2014–2015 Herausgegeben von Alessandro Barberi Thomas Ballhausen Christian Berger Katharina Kaiser-Müller Petra Missomelius Ruth Sonderegger Christian Swertz Christine W. Trültzsch-Wijnen
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Alessandro Barberi/Thomas Ballhausen/Christian Berger/ Katharina Kaiser-Müller/Petra Missomelius/Ruth Sonderegger/ Christian Swertz/Christine W. Trültzsch-Wijnen (Hg.)
MEDIENIMPULSE Beiträge zur Medienpädagogik 2014–2015
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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Ausgabe 1/2014 Display/Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen kuratorischer und vermittelnder Praxis Miriam Kathrein Handlungsmacht des Displays Von Lichtern, Wänden und Relationen in der Ausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Antje Lehn Spielräume schulischer Displays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Johanna Braun/Thomas Ballhausen Die Künstlerin als Produzentin Johanna Braun im Gespräch mit Thomas Ballhausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Alessandro Barberi Von Medien, Übertragungen und Automaten Pierre Bourdieus Bildungssoziologie als praxeologische Medientheorie. Teil 1 . . . . . . . . . . . . . . 54 Alessandro Barberi Von Fotografien, Televisionen und symbolischen Maschinen Pierre Bourdieus Bildungssoziologie als praxeologische Medientheorie. Teil 2 . . . . . . . . . . . . . . 68 Anna Högner Das Kino in der Zeitung Notizen zur Geschichte der Kinomater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Ausgabe 2/2014 Potenziale digitaler Medienkunst Shusha Niederberger Lernen von der Medienkunst: Handlungsstrategien der Netzwerk-Kultur Eine medienkulturgeschichtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Slavko Kacunko Das Leben, der Tod und die staubige Wiedergeburt Zur Vermittlung von Bo(o)tschaften zwischen Kunst und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Raquel Rennó Activism in Brazil Hacker spaces as spaces of resistance and free education . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Theo Hug Medien Formen Schule Ein Plädoyer für erweiterte Handlungsorientierungen und Reflexionsperspektiven . . . . . . . . . 133 Axel Stockburger/Ruth Sonderegger „Natürlich kann man Geld als Medium begreifen …“ Axel Stockburger im Gespräch mit Ruth Sonderegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
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Ausgabe 3/2014 Medienproduktion im Alltag von Kindern und Jugendlichen Katharina Grubesic Medienproduktionen in der Volksschule: eine Klassenzeitung entsteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Manfred Gilbert Martin Block, Blog, Blogtopus … Blogs im Geschichteunterricht der Sekundarstufe II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Martin Rankl Medienkompetenzvermittlung im Fachgegenstand Musikerziehung Praktische Beispiele und geeignete Software . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Henrike Friedrichs/Friederike von Gross/Katharina Herde/Uwe Sander Habitusformen von Eltern im Kontext der Computerspielnutzung ihrer Kinder . . . . . . . . . . 182 Sabeth Buchmann Zur Schließung der Generali Foundation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Ausgabe 4/2014 Steuerung, Kontrolle, Disziplin. Medienpädagogische Perspektiven auf Medien und/der Überwachung Konrad Becker Zwang und Verführung in der Kontrollgesellschaft Selbstvermessung und Wunscherfüllung im digitalen Datenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Paul Winkler Kinematografische Propaganda und Zensur in Österreich-Ungarn von 1914–1918 als gescheitertes kybernetisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Katharina Stöger Beobachten Sie mich! Über die Möglichkeiten von Videoüberwachung in Jörg Kalts Crash Test Dummies . . . . . . . 222 Stefan Iske/Dan Verständig Medienpädagogik und die digitale Gesellschaft im Spannungsfeld von Regulierung und Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Fabian Faltin Rezension: nanopolitics handbook von the nanopolitics group: Paulo Plotegher, Manuela Zechner, Bue Rübner Hansen (Hg.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
Ausgabe 1/2015 Medienpädagogik und E-Learning Thomas Damberger Mittel zum Zweck Zum Verhältnis von E-Learning und Medienpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Christian Filk/Axel Grimm Digitale arbeitsprozessorientierte Kompetenzentwicklung in der höheren beruflichen Bildung. Ein situiert-partizipativ-adaptiver Forschungsansatz am Beispiel von Fachschulen für Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
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Norbert Meder Neue Technologien und Erziehung/Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Katharina Kaiser-Müller Ideologiekritik des E-Learning Welchen Nutzen hat die Einführung von E-Learning? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Barbara Buchegger Sexting im Schulumfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
Ausgabe 2/2015 Begründungen und Ziele der Medienbildung Dieter Spanhel Der Prozess der Medienbildung bei Kindern und Jugendlichen und seine Ausrichtung durch Medienerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Petra Missomelius Media Education, quo vadis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Wolfgang B. Ruge Eine politische Farbenlehre medienerzieherischer Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Tobias Hölterhof Søren Kierkegaard und das Internet: Partizipation und Engagement als Hinweis auf Medienbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Rüdiger Fries/Sven Kommer Grundbildung Medien für alle pädagogischen Fachkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
Ausgabe 3/2015 Handeln mit Symbolen Valentin Dander Diskurse + Praktiken = Datenhandeln? Eine Akzentverschiebung entlang der praxeologischen Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Katharina Mildner (Sontag) Der symbolische Tod des Subjekts Eine theoretische Annäherung an die Problematik im gegenwärtigen europäischen „Flüchtlingsdiskurs“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Wolfgang Neurath Das Symbolische zwischen Struktur und Handlung Anmerkungen zur Diskussion des Symbols in der Wissenschaftsgeschichte Frankreichs . . . . . 379 Julius Othmer/Andreas Weich Zwei Welten wohnen, ach, in meiner Brust Medien- und lerntheoretische Überlegungen zu Symbolischem und Handlung am Beispiel eines Planspiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Thomas Ballhausen Lukrez, Lukrez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
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Ausgabe 4/2015 Medienbildung im Kontext der „PädagogInnenbildung NEU“/Teil 2 Klaus Himpsl-Gutermann/Elfriede Berger/Gerhard Brandhofer/Peter Harrich/Angela Kohl/Johannes Maurek/Thomas Nárosy/Karl Peböck/Manfred Tetz/Martin Teufel/Thomas Walden/Elisabeth Winklehner Wie „zukunftsreich“ ist das neue Lehramtsstudium? Bestandsaufnahme zu Medienbildung und digitalen Kompetenzen in den Curriculaentwürfen der Sekundarstufe der PädagogInnenbildung NEU . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Christian Swertz Medien im Lehramtsstudium für die Sekundarstufe in Österreich Eine quantitativ-inhaltsanalytische Lehrplananalyse von vier Curricula . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Gesine Kulcke Medienpädagogik und die Weiterentwicklung aktueller Curricula für die Primarstufenausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Bernhard Lasser/Christian Treinen Die Medienbildung in der PädagogInnenbildung NEU Eine Analyse des Curriculums für die allgemeinen bildungswissenschaftlichen Grundlagen des Lehramts-Bachelorstudiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Barbara Hornberger Tagungsbericht – Let me entertain you . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
Kurzbiografien AutorInnen & HerausgeberInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
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Bei der Frage, welche Rolle Medien und Digitalisierung in den Lebenswelten von Lehrenden und Lernenden spielen, sind die Antworten im Umfeld der Ausbildung von Kindern und Jugendlichen zu finden. In unseren Schulklassen finden sich iPads, Tablets und Smartphones der letzten Generation, es gilt deshalb, PädagogInnen mit hoher Medienkompetenz auszubilden, damit Schüler Innen die gleichen Grundkompetenzen erwerben können. Vor allem gilt es, Jugendliche für einen verantwortungsvollen Umgang mit Informationen aus dem Internet zu sensibilisieren und damit ein Bewusstsein für die digitalen Herausforderungen und Gefahren, wie z. B. (Cyber-)Mobbing, zu schaffen. Mit dem vorliegenden Band der MEDIENIMPULSE wird einmal mehr die Einsicht unterstrichen, dass Medienbildung eine Schlüsselkompetenz ist. Es wird dabei auch die Art analysiert, wie junge Menschen in Österreich durch das Bildungssystem auf die Zukunft der Wissens- und Informationsgesellschaft im 21. Jahrhundert vorbereitet werden. Genau deshalb ist es mir als zuständige Ministerin eine besondere Freude, diesen Querschnitt der Arbeiten aus den Jahren 2014–2015 präsentieren zu können. Ich wünsche der Redaktion, dass die MEDIENIMPULSE auch weiterhin als Plattform für alle bildungspolitischen und medienpädagogischen Diskussionen fungieren, um das weite Feld des Medialen pädagogisch zu untersuchen.
