise des Konzepts der „Selbstsozialisation“ (Fromme u. a. 1999) erscheint mir hier über weite Strecken anschlussfähig. • Und nicht zuletzt spielten hier eigene, biografisch verwurzelte „Fremdheitserfahrungen“ bei der Annäherung an fremde, nicht der eigenen Herkunft entsprechende Milieus eine Rolle. Im umfangreichen Denken und Werk von Bourdieu sind für die weiteren Überlegungen aus meiner Sicht vor allem drei Aspekte von besonderer Bedeutung: Zunächst der Befund, dass der „Geschmack“ einer Person in der Regel aufs Engste mit der Verortung im sozialen Raum verbunden ist. Der Geschmack – der seinen Ausdruck auch in den Präferenzen und Dispositionen der Mediennutzung findet – ist damit nach Bourdieu Ausdruck des „,Klassenhabitus“. Diese soziale Verortung wird aber nicht reflexiv, vielmehr wird das eigene Geschmacksurteil (wie auch andere kulturelle Wertzuschreibungen) essenzialisiert. Weiterhin die Feststellung, dass auch die Institution Schule quasi über einen Habitus verfügt – und damit SchülerInnen, die einen diesem nahen oder zumindest weitestgehend an diesen anschlussfähigen Habitus mitbringen, systematisch bevorzugt. Der schulische Umgang mit verschiedenen Nutzungs- und Geschmacksmustern im Kontext der (neueren) Medien erscheint dabei geradezu paradigmatisch. Und nicht zuletzt der Hinweis, dass Habitus „träge“ ist. Diese Hysteresis kann dazu führen, dass sich (z. B. im Bildungswesen) Habitus-Formen finden, die dem aktuellen Stand einer (medien-)gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr adäquat sind. Im Feld der Schule und mit dem Fokus auf den Medienumgang werden so bereits auf der theoretischen Ebene mögliche Habitus-grundierte Konfliktlinien sichtbar, die sich dann auch im empirischen Material finden: Die medienbezogenen Geschmacksmuster der (angehenden) Lehrpersonen sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht immer kongruent mit denen der ­SchülerInnen, sind aber (möglicherweise) unreflektierte Grundlage für Werturteile. Dies gilt insbesondere dann, wenn zusätzlich zu den unterschiedlichen Generationenlagerungen unterschiedliche Herkunftsmilieus aufeinandertreffen (Gymnasial- und Hochschulkarriere der Lehrpersonen versus anders gelagerte Lebensläufe in Haupt- und Realschulmilieus aufseiten der SchülerInnen). Weiterhin wandeln sich – folgt man den einschlägigen Daten, wie sie sich


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beispielsweise in den KIM- und JIM-Studien finden – die Medien-Milieus der jüngeren Generationen wesentlich rascher, als es das Bildungssystem mit seinen oft von Beharrlichkeit geprägten Strukturen jemals kann. Nicht zuletzt stellt sich damit die Frage nach den Gegenständen und Methoden des Unterrichts. Dabei gilt immer die Prämisse, dass die Wertigkeit (nicht nur) von kulturellen Gütern (und des jeweiligen Geschmacks) keineswegs im Sinne Kants absolut gesetzt ist. Vielmehr sind mit Bourdieu die Wertzuweisungen stets als Produkte gesellschaftlicher Diskurse und auf Dauer gestellter Machtkämpfe im sozialen Raum wie auch in den verschiedenen sozialen Feldern zu lesen.

Erster Akt: Habitus Titel wie „Die feinen Unterschiede“ oder „Das Elend der Welt“ machen unmissverständlich darauf aufmerksam, dass Fragen nach Formen, Ursachen und Fortdauer von sozialer Ungleichheit im Zentrum der Überlegungen von Bourdieu stehen. Anders als z. B. Luhmann ist er damit ein Vertreter der Macht- und Ungleichheitssoziologie. Dies ist stets im Blick zu behalten, wenn im weiteren Verlauf bestimmte Aspekte der beiden Theorien miteinander in Verbindung gebracht werden (vgl. dazu auch Nassehi 2004). Da die wesentlichen Aspekte der Theorie Bourdieus inzwischen vielfach dargestellt worden sind (Rehbein 2011; Krais/Gebauer 2002; Schwingel 2000), fokussiert die Darstellung im Folgenden auf Aspekte, die für meine, die Überlegungen zum medialen Habitus grundierende Lesweise von Bourdieu zentral sind. Dies dient darüber hinaus auch der Verdeutlichung der eigenen Position. Ausgangspunkt sind dabei drei Grundannahmen: Zum einen lese ich alle Aussagen Bourdieus zur Reproduktion gesellschaftlicher Ordnung, zur intergenerationellen Transmission insbesondere von kulturellem Kapital und natürlich von Habitus (und seiner Formierung) zunächst einmal als empirisch grundierte Wahrscheinlichkeitsaussagen (vgl. Rehbein 2011, 82). Formierungsprozesse können (jenseits der grundsätzlich gegebenen, individuellen Variationen) also immer auch ganz anders verlaufen – nur ist dies eben sehr viel unwahrscheinlicher und empirisch seltener zu beobachten. Darüber hinaus verstehe ich diese Prozesse und ihre (stets temporären) Produkte im Sinne des auf Maturana zurückgehenden (und dann von Luhmann in die Soziologie eingeführten) Konzepts struktureller Koppelungen autopoietischer, operationell geschlossener, strukturell plastischer und nicht zuletzt: geschichtlicher Systeme als rekursiv und dynamisch. Die vielfach an Bourdieus Ansatz geübte Kritik allzu deterministischer Annahmen greift damit aus meiner Sicht ins Leere. Weiterhin gehe ich mit Bourdieu – und entgegen diverser modernisierungstheoretischer, individualisierungstheoretischer und sozialisationstheoretischer Ansätze – aufgrund von vielfältigen empirischen Evidenzen davon aus, dass die aktuellen westlichen Gesellschaften nach wie vor (und vielleicht sogar wieder zunehmend) von sozialen und kulturellen Ungleichheiten geprägt sind. Allerdings ist m. E. empirisch grundiert danach zu fragen, wie sich diese Ungleichheiten aktuell darstellen. Dies gilt sowohl für eine möglicherweise höhere Komplexität als auch für die Frage nach der Bestimmung dessen, was Bourdieu als „legitime Kultur“ bezeichnet.


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Habitus Das Konzept des Habitus erlaubt es Bourdieu, die Frage nach dem Zusammenhang von Bildung, Herkunft und Verortung im sozialen Raum als ein komplexes Wirk- und Bedingungsgefüge zu bearbeiten und so die aus Bourdieus Sicht einseitigen Perspektivierungen von objektivistischen oder subjektivistischen Betrachtungsweisen aufzuheben beziehungsweise über diese hinauszugreifen (vgl. Bourdieu 2005c). Der Bestimmung dessen, was er unter Habitus versteht, nähert sich Bourdieu immer wieder von verschiedenen Seiten an. Eine zentrale Perspektive ist dabei die Orientierung auf habitusbedingte Grenzen und damit auf Einschränkungen der Wahlfreiheit. Anders als in handlungstheoretischen Diskurslinien wird hier angenommen, dass für das Subjekt nicht alle Bedingungen einer Entscheidung reflexiv und im Sinne einer „rational choice“ nutzenmaximierend abwägbar sind: „Er [der Habitus; S. K.] bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist. Mit anderen Worten: Der Habitus ist ein System von Grenzen. Wer z. B. über einen kleinbürgerlichen Habitus verfügt, der hat eben auch, wie Marx einmal sagt, Grenzen seines Hirns, die er nicht überschreiten kann“ (Bourdieu 2005a, 33). Wenn Bourdieu „Habitus“ in einer solchen Form als „simple Sache“ vorstellt, rekurriert er zunächst einmal provokativ auf Momente des lebensweltlichen Alltags. Der Differenziertheit seiner eigenen Theorie und Analyse wird eine solche Aussage nicht gerecht. So gerät hier zunächst aus dem Blick, „dass die Menschen die gesellschaftlichen Strukturen aber auch gestalten“ (Rehbein 2011, 84).3 Die starke Betonung von „Grenzen“ bezieht sich vor allem auf die Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs. Dieser ist verwehrt – oder zumindest äußerst erschwert –, wenn der Habitus nicht der der „herrschenden Klasse“ ist und die aktive Teilhabe an der „legitimen Kultur“ nicht den unhinterfragten Normalfall darstellt. Bourdieus Denken kreist immer wieder um die Analyse solcher „Grenzen“ (wie auch um Möglichkeiten ihrer Aufhebung). Mit Bourdieu können solche „Grenzen“ aber auch machttheoretisch als die Grenzen, die die Anderen (also hier z. B. die Vertreter der legitimen Kultur) setzen, gelesen werden. Aus meiner Sicht bietet sich hier noch eine weitere Lesweise an: Vor der Folie einer konstruktivistischen Wahrnehmungstheorie (z. B. Maturana/Varela 1987) könnte man hier auch von „blinden Flecken“ als Grenzen der Wahrnehmung und der Wertschätzung sprechen. Pragmatisch gewendet: Wenn ich habituell bedingt bestimmte Formen der digitalen Kommunikation nicht wahrnehme, kann ich beispielsweise auch den (möglichen) Bildungswert von „Twitter“ nicht sehen. Die Frage nach der individuellen, letztendlich aber immer auch habitusspezifischen Formierung der Wahrnehmung stellt ein zentrales Moment des Habitus-Ansatzes dar und ist aufs Engste verbunden mit den jeweils realisierten Handlungsschemata: „Durch transformierende Verinnerlichung der äußeren (klassenspezifisch verteilten) materiellen und kulturellen Existenzbedingungen entstanden, stellt der Habitus ein dauerhaft wirksames System von (klassenspezifischen) Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata dar, 3

Damit lässt sich auch formulieren: Gesellschaft wird in einem auf Dauer gestellten performativen Akt des „doing (stratifizierte) Gesellschaft“ permanent neu konstruiert – und zugleich aufrechterhalten.


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das sowohl den Praxisformen sozialer Akteure als auch der mit dieser Praxis verbundenen alltäglichen Wahrnehmung konstitutiv zugrunde liegt.“ (Schwingel 2000, 67) In dieser Passage verweist Schwingel (2000) auf einen weiteren, zentralen Aspekt von Habitus: Seine Formierung und Ausprägung ist Ausdruck der „materiellen und kulturellen Existenzbedingungen“. Bourdieu spricht hier von der Ausstattung des (engeren, vor allem familiären) Sozialisationskontextes mit ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital. Zentral ist dabei zum einen die Annahme, dass sich divergente Habitus-Formen aus der unterschiedlichen Zusammensetzung und Gewichtung der Kapitalsorten ergeben (vgl. Bourdieu 1992).4 Zum anderen wird deutlich, dass die verschiedenen Kapitalformen nicht beliebig ineinander überführt werden können. So erleichtert das Vorhandensein von ökonomischem Kapital zwar die Akkumulation von kulturellem Kapital – „kaufen“ lässt sich dieses aber über weite Strecken nur bedingt, es bedarf meist zusätzlich des Einsatzes von Zeit (z. B. zum Lesen). Eine weitere, auf das Zusammenspiel von strukturierender und strukturierter Struktur abhebende Bourdieu’sche Bestimmung von Habitus bietet entscheidende Anknüpfungsmöglichkeiten für die weiteren Überlegungen: „Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur: das Prinzip der Teilung in logische Klassen, das der Wahrnehmung der sozialen Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen.“ (Bourdieu 1992, 279) Hier steht der stetige rekursive Prozess im Zentrum, in dem strukturierende und strukturierte Struktur sich gegenseitig immer wieder neu hervorbringen und stabilisieren. Erfolgt dieser Prozess mit einer Offenheit für Veränderungen der gesellschaftlichen, kulturellen und materiellen Umwelt, ist ein gesellschaftlicher Wandel möglich. Fehlt diese Offenheit, kommt es zu einer letztendlich dysfunktionalen Hysteresis, wie sie Bourdieu am Ausgangspunkt seiner Theorieentwicklung beim Volk der Kabylen beobachtet. (Und wie sie mir gelegentlich im Bildungssystem vorzuliegen scheint.) Ausgehend von diesem fundamentalen, rekursiven Hervorbringungsprozess von strukturierender und strukturierter Struktur, welcher die je aktuelle Struktur zum Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses macht (Ontogenese), schlage ich (ähnlich wie Scherr 2004) vor, hier den Anschluss an die Konzepte des biologischen Konstruktivismus von Maturana/Varela (1987) sowie zu der in wesentlichen Teilen auf diesen aufbauenden Systemtheorie (in ihrer auf Autopoiese etc. zielenden Fassung) Luhmanns zu sehen und zu suchen (vgl. Kommer 2008). Im Zentrum steht dabei für mich der Prozess der „strukturellen Koppelung“ (Maturana/Varela 1987), über den autopoietische, operationell geschlossene Systeme miteinander (oder mit ihrer Umwelt) verbunden sind. Zentral ist dabei die Umstellung von Determination auf Perturbation. Die Antwort eines Systems auf Perturbationen ist dabei ausschließlich von den Strukturen und dem Prozessieren des Systems abhängig, nicht aber von dem perturbierenden Agens. Dieser Prozess stellt die Basis der Luhmannschen Formulierung von „Selbstsozialisation“ dar. Selbstsozialisation meint damit keine von der Umwelt unabhängige Selbstformierung, sondern stellt vor allem von „Anpassung“ auf „von der Struktur und dem Prozessieren des pertubierten Systems abhängige Antwort auf Perturbationen aus der Umwelt“ um. Sozialisation – und damit auch 4 Beispielsweise ist ein akademisches Milieu häufig durch den umfangreichen Besitz von kulturellem Kapital geprägt, der einhergeht mit einer nicht so umfänglichen Ausstattung mit ökonomischem Kapital.


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der Transfer von kulturellem Kapital und Habitus – kann dann mit Luhmann folgendermaßen beschrieben werden: „Dauerirritationen eines bestimmten Typs, etwa die wiederholte Irritation eines Kleinkindes durch die Auffälligkeiten der Sprache oder die Irritation einer auf Landwirtschaft beruhenden Gesellschaft durch Wahrnehmung klimatischer Bedingungen, lenken die Strukturentwicklungen in bestimmte Richtung [sic!], weil diese Systeme sehr spezifischen Irritationsquellen ausgesetzt sind und sich daher dauernd mit ähnlichen Problemen beschäftigen. […] Jedenfalls gewinnt die Umwelt nur unter der Bedingung struktureller Kopplung und nur im Rahmen von dadurch kanalisierten und gehäuften Möglichkeiten der Selbstirritation Einfluß [sic!] auf die Strukturentwicklung von Systemen.“ (Luhmann 1997, 119) Nimmt man dabei weiterhin die von Luhmann (u. a. 2002) gemachte Unterscheidung von Erziehung und Sozialisation hinzu, wird deutlich, wie eng insbesondere in den frühen Lebensjahren die (hier verlasse ich zunächst einmal die Luhmannsche Systematik) Koppelung zwischen Heranwachsenden und ihrer Herkunftsfamilie (in der Regel) ausfällt – addieren sich doch Irritationen, die sich aus Operationen der Sozialisation wie auch aus Operationen der Erziehung ergeben, zu einem besonders dichten Muster von Irritationen gleichen (oder zumindest ähnlichen) Typs. Damit werden Strukturänderungen im Sinne einer Habitus-Ausprägung nach Bourdieu zumindest wahrscheinlicher als Änderungen in eine andere Richtung. So betont Scherr (2004) dann auch, dass in einem systemtheoretischen Konzept von Selbstsozialisation das Primat des Sozialen keineswegs aufgehoben ist. Anders als Scherr plädiere ich allerdings für eine konstruktivistisch/systemtheoretisch informierte Weiterführung von Bourdieus Modell5. Die Kapitalsorten Bourdieus (und ihre Struktur) sind dann als perturbierende Umweltbedingungen zu lesen, „Inkorporation“ und Einschreibung in den Körper als Strukturveränderungen des psychischen (und vielleicht auch in Teilen des biologischen) Systems. Bourdieu auf diese Weise zu lesen, bringt nicht unbedingt grundlegende Neuerungen. Neben der Anschlussfähigkeit an die oben skizzierten Diskurse sehe ich die große Chance einer solchen Perspektive vor allem darin, die Kritik eines Determinismus zu entkräften und die Transmissionsprozesse präziser zu fassen. Auch wird so – im Sinne eines gemeinsamen „strukturellen Driftens“ (Maturana/Varela 1987) der gekoppelten Systeme – die Prozesshaftigkeit und Geschichtlichkeit noch einmal betont. Für Analysen und Überlegungen im Kontext des Bildungssystems erscheint mir ein weiterer Aspekt des Habitus zentral: So ist dieser insbesondere auch davon geprägt, in welcher Form, unter welchen Kontextbedingungen und in welchen Zeitfenstern die ihn auszeichnenden Kapitalstrukturen – und hier insbesondere das kulturelle Kapital – erworben wurden: „Was die Ideologie des natürlichen Geschmacks als zwei gegensätzliche Modalitäten der kulturellen Kompetenz und ihrer Anwendung ausgibt, sind in Wirklichkeit unterschiedliche Arten des Erwerbs von Kultur und Bildung: Das umfassende und unmerklich vor sich gehen5

Auch wenn dies hier (noch) nicht weiter ausgearbeitet werden kann, sei doch zumindest darauf hingewiesen, dass Bourdieu selber mit der zunehmenden Ausarbeitung seiner Feldtheorie seinen Ansatz ebenfalls in diese Richtung fortschreibt. Ausführungen wie die folgende zeigen m. E. eine große Nähe zum Konzept der strukturellen Koppelung: „[…] so sollte man […] nicht sagen, daß ein geschichtliches Ereignis ein Verhalten auslöste, sondern daß es diese auslösende Wirkung hatte, weil ein von diesem Ereignis affizierbarer Habitus ihm diese Wirksamkeit verlieh.“ (Bourdieu 2004, 190)


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de, bereits in frühester Kindheit im Schoß der Familie einsetzende Lernen, das als eine der Voraussetzungen schulischen Lernens in diesem sich zugleich vollendet, unterscheidet sich vom später einsetzenden methodischen Lernen im Schnellverfahren weniger, wie es die konservativen Bildungsideologen so gerne hätten, durch die Tiefe und Dauerhaftigkeit ihrer Wirkungen, als durch die Modalität des Bezugs zur Sprache und Kultur, die es zusätzlich vermittelt. Es verleiht mit der Gewißheit [sic!], im Besitz der kulturellen Legitimität zu sein, Selbstsicherheit und jene Ungezwungenheit, an der man die herausragende Persönlichkeit zu erkennen meint; es schafft jenes paradoxe Verhältnis der Sicherheit aus (relativer) Ignoranz und der Ungezwungenheit aus Vertrautheit, das den alteingesessenen Bourgeois im Umgang mit der Kultur und Bildung, einer Art Familiengut, als dessen legitimer Erbe er sich betrachtet, kennzeichnet.“ (Bourdieu 1992, 120f.; Hervorhebung im Original) In dieser Passage wird anschaulich, was Bourdieu mit sozialer Vererbung meint: Nur wer die Teilhabe an der legitimen Kultur6 quasi mit der Muttermilch aufgesogen hat, kann sich vollkommen selbstsicher und natürlich in dieser bewegen. Dies gilt nicht nur für die Rezeption entsprechender kultureller Artefakte, sondern auch für das eigene Handeln: Wie verhalte ich mich z. B. im Konzertsaal (mit dem „Klassiker“: Wann darf geklatscht werden?) etc. Wer dagegen einen gesellschaftlichen Aufstieg hinter sich hat (wie Bourdieu selber), ist zum einen – so Bourdieu – durch die Strapazen dieses Aufstieges gezeichnet und zum anderen fast immer mit einem Rest von Unsicherheit behaftet. Ihm sitzt stets die Angst im Nacken, im entscheidenden Augenblick doch einen „Fehler“ zu begehen – und sich damit zu „outen“.

Geschmack In seinem auf umfangreiches Datenmaterial gegründeten zentralen Werk „Die feinen Unterschiede“ (1992) zeigt Bourdieu, dass der Geschmack (bzw. das „Schöne“) keineswegs im Sinne von Kant eine gegebene und absolute Entität ist (und damit eindeutig vom „barbarischen Geschmack“ geschieden werden kann), sondern eine aufs Engste mit dem Habitus verknüpfte gesellschaftliche Konstruktion darstellt.7 Damit kann der Geschmack auch als Klassifikationsschema für eine Segregation der Gesellschaft in Klassen (oder Milieus) herangezogen werden.8 Letztendlich manifestiert sich im Geschmack der Habitus, woraus folgt, dass der (zunächst scheinbar individuelle) Geschmack (also die Vorlieben für bestimmte Musikstile, Kleidungsformen, Lebensmittel etc.) das Produkt eines Sozialisationsprozesses ist. Aufs Engste an den trajectoire gebunden, ist er gerade nicht zufällig und auch nicht frei verfügbar. Letztendlich entsteht so als Produkt struktureller Koppelungen so etwas wie ein Klassengeschmack. 6 Selbstverständlich gilt dies auch für die Teilhabe an anderen Formen der Kultur. Da Bourdieu aber darauf zielt, die Reproduktion von gesellschaftlicher Macht zu analysieren, wendet er sich den anderen Kulturen (bzw. Klassen) kaum zu. 7 „Bourdieu verfolgt mit den ‚Feinen Unterschieden‘ vor allen Dingen das Ziel, die auf Immanuel Kant (1724–1804) zurückgehende bürgerliche Ideologie zu entlarven, wonach es einen aufgeklärten, wahren oder ästhetischen Geschmack auf der einen Seite und einen minderwertigen, ‚barbarischen‘ Geschmack auf der anderen Seite gäbe.“ (Treibel 2000, 218) 8 „Geschmack klassifiziert – nicht zuletzt den, der die Klassifikation vornimmt. Die sozialen Subjekte, Klassifizierende, die sich durch ihre Klassifizierungen selbst klassifizieren, unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede, die sie zwischen schön und häßlich, fein und vulgär machen und in denen sich ihre Position in den objektiven Klassifizierungen ausdrückt oder verrät.“ (Bourdieu 1992, 25)


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Für die jeweilige Ausprägung des Geschmacks kommt dabei dem Habitus der Eltern wie auch den im Elternhaus verfügbaren Kapitalsorten (und ihrer Struktur) ein hoher Stellenwert zu. Geht Bourdieu doch davon aus, dass sich die auf Geschmack grundierten Strukturen über eine „soziale Vererbung“ in der nachfolgenden Generation mehr oder weniger reproduzieren: „Wer in einer Familie aufwächst, in der Musik z. B. nicht nur per Radio oder Stereogerät gehört, sondern auch praktiziert wird – die ,musizierende Mutter‘ aus den bürgerlichen Autobiographien –, gar von Kindesbeinen auf mit einem ,vornehmeren‘ Musikinstrument wie dem Klavier zu spielen lernt, der verfügt zumindest über einen vertrauteren Umgang mit Musik.“ (Bourdieu 1992, 134) Der Geschmack, der wie auch der Habitus in der Regel nicht reflexiv wird und so zu einer Blindheit führt, die den eigenen Geschmack als „absolut“ setzt,9 hat dabei aber auch immer die Funktion der Distinktion, der Abgrenzung nach außen und der Selbstversicherung nach innen. Nur wer über den jeweils „richtigen“ Geschmack verfügt, gehört auch dazu – sodass es am Ende kaum erstaunlich ist, wenn man zu der Feststellung kommt, dass der Geschmack der FreundInnen und des näheren sozialen Umfeldes dem eigenen meist auffällig ähnlich ist. Bei der über den Geschmack erfolgten Klassenbildung ist der „legitime Geschmack“ herausgehoben. Dieser entspricht den kulturellen Praxen des Bildungsbürgertums und des Großbürgertums, die nach Bourdieu die herrschende Klasse darstellen. Aus dieser Position heraus gelingt es dieser hegemonialen Klasse in einem durchaus als Machtkampf zu verstehenden Prozess, „ihren“ Geschmack als den legitimen durchzusetzen.10 Mit dieser Fokussierung auf Legitimierungs- und Durchsetzungspraktiken innerhalb des kulturellen Feldes pointiert Bourdieu dann auch noch einmal die Kritik an einer „absoluten“ (oder „essenziellen“) Ästhetik im Sinne Kants und macht zugleich deutlich, dass es hier im Falle einer Neuverteilung der gesellschaftlichen Macht auch zu einer Neuinterpretation der Wertigkeiten von kulturellen Vorlieben und Praxen kommen kann.11 Nimmt man Bourdieus Ansatz radikal ernst, könnte im Verlauf gesellschaftlicher Wandlungsprozesse der populäre Geschmack zum legitimen avancieren12 (hiermit unterscheidet er sich fundamental von der Kultursoziologie Adornos). Was bei Bourdieu noch an traditionellen Kulturgütern und Geschmacksträgern orientiert ist, gilt – und dies scheint mir ein wichtiger Vorgriff – eben auch im Rahmen der Handlungspraxen im Umgang mit den aktuellen Medien. Und zwar sowohl, was die Nutzung bestimmter

9 Anders ausgedrückt: Die „Gemachtheit“ des eigenen Geschmacks (als Ergebnis eines Sozialisationsprozesses) stellt einen blinden Fleck bei der distinktiven Anwendung der Geschmacksurteile dar. 10 Zur Durchsetzung gehört – da es sich hier ja um einen Prozess von Wechselwirkungen handelt – auch die Anerkennung durch die anderen Klassen. Bourdieu selber betont an verschiedenen Stellen sein Erstaunen über die Tatsache, dass insbesondere die „mittleren Klassen“, die selber kaum an der „legitimen Kultur“ teilhaben, diese als fraglos ihrer eigenen überlegen etc. beschreiben. Die Wertungen werden hier also keinesfalls infrage gestellt, sondern im Gegenteil mit dem Preis der eigenen Selbst-Deklassierung noch verstärkt. 11 Bei der Auseinandersetzung mit Bourdieus Schriften entsteht allerdings der Eindruck, dass für ihn selber eine „Umwertung aller Werte“ in diesem Bereich kaum vorstellbar ist (vgl. Bourdieu 2005c). So entsteht leicht der Eindruck, Bourdieu würde letztendlich durch die Hintertür die Überlegenheit der bürgerlichen Kultur zementieren. 12 Möglicherweise können Prozesse, wie sie z. B. Featherstone (1991) unter dem Label „Consumer Culture“ beschreibt, durchaus in diese Richtung deuten.