Sonja Hammerschmid Bundesministerin für Bildung
Foto: Andy Wenzel
Vorwort
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Einleitung on der Kunst zu Medienproduktion und Big Data, von E-Learning zu symbolischem V Handeln und der LehrerInnenbildung NEU edienpädagogik zwischen theoretischer Reflexion und konkreter Unterrichtspraxis M am Beginn des 21. Jahrhunderts Mit diesem Band präsentiert die Redaktion der MEDIENIMPULSE nun schon das dritte Mal in Buchform die Arbeit von zwei Jahren Medienpädagogik online. Erneut haben wir 2014 und 2015 umgesetzt, was seit den Anfängen der Zeitschrift, die – mit Vorläufern, die in die 1960er Jahre zurückgehen – seit 1992 der Frage nachgeht, welche Rolle und Funktion Medien in der pädagogischen Praxis tragen, die wichtigste Leitlinie gewesen ist: Den medialen Transformationen der Produktionsbedingungen unserer Gesellschaften und Kulturen so Rechnung zu tragen, dass Kinder und Jugendliche in unseren Schulklassen auf die Herausforderungen einer Wissens- und Informationsgesellschaft gut vorbereitet werden. Dabei ist die viel zitierte Unterteilung der Medienkompetenz in Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung, wie sie Dieter Baacke in die Medienpädagogik eingeführt hat, ein theoretisches Orientierungsmaß unserer Arbeit, die wir nun erneut in einem gedruckten Querschnitt unseren LeserInnen präsentieren. Dabei stand uns vor Augen, mit diesem Band einen nützlichen Teil für den pädagogischen Handapparat zu liefern, der die medienpädagogische Arbeit und den medienpädagogischen Diskurs vor allem auf folgenden drei Ebenen unterstützen soll. Erstens fühlen sich die HerausgeberInnen der Inter- und Transdisziplinarität der Medienpädagogik verpflichtet, die im Sinne einer Querschnittsmaterie durch die Frage nach den Medien nicht nur die Pädagogik, sondern alle Disziplinen im Streit der Fakultäten und in den curricularen Unterrichtsfächern durchkreuzt. So versammeln die hier der Öffentlichkeit vorgelegten Beiträge praktische Projektberichte aus unseren Schulen genauso wie Diskussionen des Produktionsfeldes Kunst, sozialempirische Untersuchungen, Filmgeschichte(n), Reflexionen der Unterrichtspraxis, konkrete didaktische Handlungsorientierungen oder Rezensionen von didaktisch sinnvollen Büchern oder Computerspielen bzw. -programmen. Zusammengehalten wird diese breite Palette der Bezüge durch das Insistieren auf der Frage nach der Medialität des Unterrichts und der theoretischen Reflexion der Unterrichtspraxis, in der und für die alle Beiträge dieses Bandes verfasst wurden. Zweitens belegt unsere Arbeit ein epistemologisches Programm, das im Sinne der Theorie-Praxis-Transformation vom Kindergarten bis zur Hochschule ein hohes Maß an (medialer) Selbstreflexion von Didaktik und Pädagogik einmahnt. Nach den Möglichkeitsbedingungen der medienpädagogischen Praxis zu fragen, führt deshalb zu Fragen nach den Produktionsbedingungen unseres Bildungssystems und mithin unserer Gesellschaft insgesamt. Denn die Verschiebungen der Produktionsbedingungen waren und sind durch alle industriellen Revolutionen hindurch (von der Dampfmaschine bis zu Silicon Valley) medientechnologische Transformationen. Deshalb diskutieren wir eingehend die Rolle von konkreten Medienproduktionen, die Funktion von E-Learning in kapitalistischen und neoliberalen Gesellschaften und werfen etwa mit der Causa Edward Snowden Fragen zu Big Data auf, um die Bedingungen medienpä-
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Beiträge zur Medienpädagogik 2014–2015
dagogischen Handelns zwischen Systemstabilisierung und Systemkritik buchstäblich (medien-) kritisch in den Blick zu bekommen. Drittens ist es uns eine wichtige Angelegenheit, unsere Arbeit immer auch der empirischen Kontrolle zu unterwerfen. Im Pendelschlag zwischen epistemologischer Reflexion und empirischer Durchsetzung unserer Erkenntnisse erblicken wir ein notwendiges Korrelat jeglicher Unterrichtspraxis. Deshalb diskutieren wir mit diesem Band sozialempirisch die Rolle von Curricula in der LehrerInnenbildung NEU, die arbeitsprozessorientierte Kompetenzentwicklung in der höheren beruflichen Bildung, eine politische Farbenlehre der Medienpädagogik, die Frage nach der Rolle von AkteurInnen, die (immer, aber hier vor allem im pädagogischen Zusammenhang der Schule) mit Symbolen handeln, oder die qualitative Erhebung des „medialen Habitus“ Dabei geht es auch darum, der inneren Komplexität und Ausdifferenzierung unserer Gesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Diese drei Achsen stellen unser Erkenntnisinteresse dar, das sich in den acht Ausgaben der MEDIENIMPULSE 2014/2015 mehrfach spiegelt. Von der Kunst zu Medienproduktion und Big Data, von E-Learning zu symbolischem Handeln und der LehrerInnenbildung NEU spannt sich ein Bogen, von dem wir hoffen, dass er in der konkreten Unterrichtspraxis medienpädagogisch verankert wird, um dann erneut medienkritisch reflektiert zu werden.
Ausgabe 1/2014 Display/Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen kuratorischer und vermittelnder Praxis Am Beginn des medienpädagogischen Parcours stand die Analyse der Tatsache, dass Displays in den letzten Jahren den Unterrichtsraum mit Computerscreens, Handys oder Tablets ebenso neu strukturiert haben wie die Ausstellungspraxis im Kunstbetrieb. Deshalb hat sich die Redaktion entschlossen, die erste Ausgabe des Jahres 2014 dem Thema Display/Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen kuratorischer und vermittelnder Praxis zu widmen. Dabei stand uns die Frage vor Augen, wie sich die zunehmende Reflexion und Diskussion des Displays im Rahmen der Medienpädagogik und hinsichtlich des konkreten Unterrichts als vermittelnde Praxis ausgewirkt und welche medienpädagogischen Verschiebungen das Display als Produktionsbedingung unserer Wissens- und Informationsgesellschaft mit sich gebracht hat. Gleichzeitig haben wir danach gefragt, wie sich durch die (Medien-)Nutzung des Displays die klassischen Formen künstlerischer Repräsentation verschoben haben. In diesem Sinne arbeitet Miriam Kathrein in ihrem Beitrag die spezifische Handlungsmacht von Displays heraus, die im Rahmen einer Ausstellung wie in einer Schulklasse wesentlich an der Produktion und Repräsentation des sozialen und medialen Raums beteiligt sind und dabei nicht nur einen Informationsträger darstellen. Das Display verbindet sich dabei nicht nur mit der kuratorischen und vermittelnden, sondern vor allem mit der künstlerischen – und das ist auch eine didaktische – Praxis. Der traditionelle White Cube – der leere, weiße, quadratische und starre Ausstellungsraum – wird so durch den Einsatz von Displays aufgebrochen und dekonstruiert, indem KünstlerInnen und BetrachterInnen ganz konkret in den ästhetischen (Handlungs-)Raum des Displays eingreifen und mit ihm interagieren. Durch eben diese Interaktivität ist auch die Schulklasse 2.0 im Sinne einer „handlungsorientierten Medienpädagogik“ gekennzeichnet, der sich die MEDIENIMPULSE zutiefst verpflichtet fühlen. Deshalb unternimmt es Antje Lehn in der Folge, die Spielräume, Rollen und Funktionen schulischer Displays näher unter die Lupe zu nehmen: Denn der Klassenraum ist immer noch
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in vielen Fällen im Sinne des Frontalunterrichts aufgestellt und wird selbst nicht als Medium begriffen, in dem Displays eine maßgebliche Rolle spielen (können). Lehn plädiert deshalb dafür, handlungsorientiert und unter der Verwendung von Displays im Sinne einer multimedialen Didaktik in die Architektur des Klassenraums einzugreifen, um mit den stark reglementierten Gegebenheiten in der Schule anders umzugehen. So hat die Autorin im Rahmen der Ausstellung „Fliegende Klassenzimmer“ den Versuch unternommen, verfremdete Schulmöbel zum Gestaltungsprinzip zu erheben. SchülerInnen wurden unter der Verwendung verschiedener Displays (Pinnwände, Tageslicht-Projektoren, Beamer, interaktive Whiteboards, aber auch Decken, Wände oder Böden) zu aktiv handelnden AkteurInnen im sie umgebenden Raum. Der inneren Dynamik des Kunstfeldes ist in der Folge das Interview gewidmet, das Thomas Ballhausen mit der Wiener Künstlerin Johanna Braun geführt hat, um dabei die inneren Dynamiken kuratorischer Praxis herauszuarbeiten, innerhalb derer Displays allererst erscheinen können: Denn Braun beschreibt eingehend die Rolle und Funktion der KuratorInnen als einflussreiche AkteurInnen der Kunstszene. Dabei betont Braun, dass der/die KuratorIn sich mehr und mehr in das Feld der Kunst einschreibt und Kommandofunktionen übernimmt. So wird der Kurator auch zu einem Dompteur im kapitalistischen Kunstzirkus. Das Interview mit Johanna Braun führt so das Bedingungsgefüge vor Augen, innerhalb dessen ein künstlerisches Display auftauchen und sichtbar werden kann. Alessandro Barberi trägt dann – den Schwerpunktteil abschließend – im Zuge eines close readings der Schriften Pierre Bourdieus in zwei Beiträgen – der erste war in der Ausgabe 4/2013 erschienen und wird hier der Vollständigkeit halber auch abgedruckt – das Argument vor, dass sich Bourdieus praxeologische und d. i. handlungsorientierte Kultursoziologie als eine Medientheorie avant la lettre lesen lässt, mit welcher auch der Einsatz von Displays in Kunst und Unterricht theoretisch untermauert werden kann. Beziehen sich die Debatten zum „medialen Habitus“ durchwegs auf Bourdieu, so wurde nur selten betont, dass schon Bourdieus Bildungssoziologie medientheoretisch ausformuliert wurde. Deshalb betont Barberi, dass Sprache, Sprechen und Diskurse bei Bourdieu als „instrumentelle Kommunikationsmittel“ begriffen und bezeichnet sind, die sich – ähnlich wie bei Dieter Baacke – vor allem mit dem Begriff der (Medien-)Kompetenz verbinden lassen. Darüber hinaus begreift Bourdieu aber auch Akteure, Felder und Habitusformen in informations-, kommunikations- bzw. medienwissenschaftlichen Termini, weshalb auch diese Grundbegriffe der Bourdieu‘schen Argumentation medientheoretisch „aufgeladen“ und daher medienpädagogisch relevant sind. Der Habitus ist mithin schon bei Bourdieu „medial“, weshalb eine eingehende Diskussion seiner Schriften die Diskussionen zum „medialen Habitus“ erneut in Theorie und Praxis bereichern und auf das praktische Problemfeld der Displays in der konkreten Unterrichtspraxis angewendet werden kann. Aber auch in den anderen Ressorts dieser Ausgabe 1/2014 findet sich die Frage nach der Mediengeschichte des Displays wieder: So kümmert sich Anna Högner in ihrem historischen Beitrag um ein filmisches Display, das geschichtlich eine maßgebliche Rolle spielte, inzwischen aber obsolet geworden ist: Die kinematografischen Druckmatern, die bis in die 1970er Jahre Bestandteil von Werberatschlägen für Kinofilme waren. Im österreichischen Filmmuseum findet sich eine Sammlung von Kinomatern, deren Archiv Högner ausdeutet. Druckmatern wurden neben Plakaten, Standfotos, kurzen Synopsen des Inhaltes und Schlagzeilen beim Release von Filmen mit ausgeliefert. Sie stellen eine mediale Hybridform dar und waren ein materieller Bestandteil des drucktechnischen Vermittlungsvorgangs bei der Bewerbung von Filmen in der Presse. So kann im Unterricht Filmgeschichte anhand dieses Displays als Zeitgeschichte konkretisiert werden.
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Beiträge zur Medienpädagogik 2014–2015
Ausgabe 2/2014 Potenziale digitaler Medienkunst In der Fluchtlinie dieser ästhetischen Fragestellung stand uns dann vor Augen, dass die Entwicklung von Medientechnologien hinsichtlich ihrer medienpädagogischen Potenziale schon früh in das Blickfeld künstlerischer Auseinandersetzungen gerückt ist. Denn die Digitalisierung unserer Schulklassen lief parallel zu jener der Medienkunst. So eröffnen sich insbesondere neue Möglichkeiten für die Reflexion und Vermittlung von Zusammenhängen, die künstlerisch auf vielfältige Art und Weise erprobt wurden und werden. Diese Ausgabe der MEDIENIMPULSE widmet sich eingehend diesem Forschungsgebiet und fragt nach den medienpädagogischen Potenzialen digitaler Medienkunst. Denn KünstlerInnen beschäftigen sich oft damit, inwieweit sich (digitale) Medien für die Schaffung neuartiger sozialer und gesellschaftlicher Verbindungen und Strukturen eignen, und liefern so PädagogInnen mehrfach Reflexionsangebote ihrer eigenen Unterrichtspraxis. Shusha Niederberger schlägt deshalb in ihrem Beitrag ganz konkret vor, Medienkunst als Handlungsstrategie für die Medienpädagogik nutzbar zu machen. Denn die Entgrenzung der Medien, so die Autorin, macht Medienkunst als Form oder Inhalt problematisch. Derartige Handlungsstrategien finden sich in der Hacker-Kultur, wo öffnende Eingriffe in Systeme erfolgen und so neue Perspektiven entstehen können. Analog können Medientechnologien als Teil des Systems Bildung verstanden werden, insofern sie didaktisch sinnvolle Handlungsoptionen eröffnen. Die These wird anhand der Arbeiten von Kenneth Goldsmith illustriert, in dessen Seminar „Uncreative Writing“ der mediale Umgang mit Texten als Manipulation oder Management bereits vorhandener Textelemente gelehrt wird. Das Prinzip der vernetzten Wissensgenerierung sollte sich nach Niederberger auch auf die institutionelle Struktur der Bildung auswirken dürfen: Medienpädagogik kann sich mithin neben den künstlerischen Handlungsstrategien auch die Netzwerkstruktur der medialen Kunst zu eigen machen. Slavko Kacunkos Beitrag befasst sich dann mit Bakterienkunst als einer Schnittstelle zwischen Wissen, Technologie und Biologie. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Patina und Biofilm in den Arbeiten von Sabine Kacunko, welche in dem Beitrag beschrieben wird, führt zu neuen Fragen nach dem Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft, Medien und Wissensvermittlung. In den epistemischen „Twists“, die sich in der Bakterienkunst ereignen, wird der menschliche Alleinanspruch auf autonomes Wissen ebenso infrage gestellt wie durch die jeweiligen Technologien selbst. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wenn Medienpädagogik sich definiert, kann sie – gerade ob der Medienkunst – nicht mehr auf einen rein technischen Medienbegriff rekurrieren, sondern ist gerade ob der kreativen und innovativen Aspekte der Mediengestaltung auf Kunst und Ästhetik verwiesen. Raquel Rennós Beitrag hat dann die Nutzung neuer Technologien für Grassroots-Bildungsmodelle in Brasilien zum Gegenstand. Die im Beitrag diskutierten Medienprojekte haben ihren Ursprung in Gilerto Gils „Pontos de Cultura“-Politik und werden heute meist von AktivistInnen fortgeführt. Bildung findet dabei außerhalb der etablierten Institutionen ihren Ort. Horizontale Strukturen und ein komplementäres Verhältnis zwischen Medienkultur und traditionellen Kulturen zeichnen Projekte wie „Bailux“ aus, das im Gebiet der Pataxó im Süden Brasiliens beheimatet ist, während in ganz Brasilien Hackerspaces existieren, die sich explizit innovatives, allen zugängliches Lernen zum Ziel gesetzt haben. Rennó plädiert am Ende für ein medienpädagogisches „hacker learning“, bei dem Wissen außerhalb der herkömmlichen Verwertungsstrukturen entstehen kann, kollektiv geschaffen wird und seinen Wert durch die Relevanz