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Medien an sich (Fernsehen, Internet, Web 2.0, etc.) angeht, als auch die Inhalte/Formate (z. B. Arte-Doku vs. Doku-Soaps der Privaten) und die auf sie bezogenen Rezeptionsmuster.

Habitus von Bildungsinstitutionen In Bourdieus Untersuchungen kommt der Auseinandersetzung mit dem (französischen) Bildungssystem eine besondere Bedeutung zu.13 So fragt Bourdieu (u. a. 2001) immer wieder danach, welche Rolle das Bildungswesen für die (Re-)Konstitution der gesellschaftlichen Strukturen spielt. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwieweit das Bildungswesen in der Lage ist, Benachteiligungen auszugleichen, die sich aus ungünstigen Habitus-Konstellationen ergeben. Schule könnte (und sollte) als gesamtgesellschaftliche Institution, die bewusst außerhalb der Familienstrukturen angesiedelt ist, eigentlich als „Faktor intellektueller und sozialer Befreiung“ (Bourdieu 2001, 20) fungieren. Die empirische Wirklichkeit stellt sich allerdings anders dar: Nachdem die Habitus-Transmission im Elternhaus längst ihren Ausgang genommen hat, kommt Schule zu spät und scheitert (ausgehend von der ihr eigenen Illusio) an ihrer habituellen Formierung. Da sie und auch ihr Personal ebenfalls am legitimen Geschmack orientiert ist (und damit Inhalte und Arbeitsformen anbietet, die nur für einen kleinen Teil der SchülerInnen zum „natürlichen“ Umgang gehören), trägt sie dazu bei, die gesellschaftliche Segmentierung zu rekonstituieren: „Die Kultur der Elite steht der Kultur der Schule so nah, dass Kinder aus einem kleinbürgerlichen (oder, a fortiori, bäuerlichen bzw. Arbeiter-) Milieu das nur mühsam erwerben können, was den Kindern aus der gebildeten Klasse gegeben ist: den Stil, den Geschmack, die Gesinnung, kurzum die Einstellungen und Fähigkeiten, die den Angehörigen der kulturellen Klasse nur deshalb als natürlich und selbstverständlich einforderbar erscheinen, weil sie die Kultur (im ethnologischen Sinn) dieser Klasse ausmachen. Von ihrer Familie mit nichts versehen, was ihnen in der Schule dienlich sein könnte, außer einer Art inhaltsleerer Beflissenheit, sind die Kinder der Mittelklasse gezwungen, alles von der Schule zu erwarten und zu erhalten, selbst auf die Gefahr hin, dass die Schule sie allzu ,schulmäßiger‘ Verhaltensweisen zeiht.“ (Bourdieu 2001, 41) Die Gebundenheit der Bildungsinstitutionen an den Habitus der „kulturellen Klasse“ führt letztendlich auch dazu, dass kulturelle Kompetenzen, die innerhalb der unteren Klassen (um bei der Begrifflichkeit von Bourdieu zu bleiben) positiv konnotiert sind (oder als Ausdruck der Zugehörigkeit zum jeweiligen Milieu gelten), abgewertet werden und so eine Delegitimierung erfahren. Was in anderen Zusammenhängen für jugendkulturelle Symbolsysteme beschrieben wurde, verdeutlicht Bourdieu anhand der Sprache: „Sobald die Vertreter der unteren Klassen dort ihre Sprache anbieten, bekommen sie schlechte Noten; da fehlt ihnen die richtige Aussprache, die richtige Syntax usw. Es gibt mithin eine populäre Kultur im ethnologischen Sinn, aber diese Kultur ist als ,Bildung‘ wertlos.“ (Bourdieu 2005b, 40) Die für Frankreich typischen Prüfungsverfahren mit ihrer scheinbar objektiven Leistungsbewertung verschleiern – so Bourdieu – die eigentliche Grundlage der Selektion. Damit bleibt das System der Unterschiede und Chancenvergaben mehr oder weniger stabil. Diejenigen, die 13 Bourdieu war auch an der Erarbeitung der „Vorschläge des Collège de France für das Bildungswesen der Zukunft“ beteiligt (Bourdieu 2005b, 111ff.).


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auf einer der vielen Zwischenstufen auf dem Weg zu den besten Schulen ausscheiden, schreiben ihr Versagen – getragen von einer bürgerlichen Leistungsideologie – nicht ihrem Habitus, sondern mangelnder Leistungsfähigkeit zu.14 Dies gilt auch dann, wenn die Bildungsinstitutionen die Herstellung von Chancengleichheit anzielen: Solange die im Habitus begründete Segregierung nicht reflexiv wird (und zu einer „anderen Schule“ führt), kommt es zu einer Reproduktion der Verortung im sozialen Raum. Die (erhoffte) gesellschaftliche Funktion der Schule (Abbau von gesellschaftlicher Ungleichheit) füllt sie somit nur selten aus: „Sagen wir, dass sie für das kollektive Heil der bereits begünstigten Klassen sorgt, und für das individuelle Heil von einigen Ausnahmen aus den benachteiligten Klassen.“ (Bourdieu 2001, 20)

Fazit: Warum Bourdieus Habitus-Ansatz? • Die Wiederaufnahme von Bourdieus Kapital- und Habitus-Theorie erscheint mir zunächst einmal als ein probates Gegengift zu den in bestimmten Diskursen (insbesondere der 1990er-Jahre) grassierenden, aus meiner Sicht überzogenen Verabsolutierungen von Individualisierungs- und Modernisierungstendenzen. Mit Bourdieu stehen überzogene, die „objektiven Bedingungen“ aus dem Blick verlierende Analysen von ausschließlich selbstbestimmter Bricolage etc. dann auch unter dem Verdacht, ungewollt neoliberales Gedankengut in Normen für Sozialisationsprozesse zu transformieren und so letztendlich gesellschaftliche Ungleichheit zu verschleiern (und damit letztendlich zu stabilisieren). • Bourdieus Überlegungen zum Zusammenhang von Geschmack und Position im sozialen Raum fügen vielen Diskursen zur Populärkultur und insbesondere zur Nivellierung von kulturellen Milieus eine m. E. dort oftmals fehlende reflexive Dimension hinzu. Auch leitet Bourdieu immer wieder dazu an, auf die „feinen Unterschiede“ als Grundlage von Distinktionen zu achten. • Mit Blick auf Fragen zum Bildungssystem kommt der Illusio bzw. dem blinden Fleck für die sich aus der Verortung im sozialen Raum ergebende Perspektivierung eine wichtige Rolle zu. Erst wenn den Handelnden in einem reflexiven Prozess bewusst wird, wie sehr die Werturteile, mit denen sie kulturelle Praxen, akkumuliertes (Bildungs-)Kapital, Geschmack und Weiteres beobachten und gratifizieren (oder eben auch nicht), von ihrem eigenen Habitus geprägt sind, können habitusbedingte Selektions- und Allokationsprozesse vermindert werden. (Wenn dies denn wirklich gewollt ist.)

Zweiter Akt: Medialer Habitus Der Blick auf den medialen Habitus ist letztendlich eine pragmatische, den zu bearbeitenden Themenstellungen geschuldete Fokussierung der Habitus-Analyse auf den gesamten Bereich der medienspezifischen Handlungspraxen und der diesen zugrunde liegenden Dispositionen. In seiner ersten, anwendungsorientierten Fassung wurde der Ansatz im Rahmen eines Forschungsprojekts (s. o., Kommer 2010; Biermann 2009) entwickelt. Ausgangspunkt war dabei die Unzufriedenheit mit der mangelnden Erklärungskraft und Tiefe sowie der perspektivi14 Die PISA-Studien haben eindrucksvoll gezeigt, dass im deutschen Bildungswesen ähnliche Ausschließungen zu beobachten sind (s. u.).


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schen Verengung (Niesyto 2007) bisher vorliegender Analyseperspektiven und theoretischen Grundierungen. Ein besonderer Fokus liegt dabei bisher auf der theoriegeleiteten Analyse des schulischen Medienumgangs und dessen Folgen für die Stabilisierung oder Verminderung sozialer Ungleichheit. Auch wenn zukünftig noch zu diskutieren ist, inwieweit eine solche Hervorhebung eines Bereiches der Lebenswelt sinnvoll (und im Sinne des Habitus-Ansatzes zulässig ist), scheint mir der Anschluss an Bourdieus Konzept fraglos gegeben. So bezieht Bourdieu für die Untersuchung der „Feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1992) die Nutzung und den Umgang mit den verschiedenen (damals relevanten) Medien explizit mit ein. Unter anderem eng an der Dimension „Geschmack“ entlang arbeitet er heraus, dass die Nutzung bestimmter Medien und Medieninhalte nicht nur eng mit dem jeweiligen Habitus verbunden ist, sondern geradezu als Marker für diesen gelesen werden kann. Insbesondere am Beispiel der Fotografie (vgl. auch Bourdieu/Boltanski 2006) zeigt die Studie, dass es nicht nur eine soziale Gebrauchsweise der Kunst gibt, sondern auch, dass der jeweilige Habitus mit einer spezifischen Zuschreibung zu den einzelnen Medien und Medieninhalten einhergeht. So zeigen die „Feinen Unterschiede“, wie unterschiedlich die Perspektive auf ein einzelnes Foto sein kann – insbesondere, wenn es nicht eine „schöne“ Szenerie darstellt, sondern beispielsweise eine Industrielandschaft. In diesem Fall erweist sich bereits die Zuschreibung (bzw. Nichtzuschreibung) „Kunst“ als habitusspezifisch und distinkt. Noch deutlicher werden die verschiedenen Perspektiven bei der Frage, ob ein entsprechendes Exponat auch im eigenen Haushalt einen Platz finden könnte. Daraus folgt, dass der „kulturelle Wert“, der entweder einem Medium als solchem („der“ Fotografie, „dem“ Fernsehen etc.), aber auch einzelnen Genres (Nachrichten, Soaps etc.) oder eben auch spezifischen Angeboten (einem Foto, einer Musik, einer Sendung) zugeschrieben wird, aufs Engste mit dem jeweiligen Habitus verbunden ist. Der Prozess der standort- bzw. habitusbedingten (Wert-)Zuschreibung (wie auch der damit einhergehenden Distinktionskonstruktionen) wird den Zuschreibenden (die hier ein Doing-Geschmack und Distinktion betreiben) aber nicht bewusst, das Urteil wird quasi essentialistisch als ein „So ist es“ gefällt (vgl. Kommer 2010). In jüngerer Zeit hat u. a. Mikos (2007) die Überlegungen zur Distinktionskraft von medialen Handlungspraxen in einer mediatisierten Gesellschaft weitergeführt. So steht für ihn außer Frage, dass gerade im Kontext der Bedingungen einer „reflexiven Moderne“ den Medien ein besonderer Stellenwert zukommt. Dies gilt insbesondere für die Etablierung und Verstärkung von Distinktionen: „Die verschiedenen Lebensstile und Lebensformen zeigen sich auch im Konsum von Kulturgütern, zu denen zweifellos die Medien und ihre Produkte gehören. Da deren Inhalte und Darstellungsweisen mit den sozialen Strukturen der reflexiven Moderne korrespondieren und die Medientexte als Felder sozialer Auseinandersetzungen gelten können, sind in ihnen Distinktionsbeziehungen bereits angelegt. Soziale Unterschiede in der Gesellschaft bzw. unterschiedliche Positionen im sozialen Raum in verschiedenen sozialen Feldern manifestieren sich in Filmen, Fernsehsendungen, Comics, Computerspielen, Büchern, Pop- und Rockmusik, Internetforen etc. Die Unterschiede zwischen Individuen und Gruppen können sowohl durch die Produktion von Kulturgütern als auch durch deren Aneignung aufrechterhalten werden.“ (Mikos 2007, 53f.) Letztendlich liegt den Ausführungen von Mikos der Gedanke zugrunde, dass gerade im Kontext der Enttraditionalisierung und Individualisierung den Medien in einer Gesellschaft der reflexiven Moderne ein noch höherer Stellenwert als in „modernen“ Gesellschaften zu-


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kommt, da sie wesentlich zur Sinnkonstitution in diesen beitragen. Unter dieser Prämisse erscheint die Verbindung von Nutzungsformen und sozialen Unterschieden hochgradig evident. Die über eine lange Traditionslinie verfügende deutschsprachige Leseforschung fokussiert dagegen weniger auf Distinktionsprozesse als auf die Bedingungen, unter denen auch die jeweils nächste Generation zu LeserInnen wird. Anders als bei Mikos (2007) rückt damit die „soziale Vererbung“ von entsprechenden Dispositionen und Habitualisierungen in den Mittelpunkt. Mitgeführt werden dabei auch immer Fragen nach milieuspezifischen Unterschieden, die Gesellschaft wird dabei grundsätzlich als stratifiziert angenommen: „Insbesondere die gesellschaftlichen Leitmilieus haben sich dem Lesen verschrieben. Durchschnittlich 26 Prozent von ihnen geben an, dass sie (fast) täglich lesen. Zudem lesen 27 Prozent einmal oder mehrmals in der Woche. Dabei sind es vor allem Menschen mit postmaterieller Werteorientierung, die (fast) täglich oder einmal oder mehrmals pro Woche lesen (61 %) (vgl. Tabelle 7). Dieses Ergebnis wird umso verständlicher, wenn man – entsprechend den Ergebnissen der Studie ‚Buchkäufer und Leser 2005‘ (11) – berücksichtigt, dass insbesondere Postmaterielle die Buchhandlung als ihr ‚zweites Wohnzimmer‘ begreifen. Aber auch die modernen Performer sind der Buchlektüre sehr zugetan. Insgesamt 55 Prozent lesen (fast) täglich oder wenigstens einmal oder mehrmals pro Woche in ihrer Freizeit in einem Buch. [...] Der Blick auf die anderen Milieus zeigt hingegen eine deutliche Zurückhaltung in Bezug auf Bücher.“ (Kochhan/Schengbier 2007, 622) Im Hintergrund steht hier immer die Annahme, dass es sich bei der Teilhabe an der Lesekultur keineswegs um ein postmodern-beliebiges Distinktionsspiel handelt, sondern grundlegend die Frage nach den Chancen zur adäquaten Teilnahme an einer komplexen, mediatisierten Gesellschaft im Raum steht. Für das in der abendländischen Traditionslinie stark hervorgehobene Medium „Text“ liegt damit eine tradierte Beobachtungslinie vor, die eine Orientierung an Bourdieu geradezu provoziert. Ausgehend von den eben skizzierten Diskurslinien und den oben genannten, im Rahmen des Projekts „,Medienbiografien“ emergierten Fragestellungen stellt das Konzept des medialen Habitus eine Analyseperspektive dar, die es erlaubt, die in ihrer Performanz sichtbaren (und dabei Wirklichkeit generierenden) Handlungspraxen als permanent aktualisierte Artikulationen der strukturierten und strukturierenden Habitus-Formation zu verstehen und zu analysieren. Oder, mit Swertz (2011), als „Ausdruck eines Eindrucks“. Nach einer zunächst eher pragmatischen Bestimmung aus dem empirischen Material heraus haben Kommer und Biermann (2012) in einem, die ersten Studien zusammenfassenden, Aufsatz erstmals eine explizite Definition des medialen Habitus vorgelegt: „Unter medialem Habitus verstehen wir ein System von dauerhaften medienbezogenen Dispositionen, die als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für mediale Praktiken und auf Medien und den Medienumgang bezogene Vorstellungen und Zuschreibungen fungieren und die im Verlauf der von der Verortung im sozialen Raum und der strukturellen Koppelung an die mediale und soziale Umwelt geprägten Ontogenese erworben werden. Der mediale Habitus bezeichnet damit auch eine charakteristische Konfiguration inkorporierter, strukturierter und zugleich strukturierender Klassifikationsschemata, die für ihre Träger in der Regel nicht reflexiv werden. Der mediale Habitus ist Teil des Gesamt-Habitus einer Person und aufs Engste mit diesem verbunden.“ (Kommer/Biermann 2012) Eine theoriegeleitete Analyse des Medienumgangs als Artikulation des „medialen Habitus“, die nicht bei einer Deskription der Handlungspraxen stehen bleibt, sondern auch nach den zu-


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grunde liegenden Dispositionen, Deutungsmustern und Kompetenzmustern sowie deren Genese fragt, erlaubt es, die vielfältigen „feinen Unterschiede“ herauszuarbeiten und weitere Reflexionsebenen einzuziehen. Die unter anderem von Niesyto (2007) angemahnten „kulturalistischen Verkürzungen“ (wie auch andere vorschnelle Perspektivierungen) werden so ebenso reflexiv wie die auf soziale Segregation hinwirkenden Geschmacks- und daraus folgenden Distinktionsmuster und „blinden Flecke“ (nicht nur) innerhalb des Bildungssystems. Ein zentrales Ziel der empirischen Feldarbeit ist die Beobachtung von medial formierten Aspekten sozialer Ungleichheit, ihres Prozessierens und ihrer Ursachen. Auf dieser Basis können dann Interventionsstrategien im Sinne von Bourdieu (2001) theoretisch und empirisch grundiert erarbeitet, erprobt und evaluiert werden. Mit Blick auf den von Bourdieu und seiner Arbeitsgruppe bei der Datenerhebung betriebenen Aufwand wird deutlich, dass (jenseits aller Fragen der Methodenentwicklung) die Erhebung und Analyse des medialen Habitus keineswegs trivial ist. Die folgende Liste benennt nicht nur relevante Gegenstände und Bereiche, sondern zeigt darüber hinaus auch, welche Reflexionsschleifen und Erkenntnisgewinne möglich werden, wenn das Konzept „medialer Habitus“ als Grundierung für eine reflektierte, empirische Forschung genutzt wird: • Zunächst einmal zielt eine Untersuchung des medialen Habitus darauf, das gesamte Setting der Mediennutzung – wie auch dessen Einbettung in Alltag und Lebenswelt – in den Blick zu nehmen. Auf einzelne Medien bezogene Studien greifen hier, da sie von der Angebotsseite und nicht von der Seite der RezipientInnen her denken, deutlich zu kurz. In der Folge findet sich nur äußerst selten eine (tiefer gehende) Analyse des individuellen Medienmixes und der oft habituell (vgl. Baacke et al. 1991) in den Alltag eingebetteten Nutzung der verschiedensten Medien. So macht es zumindest einen „feinen Unterschied“, ob für die tägliche Information (oder Unterhaltung) lediglich der Fernseher genutzt wird oder aber ein Ensemble aus Print, Fernsehen und Web 2.0-Diensten etc. Ähnliches gilt für die Frage, ob es ein „Leitmedium“ gibt, das eine zentrale Rolle einnimmt und um das die Nutzung der anderen Medien gruppiert ist. (Zu denken ist hier z. B. an die Möglichkeit, für die politische Information vor allem die Zeitung zu nutzen und das Internet nur für die „schnelle“ Aktualisierung etc.) Nicht zuletzt zeigt sich der Habitus in der unterschiedlichen Gewichtung von aktiven und passiven Nutzungsformen. So ist – insbesondere mit der zunehmenden Etablierung der interaktiven digitalen Medien (Web 2.0, aber auch Smartphones/Tablets als mobile und vernetzte Produktionstechnik) – grundsätzlich auch ein hoher Anteil produktiver Mediennutzung/Mediengestaltung denkbar. Ob dieser dann auch realisiert wird, hängt von einem komplexen Faktorengefüge ab und divergiert gesamtgesellschaftlich erheblich (vgl. z. B. die JIM-Studien). • Die Formen des Medienumgangs sind aufs Engste verknüpft mit der Ressourcenausstattung. Ohne die entsprechende Ausstattung mit Hardware – oder zumindest die Möglichkeit, auf diese zuzugreifen – ist die aktive und passive Auseinandersetzung mit den daran gebundenen Angeboten nicht möglich. Das Habitus-Konzept schärft auch hier den Blick für die „feinen Unterschiede“. So muss (siehe die Sinus-Milieus) die Ausstattung mit ökonomischem Kapital nicht zwangsweise mit der medientechnischen Ausstattung korrelieren. Nicht-Ausstattung kann aber auch ein Distinktionsmittel sein („ich habe bewusst keinen Fernseher/kein Smartphone“). Weiterhin kann eine eher „schlechte“ Ausstattung zumindest ein Stück weit durch die Nutzung an anderen Orten (Peers, Schule, Jugendarbeit) ausgegli-


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chen werden (was allerdings wiederum die Nutzungsmuster prägt). Als weitere, gerade für die Entwicklung von Medienkompetenz hoch relevante Ressource hat sich das soziale Umfeld erwiesen (Kommer 2010). Die dort vorhandenen (oder nicht vorhandenen) Supportstrukturen gewinnen noch einmal an Relevanz, wenn es im direkten familiären Umfeld an diesen mangelt. • In einer von Bourdieu inspirierten Perspektive stellt sich nicht nur die Frage, welche (technischen) Medien genutzt werden, sondern auch welche Inhalte. So differenziert sich beispielsweise das Fernsehangebot nicht nur nach öffentlich-rechtlichen Sendern und Privaten, sondern auch innerhalb eines Senders findet sich ein breites Spektrum von Angeboten. So kann die Nutzung eines öffentlich-rechtlichen Senders sowohl die Rezeption von Soaps als auch von „anspruchsvollen“ politischen Magazinen bedeuten (die Bandbreite der Privaten ist stellenweise ebenfalls durchaus beträchtlich).15 Für alle anderen Medien gilt Ähnliches (so kann sich ja auch hinter der Kategorie „Buch“ sehr verschiedenes verbergen, vgl. auch die Hinweise zu Chat-Foren bei Kutscher 2009). Da dem Geschmack (der sich in der Auswahl der Inhalte artikuliert) im Sinne von Bourdieu eine wichtige Distinktionsfunktion zukommt, spielen weiterhin auch die permanent betriebenen und aktualisierten Ab- und Ausgrenzungen eine wichtige Rolle. Es ist also im Sinne der „feinen Unterschiede“ auch hoch relevant, welche Inhalte explizit und implizit abgelehnt werden. • Finden sich die bisher genannten Punkte zumindest in einigen Studien wieder, ist die sich aus dem Verständnis des Habitus als strukturierende Struktur ergebende Frage nach den medienbezogenen Klassifizierungsschemata und kulturellen Wertzuschreibungen (die immer auch Distinktionsmuster begründen) bisher kaum bearbeitet worden (vgl. aber Kutscher 2009; Mikos 2007). Die Orientierung am Habitus-Konzept erinnert daran, dass die Wertigkeit verschiedener Geschmäcker letztendlich das Ergebnis eines (ständig weiterlaufenden) gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses darstellt (in dem sich – ganz im Sinne Bourdieus – die relevanten Machtstrukturen zeigen). Die im jeweiligen sozialen Feld ausgehandelte (oder „erkämpfte“) Zuschreibung von „kulturellem Wert“ dient damit immer auch der Distinktion gegenüber „anderen“. (So setzt ja gerade auch die Pop-Kultur auf Abgrenzung, die gerne als Widerstand mystifiziert wird.) Die Analyse ist dabei keineswegs trivial und fordert einen vertiefenden Blick auf die „feinen Unterschiede“ medialer Handlungspraxen. So sind durchaus verschiedenste Settings denkbar, innerhalb derer ein Medienangebot rezipiert wird, obwohl es habituell eigentlich abgelehnt wird (hier sind vielfältige Varianten zwischen professioneller Medienbeobachtung und Überbrückung von Leerlauf denkbar). Möglicherweise kommt es so zu einer „Nutzung mit schlechtem Gewissen“. Unzufriedenheit mit den eigenen Nutzungsroutinen kann sich aber auch aus dem Gegenteil, einem „Zuwenig“, ergeben – beispielsweise aus dem Empfinden heraus, eigentlich mehr politische Nachrichten rezipieren zu müssen (vgl. Kommer 2010). • Die Dispositionen des Medienumgangs beziehen sich aber auch auf Zuschreibungen auf der Ebene der technischen Kommunikationsmedien. So ist es etwas anderes, ob beispielsweise 15 So greifen auch jegliche Debatten wie die um das „Unterschichtfernsehen“ bei Weitem zu kurz, solange sie beispielsweise auf Senderebene argumentieren. Selbst auf der Inhaltsebene sind sehr unterschiedliche Rezeptionsmodi und Rezeptionsanlässe etc. denkbar, auch hier bedarf es letztendlich einer Beobachtung der „feinen“ Unterschiede.