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für die Gemeinschaft erhält. Die offene und experimentelle Auseinandersetzung mit Medientechnologien ist dafür eine Voraussetzung. Theo Hug präsentiert dann in seinem Beitrag ein Plädoyer für erweiterte Handlungsorientierungen und Reflexionsperspektiven in der Medienpädagogik. Er beantwortet dabei die Frage, wie sich schulbezogene Perspektiven der Reflexion und Handlungsorientierung unter Bedingungen der Medialisierung erweitern. Ausgewählte Aspekte dieser Thematik werden dabei kritisch sondiert und diskutiert: Dabei stellt der Autor Oppositionen zwischen Revolution/Evolution, Subversion/Transparenz, Eigensinn/Solidarität oder Widerstand/Anpassung her, um zu verdeutlichen, in welch polarisiertem Feld sich eine Medienpädagogik theoretisch und praktisch bewegt, die grundlegend handlungsorientiert verstanden wird. Erneut werden so die Bestrebungen der MEDIENIMPULSE untermauert, nach denen Unterrichten nur dann richtig verstanden und ausgeübt wird, wenn die interaktiven Praktiken der Lehrenden und Lernenden bei der Nutzung und Gestaltung mit und in Medien grundlegend berücksichtigt werden. Ganz nahe am Schwerpunktthema bewegt sich auch Axel Stockburger, den unsere Ressortleiterin für Kultur/Kunst, Ruth Sonderegger, für die MEDIENIMPULSE interviewt hat. Stockburger arbeitet an der Wiener Akademie der bildenden Künste im Bereich „Kunst und digitale Medien“ und beantwortet Fragen zum Thema Medienkunst: Gibt es angesichts der post-medialen Kondition überhaupt noch eine Medienkunst? Und wie sieht es mit dem Kunst-Wert im Kapitalismus aus? Antworten finden Sie in diesem Beitrag …
Ausgabe 3/2014 Medienproduktion im Alltag von Kindern und Jugendlichen Wichtig schien uns auch die Diskussion der Tatsache, dass Medienproduktion, Medienkonsumtion und Mediendistribution durch die digitale Entwicklung zunehmend vereinfacht werden. Kinder und Jugendliche nutzen die mediale Artikulation im Alltag. Fotos, Videos, Audioproduktionen oder auch Texte werden im Unterricht und in der Freizeit erstellt und via Internet verbreitet. Die (Neuen) Medien stellen mithin eminente Produktionsbedingungen der schulischen Praxis von Lehrenden und Lernenden dar. Daher verbinden sich mit dem Thema der Medienproduktion eine Reihe von Fragen, welche die medienpädagogische Reflexion herausfordern. Deshalb widmet sich die Ausgabe 3/2014 mit dem Titel Medienproduktionen im Alltag von Kindern und Jugendlichen u. a. folgenden Fragen: Welche Formen der medialen Produktion werden im schulischen, welche im außerschulischen Bereich genutzt? Und: Welche Faktoren/Rahmenbedingungen beeinflussen die aktive Medienproduktion in Schule und Freizeit? Den Einstieg in die Thematik liefert dabei Katharina Grubesic, die von der Erstellung einer Klassenzeitung im Unterricht einer reformpädagogischen Mehrstufenklasse berichtet und so einen analytischen Einblick in ihre konkrete Unterrichtspraxis gibt. Der Beitrag berichtet u. a. von der Planung, dem Layout und den Lerneffekten im Umfeld einer Zeitungsproduktion, die auf die Initiative eines interessierten Schülers hin gemeinsam mit einer Schulklasse gestaltet wurde. Dabei waren auch demokratiepolitische Aspekte von großer Bedeutung, da die SchülerInnen im Sinne der Partizipation immer an den nächsten Schritten des Projekts beteiligt waren. So wurde ein Redaktionsteam vom Chefredakteur abwärts bestimmt und das Erstellen der Zeitung konnte z. B. mit Verwendung von Powerpoint gestartet werden. Medienpädagogisch wichtig war dabei, dass die SchülerInnen die wichtigsten Textgattungen einer Zeitung kennen-
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Beiträge zur Medienpädagogik 2014–2015
lernten: Vom Sportteil über das Horoskop bis hin zu den eigentlichen Artikeln. Insgesamt zeigt der Bericht zur praktischen Arbeit mit dem Medium Zeitung, wie breit gefächert Medienproduktion sich im Unterricht gestalten kann. Ganz in diesem Sinne nimmt sich dann Manfred Gilbert Martin in seinem Beitrag das Medium des Blogs vor, das er im Geschichteunterricht zu nutzen begonnen hatte. Dabei war es Gilbert vor allem darum zu tun, im Projekt I-Museion Arbeitsanweisungen und Zwischenergebnisse ansehnlich und klar geordnet für jede(r)mann/-frau parat zu haben. So wurde denn ein faktenbasiertes historisches Wissensnetz für die TeilnehmerInnen zur Orientierung in der Geschichte angelegt. Die SchülerInnen erarbeiteten sich so anhand von (historisch wichtigen) Orten und unter Verwendung von Büchern, Zeitschriften und Lexika ein Wissen, das dann vor Ort (etwa im Schloss Thurn oder im Winterpalais Prinz Eugen) in der Interaktion mit WissensträgerInnen (etwa ZeitzeugInnen) konkretisiert werden konnte. (Historische) Objekte wie Hallstattschmuck, Münzfunde oder Topfhelme wurden so medienpädagogisch auf ihre historischen Hintergründe überprüft und didaktisch eingesetzt. In der Folge kümmert sich Martin Rankl um die Medienkompetenzvermittlung im Fachgegenstand Musikerziehung. In der österreichischen Bildungslandschaft wird versucht, Medienbildung als Unterrichtsprinzip umzusetzen. Damit sollen medienbildende Inhalte in allen Fachgegenständen eingesetzt werden. In diesem Artikel wird der Frage nachgegangen, inwieweit der Fachgegenstand Musikerziehung diesem Unterrichtsprinzip gerecht werden kann. Dabei setzt der Autor beim ministeriellen Grundsatzerlass zur Medienerziehung an und definiert im Blick auf den Musikunterricht mit Dieter Baacke die Medienkompetenz über Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung. In der Folge erläutert er die Möglichkeit eines solchen Verständnisses von Medienkompetenz anhand der konkreten Unterrichtspraxis im Musikunterricht und präsentiert Entscheidungshilfen bei der Auswahl von Open Source-Software für den Musikerziehung und Musikunterricht. In der Folge beschäftigt sich ein AutorInnenkollektiv – bestehend aus Henrike Friedrichs, Friederike von Gross, Katharina Herde und Uwe Sander –, ausgehend vom Konzept des „medialen Habitus“, im Rahmen einer qualitativen Studie mit dem Zusammenspiel verschiedener Habitusformen im Kontext elterlicher Computerspielerziehung. Dabei geht es vor allem um die Computerspielnutzung aus Elternsicht, die im Rahmen eines Projekts an der Universität Bielefeld untersucht wurde. Die AutorInnen erläutern eingehend, was unter dem medialen, erzieherischen und medienerzieherischen Habitus verstanden wird und wie diese Ausschnitte des Habitus zueinander in Verbindung stehen. Die Tendenz, dass jüngere Eltern mehr Spielerfahrung besitzen als ältere, konnte im Rahmen der Untersuchung mehrfach empirisch bestätigt werden. Im Rahmen der Conclusio wird betont, dass dem medialen Habitus der Eltern in Bezug auf den medienerzieherischen Habitus eine Schlüsselrolle zukommt, da er als begrenzendes Element wirkt: In Abhängigkeit davon, welche medialen Kenntnisse und Erfahrungen als auch welche Vorstellungen und Beurteilungen mit dem Medium Computerspiel verknüpft werden, wird die medienerzieherische Praxis puncto Computerspiel ausgestaltet. Auch das Ressort Kunst/Kultur kann Ihnen einen kleinen Juwel präsentieren: denn Sabeth Buchmann diskutiert auf breiter Ebene die bedenkliche Schließung der Generali Foundation. Angesichts der Übernahme der Generali Foundation seitens des Museums der Moderne in Salzburg veranstaltete die Universität für angewandte Kunst Wien am 12. März 2014 eine Podiumsdiskussion. Bei dieser Diskussion trug die Kunsthistorikerin und Kritikerin Sabeth Buchmann ein längeres Statement vor, das die MEDIENIMPULSE in diesem Beitrag zur Gänze
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schriftlich publizieren. Buchmann erläutert dabei anhand von Heimo Zobernigs Kunstwerk Ohne Titel aus dem Jahr 1994, welche Programmatik die Generali Foundation von Beginn an verfolgte: Es ging immer um die ästhetische Darstellung, Verarbeitung und kritische Analyse der Funktionsmechanismen von Kunst und Institutionen innerhalb der zunehmend von kapitalistischen Verwertungsinteressen beherrschten Gesellschaftsordnung.