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der Computer vor allem als Werkzeug zur Erstellung von Texten und Unterrichtsmaterialien (und vielleicht noch als Recherchewerkzeug) gesehen wird – oder aber als „Spielmaschine“, die vornehmlich der Unterhaltung und spannenden Entspannung dient (eine weitere Variante wäre die Zuschreibung „Kommunikationswerkzeug“ im Rahmen des Web 2.0). Je nach Zuschreibung ändert sich auch die jeweilige Nutzenerwartung – auch hier reicht die Spannweite von der Hoffnung auf Hilfe beim beruflichen Aufstieg bis zur Unterstützung beim (zeitweiligen) Ausstieg aus den Zwängen des Alltags. • Insbesondere auch mit Blick auf institutionalisierte Bildungsprozesse und die dort vorgenommen Gegenstandsauswahl („legitime Kultur“) ist immer wieder zu reflektieren, dass die Rezeption bestimmter Medien und Inhalte (vulgo auch: Geschmack) auf verschiedenste Weise als Mittel der Distinktion genutzt werden kann (und wird): Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur, aber auch die Teilhabe an einer „legitimen Kultur“ unter Abwertung anderer etc. (vgl. dazu auch Niesyto 2009). Den Handlungspraxen wie auch dem Geschmack wird in Bourdieus Kapitalmodell ein „Marktwert“ zugeschrieben. Dieser kann in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern stark differieren: Was in jugendkulturellen Feldern einen hohen Wert besitzt, kann im Feld der Bildungsinstitutionen durchaus einen starken Malus bedeuten. Im Extremfall entstehen so Strukturen der Selbstexklusion. Wie Kutscher (2009) zeigt, hat dies auch Implikationen für die Konstruktion und Bestimmung von „Medienkompetenz“. • Die Orientierung auf das etablierte Konzept „Habitus“ ermöglicht es, auch die unterschiedlichen Lesweisen von Medieninhalten (die sich komplexer darstellen als in manchen Modellen der cultural studies) keinesfalls als zufällig, frei wählbar oder selbstinduziert, sondern ebenfalls als Ergebnis einer als strukturelle Koppelung zu fassenden Genese zu betrachten, die eben nicht generell „jenseits von Klasse und Stand“ prozessiert. So zeigt sich in neueren Untersuchungen, dass die Rezeptionsweise von Medienangeboten durchaus von der Kapitalausstattung abhängig ist (zu der dann auch Medienkompetenz zählen kann). Der strukturierende Blick und die Struktur des Blicks sind immer ein Produkt der inkorporierten Wahrnehmungsschemata (die in der Regel nicht reflexiv beobachtet werden). Dies gilt insbesondere für die Frage, ob eine distanzierende, ironische etc. Lesweise möglich ist oder aber (um das andere Extrem zu benennen) die mediale Fiktion zur Grundlage eigener Weltkonstruktionen und lebenslaufbezogener Hoffnungen wird. Aus dem jeweiligen Habitus heraus ergeben sich hier letztendlich „Grenzen des Möglichen wie auch Breite oder Einschränkungen der Handlungsoptionen (vgl. u. a. Paus-Hasebrink 2009). Ähnliches gilt für den adäquaten Umgang mit den medial vermittelten Fakten. • Das Habitus-Konzept schärft damit nicht nur den Blick für die Analyse der beobachtbaren medien- und inhaltsbezogenen Nutzungsmuster, sondern zeigt, dass ihre Genese im Sinne einer strukturellen Koppelung keinesfalls zufällig (oder ausschließlich individuell) ist. Die Position im sozialen Feld (die sich komplexer darstellt als beispielsweise die Verortung in traditionellen Schichtmodellen) wie auch die Akkumulation von Kapital im Sinne Bourdieus bleiben nicht ohne Folgen für den Umgang mit den Medien und ihren Inhalten. Damit wird deutlich, dass den Sozialisationsprozessen in Elternhaus, Peergroup und Bildungssystem ein hoher Stellenwert zukommt. Insbesondere die frühe, von der dortigen Kapitalausstattung (sensu Bourdieu) geprägte Sozialisation, der von den Eltern (und vielleicht älteren Geschwistern) vorgelebte Medienumgang (und Nicht-Umgang), aber auch die intentiona-


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le (wie auch nicht intendierte) Medienerziehung begründen schon früh Unterschiede – selbst (oder gerade) dann, wenn es zu Widerständen gegen die elterlichen Intentionen kommt. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass die Ressourcenausstattung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, welche Sozialisationswirkungen mediale Artikulationen entfalten können. • Die habitustheoretische Grundierung mit ihrer Amalgamierung von subjektivistischen und objektivistischen Positionen fordert immer auch die Analyse der strukturellen Bedingungen. So sind die Strukturen des Mediensystems (privatwirtschaftlich vs. öffentlich-rechtlich; marktorientiert [Kulturindustrie] vs. l’art pour l’art) als auch deren gesamtgesellschaftliche Einbettung folgenreich. Denn fraglos macht es nicht nur einen „feinen Unterschied“, ob die RezipientInnen vonseiten der Medienproduzierenden vor allem als Zielgruppe für möglichst präzise zu platzierende Werbung oder aber als zu informierende, zu emanzipierende und zu bildende Citoyens adressiert werden. Ähnliches gilt für das Bildungssystem und seine Strukturen, die beispielsweise bestimmte Medien ausschließen. Wie das aktuelle Beispiel der von autoritären Regimes praktizierten Zensur des „freien“ Internets unmissverständlich vor Augen führt, bedarf es auch einer Beobachtung der technischen Strukturen und Software-Monopole. Die im Prinzip an klassische Radioformen angelehnte Artikulation in Podcasts ist beispielsweise nur vor dem Hintergrund eines Distributionsmediums wie dem Internet überhaupt erst zu realisieren. • Mit Blick auf das Bildungssystem wird in einer solchen Perspektivierung daran erinnert, dass es nicht nur einen „institutionellen Habitus“, sondern auch einen spezifischen „medialen Habitus“ der verschiedenen Institutionen gibt. Dieser hat – so ist zu vermuten – weitreichende Folgen für den Medienumgang innerhalb der Institution, aber auch für die Zuschreibungen, die z. B. den lebensweltlichen medienbezogenen Handlungspraxen der Lernenden entgegengebracht werden (vgl. die theoretisch anders grundierten Daten bei Kutscher 2009; Niesyto 2009). Im Extremfall sind hier Exklusionstendenzen denkbar. Darüber hinaus legen die einschlägigen Daten zum Medienumgang in den (deutschen) Schulen (Kommer/Biermann 2012) die Vermutung nahe, dass sich hier eine besondere Trägheit des Habitus (im Sinne einer nicht mehr adäquaten Koppelung an die gesellschaftlichen Gegebenheiten) abzeichnet. • Formen und Ursachen eines „digital divide“ (welcher Art auch immer) können so präziser erfasst und in ihren Wirkzusammenhängen analysiert werden. Fragen nach dem ökonomischen Kapital spielen hier ebenso eine Rolle wie die Formierung des kulturellen Kapitals (u. a. Nutzenerwartungen) und nicht zuletzt des sozialen Kapitals (Hilfestellung/Einbindung in Netzwerke etc.). • Nicht zuletzt erinnert die Orientierung auf „Habitus“ daran, wie wichtig für professionelles Handeln in Forschung und Praxis die permanente Reflexion der eigenen Positionierung im Feld ist. Mit dem als „Illusio“ beschriebenen Moment „partieller Blindheit“ macht Bourdieu immer wieder darauf aufmerksam, dass den Akteuren im Verlauf ihres „Spiels“ normalerweise nicht bewusst ist, dass ihre Einschätzung der Welt (und insbesondere des Geschmacks etc.) von ihrer Position im sozialen Raum bestimmt ist – also andere Akteure andere Wertungen vornehmen. Dies gilt – siehe den Habitus von Institutionen – zunächst auch für die professionell Handelnden im Feld der Bildung. Auch sie – und das gilt auch für die Medienpädagogik/Medienbildung – laufen immer wieder Gefahr, ihrem eigenen, als „richtig“ empfundenen Geschmack und den damit verbundenen Distinktionsmustern unreflektiert zu folgen. Damit verfehlen sie aber möglicherweise ihre professionelle Rolle.


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Forschungspraxis Bewährt hat sich die Orientierung auf den medialen Habitus zunächst bei der Analyse der medialen Habitus-Formen von angehenden LehrerInnen (Kommer/Biermann 2012; Kommer 2010; Biermann 2009; Kommer 2006). Ausgangspunkt war dabei die Frage nach den Bedingungen für eine erfolgreiche und nachhaltige Vermittlung von Medienkompetenz und Medienbildung in der Schule. Zentral waren dabei zwei Fragedimensionen: • Findet sich bei den (angehenden) Lehrpersonen ein medialer Habitus, der der Vermittlung von Medienkompetenz und Medienbildung förderlich ist? Oder führen die habitualisierten und im Sinne der Illusio nicht reflektierten Dispositionen, Zuschreibungen etc. eher zu einer Vermeidung entsprechender Unterrichtsinhalte und -formen – und damit letztendlich zu einer Zementierung der Verhältnisse? • Treffen in der gesellschaftlichen Institution Schule möglicherweise in einem Dualismus Lehrpersonen–SchülerInnen Habitus-Formen aufeinander, die kaum aneinander anschlussfähig sind (solange dieser „Clash of Habitus“ nicht reflexiv wird und beide Seiten in ihrer Illusio gefangen bleiben) und somit jegliche Medienbildung nicht nur erschweren, sondern geradezu unmöglich machen? Im Rahmen einer qualitativen Befragung von 29 Lehramtsstudierenden der Pädagogischen Hochschule Freiburg (Studienanfänger; Erhebung der Daten 2003/04) arbeitete Kommer (2010) drei Ausprägungen des medialen Habitus der Studierenden heraus: die ambivalenten Bürgerlichen (mit der Unterform der überforderten Bürgerlichen); die hedonistischen Pragmatiker und die kompetenten Medienaffinen. Mit Blick auf den zukünftigen Medienumgang in Unterrichtssituationen erweisen sich insbesondere die Gruppen der „ambivalenten Bürgerlichen“ und der „überforderten Bürgerlichen“ als problematisch: Nach Kommer führen bei diesen die nicht reflektierten Reste und Versatzstücke eines bildungsbürgerlich-kulturkritischen Habitus, der mit seiner Orientierung am „guten Buch“ den neueren, audiovisuellen (und kommerziellen) Medien immer äußerst kritisch bis ablehnend gegenübergestanden hat, zu einer auch als Distinktion genutzten Abwertung der neueren Medien. Zugleich erscheinen diese als „Verführer“, denen sich diese Studierenden geradezu ausgeliefert fühlen. Die sich daraus ergebenden Ambivalenzen und negativen Wertzuschreibungen (insbesondere mit Blick auf den „Bildungswert“) sowie die mangelnde eigene Medienbildung führen dazu, dass – laut Kommer – davon auszugehen ist, dass diese Studierenden in ihrem zukünftigen Berufsalltag in der Schule ihren SchülerInnen kaum eine breite Medienbildung vermitteln werden. Auch zeigt sich, wie wenig aneinander anschlussfähig die Habitus-Formen von Lehrpersonen und SchülerInnen in der Haupt- und Realschule sind. Nicht zuletzt deuten sich hier mit Blick auf die außerschulisch erworbenen Medienkompetenzen streckenweise starke – letztendlich geschmacksbasierte – Delegetimierungstendenzen des Bildungssystems an. Die auf die Studie von Kommer aufbauende quantitative Studie von Biermann (2009) bestätigte anhand einer bedeutend größeren Stichprobe (n=1200) über weite Strecken die Ergebnisse von Kommer. So zeigt Biermann, dass die Bewertungen mit den beiden Polen bildungsund qualitätsorientiert vs. hedonistisch als grundlegende Klassifizierungsschemata auch hier zentral sind. Explizit greift auch die Studie von Henrichwark (2009) auf das Konzept des medialen Habitus zurück. Sie untersucht den bildungsbezogenen medialen Habitus von Grundschulkin-


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dern unter besonderer Berücksichtigung der familialen Ausstattung mit Kapital (sensu Bourdieu). Die Verfasserin arbeitet heraus, dass der Habitus der Herkunftsfamilie für die Habitus-Form der nachfolgenden Generation prägend ist. Weiterhin zeigt sie, dass die Schule – ganz im Sinne Bourdieus – nicht dazu beiträgt, in diesem Feld soziale Ungleichheit abzubauen. Im Gegenteil: „Bereits aus den Daten der quantitativen Teilstudie konnte gefolgert werden, dass sich die digitale Kluft zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Familien durch schulischen Einfluss verstärkt.“ (Henrichwark 2009, 235) Der Lehrperson kommt dabei eine zentrale Rolle zu: „Da ein bildungsbezogener medialer Habitus als Voraussetzung für erfolgreiche gesellschaftliche Teilhabe anzunehmen ist, ist ein entscheidender Faktor für die Reproduktion sozialer Ungleichheit folglich in der Lehrperson zu sehen.“ (Henrichwark 2009, 149) Mit einem Mixed Methods Ansatz untersucht Mutsch (2012) sowohl Lehrpersonen im Schuldienst als auch SchülerInnen. Für die Lehrpersonen kommt Mutsch (ähnlich wie Kommer 2010) zu drei Hauptformen: „Im Zuge der qualitativen Auswertung und Analyse der Lehrerdaten haben sich drei Formen des medialen Habitus herauskristallisiert, wobei eine dieser Hauptformen in zwei Untergruppierungen zu unterteilen ist.“ (Mutsch, 142) Benannt werden dann die „unsicher-distanzierten Pragmatiker“, die „kritisch-distanzierten Pragmatiker“, die „hedonistischen Allrounder“ sowie die „souveränen Medienaffinen“. „Die gewählten Bezeichnungen der vier Habitusformen sind begrifflich durch die Arbeit von Kommer (2010) angeregt, im Kontext des vorliegenden empirischen Datenmaterials haben sie jedoch eine eigene Verwendung gefunden. Von daher sind die innerhalb dieser Studie herausgearbeiteten und die bei Kommer dargestellten Habitusformen nicht ohne Weiteres gleichzusetzen; es lassen sich jedoch inhaltliche Parallelen erkennen.“ (Mutsch, 2012, 142) Im Fazit von Mutsch (die auch den Medieneinsatz im eigenen Unterricht abgefragt hat) findet sich der Hinweis auf eine Gruppe von Lehrpersonen, die in ihrer Unterrichtspraxis aufseiten der SchülerInnen nur wenig zur Kompetenzentwicklung im Kontext der digitalen Medien beitragen: „Die Habitusform der unsicher-distanzierten Pragmatiker und die der kritisch-distanzierten Pragmatiker lassen sich beide durch die selbst gewählte Distanz zu audiovisuell-elektronischen Medien und ihren vorwiegend pragmatischen Einsatz charakterisieren. Während diese Haltung bei den unsicheren Pragmatikern durch grundsätzliches Desinteresse sowie eine latente Technikfeindlichkeit begründet ist, hat die Distanzierung bei den kritischen Pragmatikern ihren Ursprung in einer hochkulturellen Orientierung und in einem dadurch auftretenden Konflikt zwischen der empfundenen minderen Qualität der Medieninhalte mit den eigenen Idealvorstellungen.“ (Mutsch 2012, 185) Solche geschmacks- und damit habitusbasierten Konflikte analytisch zugänglich zu machen ist m. E. eine Stärke des auf Bourdieu rekurrierenden Ansatzes. Grundlegende Fragestellungen zur theoretischen Position des Konzepts „medialer Habitus“ wurden im Rahmen eines Theorie-Workshops der Wiener Medienpädagogik im Mai 2011 in Wien diskutiert. Ein wichtiger Aspekt war dabei die Frage, inwieweit die eher auf medientheoretische Ansätze (insbesondere McLuhan) zurückgreifende Diskurslinie (wie sie von Swertz begründet wurde) und die auf Bourdieu rekurrierende Line (Kommer) zusammengeführt werden können. Mit dem von Swertz eingebrachten Vorschlag, Habitus als „Ausdruck eines Eindrucks“ zu verstehen, konnte hier fraglos eine Grundlage für eine gemeinsame Weiterentwicklung gelegt werden. Die im Rahmen des Workshops diskutierten empirischen Befunde wie auch die gemeinsame Theoriearbeit zeigten, dass hier ein für die Erkenntnisgewinnung und Reflexion hilfreicher Ansatz vorliegt, der fraglos zukunftsfähig ist.


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Desiderata Jenseits von grundlegenden Fragen zum Stellen- und Erklärungswert von Bourdieus Ansatz (vgl. z. B. Kramer 2011; Maatz et al. 2010) sind zukünftig für die weitere Ausarbeitung und empirische Nutzung des Konzepts „medialer Habitus“ noch vielfältige Desiderata zu bearbeiten. Einige aus meiner Sicht zentrale Punkte seien im Folgenden benannt: • Die im ersten Teil dieses Textes in Ansätzen unternommene grundlegende Auseinandersetzung mit Bourdieus theoretischem Ansatz muss weitergeführt werden. Dabei sehe ich einen zentralen Punkt in der Herausarbeitung und Nutzung von Anschlussmöglichkeiten an andere, für das Feld relevante Ansätze. Die Frage nach dem Anschluss u. a. an konstruktivistische Modelle (insbesondere Selbstsozialisation), an systemtheoretische Linien, an die Überlegungen der cultural studies wie auch an bildungstheoretische Überlegungen bedeutet dabei immer auch die Präzisierung von Grenzen der Anschlussfähigkeit und grundlegenden Inkompatibilitäten. Von besonderem Interesse und Erschließungskraft erscheint dabei die Auseinandersetzung mit dem Konzept des „Feldes“. • Die kultursoziologischen Befunde Bourdieus entstammen einer anderen Epoche und einem anderen kulturellen Umfeld. Mit Blick auf die Studien und Annahmen von Vester (2006) wie auch Schulze (1995) sowie die vielfältigen Befunde der deutschen cultural studies wäre hier sowohl eine überarbeitete theoretische Grundierung wie auch insbesondere eine empirisch unterlegte Beschreibung des Status quo wünschenswert. Hier wäre nicht nur empirisch zu klären, wie weit die in den 1990er-Jahren vielfach angenommenen Individualisierungsprozesse in diesem Feld fortgeschritten sind. Aufs Engste damit verbunden ist die Frage, ob aktuell noch von einer „legitimen Kultur“ im Sinne Bourdieus ausgegangen werden kann – und wenn ja, wie sich diese darstellt und welchen Etablierungsstrategien sie folgt. Möglicherweise ist hier auch ein deutlich stärker feldspezifisch ausgerichteter Blick und die Annahme von feldspezifischen „legitimen Kulturen“ im Plural anzusetzen. • In diesem Zusammenhang stellt sich m. E. auch die „alte“ Frage nach der Eigengesetzlichkeit und dem Eigenwert des Materials neu (oder wieder). Damit ist sicher nicht eine apodiktische Position (wie sie sich in Adornos Musiksoziologie findet) gemeint. Aber die Frage, ob die Wertschätzungen (oder Abwertungen) kultureller Artikulationen ausschließlich als Diskursprodukt zu konzeptionalisieren sind oder ob es da (möglicherweise im Sinne des „alten“ Avantgarde-Ansatzes) auch auf der Seite des Materials identifizierbare Marker gibt, erscheint mir einer empirisch und theoretisch grundierten und stets die eigene Position (im Feld) reflektierenden Analyse wert. • Forschungspraktisch bedarf die Methodenfrage einer intensiven Auseinandersetzung. Während für die „klassische“ Habitus-Analyse neben den empirischen Studien von Bourdieu beispielsweise von Lange-Vester und Teiwes-Kügler (2013) oder Bohnsack (2013) mit der „Habitushermeneutik“ bzw. „Dokumentarischen Methode“ mehr oder weniger etablierte Verfahren vorgeschlagen werden, lassen sich für die Analyse des medialen Habitus noch vielfältige Desiderata ausmachen. Dies gilt beispielsweise für die Frage, inwieweit eigene mediale Artikulationen (beispielsweise die Nutzung sozialer Netzwerke) in die Untersuchung mit einbezogen werden – und wenn ja, wie (vgl. für Eigenproduktionen mit Video z. B. Niesyto 2001).


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Fazit Für ein weiterreichendes Fazit ist es sicher noch zu früh. Auch wäre es vermessen, hier schon von einem „etablierten“ Ansatz zu sprechen. Die vielfältigen Bezugnahmen, Aufnahmen und Weiterführungen zeigen aber, dass der theorietechnische Gedanke, für die Analyse des Medienumgangs die Habitus-Theorie nutzbar zu machen, auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Ein besonderer Charme des Ansatzes liegt sicher darin, dass er (ganz im Sinne Bourdieus) hilft, strukturalistische Verkürzungen, wie sie sich u. a. aus einer auf die Medien (und ihr System) fokussierten Analyse (nicht nur im Sinne der kritischen Theorie) ergeben, ebenso zu vermeiden wie sozialphänomenologische (Bourdieu/Wacquant 2006) Perspektivverengungen die aus einem ausschließlichen Fokus auf subjektive, individuelle und nicht reflexive Deutungsmuster etc. resultieren. Die Orientierung auf den medialen Habitus ermöglicht darüber hinaus die Entwicklung von Interventionsstrategien. Mit Blick auf das Bildungssystem und Initiativen wie „Keine Bildung ohne Medien“ kann so beispielsweise herausgearbeitet werden, dass die „hemmenden Faktoren“ (Petko 2012) für den Medieneinsatz nicht nur aufseiten der technischen Ausstattung und organisationstruktureller Fragen zu suchen sind. Die „Einstellungen“ (Petko 2012) bzw. medienbezogenen Dispositionen, unreflektierte kulturelle Wertzuschreibungen sowie die Essenzalisierung des eigenen Geschmacks scheinen hier eine wesentliche Rolle zu spielen. Damit bedarf es einer Reflexivierung dieser, letztendlich einer „Arbeit am Habitus“ als Ziel der LehrerInnenbildung.

Literatur Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Erstausg. Frankfurt/M.: Suhrkamp (Edition Suhrkamp). Berger, Peter A. (2006): Soziale Milieus und die Ambivalenzen der Informations- und Wissensgesellschaft, in: Bremer, Helmut/Lange-Vester, Andrea (Hg.): Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur. Die gesellschaftlichen Herausforderungen und die Strategien der sozialen Gruppen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (Springer–11776 /Dig. Serial). Biermann, Ralf (2009): Der mediale Habitus von Lehramtsstudierenden. Eine quantitative Studie zum Medienhandeln angehender Lehrpersonen, 1. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bohnsack, Ralf (2013): Dokumentarische Methode und die Logik der Praxis, in: Lenger, Alexander/ Schneickert, Christian/Schumacher, Florian (Hg.): Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 175–200. Bourdieu, Pierre (1992): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 5. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 658). Bourdieu, Pierre (2001): Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Unveränd. Nachdr, Hamburg: VSA. Bourdieu, Pierre (2004): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1695). Bourdieu, Pierre (2005a): Die verborgenen Mechanismen der Macht, Unveränd. Nachdr. der Erstaufl. von 1992, Hamburg: VSA. Bourdieu, Pierre (2005b): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, 1 Aufl. [Nachdr.], Frankfurt/M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1066). Bourdieu, Pierre (2005c): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, 1. Aufl. [Nachdr.], Frankfurt/M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1539).


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Norbert Meder

Habitus – auch medialer Habitus – aus pädagogischer Perspektive Beitrag Online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/599

Abstract Der Artikel stellt einen explizit bildungswissenschaftlichen Beitrag zu den Debatten über den „medialen Habitus“ dar. Der Autor stellt dabei insbesondere die Frage nach dem „Wie“ der „Inkorporierung“ des Habitus in der frühkindlichen Phase des Menschen und erweitert dadurch allgemeiner gehaltene Diskussionen über die faktische und empirische Vorhandenheit des Habitus. Dabei betont der Artikel dass psychische Dispositionen und dauerhafte soziale Befindlichkeiten im Sinne eines Dispositivs konstitutiv für den Habitus sind und entwicklungspsychologisch fünf Phasen der Aneignung im Rahmen des kindlichen „Mitmachens“ zu unterscheiden sind. So wird etwa der Umgang mit dem eigenen Leib und dem des anderen, mit der eigenen Haut und der Haut der anderen aus dem familiären Dispositiv in die eigene Disposition aufgenommen und konstituiert damit – aktiv und passiv – den Habitus. Der Beitrag betont nachdrücklich – und in Erweiterung und Intensivierung des Bourdieuschen Konzepts – die prozessuale Konstitution des (früh-)kindlichen Habitus und beschreibt diese stufenartig und sehr fokussiert, um so das Konzept und die Diskussion zur Medialität des Habitus zu intensivieren und zu bereichern. Habitus – and media habitus – from a pedagogical perspective. The essay is an explicit contribution of educational science to the debates centred on “media habitus”. The author particularly questions “how” habitus is “incorporated” in the early childhood phase of human beings and thus broadens the more general discussion on the factual and empirical existence of habitus. He stresses the fact that psychological dispositions and enduring social existential orientations in the sense of a dispositif constitute the habitus and that in development psychology, we need to differentiate between five phases of appropriation in the context of the child’s “participation”. Thus, for example the interaction with one’s own body and the other’s, with one’s own skin and the other’s is taken from the family dispositif into one’s own disposition, and thus constitutes – actively and passively – the habitus. The contribution emphatically emphasizes – extending and intensifying Bourdieu’s conception – the processual constitution of (early) childhood habitus and describes it in stages and in a very focussed manner, in order to intensify and enrich the concept and the discussions on the mediality of habitus.


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Einleitung 0. Der Begriff des Habitus ist seit der Einführung dieses Terminus in die Soziologie durch Bourdieu der Topos für pädagogisch wohl bekannte Probleme und die um dieselben zentrierten Diskurse geworden. Wohl bekannt sind den PädagogInnen diese Probleme unter den Begriffen Haltung, Prägung, Gewohnheit, auch Persönlichkeit und natürlich auch Sozialisation und informelle Bildung. Topos heißt ja Ort der Verhandlung. Topos kann nur dann Ort der Verhandlung sein, wenn gewisse Annahmen zu den Problemen, die verhandelt werden sollen, unstrittig sind. Topoi in Verbindung mit ihren unstrittigen Annahmen werden deshalb auch treffend Gemeinplätze in einem wertfreien Sinne genannt. Die unstrittigen Annahmen sind, dass Sozialisation ein Problem ist, dass Alltagshandeln sich sozialer Einflüsse verdankt, dass diese Einflüsse positiv angenommen werden oder dass sie in der Form der Ablehnung prägend wirken u. v. a. m. Habitus ist also ein Gemeinplatz, auf dem sich viele tummeln können: PädagogInnen, SoziologInnen, PsychologInnen, KulturwissenschaftlerInnen, HumanwissenschaftlerInnen u. a. m.. 1. Habitus ist zum Topos und damit zum Gemeinplatz geworden, weil für den Terminus noch keine einheitliche bzw. gemeinschaftlich verbindliche Definition vorliegt. Der Begriff des Habitus versteht sich offensichtlich eher als ein Inbegriff von Relationen, als ein Komplex von Vektoren eines Kräftefeldes. So ist jedenfalls mein Eindruck aus vielen Gesprächen mit Bourdieu-Spezialisten. Ich selbst bin kein Bourdieu-Spezialist und werde deshalb im Folgenden keine Bourdieu-Interpretation vorlegen. Ich nehme einige Anregungen aus der sporadischen Lektüre von Bourdieu und aus den genannten Gesprächen auf und formuliere, was ich aus pädagogischer Sicht unter Habitus verstehe. Damit sind meine folgenden Überlegungen ein Beitrag am Ort der Verhandlung, am Topos Habitus. 2. Bourdieu hat mich angeregt in dem Umstand, dass er tendenziell feldtheoretisch, also relationslogisch denkt, wobei ich allerdings nicht sehe, dass er dies konsequent und in aller Tiefe ausgearbeitet hat. Aber das kann an mir und meiner geringen Bourdieu-Lektüre liegen. Habitus entsteht im sozialen Feld – aber wie? Außerdem hat mich angeregt, dass habituelle Unterschiede oft nur an Nuancen, an kleinen Unterschieden festzumachen sind, und schließlich, dass die habituellen Unterschiede in der Dimension des Geschmacks, also im Ästhetischen liegen. Gerade Letzteres macht einen Pädagogen aufmerksam, weil im Kontext der Konzeption pädagogischer Kausalität, pädagogischer Einwirkung oft von etwas Ästhetischem die Rede ist. Ich will nur Herbarts Konzept der ästhetischen Darstellung von Welt als Hauptgeschäft der Erziehung und Schillers Konzept des ästhetischen Spiels als Interaktion von Form- und Stofftrieb anführen. 3. Zum sogenannten medialen Habitus werde ich mich nur am Rande äußern. Er ist nur ein Spezial- und Anwendungsfall einer allgemeinen Habitus-Theorie. Außerdem steckt das Forschen um einen möglichen medialen Habitus noch in einem Anfangsstadium, sodass man sich in einem ersten Herantasten befindet. Das gilt auch für mich. Ich stütze mich bei meinen Bemerkungen zum medialen Habitus zum einen auf meine eigene Medientheorie, die ja sowohl in den Grundzügen als auch in Anwendungen vorliegt, und zum zweiten auf meine Erfahrungen medialer Praxen, die ich seit ca. 1980 gesammelt habe.


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Disposition und Dispositiv 4. Zu den Gemeinplätzen im Diskurs um den Habitus gehört aus meiner Sicht vieles, was auf Bourdieu zurückgeht: Der Habitus wird sozial vererbt. Der Habitus wird dem Körper eingeschrieben, er gehört zum inkorporierten kulturellen Kapital1. Er korreliert auch mit dem symbolischen Kapital. Der Habitus kann sich zwar verändern, ist aber im Kern stabil oder zumindest relativ zu anderem stabil. Das soziale Feld prägt dem Individuum den Habitus ein. Der Habitus wird frühkindlich erworben. 5. Ich stimme den Gemeinplätzen im Grundsatz zu. Aber meine Frage ist: Wie funktioniert das? Und wie kann man das wissenschaftlich erklären? Die feldtheoretische Tendenz einer solchen Erklärung ist klar. So wie sich ein Eisenspänchen im magnetischen Feld gemäß der Kraftlinien ausrichtet, also sich ins Feld einfügt, so ist das auch mit dem einzelnen Menschen im sozialen Feld: Er richtet sich nach den Kraftlinien der Macht und Anerkennung aus. Die Analogie ist zwar didaktisch für ein erstes Verstehen sehr gut, aber hilft wissenschaftlich nicht wirklich weiter, wenn man nach Erklärungen sucht. Deshalb will ich es mal anders versuchen. 6. Es scheint mir unbestreitbar, dass wir sowohl von subjektiven Befindlichkeiten als auch von objektiven sozialen Lagen ausgehen können. Subjektive Befindlichkeit kennt jeder sowohl in der situativen als auch in einer beharrlichen dauerhaften Form. „Im Augenblick hab’ ich überhaupt keinen Nerv auf Auseinandersetzung“ ist eine Äußerung als Beispiel für eine situative Befindlichkeit. „Typen wie den kann ich überhaupt nicht ab“ ist eine Äußerung als Beispiel für eine offensichtlich überdauernde Befindlichkeit. Für die überdauernden Befindlichkeiten ist der Begriff der psychischen Disposition eingeführt worden, den ich auch in diesem Sinne übernehme. 7. Auch die objektiven sozialen Lagen können eher aktuelle Befindlichkeiten sein oder aber von eher dauerhafter Form. Der Vater kommt besoffen nach Hause, es kommt zum Ehestreit, dann ist das eine situative soziale Lage, die sich vielleicht nie wieder wiederholt. Wenn der Vater aber Alkoholiker ist und immer nur betrunken in der Familie auftritt und es ständig darum Konflikte gibt, dann haben wir es mit einer dauerhaften sozialen Befindlichkeit zu tun. So wie die dauerhaften psychischen Befindlichkeiten als Disposition eigens terminologisch gefasst wurden, so will ich dies auch mit den dauerhaften sozialen Befindlichkeiten tun und dafür den Terminus Dispositiv reservieren. Der Begriff des Dispositivs kommt zwar aus der Militärsprache, was bei mir erst einmal eine Abwehrhaltung erzeugte, trifft aber genau, worum es geht: Die Gegner haben sich für die Schlacht strategisch positioniert. Dadurch entsteht ein Feld militärischer Stärken und Schwächen. Manche wechselseitigen Optionen der Gegner sind im Dispositiv ausgeschlossen, andere erwartet und schließlich werden einige Optionen sich aufgrund genialischer Kreativität eröffnen. In jedem Fall hat das Dispositiv eine Tendenz und strukturiert das Handeln in der Schlacht. 1

Bourdieu übernimmt und erweitert den Marxschen Kapitalbegriff. Neben das ökonomische Kapital treten das kulturelle, soziale und symbolische Kapital. Ich werde im Folgenden den Kapital-Begriff von Bourdieu nicht verwenden, obwohl er vieles zur Erklärung der Entstehung des Habitus beitragen könnte. Denn die Kapitalien werden als generische, dynamische Größen verstanden, die sich der Arbeit und der investierten Zeit verdanken. Sie sind am besten über Kapitalprozesse, seien es Akkumulations- oder Transformationsprozesse, zu begreifen. Vgl. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheit, Göttingen: Schwartz 1983, 183–198.


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8. Soziale Vererbung kann in den beiden Termini, Dispositiv und Disposition, so gefasst werden: Es gibt einen Prozess, in dem das soziale Dispositiv zur subjektiven Disposition wird. Nicht alle sozialen Dispositive werden zu sozialen Dispositionen. Einige soziale Dispositive werden als Negationen in die Disposition eingebaut. Vielleicht gibt es noch weitere Sätze/Behauptungen zur sozialen Vererbung, aber alle solchen Sätze sind erst einmal Annahmen und Hypothesen. Ihr Für-wahr-Halten mag zwar eine auch empirisch gestützte hohe Plausibilität haben, aber ein Erklärungsmodell ist dafür aus meiner Sicht noch nicht vorgelegt worden. Das heißt: Es gibt noch keine in sich geschlossene Theorie sozialer Vererbung. Es gibt zwar partikulare Theorieansätze, insbesondere in den Konzepten psychologischer Lerntheorien, die sich auf einzelne Lernarten beziehen. Aber eine Lerntheorie, die alle diese Lernarten in einem Modell zusammenfasst, gibt es nicht. Wir befinden uns wissenschaftlich in der Situation eines Patchworks von Erklärungsansätzen. Das ist wissenschaftlich und insbesondere theoretisch unbefriedigend. Ich will im Folgenden einige Überlegungen anstellen, die diese unbefriedigende Lage verbessern könnten. Dabei muss ich bei den Konzepten des Lernens ansetzen. Denn es ist unbestreitbar, dass die hier infrage stehende soziale Vererbung zumindest auf der Seite des Erben etwas mit Lernen zu tun hat.

Habitus und sein Erlernt-Werden 9. Wenn es im Folgenden um das Erlernen des Habitus geht, dann geht es erst einmal um eine pädagogische und nicht um eine soziologische Sicht. Denn PädagogInnen ziehen nur einen Erkenntnisgewinn daraus, dass der Prozess der Aneignung geklärt ist. Das ist ein in Wissenschaft und Praxis Spezifisches der Pädagogik, dass sie die Prozesse der Aneignung erforschen muss, aber nicht nur um deren Beschreibung willen, sondern um in diese Prozesse je aktuell eingreifen zu können. Die SoziologInnen im Allgemeinen – bis auf einige Ausnahmen mit politischen Interessen – beschreiben nur. Das ist auch bei den PsychologInnen weitgehend so. Deren Praxisbezug besteht nicht wie bei uns PädagogInnen darin, in je aktuell verlaufende Prozesse bewahrend, fördernd und richtungweisend einzugreifen, sondern darin, die Fälle zu therapieren, d. h. nachträglich zu behandeln, in denen die pädagogische Unterstützung von Aneignungsprozessen misslungen ist. Insofern hat Oevermann recht, wenn er sagt, dass es in der Pädagogik als Praxis um eine Art prophylaktischer Therapie geht, also darum, spätere psychologische Therapie zu vermeiden.2 10. Ich habe in 9. Lernen und Aneignung synonym gebraucht. Ich bin sicher, dass man Lernen nicht anders als Aneignung, als Prozess, sich etwas zu eigen zu machen, verstehen kann.3 Wenn ich im Folgenden auf Lernen als Aneignungsprozess eingehe, dann stets unter dem Fokus der Frage, wie der Habitus entsteht. Denn nur wenn man den Entstehungsprozess kennt, weiß man, was Habitus ist. Dies ist die erziehungswissenschaftliche Perspektive auf die Welt. Der erziehungswissenschaftliche Gegenstand ist nicht der Mensch, ist nicht der Zögling, son2 Das hat Oevermann in einer Diskussion 1978, bei der ich anwesend war, so gesagt. Das fand ich schon damals sehr treffend. Ob sich das in seinen Veröffentlichungen wiederfindet, weiß ich nicht. Im Übrigen zeigt die Gegenüberstellung der pädagogischen und der psychologischen Praxisbezüge eine gewisse Konkurrenz an, die sich sowohl in der erziehungswissenschaftlichen Disziplin als auch in der Praxis bei der Grenzziehung zwischen Beratung und Therapie zeigt. 3 Vgl. Meder, Norbert (2007): Der Lernprozess als performante Korrelation von Einzelnem und kultureller Welt, in: Spektrum Freizeit, H. I&II, Bielefeld: JANUS sw Projekte 2007, 119–136.


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dern das Ereignis des Lernens bzw. der Bildung. Mit dem Ereignis des Lernens wird die Realität des Prozesses in den Blick genommen, in dem der konkrete einzelne Mensch allererst zu dem Sich-Bildenden, dem Lernenden oder dem sich Habitualisierenden wird. Und weil die Vererbung des Habitus als ein Lernen im Rahmen von Sozialisation verstanden wird, werde ich mich auf das Lernen unter diesen Bedingungen konzentrieren. Ich nehme also alles in allem eine pädagogische Perspektive ein und beschränke mich weitgehend darauf. 11. Mit Blick auf die Aneignung des Habitus müssen aus meiner Sicht fünf Entwicklungsphasen unterschieden werden. In der pränatalen Phase erstens finden mindestens schon akustische Prägungen statt. In dieser Phase lernen vorgeborene Kinder offensichtlich schon artikulierte Laute von Geräuschen zu unterscheiden. Sie lernen auch, wenn in der Umwelt zweisprachig kommuniziert wird, die Melodien der beiden Sprachen zu unterscheiden. Für den medialen Habitus erscheint mir besonders wichtig, dass in dieser pränatalen Entwicklungszeit auch der musikalische Geschmack vorgeprägt wird. Das pränatale Kind erlebt sich als das gesamte akustische Dispositiv seiner Umwelt. Es lebt ja noch in organischer Symbiose mit der Mutter und erlebt so alles, was die Mutter erlebt, nach Maßgabe seiner für die Umwelt schon empfänglichen Sinne. Der Sehsinn kommt dabei überhaupt nicht infrage. Der Tastsinn spielt nur im Inneren des Mutterleibes eine Rolle, was offensichtlich bei Zwillingsschwangerschaften eine Rolle spielt: Wer von den Zwillingen setzt sich bzgl. der besten Position – auch hinsichtlich der Geburt – durch? Inwieweit Geschmackssinn und Geruchssinn – möglicherweise durch die Ernährung der Mutter – determiniert und entwickelt werden, weiß ich nicht, aber denkbar ist es schon. In jedem Fall ist es der akustische Sinn, über den das pränatale Kind in eine Umweltbeziehung gerät. Das heißt dann auch, dass ein akustisch-medialer Habitus schon pränatal entwickelt wird. Als zweite Phase der Inkorporation des Habitus definiere ich die Zeit von der Geburt bis zum Beginn der Sprache. Die zweite Phase ist also die vorsprachliche Phase, in der noch keine Differenz von Subjekt und Objekt vorliegt. Sie reicht von der Geburt bis in den 8. Monat. Sie ist für die Vermittlung und Aneignung des Habitus die wichtigste Phase, wie ich noch ausführen werde. Die dritte Phase ist die Phase vom 8. Monat bis zum ca. dritten Lebensjahr, in der zwar schon sprachliche und damit auch gegenständliche Differenzierungen gemacht werden, in der aber das innere Zeitbewusstsein noch nicht so ausgebildet ist, dass man sich später daran erinnern kann. Das, was in dieser Zeit bzgl. des Habitus angeeignet wird, ist über den Defekt der Nichterinnerbarkeit vor Revisionen geschützt. Die vierte Phase schließt sich an bis zur Pubertät, in der weitgehend im Modus des Spiels und des Lernens am Modell Habitus angeeignet wird, der aber prinzipiell der Reflexion und Revidierung zugänglich ist. Die Chance zu solcher Revidierung bietet dann die fünfte Phase, sofern sie durchlebt wird: die Pubertät als die Phase der Entwicklung, in der die eigene Identität im sozialen Kontext aktiv gesucht und reflektiert wird. Erst in dieser Phase können normalerweise Habitus-Korrekturen stattfinden. Ich werde mich hier ausschließlich mit der zweiten Phase und kurz mit der dritten Phase beschäftigen.

Lernen als Sozialisationsprozess 12. Sozialisation ist ein Bildungsprozess, der seine Lokalisierung auf drei Ebenen hat. Auf der Makroebene lokalisiere ich Bildungsprozesse, wenn sie gesamtgesellschaftlich bestimmt sind, wenn sie nur vom Ganzen der Gemeinschaft als determiniert erscheinen können. Insofern gehören die klassenspezifischen Bildungsprozesse in die Makroebene, weil ansonsten das


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Ganze der kapitalistischen Gesellschaft nicht über seine immanenten Gliederungen erklärt werden könnte. Auf der Mesoebene lokalisiere ich Bildungsprozesse, die in Teilsystemen, d. h. in speziellen Institutionen und Organisationen der Gesellschaft ablaufen, wie beispielsweise die berufliche Sozialisation oder das im heimlichen Lehrplan der Schule Gelernte.4 Auf der Mikroebene lokalisiere ich Bildungsprozesse, die in elementarer Interaktion mit Sachen und Sachverhalten bzw. mit anderen Personen ablaufen, wie dies beispielsweise in der Familie stattfindet. Für die Entstehung des Habitus ist die Mikroebene von besonderer Bedeutung, auch wenn die anderen Ebenen hineinspielen. 13. Gemeinhin wird Sozialisation als das Sozial-Werden des Einzelnen gefasst. Das ist richtig, aber für erziehungswissenschaftliche Zwecke zu allgemein. Sozialwerden kann in Prozess und Ziel alles heißen: Teilhaben am gemeinsamen Wissen, Mitmachen, wo es um sozial-kulturell anerkannte Fertigkeiten geht, Nachmachen bzw. Reproduktion von kulturell wertgeschätzten Fähigkeiten u. v. a. m. Ist Sozialisation Sozial-Werdung, dann ist alles Sozialisation. Eine solche Bestimmung der Sozialisation ist für eine erziehungswissenschaftliche Theorie zwar möglich, aber nicht geschickt. Es ist besser auf den Kern der Sozialisation zu gehen, auf das, was nicht anders zu erklären ist als durch Sozialisation. In unseren erziehungswissenschaftlich einheimischen Begriffen haben wir dafür den Unterschied von funktionaler und intentionaler Erziehung eingeführt. Ich halte an diesem Unterschied fest. In einem an funktionale Erziehung angelehnten engeren Sozialisationsbegriff werden alle die Bildungsprozesse zusammengefasst, die eben einfach so funktionieren, ohne dass damit eine explizite Intention eines Akteurs oder einer Institution verbunden ist.5 Allein die so verstandene funktionale Erziehung kann die Selbstverständlichkeiten einer kulturellen Gemeinschaft vermitteln – den Habitus. Wenn ich im Folgenden von Sozialisation spreche, dann im Sinne von funktionaler Erziehung. 14. Selbstverständlichkeiten sind prinzipiell unbewusst. Denn wären sie bewusst, dann könnten sie auch infrage gestellt werden und wären damit keine Selbstverständlichkeiten mehr. Damit ist auch klar, dass die sozialisatorischen Lernprozesse unbewusst und in einer Art passiver Intentionalität ablaufen müssen – unbemerkt und mit einer reflexiven Sich-Bestimmung, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegt. Üblicherweise wird ein solches Sich-Bestimmen als präreflexiv bezeichnet. Es müsste besser heißen: präreflektiert. Denn es ist natürlich reflexiv, weil alles Erleben reflexiv ist. Denn Erleben ist immer Erleben von etwas und zugleich Erleben, dass man etwas erlebt und darin reflexiv.6 Präreflexiv meint, wenn dieser Ausdruck ernst genommen wird, präreflektiert. In Sozialisationsprozessen wird ein Selbstverständnis ausgebildet, das unter den Bedingungen des unreflektierten Selbstverhält4 Vgl. Dreeben, Robert (1971): Was wir in der Schule lernen, Frankfurt/M: Suhrkamp 1971. 5 Sozialisation wird damit bewusst gegen den aktuellen Mainstream à la Hurrelmann nicht vom Ziel her bestimmt, sondern von der Prozessart. Hurrelmanns Sozialisationsbegriff ist soziologisch orientiert und nivelliert erziehungswissenschaftlich etablierte Differenzierungen wie z. B. die von funktionaler und intentionaler Erziehung, aber auch solche von informaler, informeller und formaler Bildung. Außerdem ist Hurrelmanns Sozialisationsbegriff so weit gefasst, dass er Bildung unter sich begreift oder dass er mit dem Bildungsbegriff gleichzusetzen ist. Das mag aus soziologischer Sicht verständlich sein, aus erziehungswissenschaftlicher Sicht ist es eine Katastrophe, weil es Differenzierungen aufgibt, die unsere Komplexität in pädagogischen Forschungs- und Handlungsfeldern reduzieren lassen. 6 Vgl. Meder, Norbert (2013): Das Medium als Faktizität der Wechselwirkung von Ich und Welt. (Humboldt), in: Marotzki, Winfried/Meder, Norbert (Hg.): Perspektiven der Medienbildung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 45–70.


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nisses steht. Sozialisationsprozesse realisieren das, was Wittgenstein Lebensform als den mythologischen Hintergrund genannt hat, auf den wir stoßen, wenn wir ans Ende unserer Begründungen kommen, wenn wir nur noch sagen können: Wir machen es halt so – nichts weiter. Die diesbezüglichen Sozialisationsprozesse verlaufen für den Einzelnen in Lernprozessen, die als Mitmachen zu bezeichnen sind.

Mitmachen als Vollzug der Habitualisierung in der zweiten Phase 15. Den Unterschied zwischen Mitmachen und Nachmachen hebt besonders Plessner in seiner Anthropologie hervor.7 Nachmachen setzt die Differenz von Original und Abbild voraus. Diese Differenz kann auch als reziprokes Verhältnis verstanden werden. Man muss sich in die Lage eines anderen versetzen können, um ihn nachahmen zu können. Im Verhältnis von Original und Abbild steckt schon die Zeichenfunktion: Das Abbild zeigt auf das Original. Deshalb ist für Plessner Sprache untrennbar mit dem Nachmachen verbunden. Das Mitmachen ist demgegenüber ein sympathetisches Ergriffen-Werden, das auch schon bei Tieren vorkommt – etwa in der Echolalie bei manchen Vögeln oder im Heulen der Wölfe. Das Mitmachen setzt Erregbarkeit, Sensibilität voraus, über die man in Mitschwingungen versetzt wird. Bei vorsprachlichen Säuglingen kann man beobachten, dass sie z. B. von der schlechten Stimmung zwischen den Eltern ergriffen werden und zu weinen beginnen. Die dispositive Atmosphäre der schlechten Stimmung zwischen den Eltern geht offensichtlich unmittelbar in die situative Befindlichkeit des vorsprachlichen Säuglings ein. 16. Wir können in der vorsprachlichen Kindheit beobachten, dass das situative Dispositiv sich unter bestimmten Relevanzgesichtspunkten unmittelbar in der situativen Befindlichkeit des Kindes abbildet. Relevanzgesichtspunkte sind nach meinen Beobachtungen insbesondere Wiederholung und Intensität. Ein gelegentlicher Ehestreit ist unproblematisch. Aber der tägliche Ehestreit führt zu einem sozialen Dispositiv, von dem die vorsprachlichen Kinder unmittelbar und auf Dauer ergriffen werden, sodass sich die äußere Befindlichkeit der sozialen Lage (das Dispositiv) in ihren Leib einschreiben kann und zur subjektiven Disposition wird. 17. Weil schließlich Piaget ja auch nur seine eigenen Kinder beobachtet und daraus seine Theorie entwickelt hat, erlaube ich mir hier eine Erfahrung mit meinen Kindern8 einzubringen. Alle Eltern – insbesondere diejenigen, die gerade ihr erstes Kind bekommen haben – kennen das Problem, beim Schreien der Säuglinge unterscheiden zu können, ob es sich um eine Lappalie handelt, mit der das Kind selbst fertig werden kann und soll, oder ob es sich um ein ernstes Problem handelt, bei dem Hilfe geboten ist. Bei meinen Zwillingen – sie waren für mich das dritte und vierte Kind – hatte ich dieses Problem nicht mehr. Wenn ein Zwilling nörgelte, quengelte oder auch schrie und der andere Zwilling davon völlig unberührt blieb, dann wusste ich, dass alles nicht wichtig war. Wenn aber der andere Zwilling – meist nach 2–3 Minuten – ins Quengeln oder Schreien einstimmte, dann war klar, dass Hilfe angesagt ist. An dieser Beobachtung werden vor allem zwei Sachverhalte deutlich: 1. Die Sensibilität im Sinne der Empathie ist bei Säuglingen deutlich höher als bei Erwachsenen. 2. Offensichtlich haben vor7 Plessner, Helmuth (1976): Die Frage nach der Conditio humana, Frankfurt/M: Suhrkamp, insbes. 42f. 8 Ich habe 5 eigene Kinder, an denen ich Beobachtungen vornehmen konnte. Aber als Alt-68er, der 13 Jahre in Wohngemeinschaften gelebt hat, konnte ich natürlich sehr viel mehr Kinder beobachten.