Ausgabe 4/2014 Steuerung, Kontrolle, Disziplin. Medienpädagogische Perspektiven auf Medien und/der Überwachung In eben diese kapitalistische Gesellschaftsordnung platzten die Enthüllungen Edward Snowdens und machten bekannt, was Eingeweihte schon länger wussten: Jede SMS, jedes Telefonat, jede Mail usw. werden in unseren westlichen Demokratien geheimdienstlich erfasst und systemstabilisierend gegen die BürgerInnen verwendet. Dabei wurden angesichts der Fragen zur (digitalen) Überwachung nicht nur Geheimdienste wie die NSA, sondern auch (globale) Online-Dienste wie Google, Amazon oder Dropbox hinsichtlich der Debatten zum „gläsernen Menschen“ und zu „Big Data“ eingehend diskutiert, um die Gefahren der gänzlichen Transparenz von BürgerInnen – aber auch Staaten – in den Blick zu nehmen. So erreichten die Diskussionen zur Kontrollgesellschaft angesichts der neuen Medientechnologien auch eine breitere Öffentlichkeit, die sich am Beginn des 21. Jahrhunderts erneut Fragen zum Thema Steuerung, Kontrolle, Disziplin. Medienpädagogische Perspektiven auf Medien und/der Überwachung stellen muss. In seinem Essay zu Zwang und Verführung geht denn auch Konrad Becker vom „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ von Gilles Deleuze und dem Begriff der Disziplinargesellschaft von Michel Foucault aus, um in 16 Thesen ihre Aktualität anhand von „Big Data“ zu diskutieren. Die Dispositive der kontrollierenden Gegenwart sind dabei zutiefst mit Informationstechnologien verbunden. Dabei weist Becker darauf hin, dass der Begriff Governence denselben griechischen Wortstamm wie Kybernetik hat, wodurch man auch in der Medienpädagogik auf technokratische Modelle der Menschenlenkung verwiesen ist. In diesem Sinne kann auch der Sozialdarwinismus als symbolischer Klassifizierungskampf westlicher Eliten im Neoliberalismus begriffen werden. Zusammenfassend betont Becker hinsichtlich dieser Verschränkung von Technologie und Gesellschaft als „Steuerung, Kontrolle und Disziplin“, dass es aus medienpädagogischer Sicht unbedingt eine starke Förderung von Medienkompetenz braucht, die zur kritischen Dekonstruktion und Aufklärung mediatisierter Wirklichkeiten beitragen kann. Paul Winkler erweitert dann mit seiner historischen Studie das Problemfeld der Steuerung, indem er die kinematografische Propaganda und Zensur in Österreich-Ungarn von 1914–1918 als den Versuch beschreibt, ein (proto-)kybernetisches Modell in Gang zu setzen. Denn die sog. „Volkserziehung“ im Ersten Weltkrieg lässt sich als Regelkreismodell beschreiben und ist insofern auch eine Medienpädagogik avant la lettre. Schon im Ersten Weltkrieg ging es darum, durch das Kino dem Publikum Führungsgrößen vor Augen zu führen und es zu einer Art von Selbstregulation zu motivieren. Es ging dabei auch um die Homogenisierung der Vorstellungsund Wertewelten, die „das System“ stabilisieren sollten. Offenes Feed-back (im Sinne einer demokratischen Kybernethik) war daher unerwünscht. Dabei wurden Kriegsbilder zu einem geeigneten Werkzeug der Propaganda. Zusammenfassend und aktualisierend betont Winkler, dass nicht nur im Ersten Weltkrieg die Wahrheit zuerst stirbt. Das Kontroll- und Zensurdispo-
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sitiv der österreichisch-ungarischen Militärkinematografie kann dabei als einer der entscheidenden Orte ausgemacht werden, an dem die Moderne damit beginnt, sich selbst zu belügen. Und auch Katharina Stöger folgt den Fragestellungen dieser Ausgabe, wenn sie im Rahmen einer Filmgeschichte die Möglichkeiten der Videoüberwachung in Jörg Kalts Film Crash Test Dummies aus dem Jahr 2008 befragt. Dabei betont sie, dass bei Kalt die Videoüberwachung ihrem eigentlichen Zweck der Kontrolle enthoben wird, um als reziprokes Kommunikationsinstrument in Szene gesetzt zu werden. Stöger arbeitet dabei heraus, wie in Crash Test Dummies Videoüberwachung dargestellt wird, indem die Möglichkeit einer anderen Nutzung von Überwachungskameras in einem Dispositiv aus Blicken und Sehverhältnissen kinematografisch durchgespielt wird. Durch Kalts persönlichen Einbruch in den Film mithilfe der Schrift und der suggerierten Nähe zum New Austrian Cinema „crasht“ Kalt daher nicht nur die filmische Handlung, sondern auch den abgeschlossenen Bereich „neues österreichisches Kino“, in dem er nie sichtbar wurde. In diesem Sinne scheint Jörg Kalt mit seinem letzten Film einen medienreflexiven Wunsch zu äußern, der viel zu spät Gehör gefunden hat: „Beobachten Sie mich!“ Auch im Ressort Forschung wird das Schwerpunktthema diskutiert, wenn etwa Stefan Iske und Dan Verständig anlässlich des 25-jährigen Bestehens des World Wide Web in ihrem Beitrag daran erinnern, dass durch digitale und vernetzte Technologien zentrale Kategorien wie Bildung, Erziehung und Sozialisation eminent berührt werden, eben weil gesteuert und kontrolliert wird. Dabei geht es medienpädagogisch vor allem darum, dass die Handlungsautonomie von Subjekten, die Möglichkeitsräume von und die Teilhabe an Gesellschaft debattiert werden. Dabei analysieren die Autoren in der Befragung von Software-Codes sowohl die Architektur von Programmen und Apps als auch die Architektur des Internets selbst. So sind eben in der Wissens- und Informationsgesellschaft soziale und technologische Handlungsweisen auf vielfältige Art ineinander verwoben, weshalb auch das Internet als soziotechnisches System begriffen werden kann. Klar ist dabei, dass Systeme der Regulierung und Kontrolle in einem engen Zusammenhang mit Prozessen der Bildung, der Identitätsentwicklung und des selbstbestimmten Lernens stehen und so nach einer gesellschafts- und ideologiekritischen Medienpädagogik verlangen. Besonders hervorzuheben ist ein kleines Rezensionsjuwel aus dem Ressort Neue Medien: Fabian Faltins Besprechung des nanopolitics handbook, das die aus den Londoner Studentenprotesten hervorgegangene nanopolitics group kostenlos ins Netz gestellt hat. Denn es stellt sich uns allen die Frage: Wie entgeht man der kapitalistischen Steuerung, Kontrolle und Disziplin? Die Nanopolitik reagiert auf die jahrelangen Kämpfe im neoliberalen Großstadtmoloch von London und setzt in Erinnerung an Deleuze, Guattari und Foucault auf die Mikro-Räume der körperlich-physikalischen Erfahrbarkeit jeglicher Theorie, Information und Kommunikation. Kommen Sie auf die winzige Ebene der Nanopolitik, erfahren Sie Zwischenmenschlichkeit und leisten Sie Widerstand!