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sprachliche Säuglinge in ihrer empathetischen Sensibilität eine Distinktion nach Relevanz, die sich an der Intensität festmachen lässt.

Der Unterschied zwischen vorsprachlich und sprachlich 18. Man kann den Beginn der Sprache beim Säugling ungefähr im 8. Monat ansetzen. In dieser Zeit versteht das Kind plötzlich das Zeigen mit dem Zeigefinger. Bis dahin reagiert es auf den ausgestreckten Arm und den gerichteten Zeigefinger nicht oder nur so, dass es dem Zeigenden freudig ins Gesicht sieht, weil er etwas mit ihm macht. Irgendwann im 8. Monat richtet es plötzlich den Blick in die Richtung, in die der Zeigefinger zeigt. Im Übrigen ist der 8. Monat auch bekannt als der Monat, in dem das Fremdeln und die Trennungsangst beginnen. Offensichtlich erkennt das Kind zu diesem Zeitpunkt, dass es keine Symbiose mehr mit der Mutter bzw. mit der sozialen Umgebung bildet. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass sich Reziprozität und die Fähigkeit zum Nachmachen ausbilden können. Die Gleichzeitigkeit dieser Entwicklungsphänomene bewährt empirisch, was Plessner und andere Anthropologen begrifflich expliziert haben: Der Mensch wird – anthropologisch-biologisch betrachtet – zu früh geboren. Portmann und andere sprechen vom Menschen als einem sekundären Nesthocker und vom extrauterinen Frühjahr. Ich bezeichne Letzteres pointierter als die extrauterine soziale Schwangerschaft. Müsste der Mensch seinem Stand im Bereich der Tierarten gemäß mindestens 18 Monate ausgetragen werden, dann kann der 8. Monat ungefähr auch mit dem Zeitpunkt der „eigentlichen Geburt“ gleichgesetzt werden. Zu früh geboren erlebt der Mensch im 8. Monat verspätet sein Geboren-Werden im Modus der sozialen und gegenständlichen Differenz. 19. Wie das Leben des vorsprachlichen Kindes zu fassen ist, stellt eine erziehungswissenschaftliche Theorie vor große Schwierigkeiten. Muss man annehmen, dass das vorsprachliche Kind noch gar kein Selbst- und Weltverhältnis ausgebildet hat? Ist der Mensch vor dem 8. Monat deshalb nicht bildsam und ungebildet? Nach meinem bildungstheoretischen Ansatz ist dies nicht möglich, denn der Mensch ist bildsam und zu jedem Zeitpunkt ab seiner Geburt schon gebildet. Menschsein ist Bildsamkeit in ihrer weitesten Bedeutung.9 Es ist nur die Frage, in welcher Form sich Bildsamkeit vollzieht und aktualisiert. Das vorsprachliche Kind hat ein Verhältnis zu seiner Umgebung, das man „Ausprobieren von Sinnen und Bewegungen“ nennen kann. Wenn man unter Intelligenz die irgendwie geordnete Beziehung des Einzelnen zu seiner Umgebung versteht, dann ist die Bezeichnung „sensumotorische Intelligenz“ von Piaget für diese Phase der Entwicklung treffend. Das vorsprachliche Kind erlebt – ebenfalls nach Piaget – noch nicht die Permanenz des Gegenstandes. Es kann deshalb nur Wahrnehmung von Farben und Formen, von fest und weich, laut und leise, von artikuliert und nicht artikuliert, von Gerüchen und Geschmäckern haben. Es hat also nur die Qualitäten der Wahrnehmung, die Empfindungen, ohne deren Träger. Es kann deshalb noch nicht zwischen äußerem Reiz und eigener Empfindung differenzieren. Der äußere Reiz ist mit der Empfindung ungebrochen identisch. Das vorsprachliche Kind kann deshalb die äußeren Sinnesqualitäten nur sich zuordnen. Deshalb und nur deshalb wird das Dispositiv in den Leib eingeschrieben. Es kommt hinzu, dass diese 9 Ob man Bildsamkeit als Mangel an Instinkten (Kant, Gehlen) oder als Weltoffenheit (Portmann) oder als Zwang, sich alles erarbeiten zu müssen (Plessner), begrifflich fasst, ist vergleichsweise gleichgültig.


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Inkorporierung im Modus des Erwerbs der Sinnlichkeit geschieht. Die Sinne sind bei der Geburt noch nicht voll ausgebildet. Das oben genannte Ausprobieren ist der Erwerb eigener Sinnlichkeit. Im Übrigen sind Sinnesqualitäten metrisch betrachtet intensive Größen, die sich in einem Kontinuum zwischen den Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit bewegen. 20. Man muss sich klarmachen, was dies für die vielen konkreten Ereignisse in der meist familiären Umgebung bedeutet. Da singt man das Kind in den Schlaf, hört beim Frühstück klassische Musik, da betrachtet man Bilderbücher mit dem Kind, obwohl es die betrachteten Dinge noch gar nicht identifizieren kann. Es verinnerlicht nur die sinnlichen Intensitäten der Situation. Man nimmt das Kind auf den Arm und erledigt gleichzeitig irgendetwas Alltägliches. Das Kind nimmt dies als einen Komplex von Intensitäten seiner Sinne wahr und lernt über die dauernden Wiederholungen, die auf den Gewohnheiten der sozialen Umgebung, des sozialen Feldes beruhen, Zusammenhänge. Man hat das Kind auf dem Schoß, während man am Computer sitzt und beispielsweise etwas recherchiert. Das Geräusch der Tastatur wird für das Kind zu einem angenehmen Klang und es ist sein Körper, der klingt. Über die Gewohnheiten des sozialen Dispositivs habitualisiert das vorsprachliche Kind die Präferenzen, die sich im Dispositiv vollziehen. Da es noch vollständig in einer Phase der Ausbildung eigener Sinnlichkeit lebt, erwirbt es so den Geschmack. Denn Geschmack als ein ästhetisches Moment ist die Präferenz-Ordnung der Aisthesis, d. h. der Sinnlichkeit. Geschmack wird in dieser Phase ungestört von ablenkenden Gegenständen, ungestört von der Arbeit des Bezeichnens bzw. der sprachlichen Umsetzung – gewissermaßen in seiner Reinheit – verinnerlicht. Von daher hat Bourdieu recht, wenn er die Rolle des Geschmacks bei sozialer Differenzierung im Habitus so hervorhebt. 21. Was ich über die Entwicklung der Sinnlichkeit beschrieben habe, lässt sich auch für den Erwerb motorischer Fähigkeiten beschreiben. Plessner führt aus, dass nur der Mensch eine Art von Erwerbsmotorik besitzt. Hier sind es insbesondere der Raum, seine Gestaltung und die Dinge in ihm, die im Modus des Bewegungslernens verinnerlicht werden. Dabei schreibt sich die vektorielle Logik des Raumes in den Leib ein, sodass Piaget mit Recht sagen kann, dass es sich hier schon um Intelligenzentwicklung handelt. Intelligenz fasst er ja im Sinne der Boolschen Algebra als Logik der mathematischen Gruppe. Die gerichteten Wege im Raum werden mathematisch als Vektoren definiert und bilden eine solche Gruppe. Das Kind in der sensumotorischen Phase weiß natürlich nichts von dieser Logik. Es hat sie nicht, sondern ist diese Logik. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes inkorporiert. Der Umstand, dass Bewegung und mit ihr die Logik des Raumes erworben werden müssen und werden, zeigt, wie die Einschreibung in den Leib vonstattengeht: Sich-Entwickeln des Leibes und Lernen sind synchronisiert. In der Intelligenzforschung wird häufig die räumliche Intelligenz hervorgehoben. Wenn sie frühkindlich erworben oder auch nur optimal ausgestaltet wird, dann ist auch sie zumindest teilweise sozial vererbt. 22. Ich folge Plessner, dass die eigentümliche biologische Konstitution des Zu-früh-geboren-Seins des Menschen ihn einer Umweltbeziehung aussetzt, für die er noch keine Verhältnismäßigkeit hat entwickeln können. Er ist also gezwungen, Letztere unter dem Druck von Umwelteinflüssen allererst noch zu entwickeln. Eine solche Entwicklung ist zwar biologisch durch die Frühgeburt angelegt und formal präfiguriert, aber ist dann durch die Umwelt der Qualität nach bestimmt. So kann sie eben auch umweltbedingt misslingen. Das heißt die Verhältnismäßigkeit im Verhalten muss geleistet werden. Die empirischen Ergebnisse der Hospitalismusforschung, des erlernten Autismus und die unterschiedliche Selbstpositionierung in der Bipolari-


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tät von Urvertrauen und Misstrauen belegen, dass die extrauterine, vorsprachliche Entwicklung objektiv ein besonderes Bildungsverhältnis ist, d. h. eine Korrelation von Prädispositionen und Umwelt. In dieser Korrelation wird das Verhältnis des Einzelnen zu den Sachen und Sachverhalten in der Welt sowie zu den anderen in der Gemeinschaft und schließlich auch zu sich selbst im Modus des Urvertrauens oder des Misstrauens entwickelt.10 Dies lässt sich empirisch kaum bestreiten. Wenn das Bildungsverhältnis – üblicherweise als Selbst- und Weltverhältnis bezeichnet – präreflektiert auf einer Skala von Misstrauen bis Vertrauen entsteht, ohne dass Gegenständlichkeit schon explizit entwickelt ist, dann legt das nahe, dass erst die Qualität der Beziehung, der Relation, entwickelt wird und danach unter dieser Qualität die Relata der Beziehung als die Pole der Gegenständlichkeit. Bildungstheoretisch müssen wir davon ausgehen, dass die Relation den Relata sowohl genetisch als auch logisch vorausgeht.11

Vorsprachliche Bildung 23. Ob das Bildungsverhältnis vorsprachlich als Verhältnis oder nur als Befindlichkeit, d. h. als Relation der Kongruenz von Dispositiv und Disposition, im Modus des Mitmachens erlebt wird, macht an den objektiven, für uns empirisch erforschbaren Verhältnismäßigkeiten keinen Unterschied. Man kann in einer funktionalen Erklärung noch weiter gehen. Der Umstand, dass das im Verhältnis-Sein noch nicht erfahren wird, liefert das vorsprachliche Kind wehrlos den Umwelteinflüssen aus. In diesem Modus allein kann es im engeren Sinne sozialisiert, d. h. geprägt, werden. Nur in diesem Modus sind die Selbstverständlichkeiten einer kulturellen Gemeinschaft als Selbstverständlichkeiten übertragbar. Der Erlebnismodus des sympathetischen Mitmachens, des „Von-der-gemeinschaftlichen-Situation-ergriffen-Werdens“ und das damit „In-Mitschwingung-Geraten“ verliert sich im ganzen Leben nicht, wird aber immer stärker von anderen Formen des Erlebens überlagert und immer weniger prägend. Auch wir Erwachsene erleben Situationen, in denen wir beispielsweise zu einer Konferenz verspätet hinzustoßen und sofort merken, dass Spannungen vorliegen, ohne dass wir noch eine einzige sprachliche Äußerung vernommen haben. Beim Kind kann man annehmen, dass das Mitmachen mit zunehmendem Alter kontinuierlich weniger wird, je mehr das Nachmachen, d. h. das bewusste Erleben des Bildungsverhältnisses, zunimmt.

Die dritte Phase der Habitualisierung: Nachmachen 24. Nachdem das Kind im 8. Monat das Zeigen gelernt hat, agiert es mit Differenz. Es beginnt die Dinge zu identifizieren, in der Wahrnehmung zwischen Hintergrund und Vordergrund zu unterscheiden – und zwar bei allen fünf Sinnen. Noch ist zwar die Permanenz des Gegenstandes über die Situation hinaus nicht entwickelt, aber sie ist doch schon in der Situation vorhanden.12 Immer noch getragen vom erworbenen Habitus im Mitmachen, von der Erfahrung des Symbiotischen, kippt das Mitmachen ins Nachmachen um. Man kann sich mit Recht die Frage stellen, ob ein Nachmachen ohne vorheriges Mitmachen überhaupt möglich 10 Vgl. Erikson, Erik H. (1974): Identität und Lebenszyklus, 2. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp. 11 Vgl. Meder, Norbert (2010): Sein als Relation, in: Beier, Kathi/Heuer, Peter (Hg.): Ontologie. Zur Aktualität einer umstrittenen Disziplin, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. 12 Die Permanenz des Gegenstandes ist nach Piaget erst mit 1,5–2 Jahren entwickelt.


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ist – stärker noch, ob nicht jedes Nachmachen von einem Mitmachen getragen wird bzw. von einem Mitmachen unterlegt ist. Theoretisch muss man diese Frage positiv beantworten. Denn wie sollte man sonst ein entstehendes Zeitbewusstsein erklären, in dem zwar Ereignisse/Erlebnisse im Gedächtnis abgelegt werden, aber nicht bewusst erinnert werden können, obwohl sie schon bewusst erlebt werden und sogar sprachlich repräsentiert und damit verdoppelt werden können.13 Das Zusammenspiel von Mitmachen und Nachmachen in dieser für den Habitus zweitwichtigsten Phase der Entwicklung ist davon gekennzeichnet, dass die Differenz der Rahmung der Ereignisse noch nicht realisiert bzw. stabil gehalten werden kann. Die Differenz von Spiel und mitmachender Realität verschwimmt ständig – mal hat man sie, mal ist sie kognitiv nicht zu realisieren. Nur weil dies so ist, ist Modell-Lernen in dieser Entwicklungszeit auch Realität-Lernen. Das was im Rollenspiel gespielt wird, ist nicht nur Spiel, sondern auch und zugleich Realität. Wie wäre sonst eine Einschreibung in den Körper, was ja ein realer und nicht ein fiktionaler Vorgang ist, möglich? Wie will man sonst die Inkorporation von z. B. Geschlechtlichkeit erklären? 25. Ich habe dieses Verschwimmen der Rahmungen von Real und Fiktional oft an den Kindern in meiner Umgebung beobachten können. Das extremste Beispiel will ich hier erzählen. Meine Söhne Krischan (ca. 5 Jahre) und Hannes (ca. 3 Jahre) und Natascha (ein Kind in der Wohngemeinschaft, ca. 5,5 Jahre) spielen zusammen. Plötzlich kommt Hannes völlig aufgelöst und weinend zu mir und sagt, dass Krischan ihn fressen will. Ich versuche ihn zu beruhigen und intellektuell aufzuklären, indem ich ihm sage, dass Krischan sein Bruder ist, der ihn lieb hat und ihn niemals fressen würde. Die intellektuelle Aufklärung misslang in Gänze. Hannes antwortete nur: „Aber der ist der Wolf.“ Darauf antwortet ich: „Krischan spielt doch nur den Wolf.“ Hannes: „Nein, der ist der Wolf.“ Ich ließ mir noch erzählen, was die drei gerade spielten – es war eine Variante von Rotkäppchen, aber selbst das Erzählen, was ja einen reflektierenden Zug hat, nützte nichts: Krischan ist und war der Wolf, der ihn fressen will. Ich musste nun wirklich autoritär pädagogisch eingreifen. Ich scharte alle drei um mich herum, erklärte den Größeren ganz kurz das Problem und beendete das Spiel offiziell und vor allem in einem Ritual – etwa so: Damit das Spiel beendet ist, essen alle ein rotes Gummibärchen. Denn rote Gummibärchen führen zurück in die Wirklichkeit, in unser Leben. 26. Es ist offensichtlich dieses diffuse Zusammentreffen von Wirklichkeit und Spiel, das für die Entstehung des Habitus so wichtig ist. Das Mitmachen im Spiel ist die erlebte Wirklichkeit, die Übernahme einer Rolle ist das Spiel – zumindest anfangs fiktional, wenn die Rollen von den Kindern so vereinbart werden. Aber irgendwie kann diese Differenz von real und fiktional im Erleben nicht stabil mitgeführt werden. Sie verwischt. Aber genau dies ist wichtig, wenn Inkorporation stattfinden soll, wenn die Rolle der Mutter oder der Frau in der spezifischen sozialen Klasse, der man angehört, verinnerlicht werden soll. Es geht in dieser Phase der Entwicklung nicht um soziale Rollen im Sinne der funktional differenzierten Gesellschaft, sondern um Rollen im sozialen Feld des Milieus und letztlich der Klasse. 27. Die eigentümliche Konstellation, in ein objektives Bildungsverhältnis, d. h. Welt- und Selbstverhältnis, gestellt zu sein, ohne psychisch in der Lage zu sein, die Differenz von Mitmachen und Nachmachen durchhalten zu können, ist die Grundlage für die Einschreibung des Habitus in den Körper, ist bildungstheoretisch die Bedingung der Möglichkeit, dass Selbstver13 Vgl. Meder, Norbert (1989): Kognitive Entwicklung in Zeitgestalten. Paideia. Studien zur Systematischen Pädagogik, Bd. 6, Frankfurt/M./Bern/New York/Paris: Peter Lang (Habilitationsschrift).


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ständlichkeiten wie Geschlecht, Geschwisterlichkeit, Freundschaft, wechselseitige Hilfe u. v. a. m. präreflexiv, ja sogar präreziprok übertragen werden können. Ohne diese menschliche Möglichkeit wäre Kultur in ihrer Tradierung von Selbstverständlichkeiten nicht möglich und damit auch nicht Sozialisation im Kern ihrer Leistung für das menschliche Fortbestehen. Man kann es nicht genug deutlich machen. Mitmachen und Nachmachen stehen beim Menschen nicht im Kontext von biologischen Vorgegebenheiten, sondern stets schon in der externen sozialen Korrelation des 3-fachen Bildungsverhältnisses erstens des Einzelnen mit den Sachen und Sachverhalten in der Welt, zweitens des Einzelnen mit den anderen in der Gemeinschaft und drittens des Einzelnen mit sich selbst im eigenen Leben. Dies gilt insbesondere für die beiden Phasen der Habitus-Entwicklung, die ich bis hierher behandelt habe. Mein Vorschlag ist, das Resultat dieser Entwicklungsphasen als den Habitus zu bestimmen und nichts mehr. Man kann davon ausgehen, dass dieses Resultat im Normalfall stabil und unveränderbar ist. Selbst ob Psychoanalyse oder andere psychologische Therapien daran etwas ändern können, ist fraglich. Alles, was später hinzugelernt wird, würde ich nicht mehr zum Habitus rechnen, weil es grundsätzlich änderbar und revidierbar ist. Man sollte von Stilen oder so sprechen, aber nicht von Habitus. Aber weil man Begriffe so schneiden kann, wie man will, ist dies nur ein Vorschlag meinerseits. Wenn man meinem Vorschlag nicht folgen will, dann sollte trotzdem im Habitus von einem Kern gesprochen werden, der genau das Resultat der beiden hier besprochenen Entwicklungsphasen ist. 28. Der mediale Habitus – sofern er empirisch identifizierbar und von einem allgemeinen Habitus unterscheidbar ist – wird nach meiner Fassung bis zum ca. 3. Lebensjahr entwickelt. Alle medialen Praxen, in die das Kleinkind hineingerät, eingebunden oder hineingezogen wird, werden inkorporiert. Da der Leib mit seiner Sinnlichkeit in meiner Medienbildungstheorie das Urmedium ist, das ich habe und zugleich bin, wird in der vorsprachlichen Phase vor allem der Geschmack inkorporiert: im Bereich des Musikalischen, im Bereich der bildenden Kunst bzw. des Kitsches, der Geschmack im Bereich des Taktilen, im Bereich des Riechens und da besonders mit Bezug auf die Kochkunst. Im Bereich des Taktilen geht es insbesondere um das Medium der Hände, die Art und Weise der Feinmotorik und um den hand-motorischen Umgang mit den Sachen. Da das Taktile der Nahsinn ist, über den einerseits Realität als Widerständigkeit konstituiert und anderseits Intimität kultiviert wird, wird hier Geschmack im Sinne der Angemessenheit des Umgangs mit dem Realen entwickelt sowie der Geschmack als Angemessenheit im Umgang mit Nähe und Distanz kultiviert. Der Umgang mit dem eigenen Leib und dem des anderen, mit der eigenen Haut und der Haut des anderen als die Ausdrucks- und Kommunikationsformen des Erotischen und der Sexualität – all dies wird aus dem familiären Dispositiv in die eigene Disposition aufgenommen. Die sogenannte Schamgrenze und ihre Wirksamkeit im Umgang mit anderen muss als taktiler Geschmack verstanden werden. Was die technischen Medien anlangt, könnte ich mir vorstellen, dass schon in der vorsprachlichen Phase sich ihre Bedeutung, ihr Stellenwert, ihre Beiläufigkeit und ihre Regelhaftigkeit einprägen. Das betrifft vor allem das Fernsehen, den Umgang mit Büchern und Zeitungen, Nutzung des Telefons bzw. des Handys oder auch des Computers – etwa wenn der Säugling beim elterlichen Skypen auf dem Schoß sitzt und dabei ist. Für die Habitualisierung der technischen Medien ist aber sicherlich die sprachliche Phase bis zum 3. Lebensjahr bedeutender, wenn man an einen medialen Habitus denkt. In dieser Zeit können die Kleinkinder schon richtig mit- und nachmachen. Der Umgang mit Kinderfernsehen, mit frühkindlich geeigneten Computerspielen, mit Bilderbüchern, mit Hörkassetten, mit Kindertheater, mit dem Telefon und anderem


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mehr könnten Variablen sein, über deren Ausprägung sich der mediale Habitus bestimmt. Hier würde ich ansetzen, wenn ich das Konstrukt eines medialen Habitus zu prüfen und zu erforschen hätte.

Husserls Habitualitäten: Exkurs zu einer philosophischen Grundlegung 29. Wenn man den Habitus als ein Geflecht von Habitualitäten verstehen kann, dann hat sich Husserl, der Begründer der Phänomenologie, aus subjektphilosophischer und erkenntnistheoretischer Sicht damit beschäftigt. Kant hat der nachfolgenden Philosophie das Problem hinterlassen, wie das transzendentale Ich und das empirische Ich dasselbe sein können oder wenigstens zusammenhängen. Mit diesem Problem haben sich auch die Neukantianer und dort insbesondere Hönigswald im Rahmen seiner Denkpsychologie beschäftigt. Trotz meiner viel größeren Nähe zum Neukantianismus als zur Phänomenologie will ich hier wegen der terminologischen Nähe Husserls philosophische Psychologie kurz nachzeichnen.14 Das transzendentale Ich ist von Kant als die Einheit der Synthesis der vielfältigen Bestimmungen eines Objekts eingeführt worden – kurz: als die Bedingung der Möglichkeit der Einheit des Objekts und insofern als konstitutionslogische Einheitsfunktion. Da diese Einheitsstiftung eine logische Handlung des Subjekts ist, charakterisiert Kant sie als das berühmte „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können“. Hinzu kommt, dass Kant im Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft Schemata angibt, die Zeitformen des inneren Sinnes sind und den Zuschreibungen der Kategorien in den Verstandeshandlungen entsprechen. Man ist sich in der Kantinterpretation einig, dass dies eine ungeklärte Stelle in der Kritik der reinen Vernunft ist. Husserl setzt beim inneren Zeitbewusstsein als einem Bewusstseinsstrom an. Damit setzt er Bewusstsein als einen intentionalen, also gerichteten Prozess im Modus einer inneren Zeitlichkeit an, die er lebendige Gegenwart nennt. Das Ich als Träger bzw. als das Zugrundeliegende dieser lebendigen Gegenwart im Bewusstseinsstrom ist ein Doppeltes: identisch bleibender Pol, vor dessen Hintergrund der Strom des Bewusstseins als Veränderung überhaupt nur erscheinen kann, und zugleich die Aktualisierung solcher Veränderung im Strom der Veränderungen als Potenz. Die Veränderungen im Bewusstseinsstrom werden so im Modus von Selbst- und Welterfahrung vollzogen. Als Veränderungen sind sie Welterfahrung, die aber nur vor dem Hintergrund des bleibenden Ich-Pols als solche Veränderung vollziehbar sind und damit zugleich mit Bezug auf das Potenz-Sein zur Selbsterfahrung werden. Fremdreferenz und Selbstreferenz sind untrennbare Bezüge in der Aktualisierung des Ichs im Bewusstseinsstrom. Als aktuierendes Ich ist das transzendentale Ich also Ermöglichung von Erfahrung, als identischer Pol im Strom ist es empirisches Ich, insofern die Welterfahrung selbstreferenziell in diesen Ich-Pol einge14 Ich will hier nur auf das Stichwort Habitualitäten in: Ritter, Joachim (Hg.) (1974): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3, Basel: Schwabe (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft), verweisen. Wer bei Husserl direkt nachlesen will, findet dort die maßgeblichen Stellen. Der Artikel ist von Klaus Held geschrieben, den ich in meinem Studium als sehr guten Kenner der Husserlschen Philosophie erlebt habe. Held war Assistent von Ludwig Landgrebe, der seinerseits einer der letzten Assistenten von Husserl war. Bei beiden habe ich studiert, ihnen verdanke ich meine Kenntnisse zur Phänomenologie. In dieser kurzen Skizze des Husserlschen Konzeptes muss ich natürlich sehr verdichten und vereinfachen.


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baut wird. Wie sollte sonst der Ich-Pol bleibender Pol bleiben, wenn er nicht die verändernde Erfahrung als bleibende in den Pol inkorporieren würde. Ist das Erfahrene aber in den Ich-Pol eingebaut, dann wechselt es seine Funktion: Es ist nicht mehr das zufällig Erfahrene, sondern es ist zu einem transzendentalen Muster für weitere Erfahrungen geworden. Alles was im intentionalen Vollzug der Welterfahrung eine Rolle spielt, Überzeugung, Auswahl und Entscheidung, schlägt sich im Ich als Möglichkeit für weitere und spätere Aktualisierungen seiner selbst nieder. Es ist die Verinnerlichung von Welterfahrung nicht als ablegende Speicherung, sondern in der Form der Ermöglichung, was Habitualitäten sowohl konstituiert als auch entwickelt. Dass dies so der Fall ist, dafür muss der aktive, aber bleibende Ich-Pol die veränderte Welterfahrung im Modus der Aktivität verinnerlichen, d. h. modern gesprochen als Skript, als Programm, und nicht als bloße Daten. Nur auf diese Weise wird die Erfahrung, die das empirische Ich macht, in das transzendentale Ich derart eingebaut, dass sie zukünftig transzendental fungiert. Das deckt sich mit Bourdieus Konzeption. Denn auch für ihn fungiert der Habitus, wenn er entwickelt ist, transzendental – als Logik des Geschmacks, als Logik der Wahrnehmung, als Logik der leiblichen Präsenz und als Logik des Handelns.

Die pädagogische Handlungsform beim Habitus-Erwerb: Trahere15 30. Ich habe bislang den Habitus-Erwerb nur unter dem Gesichtspunkt der Aneignung und des Lernens betrachtet. Ich will nun wenigstens kurz auf das Komplementäre zum Lernen im pädagogischen Handlungszusammenhang eingehen. Auf der Seite der Erziehung – ob funktional oder intentional – ist das Komplement zum Mitmachen das Trahere, eine Handlungsform pädagogischen Handelns, die ich so explizit nur bei Thomas von Aquin gefunden habe.16 Trahere heißt in diesem Kontext Einbeziehen, in einen Kontext, in eine Gemeinschaft, in einen Handlungszusammenhang hineinziehen. Thomas von Aquin hat diese Handlungsform identifiziert angesichts des Umstands, dass man über andere pädagogische Handlungsformen wie beispielsweise „docere“ (Dozieren) niemanden zum Glauben erziehen kann. Das Einzige, was man machen kann, ist, das heranwachsende Kind so früh wie möglich in die Gemeinschaft der Glaubenden hineinzuziehen. Trahere ist also das pädagogische Komplement des Mitmachens. Wenn man pädagogisch intentional das beeinflussen will, was pädagogisch funktional geschieht, dann kann man nur das Trahere kultivieren, d. h. das Kind so früh wie möglich in die Praxis des eigenen, für richtig empfundenen Lebens hineinziehen. Im Modus eines bewussten Traheres kann man in die Entwicklung des Habitus eingreifen. Man muss nur in der Lage sein, 15 Lateinisch „trahere“ ist das Verb für „ziehen“. 16 Man kennt die pädagogischen Handlungsformen, wie sie Giesecke phänomenologisch zusammengestellt hat. Man kennt auch Pranges Replik, die nur das Zeigen als ursprüngliche und einzige Handlungsform gelten lassen will, von der sich alle anderen phänomenologisch unterscheidbaren Handlungsformen ableiten lassen. Aber fast nirgends kommt Trahere=Hineinziehen vor – und zwar in der schlichten, nicht normativ aufgeladenen Form: jemanden-zum-Mitmachen-bringen. Dabei ist Trahere die bedeutendste pädagogische Handlungsform überhaupt, weil sie die entscheidende Erklärung für die Entstehung des Habitus liefert. Vgl. Thomas von Aquin (2006): Über den Lehrer/De magistro. Mit einer Einleitung von Heinrich Pauli. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Gabriel Jüssen, Gerhard Krieger und Jakob Hans Josef Schneider, Hamburg: Felix Meiner. Vgl. auch: Ballauff, Theodor/Schaller, Klaus (1969–73): Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung. 3 Bände, Freiburg: Alber, und dort den Abschnitt zu Thomas von Aquin als eine Kurzfassung zu De magistro.


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das soziale Dispositiv so zu gestalten, wie man dessen Inkorporation als Disposition in seinem Kind will. 31. Das Trahere ist – soweit ich sehe – das einzige theoretische Konzept, das annähernd erklären kann, wie Kinder sich Neues, von dem bei ihnen vorher keine Anzeichen vorlagen, aneignen können. Nur über das sympathetische Mitmachen wird das Lernen von Praxen und Sprachspielen erklärbar, die gänzlich neu sind. Der Begriff des Mitmachens ist die empirische Seite – gewissermaßen die Operationalisierung – der theoretischen Vorrangstellung der Korrelation vor den Relata (siehe 22). Wie kommt es plötzlich zum Verstehen des Zeigens, wie kommt es plötzlich zum Gebrauch der Sprache, obwohl kein irgendwie ausmachbarer Grund identifiziert werden kann. Das Wenige, das wir über die sogenannten Wolfskinder wissen, ist, dass sie nicht aus sich selbst heraus Sprache entwickelt haben. Sprache lernt jedes Kind mehr oder minder selbstverständlich und gut zwischen dem 1. und 6. Lebensjahr, aber – vieles spricht dafür – nur wenn es in die Sprachgemeinschaft hineingezogen wird (Trahere). Wir reden schon mit Säuglingen vom ersten Tag an, als ob sie uns verstehen könnten. Das ist eigentlich irrational, pädagogisch aber total rational mit Bezug auf die Handlungsform Trahere. Trahere ist die Aktionsform die das Als-ob des Interaktionspartners in ein Wirklich-sein des Interaktionspartners überführt. Wir reden mit dem Kind, als ob es uns verstehen könnte, obwohl es uns ganz offensichtlich nicht versteht. Was es versteht ist die sinnliche Intensität des Mitmachens, was uns Erwachsene wiederum bewegt weiter zu machen. Wir ziehen den Säugling in eine Sprachpraxis hinein, bis er nicht anders kann, als sie – erstmals im Zeigen – irgendwann zu verstehen. Wie das im Detail möglich ist, wissen wir nicht. Aber dass es nur so gelingt, wissen wir aufgrund der schmalen empirischen Befunde und aus der Erfahrung der Praxis dennoch sehr gut. 32. Mitmachen und Trahere ist an die Praxis einer Gemeinschaft, der Familie, der Clique, des sozialen Umfelds gebunden. Gemeinschaft performant leben ist mithin das entscheidende Prägungsmoment bei der Entwicklung des Habitus. Vor diesem Hintergrund kann auch gesagt werden, dass Gemeinschaft nicht nur der dominante Sozialisationsfaktor, sondern auch das primäre Erziehungsmittel ist. Unfertig geboren erlebt der Säugling die zweite Hälfte seiner Schwangerschaft in sozialer Gemeinschaft im Modus der wehrlosen Prägung. Er hat keine Wahl, andernfalls überlebt er nicht. Gemeinschaft bzw. Soziabilität ist biologisch über die Zufrüh-Geburt als Vitalitätsmoment eingebaut. Mangelnde Instinktsteuerung ist nur die andere Seite der Medaille. Soziabilität ist mithin organisch präfiguriert und damit auch alles, was sich nur über Soziabilität entwickeln kann. Soziabilität ist damit die anthropologisch entscheidende Größe. Wir werden biologisch schon so geboren, dass wir nur soziale Wesen werden können, weil die Entwicklung in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft in das soziale Feld verlegt ist. Mit diesem Umstand und in einer solchen Relation wird die je konkret gegebene Umwelt des Menschen nicht zu seiner ökologischen Nische, sondern zu seiner kulturellen Welt. Nichts anderes heißt Soziabilität und Geschichtlichkeit des Menschen. Der Habitus als Körper gewordenes soziales Dispositiv, d. h. als Disposition, ist dann die lebbare kulturelle Welt, die im Dispositiv repräsentiert ist. Der Habitus fungiert als die gelebte je besondere kulturelle Welt zugleich transzendental als Bedingung der Möglichkeit weiterer Erfahrung, weiteren sozialen Handelns sowie als Bedingung der Möglichkeit der Reflexion auf sich selbst als Habitus und als Bedingung der Möglichkeit von dessen Revision. Wie aber das transzendentale Muster, das im Modus des präreflektierten Mitmachens zur Selbstverständlichkeit gewordene Lebensform ist, sich selbst verändern soll, ist logisch nicht nachvollziehbar. Es bleibt selbst gegen sich selbst stabil.


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Nur der Fremde kann im Hinblick auf die Selbstverständlichkeiten Irritationen hervorrufen und genau das macht ihn gefährlich.17 Andererseits zeigt sich daran, dass Immigration und Interkulturalität auch Chancen der Kritik an Habitualitäten, an sozialer Ungleichheit und an Habitus-basierter Macht bieten – eine Perspektive, die schon Humboldt darin sah, dass man fremde Sprachen deshalb in den Bildungsprozess einbaut, damit fremde Sichtweisen auf die Welt die eigene Lebensform, den eigenen Habitus, möglicherweise nicht ändern oder revidieren, aber zumindest relativieren und somit ihm seine absolute Selbstverständlichkeit nehmen.

Literatur Aquin, Thomas von (2006): Über den Lehrer/De magistro, mit einer Einleitung von Heinrich Pauli, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Gabriel Jüssen, Gerhard Krieger und Jakob Hans Josef Schneider, Hamburg: Felix Meiner. Ballauf, Theodor/Schaller, Klaus (1969–1973): Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung, 3 Bände, Freiburg: Alber. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheit, Göttingen: Schwartz 1983, 183–198. Dreeben, Robert (1971): Was wir in der Schule lernen, Frankfurt/M: Suhrkamp. Erikson, Erik H. (1974): Identität und Lebenszyklus, 2. Auflage, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Meder, Norbert (1989): Kognitive Entwicklung in Zeitgestalten. Paideia. Studien zur Systematischen Pädagogik, Bd. 6., Frankfurt/M./Bern/New York/Paris: Peter Lang. Meder, Norbert (2007): Der Lernprozess als performante Korrelation von Einzelnem und kultureller Welt, in: Spektrum Freizeit, H. I&II, Bielefeld: JANUS sw Projekte, 119–136. Meder, Norbert (2010): Sein als Relation, in: Beier, Kathi/Heuer, Peter (Hg.): Ontologie. Zur Aktualität einer umstrittenen Disziplin, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. Meder, Norbert (2013): Das Medium als Faktizität der Wechselwirkung von Ich und Welt. (Humboldt), in: Marotzki, Winfried/Meder, Norbert (Hg.): Perspektiven der Medienbildung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 45–70. Plessner, Helmuth (1976): Die Frage nach der Conditio humana, Frankfurt/M: Suhrkamp. Ritter, Joachim (Hg.) (1974): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel: Schwabe (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft). Simmel, Georg (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin: Duncker & Humblot.

17 Das hat Georg Simmel in seinem „Exkurs über den Fremden“ in: ders. (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin: Verlag Duncker & Humblot, 509–512 treffender als irgendein anderer beschrieben.


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Helmut Hostnig

Witz als fiktionale Textsorte Methodenvorschlag fürs Radiomachen Beitrag Online im Ressort Praxis unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/595

Abstract Dieser Beitrag handelt von den Umsetzungsmöglichkeiten und der Gestaltung von Witzen – erzählt von Kindern und Jugendlichen – im Rahmen von Radioproduktionen. Helmut Hostnig erläutert die Struktur von Witzen und bringt praktische Beispiele zu ihrer Umsetzung. The joke as fictional genre. Proposal of a methodology for radio production. This contribution deals with the possibilities of implementing and shaping jokes – as narrated by children and young people – within radio production. Helmut Hostnig explains the structure of jokes and offers practical examples of implementation.

1. Grundsätzliche Überlegungen zur radiofonen Gestaltung von Witzen Im Zusammenhang mit unserem Vorhaben interessiert nicht, unter welchen Bedingungen welche Witze von Jugendlichen erzählt werden, noch was Spracherwerb und Humorentwicklung miteinander zu tun haben, auch nicht, wie sich kindlicher oder jugendlicher Humor von erwachsenem unterscheidet. Wer sich dafür interessiert, findet Bücher im einschlägigen Fachhandel. Uns wird hier am Witz interessieren, wie ErzählerInnen ihn gestalten oder andersherum im Zusammenhang mit dem Radiomachen: Welche Erzählfähigkeiten am Witz erprobt und geübt werden können. Denn das steht fest: Jeder Witz kann so erzählt werden, dass seine Pointe verloren geht. Wie sicher jeder schon einmal feststellten konnte, ist an Witzen bemerkenswert, dass ein und derselbe Witz von zwei Personen erzählt, beim einen befreiendes Lachen, beim anderen lähmende Peinlichkeit auslösen kann. Wie kommt das? Gleich vorweg: Wer Erwartungshaltungen nicht enttäuschen und gleichzeitig erfüllen, das heißt diesen dramaturgischen Spannungsbogen nicht herstellen und halten, wer Witze nicht nur nicht folgerichtig, sondern auch nicht effektvoll erzählen kann, sollte es bleiben lassen. Natürlich kommt es auch auf den Witz und seinen Inhalt selbst an. Der Erzähler von Witzen weiß hoffentlich, dass er uns viel über sich selbst verrät. Wer Political Correctness ernst nimmt, die von der Duden-Redaktion als Einstellung definiert wird, „die alle Ausdrucksweisen und Handlungen ablehnt, durch die jemand aufgrund seiner ethnischen Herkunft, seines Geschlechts, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, seiner körperlichen oder geistigen Behinderung oder sexuellen Neigung diskri-


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miniert wird“, müsste z. B. nicht nur die Blondinenwitze, sondern überhaupt alle Witze aus seinem Repertoire streichen, die auf Kosten von Minderheiten gehen. Wie bei jeder Sprachund Sprechhandlung kommt es darauf an, in welcher Situation sie stattfindet und welches Ziel mit ihr verfolgt wird. Fest steht: Die meisten Witze schrammen am Diktat der Political Correctness und ernten schon deshalb als Tabubrecher Lachen und Beifall, was u. a. auch der Erfolg vor allem österreichischer Comedians beweist.

2. Formale Merkmale Die fiktionale Textsorte Witz hat eine meist nur skizzierte Einleitung, welche in die Situation einführt, die zu erzählende Geschichte vorbereitet; hat einen Erzählkern mit Dialog, der die Personen vorstellt; und endet mit einer Pointe, welche als letzte Information alle vorherigen über den Haufen wirft. D. h. sie kann daher wie jede short story in diesem Dreierschritt dramatisiert werden. Damit aber am Schluss etwas wirklich Unerwartetes geschehen kann, muss dem Teil zwischen Einleitung und Pointe größte Aufmerksamkeit geschenkt werden, d. h. dem Witzhörer muss Information vorenthalten und nur in kleinen Dosen serviert, er muss irregeleitet werden, da nur so Hörererwartungen aufgebaut werden können, die mit der Pointe als Höhepunkt der Erzählung enttäuscht werden. Eigentlich eine Doublebind-Situation.

3. Witzvorschlag Tabubruch geschieht auch im vorgeschlagenen Witz, in welchem ein Mädchen seinen Eltern einen Brief hinterlässt, in welchem alle klischeebedingten und stereotypen Ängste von Eltern aufgelistet werden, bis ein PS (Post Scriptum) oder Notabene Entwarnung gibt. Dieser Witz dürfte auch in anderen Sprachen kursieren, da ich eine spannende Erweiterung von einem Freund in Frankreich erhalten und übersetzt habe. In diesem wird mit den Ängsten der Tochter gespielt, bis auch diese eine lustige Auflösung finden: Ausgangssituation Eine Mutter kommt eines Abends nach Hause und findet folgenden Brief ihrer Tochter. „Liebe Mutter, tut mir leid, aber ich muss dir sagen, dass ich das Haus verlassen habe, um mit meinem Freund zu leben. Es ist die Liebe meines Lebens. Du solltest ihn sehen, er ist so niedlich mit all seinen Tätowierungen, Piercings und seinem super Moped. Aber das ist nicht alles, liebe Mama. Ich bin endlich schwanger und Abdul hat gesagt, dass wir ein wunderbares Leben in seinem Wohnwagen mitten im Wald haben werden. Er will viele Kinder mit mir, das ist auch mein Traum. Ich habe auch festgestellt, dass Marihuana gut für die Gesundheit ist und Schmerzen lindert. Wir pflanzen es an in unserem Garten für unsere Freunde, damit sie nicht leiden müssen, weil sie heroinsüchtig waren, aber jetzt eine Entziehungskur machen. Ich hoffe sehr, dass die Wissenschaft bald ein Heilmittel findet, weil Abdul leider an AIDS erkrankt ist. Er würde Dich und Papa auch gern kennenlernen. Mach dir keine Sorgen um mich, Mama, ich bin 15 Jahre, und kann auf mich selbst aufpassen … und die Erfahrung, die ich nicht habe, kann Abdul mit seinen 44 Jahren ausgleichen. Ich hoffe, dass ihr uns bald besucht, damit ihr Euer Enkelkind in die Arme nehmen könnt.


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Aber zunächst bin ich mit Abdul und mit seinen Eltern in einem Wohnwagen auf Tour. Wir haben geheiratet. So wird es leichter für ihn, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Deine dich liebende Tochter. PS: Unsinn Mama … Ich bin bei den Nachbarn! Ich wollte Dir nur sagen, dass es schlimmere Dinge im Leben gibt als das schlechte Zeugnis, das auf deinem Nachttisch liegt …“ Antwort des Vaters „Auch ich habe Deinen an die Mutter adressierten Brief gelesen. Sie hatte einen Herzinfarkt und wir mussten sie ins Krankenhaus bringen. Die Medikamente halten sie am Leben. Mein Anwalt hat mir geraten, mich von Dir zu trennen. Du bist nicht mehr unsere Tochter und wir haben Deinen Namen aus dem Testament gestrichen. Wir haben alle Deine Sachen auf den Müll geworfen und verwenden Dein Zimmer nun als Abstellraum. Wir haben auch das Schloss an der Tür zur Wohnung ausgetauscht. Versuch nicht, die Kreditkarte zu benützen, weil wir sie gesperrt haben. Das von Dir angesparte Geld verwende ich für die medizinische Behandlung Deiner Mutter. Versuche nicht, uns anzurufen oder gar um Geld zu bitten. Wir haben auch Deinen Handy-Vertrag gekündigt. Die Spielsachen, Deine Musikinstrumente, Deine CD-Sammlung und die Bilder haben wir dem Nachbarn verkauft. Dem, aus dessen Fenster Du zu uns hinübergeschaut hast, als Du den Brief geschrieben hast. Ah! Du wirst sicher bald eine Arbeit finden, da wir nicht mehr für Dich aufkommen und weder die Schule, noch Deinen Musikunterricht bezahlen werden. Wenn Du keine Wohnung oder Arbeitsplatz finden solltest, geh zu Paulo. Das ist jemand, den ich in der Armee kennen gelernt habe. Was er heute macht, weiß ich nicht. Aber er hat gemeint, dass Du ruhig zu ihm nach Turkmenistan kommen könntest. Du könntest dort als Zweitfrau helfen, seine 8 Kinder zu betreuen. Ich hoffe, Du wirst glücklich in Deinem neuen Leben. Der Mann, den Du einmal Papa genannt hast. PS: Mein Liebling. Ist ein Witz! Ich schaue gerade TV mit Deiner Mutter, der es sehr gut geht. Ich wollte Dir nur zeigen, dass es Schlimmeres gibt, als die nächsten 8 Wochen mit Hausarrest ohne Fernsehen zu verbringen, zur Strafe für Deinen kleinen Scherz.“ Ein Beispiel zum Nachhören findet sich unter: http://lernraum1314.radioigel.at/radiophoner-witz-am-beispiel/ (letzter Zugriff: 01.04.2014).

4. Witzanalyse Dieser Witz macht als fiktionale Textsorte vielerlei textkritische Auseinandersetzungen möglich, aber erlaubt auch eine Interaktion zwischen Kind/Jugendlichem und Erwachsenem im schulischen Rahmen. Wie jeder gute Witz hat er zwei voneinander unabhängige Bedeutungsebenen. Die erste listet alle Ängste von Eltern einer pubertierenden Tochter auf, die zweite wird erst mit Textende aufgedeckt und handelt von der Angst der Tochter, die wegen eines schlechten Zeugnisses die Strafe der Eltern fürchtet. Beide Bedeutungsebenen würden sich eignen, z. B. im Rahmen einer Radiosendung den Witz zum Teaser zu machen, der zum Thema hin- und zum Weiterhören verführt.


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Vorschläge für eine Diskussion im Vorfeld der szenischen Gestaltung 1. Könnte dieser vielschichtige Witz auch funktionieren, wenn ein männlicher Jugendlicher einen solchen Brief schreibt? Eher nicht. Woran liegt das? 2. Wie könnte die Reaktion der Eltern auf die Eröffnung einer Jugendlichen ausfallen, dass sie (reduzieren wir den Brief auf diese zwei Aussagen) sich in einen Freund nicht österreichischer Herkunft verliebt hat … und/oder mit 15 schwanger ist? 3. Übertragen wir die Beispiele auf die Situation einer Jugendlichen in einer nichtösterreichischen Herkunftsfamilie. Wie könnte z. B. die Reaktion muslimischer Eltern auf die Eröffnung einer Jugendlichen ausfallen, die sich in einen österreichischen Freund verliebt hat … und/oder mit 15 schwanger ist?

5. Aufgabenstellungen 5.1 Aufgabenstellung Übertrage den Witz ins Medium Radio, indem Du bei seiner Dramatisierung so vorgehst, dass weder die handlungslogische Reihenfolge, noch die Pointe verloren geht! Überlege, in wie viele Szenen Du die Geschichte zerlegen willst, welche Personen vorkommen sollen, ob es einen Erzähler oder eine Anmoderation braucht und welche Geräusche notwendig sein könnten, um die Orte des Geschehens oder einen Ortswechsel akustisch einzuführen.

5.2 Weiterführende Aufgabenstellung Natürlich spielen die kulturellen Rahmenbedingungen, unter welchen Jugendliche aufwachsen auch in Bezug auf Erwartungshaltungen und Ängste ihrer Eltern eine große Rolle. Wie könnten diese Ängste bei muslimischen Eltern ausschauen? Konkret: Wie müsste der Brief eines Mädchens mit migrantischem Hintergrund verfasst sein, welche Klischees und Stereotypen könnten dort fest- und hörbar gemacht werden?

5.3 Weiterführende Aufgabenstellung Wie bei jeder Textsorte sollte man sich nicht sklavisch an die Vorlage halten. Der Witz hat ja ein Vorspiel. Warum traut sich das Mädchen nicht heim? Da könnte ein innerer Monolog oder ein Gespräch des Mädchens mit seiner Freundin seine Sorgen und Nöte schildern, wenn es mit schlechten Noten aus der Schule kommt. Vielleicht entwickeln beide im Gespräch den Plan, einen Brief zu schreiben.

5.4 Weiterführende Aufgabenstellung Um mehrere Personen in den Witz mit einzubeziehen, könnten nicht nur jüngere oder ältere Geschwister, sondern neben der Mutter auch der Vater/Onkel/Großvater/Vormund und die Schule ins Spiel kommen.


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5.5. Weiterführende Aufgabenstellung Auch könnte ja gefragt werden, wie die Geschichte ausgeht. Hat der Brief etwas bewirkt? Hat er die Eltern nachdenklich gestimmt? Wie müsste der Witz gestaltet werden, wenn der Brief des Vaters mitverhandelt wird?

6. Andere Witzbeispiele Der Witz beginnt mit einem Loch in der Hose. Der Vater möchte wissen, wie dieses Loch entstanden ist, und erfährt so nach und nach alles, was sein Bub angestellt hat: Und diese Bubenstreiche beginnen harmlos (Streit mit Nachbars Kind, Einschlagen der Fensterscheibe des Nachbarn usw.), finden aber ihren dramatischen Höhepunkt im Totalschaden des kürzlich gekauften Autos. Er spielt also mit den Ängsten seines Vaters, der stolz auf sein neues Auto ist. Er spielt nicht nur mit ihnen, er macht ernst. So hat er den Schaden auf der Kühlerhaube – ein mit Schlüssel eingeritzter Indianer – dadurch behoben, dass er mit dem Wagen gegen die Mauer gefahren ist. Nach der Logik des Knaben: Kühlerhaube weg, Indianer weg. Ein Beispiel zum Nachhören findet sich unter: http://lernraum1314.radioigel.at/dialogwitze-inszenieren/ (letzter Zugriff: 01.04.2014).