Ausgabe 1/2015 Medienpädagogik und E-Learning Medienpädagogik ist seit vielen Jahren eng mit der universellen Nutzung von Internetcomputern und den damit produzierten, transportierten und rezipierten Inhalten verflochten. Diese Verflechtung reicht von Medienkompetenzvermittlungsprojekten, in denen mit Social Media gearbeitet wird, über EDV-Anwendungen in der Administration von medienpädagogischen Institutionen und die Verwendung von Internetcomputern in der medienpädagogischen
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Forschung bis hin zu Reflexionen von Computerspielen mit einem Medienbildungsbegriff. In der professionellen Medienpädagogik wird vielfältig mit Internetcomputern gearbeitet und in der wissenschaftlichen Medienpädagogik vielfältig zu Internetcomputern geforscht. Deshalb widmete sich die Ausgabe 1/2015 der MEDIENIMPULSE dem Verhältnis von Medienpädagogik und E-Learning, um eine stattliche Anzahl von diesbezüglichen Beiträgen zu präsentieren. Thomas Damberger eröffnet ganz im Sinne dieser Fragestellung den Reigen um E-Learning und geht der medienpädagogischen Frage nach, inwiefern in unserer Mixed Reality Wirklichkeit und Virtualität schon längst in einander übergegangen sind und (gerade in Lernumgebungen) ihre Plätze tauschen. Dabei wird durchaus gesellschaftskritisch betont, dass Augmented Learning als E-Learning in medial erweiterten Lernwelten auch zu neuen Formen der Entfremdung führt. Damberger unterscheidet deshalb einleitend den Bereich des E-Learning als Prozess (im Sinne der Multimedialität und Interaktivität von PC, Handy oder Internet) vom Bereich des E-Learning als konkrete Sache und Gegenstand (also im Sinne von Lernsoftware). E-Learning bezieht sich mithin in diesem Beitrag sowohl auf die Software als auch auf das, was mithilfe der Software an die lernenden Personen herangetragen wird. In diesem Sinne aktualisiert der Autor im Rückgriff auf Wilhelm von Humboldt und Immanuel Kant klassische Bildungsbegriffe, um ihre Relevanz auch angesichts heutiger medialer Bedingungen zu plausibilisieren. Denn auch am Beginn des 21. Jahrhunderts – und angesichts von Google Glass, Wikitude oder dem Human Brain Project – stellt sich die klassische pädagogische Frage nach dem Sinn und der Funktion von Bildung, dies allerdings unter aktuellen medialen Produktionsbedingungen. Christian Filk und Axel Grimm diskutieren dann die arbeitsprozessorientierte Kompetenzentwicklung in der höheren beruflichen Bildung und gehen dabei von der Tatsache aus, dass Learning-Management-Systeme erweitert eingesetzt werden sollten. Dabei stellen sie den Ansatz einer digitalen arbeitsprozessorientierten Kompetenzentwicklung in höheren beruflichen Fachschulen unter den Bedingungen des dualen Ausbildungssystems in der BRD vor. So soll ein medienpädagogischer Prozess interner Schulentwicklung angestoßen und getragen werden. Dabei stellt sich die Frage, ob es zu einer Technisierung der Pädagogik oder einer Pädagogisierung der Technik kommen muss. Neue Lernumgebungen sollen daher ein aktives, eigenständiges und selbst gesteuertes sowie kooperatives Lernen unterstützen. Dabei diskutieren die Autoren verschiedene Arten von medienspezifischem Lernen: Multimedia, Blended Learning, Tele-Teaching, virtuelles Lernen oder netzbasiertes Lernen. Die Potenziale der sog. „Neuen Medien“ können, so die Autoren, medienpädagogisch nur durch eigene didaktische Konzeptionen herausgearbeitet werden. Die Entfaltung von Medienwirkungen ist daher eine Gestaltungsaufgabe und kein Effekt der Medientechnik. Norbert Meder beleuchtet dann in seinem luziden Beitrag das Verhältnis von Neuen Technologien und Erziehung/Bildung. Seine zentrale Frage ist: Wie kann Computertechnologie in Relation zum (Medien-)Bildungsbegriff gedacht werden? Der Autor zeigt im Zuge seiner Argumentation, dass Computertechnologie zur pädagogischen Aufgabe wird, weil sie eine eminente Kulturtechnik in der Wissens- und Informationsgesellschaft darstellt. Ausgehend vom Begriff der „Bildung“ als „Ausbildung“ eines Verhältnisses zu sich selbst, zu anderen und zur Welt, wird Computertechnologie als Problemlösungsautomat, Sprachentwicklungsmaschine, Simulationsmaschine, Kommunikationsmaschine, Bildschirmgestaltungsmaschine, Schlüsselloch und Superzeichenmaschine analysiert. Die Analyse zeigt dann, dass Computertechnologie ein neues Bildungsideal erforderlich macht: den „Sprachspieler“. Der Sprachspieler kennt sein
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doppelt reflexives Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Welt und beherrscht so das Spiel mit der Sprache zur Ausübung von Macht und Gewalt in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Im Ressort Bildung/Politik diskutiert Katharina Kaiser-Müller ministerielle Projekte zum E-Learning wie eLSA oder TEVALO. Dabei betont sie im Sinne der Ideologiekritik, dass das Interesse bei den durchgeführten Maßnahmen eindeutig in der Nutzung des Internets und an dessen vielfältigen Anwendungen liegt. Ihre zentrale Frage ist: Welchen Nutzen hat die Einführung von E-Learning? Dabei zeigt die Autorin auf, dass E-Learning nicht wegen pädagogischen Bedarfs, sondern durch ministeriell gesetzte Maßnahmen eingeführt wurde und dadurch – wenn auch nicht bewusst und schon gar nicht als solches kommuniziert – neoliberale Strukturen und Imperative im Bildungssystem durchgesetzt wurden. Die Einführung von E-Learning hat somit direkt für die Akzeptanz neoliberaler Ökonomien in unseren Schulklassen gesorgt. Ein politisch höchst brisanter Umstand, wenn man bedenkt, dass unser Bildungssystem frei von ökonomischer Bevormundung sein sollte. Barbara Buchegger diskutiert in ihrem Beitrag für das Ressort Praxis die Problemzone des Sexting im Schulumfeld. Denn wie steht es um die Übermittlung von Nacktaufnahmen in unseren Jugendkulturen? Stimmt unser Eindruck aus den Workshops in Schulen, dass Sexting bereits ein „übliches Verhalten“ der Jugendlichen geworden ist? Die Autorin berichtet in diesem Zusammenhang von einer Studie rund um das Thema, die im Auftrag von Saferinternet.at durchgeführt wurde. Die Studienergebnisse zeigen dabei sehr deutlich, dass Sexting eine häufige Facette des Beziehungs- und Sexuallebens von Jugendlichen geworden ist. Dabei kann eine Nacktaufnahme, die in der Schule die Runde macht, den Unterricht unter Umständen empfindlich stören. Daher ist es notwendig, so Buchegger, dass die Schule entsprechende Reaktionen zeigt und nicht versucht, die „Sache auszusitzen“. Eine gute und kompetente Reaktion im Ernstfall ist daher die beste Prävention für kommende ähnliche Vorfälle.