7. Vorschlag Als Einübung für die etwas komplexeren fiktionalen Witze sollte vielleicht mit Witzparodien oder noch besser mit Dialogwitzen begonnen werden. Diese haben ein leicht durchschaubares Schema …

Beispiel für Witzparodie oder Rätselwitze „Kennst Du den Unterschied zwischen einer Taube? Es gibt keinen: Beide Beine sind gleich lang, besonders das linke.“ Oder: „Ich geb dir nun ein Rätsel auf! Das Erste ist ein Vogel, das Zweite ein Waffenstück, das Ganze ein österreichischer Dichter. – Weiß nicht! – Ganz einfach. Denk nach! – Weiß ich nicht. Was? Wer? – Grillparzer. – Aber Parzer ist doch kein Waffenstück! – Schon richtig. Aber Grill ist auch kein Vogel, oder?” Dieser Witz hat also folgende Erzählstruktur: Problemfrage – Antwort des Hörers (der allerdings kein Spielverderber sein darf, sondern raten muss) – Lösung Und wie setzt man nun Witze für das Radio um? Witzesammlung anlegen – Witze auf ihre radiofone Umsetzbarkeit prüfen – kleine Dialogwitze in Szenen zerlegen – Geräusche aufnehmen oder lizensierte suchen – anmoderieren – Abspann … und fertig. Viel Spaß! Am Ende sei den LeserInnen der MEDINIMPULSE noch ein Buch empfohlen: Marfurt, Bernhard: Textsorte Witz: Möglichkeiten einer sprachwissenschaftlichen Textsorten-Bestimmung, Berlin: Walter de Gruyter.


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Katharina Kaiser-Müller

Rückblick auf die Fachtagung „Filmbildung im Wandel“ Beitrag Online im Ressort Ankündigungen (Veranstaltungen) unter http://www.medienimpulse. at/articles/view/615

Abstract Vom 03. bis zum 05. Oktober 2013 fand die Fachtagung „Filmbildung im Wandel“ im Filmarchiv Austria statt. Katharina Kaiser-Müller berichtet von den intellektuell herausfordernden Diskussionen und fasst für die LeserInnen der MEDIENIMPULSE die vorgetragenen Positionen zusammen. Review of the conference “Film Education in Transition.” The conference “Film Education in Transition” took place at the Filmarchiv Austria from October 3–5, 2013. Katharina Kaiser-Müller reports on intellectually challenging discussions and summarizes the presented positions for MEDIENIMPULSE readers.

Abb. 1: Eine Filmrolle als Tagungsmappe Bild: Alessandro Barberi

Da Filmerziehung und Filmbildung im Rahmen der Medienpädagogik eine lange Tradition haben, sind sie seit jeher fester Bestandteil erzieherischer Bemühungen um eine umfassende Medienkompetenzvermittlung. Längst sind Filmkulturen aber nicht mehr auf Kinofilme beschränkt, sondern in den unterschiedlichsten medialen Speicher- und Distributionskontexten


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gegenwärtig. Die medialen Entwicklungen der vergangenen Jahre haben zur Folge, dass nicht mehr allein erfolgreiche Produktionsfirmen Filme einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen können, sondern auch privat produzierte Bewegtbilder massenhaft verbreitet werden können. Videos werden mit Handys produziert und verschickt, im Internet heruntergeladen, rezipiert, präsentiert und kommentiert. Ein Blick auf aktuelle Verwendungs- und Sinnkontexte des Mediums veranschaulicht, dass die Vermittlung von Filmkompetenz längst nicht an Bedeutung verloren hat, sondern vielmehr unter neuen Voraussetzungen zu denken ist. Im Mittelpunkt dieser interdisziplinär angelegten Tagung – die vom Team der Zeitschrift MEDIENIMPULSE in Kooperation mit der Fachgruppe Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikation (DGPuK), dem Filmarchiv Austria, der Sektion Medienpädagogik der Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen (OEFEB) sowie der Wiener Medienpädagogik der Universität Wien und dem Zentrum für Medienbildung der Pädagogischen Hochschule (PH Wien), in Partnerschaft mit dem bm:ukk und dem Institut für Medienbildung der Universität Salzburg organisiert wurde – standen u. a. folgende Fragen: Was bedeutet Filmbildung unter den Bedingungen digitaler Medien? Inwiefern haben sich filmische Rezeptions-und Produktionspraxen im Zuge der Digitalisierung und Vernetzung von Lebens- und Erfahrungswelten verändert? Welche Ressourcen bilden Bewegtbilder in Produktion wie Rezeption, in Prozessen der Orientierung, der Sinn-und Identitätsbildung? Und mit welchen Ansätzen und Methoden können diese Prozesse in der medienpädagogischen Praxis angeregt und gefördert werden? Mehr als fünfzig TeilnehmerInnen aus Österreich und Deutschland fanden sich drei Tage lang zusammen, um sich in diesem Sinne dem Thema „Filmbildung im Wandel“ zu widmen. Sowohl TheoretikerInnen als auch PraktikerInnen haben sich der vorangestellten Fragen angenommen und Beispiele aus ihren Fachgebieten vorgestellt, sich ausgetauscht und – wie auch aus den Rückmeldungen zu schließen ist – gegenseitig inspiriert. Die Tagung eröffnete Anja Hartung, erste Vorsitzende des Vereins „GAM – Gesellschaft, Altern, Medien“ und Gastprofessorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Sie initiierte nicht nur mit Christine Wjinen die Fachtagung, sie kreierte dem Anlass entsprechend eine besondere Tagungsmappe. Auch das Team der MEDIENIMPULSE, Alessandro Barberi als Chefredakteur, Christian Swertz (Ressort Forschung) vom Institut für Bildungswissenschaft an der Universität Wien und Leiter der Wiener Medienpädagogik, Thomas Ballhausen (Ressort Neue Medien) Archivar und Leiter des Studienzentrums des Filmarchiv Austria zudem Tagungsgastgeber, Christian Berger (Ressort Praxis) von der PH Wien sowie Katharina Kaiser-Müller (Assistenz) und Organisationsbeauftrage der Fachtagung „Filmbildung im Wandel“, stellten sich kurz vor und begrüßten die Anwesenden. Als erster Keynote-Speaker startete Ralf Vollbrecht von der TU Dresden mit dem Titel „Filmbildung im Wandel und der pädagogische Widerwille gegen den Seh-Sinn“ und thematisierte u. a., wie filmschulische Bildung (nicht) stattfindet, wie Filmbildungskanons genutzt werden, um zwischen Trivial- und Hochkultur zu trennen, bzw. Spielfilme als pädagogisches Analyseinstrument dienen können. Claudia Wegener von der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg zeigte dann in ihrem Vortrag „Vom Kino zum Social-Cinema. Neue Parameter der Bewegtbildnutzung“ welche Faktoren „Big-Screens“ so attraktiv machen, wie Realität und Fiktion in Reality Games verschwimmen können, und gewährte zudem den Anwesenden


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Einblick in ihre aktuelle Studie. Sie bestätigte, dass der Trend zum Second Screen zunimmt, wenngleich diese Multinutzung von Jugendlichen selbst kritisch gesehen wird. Der Frage „Filmbildung – Bildung?“ ging auch Sven Kommer von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen als dritter Keynote-Speaker nach. Er rekapitulierte auf hohem theoretischem Niveau u. a. die Argumente der Cultural Studies und der Bildungssoziologie Pierre Bourdieus, um dabei im Umfeld der Debatten zum „medialen Habitus“ herauszuarbeiten, wie „Bildung“ zwischen anerkannter Norm und Gegenkultur immer einer – ihrerseits mediensoziologisch infrage zu stellenden – Kanonisierung bedarf. Der zweite Tag startete mit zwei parallelen Panels. Panel 1 widmete sich den „Bildungspotenziale(n) des Films“ und fand im Kino des Filmarchivs Austria statt. Zu Beginn referierte Wolfgang Ruge, Promotionsstipendiat der Landesgraduiertenförderung des Landes Sachsen-Anhalt, über „Filmische Bildungspotenziale am Beispiel der Darstellung von Robotern im SF-Film“. Ruge ließ die Anwesenden Einblick in seine Forschungsarbeit nehmen, stellte sein Kategoriensystem vor und legte die Genealogie der Roboterdarstellung(en) im Film dar. Julia Fraunberger, Leiterin der Abteilung Medien & Gesellschaft am Institut für Medienbildung (IMB) in Salzburg, berichtete über das Bubenprojekt „Manns.Bilder – Von Machos & Softies – Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Darstellungen von Männlichkeit in der jugendlichen Filmarbeit“ und verknüpfte so das Tagungsthema mit den Diskussionen zu Feminismus und Gender. Claudia Kutter und Nadine Jünger von der Universität Leipzig berichteten des Weiteren unter dem Titel „HOW TO … Bildungspotenziale nutzergenerierter Online-Videos“, wie sich Jugendliche in der konvergenten Medienwelt bewegen und wie sie die Medien unter welchen Voraussetzungen für sich nutzen. Ein bemerkenswerter Beitrag zu den Diskussionen über Mediennutzung bzw. Medienrezeption. Zeitgleich zu Panel 1 konnten TeilnehmerInnen im Lesesaal den Vorträgen des Panel 2 Film­ bildung und Cultural Studies folgen. Alle Referierenden sind an der Universität Klagenfurt tätig. Hier startete Sebastian Nestler mit seinem Referat „Entgrenzungen ohne Limit. Zur Kritik posthegemonialer Subjektivierungspraktiken in Neil Burgers LIMITLESS“, in dem er die Potenziale einer kritischen, philosophisch reflektierten Medienpädagogik vorstellte – und damit auch Diskussionsgrundlagen für die beiden anderen Sprechenden des Panels schuf: Elena Pilipets demonstrierte in ihrem Vortrag „Julio Medems ‚Room in Rome‘: Ein filmpädagogischer Nicht-Ort“ anhand eines konkreten filmischen Beispiels die Möglichkeiten einer raumorientierten Annäherung an erzählerische Strukturen. Auch für Andreas Hudelist stand die Analyse und Vermittlung narrativer Phänomene im Zentrum. Mit „Episoden im Wandel? Filmbildung und Cultural Studies“ ergänzte er das Panel um Einblicke in serielle Erzählprinzipien und die Notwendigkeit der Reflexion formaler Mediengegebenheiten. Nach einer kurzen Kaffeepause ging es mit dem titelgebenden Panel 3: „Filmbildung im Wandel“ weiter. Mona Linder von der Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien brachte den TeilnehmerInnen mit ihrem Vortrag „Filmvermittlung im Wandel. Ein geistesgeschichtlicher Überblick über die Entstehung und den Wandel von Konzepten der Filmvermittlung für Kinder und Jugendliche in Österreich ab 1945“ die österreichische Filmgeschichte etwas näher. Zudem kam sie auf die Wechselwirkung zwischen Angst und Euphorie des Films zu sprechen und stellte die Frage, inwieweit Film als Kunst angesehen werden kann. Franz Grafl, freier Wissenschaftler und Lehrbeauftragter am Institut für Theater-, Film- und


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Medienwissenschaft der Universität Wien, kam mit seinem Beitrag „Angst vor Bildern? … und vor Tönen müsste man hinzufügen“ auf die ästhetischen und formalen Aspekte des Films zu sprechen. Grafl zeigte Perspektiven zur Filmbildung und stellte zudem die These auf, dass auch in der Medienwelt des Films Orientierung durch Entschleunigung stattfinde könne. Im letzen Beitrag des dritten Panels berichteten Hannes Heller, Mitarbeiter des wienXtra Medienzentrums, und Felix Studencki, Medienbeauftragter des Wiener Stadtschulrates, unter dem Titel „Vernetzte Medienarbeit mit Jugendlichen, Part II – das Mashup Videoprojekt“ über ihre Erfahrung in der praktischen Medienarbeit mit Jugendlichen. Sie zeigten auf, wie mit Zuhilfenahme von Smartphones – die mittlerweile in fast jeder Hosentasche zu finden sind – und kostenloser Software – relativ einfach – Videoclips erstellt werden können. Der Nachmittag des zweiten Tages stand unter dem Motto: „Einblicke in die Praxis“. Begonnen haben Markus Weisheitinger-Herrmann von FS 1 (Salzburg), Barbara Eppensteiner von Okto (Wien) und Gabriele Kepplinger von Dorf TV (Linz), um uns die „Aktive Medienarbeit im Community Fernsehen“ in Österreich näherzubringen. Sie berichteten, wie wichtig ein niederschwelliger Einstieg ins Filmemachen sei und welche Aktivitäten und Schwerpunkte die nicht kommerziellen Sender setzen. Die partizipativen Möglichkeiten des Community Fernsehens wurden so eindringlich vor Augen geführt. Anschließend konnten wir nochmals Einblick in „Aktive Medienarbeiten mit Kameras und Handys“ gewinnen. Ulrich Tausend vom Institut für Medienpädagogik München stellte u. a. einen Handyclip-Wettbewerb vor, der sich seit bald zehn Jahren an junge Menschen richtet, um ihre Kreativität zu fördern. Christian Schreger berichtete über seine beeindruckenden Projekte mit den Kindern der Volksschule Ortnergasse aus Wien [Anm. der Redaktion: Das Welt ABC und die kleinen Bücher können in den MEDIENIMPULSEN nachgelesen werden] und Anu Pöskyö, Leiterin des medienzentrums wienXtra, legte dar, dass Medienbildung gelingen kann und wie wichtig es ist, das eigene Leben mit Medien bewusst und „gut“ gestalten zu können. Auch an diesem Abend wurde das Rahmenprogramm zum informellen Austausch zahlreich genutzt. Der dritte und letzte Tag startete wieder mit zwei parallelen Panels. Panel 4 fand im Kino des Filmarchiv Austria statt und stand unter dem Motto: „Ansätze und Methoden der Filmbildung“. Den ersten Beitrag leistete Verena Ketter von der PH Ludwigsburg, mit „Mediale Eigenproduktionen im Web 2.0 – Methoden für mobile Jugendmedienbildung“. Sie berichtete anhand unterschiedlichster Medienprojekte mit Kindern, wie Lebensweltanalysen möglich sind und wie im Zuge der Projekte eine interaktive Online-Landkarte erstellt wurde. Barbara Maly vom Institut für Anglistik der Universität Wien präsentierte unter dem Titel „Coming Soon – Teasing, telling, selling movies. Kritische Medienkompetenz und Filmwerbung“ einen Zugang zur kritischen Medienbildung. Maly zeigte den Anwesenden, wie es mittels Critical Media Analysis möglich ist, den Blick auf das – im Vorfeld Unwesentliche – zu richten und so einen weiteren Blickwinkel auf mediale Inszenierungen zu öffnen. Dass YouTube als audio-visuelle Enzyklopädie genutzt wird, um Stoff nachzuholen, dies stellte Karsten D. Wolf von der Universität Bremen mit seinem Vortrag „Video-Tutorials und Erklärvideos als Gegenstand, Methode und Ziel der Medienbildung“ eindrücklich dar. Anhand beeindruckender Beispiele – u. a. aus einem seiner Projekte „draufhabertv“ – belegte Wolf die Faszination und Etablierung von partizipativen Videoportalen und zeigte zudem mögliche Perspektiven, sich diesem Phänomen medienpädagogisch zu nähern.


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Neben den Panels im Kinosaal stand den TeilnehmerInnen auch die Bibliothek des Filmarchiv Austria zur Verfügung. Und so moderierte Alessandro Barberi das Panel 5: „Neue Wege der Vermittlung – Herausforderungen und Perspektiven für Filmarchive“. Dabei eröffnete Thomas Ballhausen mit seinem Vortrag „Janus lässt grüßen. (Film-)Archive im Dienste von Öffentlichkeit und Sammlung“. Ballhausen war es dabei vor allem darum zu tun, die spezifische Medialität des Archivs im Sinne einer Verdopplung des Historischen hervorzuheben. Denn Archive bilden nicht nur den Gegenstand einer möglichen (Film-)Analyse, sondern besitzen eine eigene Geschichtlichkeit, die bei der Beschreibung der Filmbildung im Wandel zu berücksichtigen ist. Den zweiten Vortrag des Panels bestritt Katharina Stöger, die Leben und Werk des bemerkenswerten Filmemachers Jörg Kalt rekapitulierte. Mit „,Living in a Box‘. Jörg Kalt im Kontext historischer Diskurse und aktueller Forschung“ präsentierte sie ihre langjährige Forschung zu einem „Underdog“ des österreichischen Films, der dennoch – oder gerade deshalb – Teil des kinematografischen Feldes war und ist. Eben dieses Feld rekonstruierte Stöger und vermittelte so über die Biografie Kalts hinaus auch einen klaren Blick auf die Kontexte des (österreichischen) Films samt seiner Szene(n). Als krönender Abschluss fand eine Diskussion zum Thema: „Film und Video in Zeiten des Web 2.0 – Herausforderungen für die PädagogInnenausbildung“ im Kino statt. Am Podium saßen Elfriede Windischbauer von der PH Salzburg, Christian Berger von der PH Wien, Horst Schäfer als freier Autor und Publizist sowie Bernd Schorb von der Universität Leipzig, Horst Niesyto von der PH Ludwigsburg und Irmgard Bebe von KulturKontakt Austria. Der Tenor war einstimmig: Die Rolle der LehrerInnen hat sich im Laufe der Zeit verändert und demnach bedarf es auch andere Ziele und Inhalte in der Ausbildung. Heutzutage ist es unerlässlich, Medien nicht nur in den Unterricht einzubinden, sondern bewusst die Reflexion mit und über Medien anzustoßen. Medienbildung fördert die Differenzierungsfähigkeit, Identitäts- und Persönlichkeitsbildung und wirkt somit Bewusstseinsbildend. Medienbildung = Wertehaltung! Im Tagungsband, der 2014 erscheinen wird, können einige Vorträge im Detail nachgelesen werden. Selbstverständlich werden die MEDIENIMPULSE zeitgerecht über die Buchpräsentation informieren.


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Michael Achenbach studierte Geschichte und Germanistik an den Universitäten Siegen und Wien und ist seit 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Filmarchivs Austria. Sein Arbeitsschwerpunkt umfasst historische Filmdokumente mit der Spezialisierung auf die Zeit des Nationalsozialismus sowie österreichische Wochenschauen der 1930er- und 1940er-Jahre. Darüber hinaus erstellt er für das Filmarchiv wissenschaftliche DVD-Editionen zur österreichischen Zeit- und Regionalgeschichte. Thomas Adrian hat das Studium der sozialen Wissenschaften in Wien absolviert. Seither ist er als Sozialarbeiter und in der stellvertretenden Leitung der Jugendnotschlafstelle A_Way tätig. Er arbeitet seit sechs Jahren im Bereich Jugendwohnungslosigkeit und ist daher zutiefst mit den damit einhergehenden Multiproblemlagen Jugendlicher und junger Erwachsener der Stadt Wien vertraut. Seit 2004 betreut und organisiert er darüber hinaus medienpädagogische Videoworkshops im Medienzentrum und ist dort freier Mitarbeiter. Sandra Aßmann ist Junior-Professorin für Erziehungswissenschaftliche Medienforschung am Institut für Allgemeine Didaktik und Schulforschung der Universität zu Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen u. a. Lernprozesse mit und über Medien in formalen, informellen und nonformalen Kontexten, Medienbildung über die Lebensspanne sowie designorientierte Forschungsansätze. Ausgewählte Publikationen: Aßmann, Sandra/Meister, Dorothee M./ Pielsticker, Anja: „School’s out? Informelle und formelle Medienbildung“ (2014), „Medienhandeln zwischen formalen und informellen Kontexten: Doing Connectivity“ (2013). Thomas Ballhausen ist Autor, Film- und Literaturwissenschaftler sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter des Filmarchivs Austria und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. Archiv- und Netztheorie, Medienkomparatistik, medienübergreifende Quellenkunde und Intermedialität. Für das Kulturmagazin „skug – Journal für Musik“ fungiert Ballhausen als Leiter der Literaturabteilung, außerdem war er Mitbegründer der Autorenvereinigung „die flut“. Er ist Mitglied der Redaktion der MEDIENIMPULSE und seit 2012 verantwortlich für das Ressort „Neue Medien“. Alessandro Barberi ist Chefredakteur der MEDIENIMPULSE und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien. Er studierte Geschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität Wien und hat an der Bauhaus-Universität Weimar medientheoretische Kompetenzen erworben, die er nunmehr an der Schnittstelle von Forschung und Pädagogik zu konkretisieren sucht. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Wechselwirkung von Medien und symbolischen (Denk-) Prozessen. Er ist darüber hinaus als Seminarleiter und freier Journalist tätig. Publikation u. a.: Barberi, Alessandro: Clio verwunde(r)t. Hayden White, Carlo Ginzburg und das Sprachproblem in der Geschichte (2000). Seine Homepage findet sich unter: http://www. barberi.at. Christian Berger ist nach langjähriger Tätigkeit als Pflichtschullehrer und Medienpädagogischer Referent des Stadtschulrates für Wien als Mitarbeiter am Zentrum für Medienbildung der Pädagogischen Hochschule Wien sowie als freier Radiojournalist tätig. Arbeitsschwerpunkte sind derzeit Radioarbeit als Lernform, Social Software in der Lehre, die Nutzung von digita-


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len Online-Archiven sowie die Beratung und Betreuung von Studierenden und Lehrenden bei Medienproduktionen. Er ist u. a Mitglied der Redaktion der MEDIENIMPULSE und dabei verantwortlich für das „Ressort Praxis“. Ralf Biermann ist seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medien- und Erwachsenenbildung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. In seiner Arbeit setzt er sich mit den Themen Mediensozialisation unter Berücksichtigung milieuspezifischer Ansätze, das Lernen und Lehren mit neuen Medien in Bildungsprozessen, Kommunikations- und Interaktionsformen in virtuellen Welten sowie Digital Game Studies auseinander. Davor war er Projektkoordinator an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er lehrt in den Bachelorund Masterstudiengängen Medienbildung – Audiovisuelle Kultur und Kommunikation an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Edith Blaschitz ist Zentrumsleiterin am Department für Interaktive Medien und Bildungstechnologien an der Donau-Universität Krems. Sie promovierte in visueller Kultur- und Zeitgeschichte und arbeitete an mehreren nationalen und internationalen Forschungsprojekten. Seit 2003 ist sie Mitarbeiterin in Forschung und Lehre an der Donau-Universität Krems. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Medienkultur, Medienbildung, Mediengeschichte und visuelle Kultur. Chris Boge lehrt und forscht seit 2007 am Englischen Seminar der Universität zu Köln, wo er derzeit habilitiert, sowie seit 2014 zusätzlich am Birkbeck College der University of London. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u. a. inter- und transmediale Erzählungen. Pädagogische Praxis ist ihm eine Herzensangelegenheit, was sich in Publikationen für Lehrbuchverlage, langjährige Tätigkeiten an weiterführenden Schulen und in der Multiplikatorenfortbildung sowie der Auszeichnung für exzellente Lehre durch das Qualitätsmanagement der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln 2012/13 widerspiegelt. Paolo Caneppele studierte Geschichte an der Universität Bologna. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Filmarchivs Austria und Vizedirektor der Cineteca del Comune di Bologna. Seit 2004 ist er Leiter der Sammlungen des Österreichischen Filmmuseums in Wien. Er unterrichtet an den Universitäten Udine, Wien und Mailand. Caneppele verfasste zahlreiche Publikationen zur Kinogeschichte, zu Fragen der Zensur, zur Quellenkunde der Kinogeschichtsschreibung und zum Amateurfilm. Dabei liegt sein Hauptaugenmerk auf der Erforschung der Beziehungen zwischen Geschichte, Film und anderen Kulturbereichen. Thomas Damberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Allgemeine Pädagogik mit dem Schwerpunkt Medienpädagogik an der Technischen Universität Darmstadt. Er promovierte 2012 mit einer bildungsphilosophischen Arbeit mit dem Titel „Menschen verbessern! Zur Symptomatik einer Pädagogik der ontologischen Heimatlosigkeit“. Aktuell forscht und lehrt er in den Bereichen Pädagogik und Human Enhancement, Transhumanismus, Bildungstheorie sowie Bildung und Beratung. Bernhard Damisch ist Leiter des Jugend- und Stadtteilzentrums Margareten/5erhaus. Er studierte an der Universität Wien (Japanologie) und an der Wirtschaftsuniversität Wien. Das von