Ausgabe 2/2015 Begründungen und Ziele der Medienbildung Von Medienbildung ist in unterschiedlichen wissenschaftlichen, politischen, technologischen sowie alltagsweltlichen Diskurszusammenhängen die Rede. Dabei kommen ähnliche, zum Teil auch konträre Begriffsauffassungen und Zielvorstellungen zum Tragen, die mit unterschiedlichen Ansprüchen, Begründungsformen und Reichweiten korrespondieren. Das Spektrum reicht von Verweisen auf Qualifizierungserfordernisse im Lichte technologischer und wirtschaftlicher Entwicklungen über Ansprüche der Wahrnehmung, Analyse, Gestaltung und Reflexion medienkultureller Dynamiken bis hin zur Befassung mit unterschiedlichen Aspekten der Medialität von Bildungs-, Lern- und Sozialisationsprozessen in ästhetischer und erkenntnistheoretischer Absicht. Das HerausgeberInnenteam hat deshalb im Anschluss an die Tagung „Medien – Wissen – Bildung: Medienbildung wozu?“, die am 27. und 28. Februar 2015 an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck stattfand, dazu eingeladen, Beiträge einzureichen, die sich mit Begründungen und Zielbildern der Medienbildung in konzeptioneller und anwendungsorientierter Absicht befassen. Dieter Spanhel untersucht deshalb in seinem Beitrag den Prozess der Medienbildung bei Kindern und Jugendlichen und betont dabei die Notwendigkeit, ihre Lebenswelten und Sozialisationen einer eingehenden medienpädagogischen Analyse zu unterziehen. Dabei geht Spanhel davon aus, dass die fortschreitende Mediatisierung der Gesellschaft auch die Lebensbereiche
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und Lebenswelten der Menschen tief greifend transformiert, wobei dieser mediale Aspekt der menschlichen Lern- und Bildungsprozesse im Sinne der Medienbildung stärker ins Zentrum der Medienpädagogik gerückt werden sollte. Im Sinne einer systemtheoretisch fundierten Medienpädagogik geht es vor allem um die mediale Kopplung zwischen sich verändernden inneren psychischen Strukturen im personalen System der Heranwachsenden und um die sich wandelnden Strukturen der sozialen Umwelt im Rahmen der modernen Medienkultur. Spanhel macht dabei die These stark, dass der Prozess der Medienbildung bei Heranwachsenden durch die Abgrenzung und pädagogische Gestaltung von Bildungsräumen in Form offener multimedialer Lernumgebungen ermöglicht wird und daher auch an ihnen ausgerichtet werden kann. Lernen muss daher selbst gesteuert, spielerisch und selbst organisiert werden. Petra Missomelius zeichnet dann in ihrem englischsprachigen Beitrag die Entwicklung der deutschsprachigen Diskussionen zur Medienbildung nach, indem verschiedene professionelle Ansätze vorgestellt werden. Dabei betont sie, dass institutionalisierte Lern- und Bildungsprozesse der Medienbildung nach wie vor unzureichend umgesetzt sind. Dabei ist es ist kein Zufall, dass die Ratlosigkeit der Bildungseinrichtungen und die zunehmende Mediatisierung oft in einem Atemzug genannt werden, wenn die Diskussionen die Krise des Bildungssystems unter die Lupe nehmen. Medienbildung, quo vadis? Um diese Frage zu beantworten, unterscheidet Missomelius zwischen media education und media studies. In der Folge diskutiert die Autorin das Verhältnis von Medium und Subjekt und bespricht in diesem Zusammenhang die (pädagogischen) Konstitutionsbedingungen menschlicher Subjektivität und die Akteur/Netzwerk-Theorie. Dabei geht es angesichts von Big Data immer auch um Formen der Medienkritik. Man denke auch in diesem Zusammenhang an Edward Snowden und „Prism“. Aber auch in der österreichischen Bildungspolitik werden Problembereiche aufgeworfen, die etwa mit „Sokrates Bund“ das Thema des „gläsernen Menschen“ aufwerfen. Missomelius plädiert deshalb abschließend für einen spielerischen Medienaktivismus in der Wissens- und Informationsgesellschaft. Wolfgang B. Ruge umkreist dann im Sinne einer politischen Philosophie den Terminus „Medienbildung“, der neben dieser Schwerpunktausgabe auch im wissenschaftlichen Forschungsfeld der Medienpädagogik intensiv diskutiert wird. Ruges thematischer Vorschlag stellt mit seiner Frage nach den politischen Zielvorstellungen der Medienbildung ein politisches Verständnis in den Mittelpunkt, das Medienbildung als Synonym für medienpädagogische Tätigkeit versteht. Sein Beitrag stellt drei medienpädagogische Zielvorstellungen gegenüber und zeigt die ihnen zugrunde liegenden Argumentationsstrukturen und die ihnen inhärenten politischen Setzungen auf. So diskutiert Ruge erstens „SCHWARZ/SCHWARZ/konservativ“, zweitens „ROT/ROT/sozialdemokratisch“ und drittens „GELB/PINK/liberal-kompetitiv“. Insgesamt ergibt sich so angesichts der Diskussionen zur Medienbildung eine politische Farbenlehre der Medienpädagogik, die zu weiteren Debatten über Medien und Bildung anregen soll. Tobias Hölterhof unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, die Existenzphilosophie Sören Kierkegaards mit den aktuellen Diskussionen zur Medienbildung zu verknüpfen. Dies ist mehr als nur ein Gedankenexperiment, sondern eine dezidiert medienpädagogische bzw. medienhistorische Frage: Wie hätte ein Philosoph wie Sören Kierkegaard das Internet erlebt? Søren Kierkegaard (1813–1855) hat das Internet zwar selbst nicht erfahren, dennoch hat sich ein Forschungsdiskurs etabliert, der dieses Gedankenexperiment erörtert. Anhand seiner Philosophie wird die Frage nach der existenziellen Bedeutung des Internets hinsichtlich der Medienbildung greifbar. Wenn Kierkegaard das Internet erlebt hätte – um dem Gedankenexperiment bis zum
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Ende zu folgen –, würde er dieses Medium womöglich also nicht gemieden haben. Vielleicht hätte er es sogar gerne genutzt, nicht zuletzt aufgrund der guten Möglichkeiten für eine pseudonyme Publikationsweise. Rüdiger Fries und Sven Kommer diskutieren dann im Ressort Bildung/Politik die Grundbildung Medien für alle pädagogischen Fachkräfte. Die Initiative „Keine Bildung ohne Medien“ fordert dahingehend eine Bund-Länder-Initiative für die Grundbildung Medien in allen pädagogischen Studien- und Ausbildungseinrichtungen und diskutiert diese Forderungen mit VertreterInnen verschiedener pädagogischer Handlungsbereiche. Die Autoren gehen auf diese Konstellation in kritischer Absicht ein. Dieses hier abgedruckte Positionspapier wurde im November 2014 auf dem GMK-Kongress „Doing politics: Politisch agieren in der digitalen Gesellschaft – Konzepte und Strategien der Medienpädagogik und Medienbildung“ in einem Workshop mit VertreterInnen verschiedener Praxisfelder diskutiert. Grundpositionen des Papieres fanden in der Folge Eingang in eine Pressemitteilung vom 27.11.2014.
Ausgabe 3/2015 Handeln mit Symbolen Die paradigmatische Unterscheidung zwischen Sozial- und Kulturwissenschaften, die spätestens seit den 1980er Jahren eingehend diskutiert wurde, lässt sich anhand des Bereichs des Symbolischen auf den Punkt bringen: Ist das Symbolische auch und gerade im Unterricht nur ein Effekt von sozialen, ökonomischen oder medialen Strukturen einer gegebenen Gesellschaft oder reproduzieren sich Strukturen nur durch die symbolischen Handlungen der AkteurInnen (Lehrende/Lernende) innerhalb einer gegebenen Kultur? Inwiefern benötigt die handlungsorientierte Medienpädagogik mithin einen geschärften Begriff des Symbolischen im Sinne des Sprach- und Zeichenproblems, das direkt in die Unterrichtspraxis hineinreicht? Fragen, welche die Redaktion dazu brachten, dem Thema Handeln mit Symbolen eine eigene Ausgabe zu widmen. Am Anfang des Schwerpunktes steht dabei der Beitrag von Valentin Dander, welcher sich einer methodologischen Fundierung einer praxeologisch gewendeten Diskursanalyse widmet. Mit dieser könne das Medienhandeln der AkteurInnen im digitalen Raum als Datenhandeln angemessen erfasst werden. In seiner Argumentation beginnt der Autor damit, die Differenz von Sozial- und Kulturwissenschaften kritisch zu hinterfragen und statt einer Opposition für eine Verbindung beider Forschungstraditionen zu plädieren. Dabei geht es insbesondere darum, den Gegensatz von Diskurs/Symbol und Praxis/Handlung einzuebnen, um deutlich einer Praxeologie – auch im Sinne Bourdieus – das Wort zu reden. Als Bindeglied zwischen den Sozial- und Kulturwissenschaften sieht Dander die Kategorie der (performativen und symbolischen) Deutungsakte, die in beiden Kontexten eine hohe Bedeutung haben. In diesem Rahmen begreift Dander auch „Subjektivierungen“ als symbolische, bedeutsame und damit machtvolle Ordnungen. Die Trennung zwischen Diskursen und Praxen löst er dann, Andreas Reckwitz folgend, zu einem Diskurs/Praxis-Komplex im Sinne des Dispositivbegriffs von Deleuze und Foucault auf. Subjekttheoretisch argumentiert auch Katharina Mildner (Sontag) in ihrem Beitrag zum symbolischen Tod des Subjekts anhand des gegenwärtigen „Flüchtlingsdiskurses“. Der Sprachund Subjektivierungstheorie Judith Butlers folgend, fragt sie nach dem Verhältnis zwischen Subjekt und Symbol. In der Butler‘schen Theorie werde das Subjekt erst durch seine diskursive Anrufung und Be-Zeichnung (hier erinnert Mildner (Sontag) auch an Louis Althussers Anru-