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ihm geleitete 5erhaus ist eine Einrichtung des Vereins Wiener Jugendzentren und versteht sich als ein offener Treffpunkt und Ort der Kommunikation für Jugendliche im 5. Wiener Gemeindebezirk. Dabei geht es im 5erhaus vor allem um offene Kinder- Teenie- und Jugendarbeit, geschlechtsspezifische Arbeit, integratives Lernen, Erwachsenenbildung, Stadtteilarbeit so wie bereichsübergreifende Angebote. Der medienpädagogische Schwerpunkt von Damisch liegt im Bereich Medienbildung. Nähere Informationen zu seiner Arbeit finden sich online unter: www.5erhaus.at. Valentin Dander ist Dozent für den Studiengang Intermedia an der Universität zu Köln und arbeitet an seiner Dissertation zu Bildung für/durch Open (Government) Data an der bildungswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Zudem ist er Mitglied des interdisziplinären Forums innsbruck media studies. Seine Forschungsinteressen richten sich auf das Lehren und Lernen mit digitalen Medien, digitale Lernräume, New Literacies und mediale Dispositive. Die Diplomarbeit über Zone*Interdite als mediale Heterotopie erscheint Ende 2014 bei innsbruck university press. Maria Ecker ist Historikerin. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Durchführung, Auswertung und didaktischen Aufbereitung von Interviews mit NS-ZeitzeugInnen. Seit 2009 ist sie bei erinnern.at als pädagogisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Dort koordiniert und entwickelt sie Projekte, die die Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien zum Ziel haben. Außerdem arbeitet sie in der LehrerInnen-Fortbildung. Elisabeth Eder-Janca ist seit 2009 Leiterin des Zentrums für Medienkompetenz in Brunn am Gebirge. Sie ist selbstständige Medienpädagogin und für unterschiedliche Organisationen wie Saferinternet.at, PH BGL, Wien, NÖ, VPH, etc. als Trainerin der Medienbildung tätig. Ursprünglich aus der Betriebs- und Wirtschaftsinformatik kommend, war sie ab 2000 wissenschaftliche Assistentin an der Medienpädagogischen Beratungsstelle in Niederösterreich. Ihr Spezialgebiet ist die praktische Umsetzung von Medienbildung: d. h. neue Methoden und Übungen erarbeiten, in der Praxis testen und an PädagogInnen vom Elementar- bis zum Schulbereich weitergeben. Birgit Eickelmann ist Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn. Nach mehrjähriger Tätigkeit im Schuldienst erforscht sie seit über zehn Jahren die erfolgreiche Implementation von digitalen Medien in Schulen. Dabei untersucht sie vor allem die Ebenen der Unterrichtsentwicklung, der Schulentwicklung und der Entwicklung von Schulsystemen. Der Einsatz von digitalen Medien in Lehr- und Lernprozessen bestimmt mithin ihre Erkenntnisinteressen. Im Rahmen ihres Forschungsschwerpunkts hat sie zahlreiche Forschungsprojekte durchgeführt und ist darüber hinaus in mehreren ExpertInnengruppen auf nationaler und internationaler Ebene tätig. Christian Filk ist Professor für Medienpädagogik und interdisziplinäre Medienforschung sowie Leiter des Seminars für Medienbildung der Universität Flensburg. Seine gegenwärtigen Forschungsfelder sind: Wissenschaftstheorie, Medienforschung, Kommunikationspragmatik und Kulturphilosophie. Jüngste Buchpublikationen u. a.: Episteme der Medienwissenschaft (2009); Offene Bildungsinhalte (OER) (2009); Kunstkommunikation (2010); Logistik des


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Wissens (2010); Medialität – Historizität (2011); Enttönung, Verlautung (2012); Der Ursprung der Medienphilosophie aus dem Geist der „Negativen Anthropologie“ (i. V.). Renée Frauneder ist langjährige medienpädagogische Mitarbeiterin des wienXtra-Medienzentrums. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Konzeption und die Leitung von Videoseminaren und -projekten in der schulischen wie außerschulischen Jugendarbeit sowie die Weiterbildung von MultiplikatorInnen. Als Psychodrama-Leiterin (ÖAGG Wien) hat sie sich u. a. auf die Videoarbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen spezialisiert und ist auch als Referentin in der Kunsttherapie („Video als Medium in der Kunsttherapie“) tätig. Norm Friesen ist Associate Professor für Educational Technology am College of Education der Boise State University (Idaho, US), wo er im Rahmen von Promotions-und Graduiertenprogrammen unterrichtet. Dr. Friesen ist der Autor von „Re-Thinking E-Learning Research: Foundations, Methods and Practices“ (2009) und „The Place of the Classroom and the Space of the Screen: Relational Pedagogy and Internet Technology“ (2011). Neben der Mitherausgeberschaft zahlreicher Sammelbände und Sonderausgaben ist Norm Friesen auch als Übersetzer hervorgetreten: So hat er jüngst Klaus Mollenhauers Klassiker „Vergessene Zusammenhänge: Über Kultur und Erziehung“ unter dem Titel „Forgotten Connections: On Culture and Upbringing“ (2014) ins Englische übertragen. Thorsten Fuchs vertritt momentan die Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt qualitative Forschungsmethoden an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Zuvor war er Universitätsassistent (Post-Doc) an der Universität Wien und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorien zum Bildungs-, Erziehungs- und Sozialisationsprozess, Methodologie und Forschungspraxis Qualitativer Bildungsforschung sowie pädagogische Jugend-/Familienforschung. Seine Publikationen behandeln u. a. das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung, die Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung und Fragen zu Sozialisationsprozessen im Jugendalter. Fuchs ist zudem Mitherausgeber des Sammelbands „Normativität und Normative (in) der Pädagogik“ (Fuchs/Jehle/Krause 2013). Olivia Horak studierte an der Universität Wien Psychologie/Philosophie/Pädagogik und Germanistik (Lehramt). Sie absolvierte den Universitätslehrgang Deutsch als Fremdsprache und unterrichtete einige Jahre in der Erwachsenenbildung mit Schwerpunkt auf „frauenspezifischen“ Angeboten. Seit 2007 arbeitet sie beim Verein Wiener Jugendzentren im Jugend- und Stadtteilzentrum Margareten/5erhaus, wobei ihr Fokus auf Erwachsenenbildung, Elternarbeit und Sozialberatung sowie auf der feministischen Mädchenarbeit liegt. Planung, Mitarbeit und Dokumentation von Medienprojekten sind für sie neben inhaltlichen Inputs auch durch die speziellen Herausforderungen durch divergente Zielgruppen immer wieder spannend. Eva Horvatic war von 2009 bis 2013 Universitätsassistentin an der Abteilung Bildung, Biografie und Medien am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Ihre medientheoretischen Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderen den Einfluss neuer Technologien auf das kommunikative und kulturelle Gedächtnis, auf Wissensinhalte und Kultur, sowie auf das Selbstverständnis des Menschen, seine Beziehung zu anderen und zur Welt. Hierbei steht


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die Verschränkung von Körper und Technologie im Mittelpunkt. Derzeit lehrt sie an der Uni Wien, der DUK, der Karl Landsteiner Privatuniversität sowie an diversen FHs und ist darüber hinaus als freie Journalistin im Bereich der Neuen Medien tätig. Helmut Hostnig ist in Bregenz aufgewachsen, studierte Germanistik sowie Theaterwissenschaft und wechselte dann an die Kunstakademie. Mit Unterbrechungen und Aufenthalten in Südamerika und Frankreich war er 36 Jahre lang als Lehrer in öffentlichen Schulen Wiens tätig. Im Rahmen dieser Tätigkeit hat er sich in den letzten 18 Jahren mit über 130 Radiosendungen im Umfeld der von Christian Berger begründeten „Wiener Radiobande“ und später als Projektleiter von „Radiopoly“ als Pionier für die Implementierung von Radio als Lernform engagiert. Dabei stellte er unter Beweis, dass Radioarbeit mit SchülerInnen durchaus professionellen Ansprüchen genügen kann. Des Weiteren ist er Referent für Schulungen in der Erwachsenenbildung, wo er sein an der Praxis orientiertes Know-how weitergibt. Milanka Jovanovic-Tesulov hat nach einem Studium der Komparatistik, der Entwicklungspsychologie und der Slawistik an den Universitäten Belgrad und Wien in Theorie und Praxis auf unterschiedlichen Ebenen medienpädagogische Kompetenzen erworben. Diese setzt sie im Rahmen ihrer derzeitigen Tätigkeit im Jugend- und Stadtteilzentrum Margareten/5erHaus um. Das Fünferhaus ist eine Einrichtung des Vereins Wiener Jugendzentren und versteht sich als ein offener Treffpunkt und Ort der Kommunikation für Jugendliche im 5. Wiener Gemeindebezirk. Tesulov ist im 5erHaus für den Tätigkeitsbereich „Medien“ zuständig und betreut dabei Teenies, Jugendliche und insbesondere Mädchen. Katharina Kaiser-Müller studierte an der Universität Wien Pädagogik (Bildungswissenschaften) mit den Schwerpunkten Aus- und Weiterbildungsforschung sowie Medienpädagogik. Seit 2008 ist sie Mitglied des Teams der Wiener Medienpädagogik unter der Leitung von Christian Swertz. Zudem übernahm sie im Jahre 2013 die Redaktionsassistenz der MEDIENIMPULSE, um Redaktion und AutorInnen tatkräftig zu unterstützen. Nach Berufserfahrungen als langjährige Kommunikationstrainerin ist sie nun als freie Medienpädagogin tätig und engagiert sich u. a. bei der Initiative Medienbildung JETZT!, da sie der Überzeugung ist, Medienbildung geht uns alle an. Anja Klimsa ist Professorin für Kommunikation, Medien und Beratung an der Hochschule Ravensburg-Weingarten an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege. Nach dem Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie der Erziehungswissenschaft arbeitete sie als Referentin und selbstständige Dozentin. Sie promovierte zur Nutzbarkeit medienpädagogischer Ansätze für Präventionszwecke. Im Schnittstellenbereich von Sozialer Arbeit und Medienpädagogik beschäftigt sie sich mit der Nutzung von Medien für pädagogische Zwecke. Sven Kommer, geb. 1964, Studium des Lehramts für Realschule in Ludwigsburg. 1995 Promotion in Bielefeld. Von 2001 bis 2007 Hochschuldozent für Medienpädagogik an der PH Freiburg. 2009 Habilitation „Kompetenter Medienumgang? Eine qualitative Untersuchung zum medialen Habitus und zur Medienkompetenz von SchülerInnen und Lehramtsstudierenden“. 2008–2011 DFG-Forschergruppe „Historische Lebenswelten in populären Wissenskultu-


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ren der Gegenwart“ (Universität Freiburg). Seit 2011 Professur für Allgemeine Didaktik an der RWTH Aachen University. Aktuelle Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Konzepte für den Einsatz digitaler Medien in der Schule (Lernen durch Gestalten), medialer Habitus und soziale Ungleichheit, videogestützte Beobachtung. Günter Krenn absolvierte ein Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft an der Universität Wien, ist Autor und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Filmarchivs Austria. Im Rahmen dieser Tätigkeit fungierte er als Kurator von Ausstellungen und zahlreichen Filmschauen. Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten Film, Musik, Malerei, Literatur und Comics – zumeist als jeweilige Ergänzung der anderen Komponenten interpretiert. In diesem Zusammenhang ist er (Mit)Herausgeber von bzw. Autor in Publikationen zu Walter Reisch, Billy Wilder, G. W. Pabst, Louise Brooks, Oskar Werner, Guido Crepax und Romy Schneider. Aktuelle Publikation: Krenn, Günter (2013): Romy & Alain. Eine Amour fou, Berlin: Aufbau. Bernhard Lahner ist gelernter Elektroniker und Werkmeister für Mechatronik. Derzeit ist er Student für das Lehramt der allgemeinen Sonderschulen an der Pädagogischen Hochschule Wien. Sein Schwerpunktthema ist u. a: Radio als Lernform aus dem Blickwinkel der Sonderpädagogik. Seit 2013 ist Lahner im Vorsitzteam der Bundesvertretung der Österreichischen HochschülerInnenschaft tätig. Er ist darüber hinaus Radiomacher beim Freien Radio Salzkammergut (Fokus Bildung), aktiver Kulturaktivist der freien Szene Vöcklabruck und Teil der Initiative „Medienbildung JETZT!“. Norbert Meder studierte Philosophie, Mathematik und Pädagogik an den Universitäten Mainz, München und Köln und promovierte in Köln 1974 in Philosophie. Ebendort habilitierte er sich 1984 im Fach Pädagogik. Von 1992 bis 2001 war Meder Professor für Informatik im Bildungs- und Sozialwesen an der Universität Bielefeld. Seit dem Wintersemester 2001/2002 ist er Professor für Allgemeine Systematische Pädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bildungsphilosophie, Informationstechnologie in pädagogischen Handlungszusammenhängen, Wissensorganisation, Allgemeine Didaktik und Theorie der Wissensgesellschaft. Dabei hat er vor allem an der didaktischen Ontologie der Web-Didaktik gearbeitet und die Sprachspielertheorie als Bildungstheorie des Informationszeitalters entwickelt. Astrid Messerschmidt ist Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für Interkulturelle Pädagogik und Lebenslange Bildung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung beziehen sich auf Bildung im Kontext von Migration und Globalisierung, Diskriminierungskritische Konzepte der Weiterbildung, Rassismuskritik, Erinnerungsarbeit zu Geschichte und Nachwirkungen des Nationalsozialismus sowie auf gegenwärtige Formen von Antisemitismus. Eine Grundlage ihrer wissenschaftlichen Arbeit liegt in der Kritischen Bildungstheorie, die von einem widersprüchlichen Bildungsverständnis ausgeht. Petra Missomelius (Dr. phil. Mag., Medienwissenschaftlerin) ist seit 2012 Universitätsassistentin im Bereich Medienbildung und Kommunikationskultur an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck. Sie wurde 2007 in Digitalen Medienkulturen pro-


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moviert. Sie koordinierte verschiedene mediengestützte Qualifikationsprojekte nationaler und EU-geförderter Bildungsträger und erstellte im Zeitraum 2001 bis 2006 eine Vielzahl universitärer blended learning-Angebote in der Medienwissenschaft. Heute ist sie Sprecherin der AG „Medienkultur und Bildung“ der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) und Mitglied im Sprecherteam der Initiative „Keine Bildung ohne Medien“ (KBoM). In ihrem Habilitationsprojekt widmet sie sich Bildungsszenarien im Kontext digitaler Medienkulturen. Martin Müller hat Kultur-, Religions-, Erziehungswissenschaft sowie Soziologie und Psychologie in Berlin, Paderborn und Stellenbosch, Südafrika, studiert. Er ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Graduiertenkollegs „Automatismen – Kulturtechniken zur Reduzierung von Komplexität“ an der Universität Paderborn und Mitglied des Forschungskolloquiums von Wolfgang Schäffner am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Jahr 2013 war er Doctoral Visiting Fellow an der Université Paris-1 Panthéon-Sorbonne am Centre d’Etudes des Techniques, des Connaissances et des Pratiques. Im Jahr 2012 war er Visiting Scholar an der Columbia University in New York. In seinem Promotionsprojekt arbeitet er an kultur- und medienwissenschaftlichen Fragestellungen zur Verschränkung von zeitgenössischen Lebenswissenschaften, Biopolitiken und Technosciences mit speziellem Interesse für die Diskurse der Synthetischen Biologie. Wolfgang Neurath studierte in Wien Geschichte und Philosophie; er forschte und lehrte an der Wirtschaftsuniversität in Wien. Derzeit arbeitet er in der Wissenschaftsverwaltung und beschäftigt sich mit Fragen der Subjektivierung und der Autonomie im Semiokapitalismus. Er publiziert zu Fragen der Wissenschaftsgeschichte und -philosophie, unter anderem zu politischer Ökonomie, Medizin und Gesundheit. Er war Mitglied des akademischen Netzwerks von Personen, die soziale Netzwerkanalyse entwickeln und betreiben. Paula Pfoser ist Redakteurin der alternativen Zeitschrift MALMOE (www.malmoe.org). Nach einem Studium der Sozialen Arbeit studiert sie derzeit an der Akademie der Bildenden Künste Wien Kunst- und Kulturwissenschaften, an der sie seit 2012 auch als Studienassistentin für Postkoloniale Studien tätig ist. Sie war und ist in zahlreichen Kultur- und Kunstprojekten, u. a. der Wienwoche 2012 und der Alternativen Medienakademie Wien 2013, konzeptionell wie ausführend beteiligt. Anu Pöyskö studierte Journalismus und Medienpädagogik an der Universität Tampere in Finnland. Sie hat langjährige Erfahrung in der medienpädagogischen Projektarbeit mit Kindern und Jugendlichen im schulischen und außerschulischen Bereich. Sie ist Referentin für Medienpädagogik/Medienbildung in der Aus- und Fortbildung für PädagogInnen. Seit 2004 leitet sie das wienXtra–medienzentrum, eine der größten medienpädagogischen Praxiseinrichtungen Österreichs. Daniela Pscheida ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Medienstrategien am Medienzentrum der Technischen Universität Dresden. Nach einem Studium der Erziehungswissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg promovierte sie 2009 im Fach Medienwissenschaft mit einer Arbeit zum wissenskulturellen Wandel im Web 2.0 („Das Wikipedia Universum“,


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transcript 2010). Derzeit arbeitet und forscht sie zu den Themen Digitale Wissenschaft (Science 2.0) und Lernen mit Social Media (E-Learning 2.0). Gudrun Rath studierte Romanistik und Germanistik in Wien und Madrid und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz. Sie forscht, schreibt und übersetzt zu Postcolonial Studies, Translation Studies und Kulturtheorien. Sie ist Medienarbeiterin im Wiener Zeitungskollektiv MALMOE. Jakob Rudelstorfer ist akademischer Freizeitpädagoge und arbeitet in einer Volksschule in Wien. Er ist Trainer im Bereich Medienkompetenz und Internetsicherheit unter anderem für Saferinternet.at sowie Referent im Hochschullehrgang für Freizeitpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Wien. Weiters ist er als Schauspieler tätig, war mit Kindertheater-Aufführungen in Schulen im deutschsprachigen Raum auf Tour und macht Theater- und Filmworkshops mit Kindern und Jugendlichen. Gerhard Scheidl ist Hochschulprofessor und Leiter des Zentrums für Medienbildung an der Pädagogischen Hochschule in Wien. Seine Aufgabenbereiche und Arbeitsschwerpunkte umfassen neben allgemeinen medienpädagogischen Fragestellungen in der Lehre die Durchführung von Forschungsprojekten im Bereich der Medienpädagogik und die Curricula-Entwicklung im Rahmen der LehrerInnenbildung NEU. Aktuelle Forschungsvorhaben setzen sich kritisch mit dem (digitalen) Kompetenzbegriff und dem (Medien-)Bildungsbegriff auseinander. Seine zukünftige Orientierung liegt in der Forschungskoordination am Institut für Bildungswissenschaftliche Grundlagen der Pädagogischen Hochschule Wien. Christian Schreger ist Mehrstufenklassenlehrer in Wien. Sein Schwerpunkt liegt in projektorientierter Unterrichtsarbeit mit Kindern unterschiedlicher kultureller und sprachlicher Herkunft. In den 1990er-Jahren war er in der österreichischen Freinet-Bewegung aktiv. Seit 1998 wurden Projekte zu den Themen „Kinder und Internet“, „Integration und Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund“ und zum Thema „Mehrsprachigkeit im Unterricht“ mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet (Netdays, Wiener Schülerzeitungspreis, eSchola-Award). Dem folgten der Multimedia-Staatspreis 2007 (Förderpreis), Europrix 2008 und Lörnie Award 2009 (2. Preis) für das Sprachprojekt „WeltABC“ (http://www.weltabc.at). Seit 2010 Mitarbeit im Arbeitskreis Migrationsforschung des Sprachwissenschaftlichen Instituts der UNI Wien (Rudi De Cillia, Brigitta Busch). Christian Sevcik war vor seiner Arbeit als Berufsschullehrer an der Wirtschaftsuniversität Wien tätig. Dabei betreute er auch die Homepage der Wiener Berufsschulen. Für den Wiener Bildungsserver war er für dessen „Jugendseite“ technisch und inhaltlich verantwortlich. Er entwickelte und leitete mehrere Seminare über Neue Medien und Jugendszenen am PIB und an der PH Wien. Seit 2012 ist er Lehrgangsleiter für den Hochschullehrgang für Freizeitpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Wien. Thomas Strasser ist Educational Technologist und LehrerInnenausbildner an der Pädagogischen Hochschule Wien (Bereich Mediendidaktik und Fachdidaktik/Fachwissenschaft Anglistik). Forschungstätigkeit vor allem im Bereich Social Media, Web 2.0, Lernplattformen, mobi-


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le learning, digital identity, ePortfolios und Technology Enhanced Language Learning. Autor von wissenschaftlichen Beiträgen und Schulbüchern. Internationaler Vortragender. Mehr Infos auf seinem Blog: www.learning-reloaded.com Wolfgang Sützl ist Visiting Assistant Professor an der School of Media Arts and Studies, Ohio University, USA, und Lehrbeauftragter an der Universität Innsbruck sowie am Transart Institute (Berlin/New York). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medienaktivismus, Mediengeschichte, politische Medientheorien, Medienästhetik, Medien und Konflikt sowie sprachliche Aspekte der Medienkultur. Neuere Veröffentlichungen: Sützl, Wolfgang (2014): Street Protest, Electronic Disturbance, Smart Mobs: Dislocations of Resistance, in: Läser-Nather, Marion/ Neubert, Christoph (Hg.): Traffic. Media as Infrastructure and Cultural Practices, Amsterdam: Rodopi. Website: http://wolfgangsuetzl.net Christian Swertz studierte Erziehungswissenschaften, Psychologie und Informatik und ist derzeit Professor für Medienpädagogik am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien mit dem Schwerpunkt „Neue Medien“. Er ist Leiter der Wiener Medienpädagogik, deren Team sich mit Bildungstheorie der Medien, Mediendidaktik und E-Learning, pädagogischer Computerspielforschung und Medienbildung im schulischen und außerschulischen Bereich befasst. Darüber hinaus untersucht Swertz theoretische, empirische und praktische Aspekte des E-Learning und entwickelt Lernplattformen. Er ist Mitglied der Redaktion der MEDIENIMPULSE und dabei verantwortlich für das „Ressort Forschung“. Seine Homepage findet sich unter: http://medienpaedagogik.univie.ac.at/personen/christian-swertz/. Anton Tantner diplomierte in Geschichtswissenschaften 1993 mit einer Arbeit zu den „Schlurfs“, einer Jugendsubkultur während des Nationalsozialismus. Seit 1995 ist er als Lehrbeauftragter an der Universität Wien tätig und war zwischen 1999 und 2002 Mitarbeiter im FWF-Projekt „Die Spur der Romantik in Wien“. 2004 promovierte er mit der Arbeit „Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen – Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie“, um 2004/05 als Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien zu forschen. 2012 habilitierte er sich mit „Adressbüros im Europa der Frühen Neuzeit“ an der Universität Wien, wo er im SS 2014 als Gastprofessor für Neuere Geschichte tätig ist. Homepage mit Publikationsverzeichnis: http://tantner.net. Christine W. Trültzsch-Wijnen studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie Musikwissenschaft und promovierte an der Universität Salzburg über international vergleichende Medienpädagogik. Sie war Universitätsassistentin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien und hat seit 2014 eine Professur für Medienpädagogik an der PH Salzburg. Des Weiteren ist sie Mitglied des Leitungsteams des postgradualen Masterstudiengangs „Educational Technology: Multimedia Leadership“ der Donauuniversität Krems und leitet den Bereich Media Research am Institut für Medienbildung in Salzburg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Medienpädagogik, Mediensozialisation, Medienkompetenz, Rezeptions-/Nutzungsforschung, Kinder- und Jugendmedienforschung sowie Methodologie und Methoden qualitativer Sozialforschung.


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Sascha Trültzsch-Wijnen studierte Soziologie und Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nach seinem Abschluss als Magister Artium war er 2004–2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG Forschergruppe „Programmgeschichte des DDR-Fernsehens“ im Teilprojekt Familienserien. 2008 promovierte er mit einer Dissertation zur Kontextualisierten Medieninhaltsanalyse. Seit 2009 ist er Post Doc am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Im EU-Projekt COST IS0906 “Transforming Audiences, Transforming Societies” war er 2010–2014 Task Force Leader. Seine Forschungsschwerpunkte sind Internet- und Social-Web-Nutzung, Privatsphäre, Fernsehgeschichte, Medienanalyse und Populärkulturforschung. Mario Vennemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Paderborn. In der AG Schulpädagogik (Prof. Dr. Birgit Eickelmann) sind seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte internationale Schulleistungs- und Schuleffektivitätsforschung, digitale Medien in der Schule und professionelle Kompetenzen von Lehrkräften. Vennemann ist Mitglied im nationalen Forschungsteam der International Computer and Information Literacy Study (ICILS 2013) und beschäftigt sich aktuell mit dem Verhältnis von kulturellem Kapital und digitalen Medien. Christina Wintersteiger hat Vergleichende Literaturwissenschaft und Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und Paris studiert. Derzeit befindet sie sich im Masterstudium der Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin, wobei ihre Forschungsschwerpunkte auf Queer Studies und intermedialen Schnittstellen und Arbeitsweisen liegen. Während ihres Studiums hat sie als Tutorin an der Universität Wien gearbeitet, am Studienzentrum des Filmarchivs Austria an Forschungs- und Publikationsprojekten mitgewirkt, Beiträge für mehrere Magazine geschrieben und war als Redakteurin und Lektorin tätig. Momentan arbeitet sie als Programmassistentin bei einem Berliner Filmfestival. Christian Zolles studierte an der Universität Wien Germanistik und Geschichte. Nach Anstellungen an der Kommission für Rechtsgeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und am Institut für Germanistik der Universität Wien (als DOC-team-Stipendiat der ÖAW) arbeitet er derzeit als AHS-Lehrer. Er ist Mitherausgeber der Reihe „Kulturgeschichte der Apokalypse“ (Akademie/de Gruyter) und der Bände „Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealoge der Endzeit“ (2013) sowie „J. G. Grasel vor Gericht“ (2 Bde. 2013).



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