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fung/appelation) hervorgebracht: Es sei mithin ohne Sprache nicht denkbar. Erst durch einen Symbolisierungsprozess wird das Subjekt mit einem sprachlichen Zeichen, einem Symbol der Identität versehen, das ihm als Subjektivierung die Möglichkeit gibt, einen (erneut symbolischen) Sprechakt zu setzen. Nur unter diesen symbolischen Bedingungen hat ein gegebenes (individuelles oder kollektives) Subjekt daher die Möglichkeit, sich im Diskurs gegen die ihm zugedachte Bezeichnung und Identifizierung zu wehren, um aufzubegehren. Diese These illustriert die Autorin eingehend am Beispiel des aktuellen Flüchtlingsdiskurses, in dem die namensgebenden „Flüchtlinge“ kaum die Möglichkeiten haben, sich gegen die Adressierung als „Flüchtling“ oder „Asylant“ zu wehren, um so auch im Sinne politischer Partizipation an der eigenen „Symbolizität“ nur geringfügig teilnehmen zu können. Dem Problem des Symbolischen nähert sich auch Wolfgang Neurath, der es vornehmlich in der französischen Wissenschaftsgeschichte zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus verortet. Hatten etwa Claude Lévi-Strauss und Jacques Lacan die symbolische Ordnung als das unbewusst vorausgesetzte Regelsystem von Handlungen gedacht, so lässt sich der sog. Poststrukturalismus gerade durch die Rückkehr der parole, der individuellen Äußerung, der Performanz kennzeichnen. Diese Frage nach dem Status und der Politik des „Symbolischen“ im Sinne der Performanz wurde in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts – und damit direkt nach dem Mai 68 – intensiv und unablässig gestellt, wodurch das strukturale Denksystem zum Tanzen gebracht wurde. Denn die Ausarbeitung einer allgemeinen „symbolischen“ Ökonomie der Gesellschaft verlangt auch, dass das menschliche Handeln – wie bei Michel de Certeau – in den Blick kommt, die Prozesse der Artikulation und der Kommunikation, wobei diese „Praxeologie“ mit einer umfassenden Kritik aller Formen sozialer Entfremdung verbunden ist, die das Symbolische verlangt und deren Aufhebung gleichzeitig immer wieder versprochen wird. Deshalb wäre im Rahmen der handlungsorientierten Medienpädagogik gerade angesichts des Symbolischen zu diskutieren, inwiefern sie als „reflexive Anthropologie“ (Bourdieu/Wacquant) konzipiert werden kann. Aus der Perspektive der hochschuldidaktischen Praxis argumentieren Julius Othmer und Andreas Weich. In ihrem Beitrag parallelisieren sie eine lern- und eine medientheoretische Lesart eines Planspiels. Als medientheoretische Reflexionsfolie fungiert die Zwei-Welten-Theorie Hartmut Winklers, welche unterschiedliche Qualitäten der symbolischen und materiellen Sphäre und ihre praktischen Verbindungen, die insbesondere in der Computertechnologie sichtbar würden, angemessen erfassen würde. Dabei können Medien in ihrer materiellen Widerständigkeit nicht zur Gänze dem Pol des Symbolischen zugeordnet werden, da sie als Gegenstände bzw. Objekte sich dem Symbolischen gerade entziehen. Und so wie die Beiträge von Dander, Mildner (Sontag) und Neurath nähern sich Weich und Othmer daher dem Phänomen der Performativität, das per se mit der Frage nach dem Symbolischen verbunden ist. Als konkretes Fallbeispiel diskutieren die Autoren deshalb das Planspiel Holistic und dessen Einbindung in eine Lehrveranstaltung. In der Vorlesung wurden verschiedene Theorien, Modelle und Methoden zum ganzheitlichen Life-Cycle-Management vermittelt. So betonen die Autoren abschließend, dass den Studierenden medienpädagogisch ein Möglichkeitsraum eröffnet wurde, in dem sie ihre Konstrukte im Hinblick auf „Symbolisches“ und „Tatsächliches“ erweitern, dekonstruieren und anschließend neu konstruieren konnten. Unser verdienter Ressortleiter und Autor Thomas Ballhausen diskutiert dann im Ressort Kultur/Kunst in einem Reviewartikel die nach wie vor faszinierende Philosophie des römischen Dichters Lukrez. Denn mit seiner wunderbaren, ausführlich kommentierten Prosaübertragung
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„Über die Natur der Dinge“ hat Klaus Binder dem Klassiker eine neue Gegenwärtigkeit verliehen. Ballhausen präsentiert daher Notizen zu einem Werk, das zwischen Philosophie und Literatur steht. Mit dieser Prosaübertragung stehen die LeserInnen erneut inmitten eines Anfangs der Auseinandersetzung mit einem lebensbejahenden, hochgradig literarischen wie philosophischen Text, der uns bei aller Lustbetontheit nicht aus unseren ethischen Konditionen entlässt. Auch damit lässt sich sehr gut unterrichten!
Ausgabe 4/2015 Medienbildung im Kontext der „PädagogInnenbildung NEU“/Teil 2 2012 hat die Redaktion der MEDIENIMPULSE eingehend die Rolle der Medienbildung im Kontext der „PädagogInnenbildung NEU“ als Schwerpunktthema behandelt. Nun startete im September 2015 die Ausbildung der PrimarstufenlehrerInnen auf Basis der neuen Curricula, wobei regionale Unterschiede zu verzeichnen waren. Die Diskurse zu den Curricula der LehrerInnenausbildung in der Sekundarstufe waren voll im Laufen. Dabei spielte die Medienpädagogik im Rahmen dieser Diskussionen nach wie vor eine eher untergeordnete Rolle, weshalb sich die Ausgabe 4/2015 erneut als ein praktisch unterstütztes Plädoyer für die stärkere Berücksichtigung und intensivere Diskussion der Medienpädagogik im Rahmen der PädagogInnenbildung NEU verstand. Dabei waren u. a. folgende Fragen bedeutsam: Welche Bedeutung hat Medienpädagogik im Rahmen der neuen Ausbildung für PrimarstufenlehrerInnen? Und: Gibt es konkrete Vorgaben in Bezug auf Medienpädagogik in den neuen Curricula zur Ausbildung der PrimarstufenlehrerInnen? In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Curricula für die Lehramtsausbildung der Sekundarstufe mit Oktober 2016 in Kraft traten und nach wie vor den formgebenden Rahmen für die Lehramtsausbildung abgeben. Deshalb hat die E-Learning-Strategiegruppe der österreichischen Pädagogischen Hochschulen (PHELS) als Kollektiv aus 12 AutorInnen (Klaus Himpsl-Gutermann/Elfriede Berger/Gerhard Brandhofer/Peter Harrich/Angela Kohl/Johannes Maurek/Thomas Nárosy/Karl Peböck/Manfred Tetz/Martin Teufel/Thomas Walden und Elisabeth Winklehner) die aktuell vorliegenden Curricula und Curriculaentwürfe der Sekundarstufe Allgemeinbildung in den vier Verbundregionen (Süd-Ost; Nord-Ost; Mitte; West) einer kritischen Analyse hinsichtlich Medienbildung und digitaler Kompetenzen unterzogen. Dabei betont das AutorInnenkollektiv, dass sich durch die PädagogInnenbildung NEU derzeit die Chance eröffnet, österreichweit in den vier Verbundregionen in Kooperation zwischen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen die Lehramtsausbildung für alle Schulstufen und Schultypen zukunftsweisend zu reformieren. Die rasant voranschreitende Technologisierung und Digitalisierung unserer Gesellschaft gehört im Sinne der Medienkompetenz zweifelsohne zu diesen Herausforderungen. Das AutorInnenkollektiv betont dabei mit Nachdruck, dass bis dato die historische Chance vertan wurde, Medienbildung systematisch in der LehrerInnenausbildung und damit in den Schulen zu verankern. In diese medienpädagogische Kerbe schlägt dann auch Christian Swertz, wenn er anhand von vier Curricula, die erneut für die vier österreichischen Verbundregionen und Cluster (SüdOst; Nord-Ost; Mitte; West) stehen, betont, dass Medien für Erziehung und Unterricht notwendig sowie in der Lebenswelt, in der Politik und der Ökonomie sehr relevant sind. Daher wäre im Grunde zu erwarten, dass Medien in den Curricula für die Lehramtsausbildung im Sekundarbereich auch an zentraler Stelle vorkommen. Dies ist aber keineswegs der Fall, wie Swertz betont, wenn er die Curricula mit einem quantitativen inhaltsanalytischen Verfahren
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untersucht. In diesem Sinne nimmt Swertz die Gesamtheit aller curricularen Sätze, in denen Medien vorkommen, zur empirischen Grundlage (s)einer Satzanalyse. Die Relevanz von Medien für die pädagogische Praxis, für die Lebenswelt der Menschen in Österreich, in der Politik und der Ökonomie spiegelt sich in den Curricula für die Lehramtsausbildung nur rudimentär und eingeschränkt wider. Die allgemeine Conclusio von Swertz ist deshalb: Wenn Lehramtsstudierende sich im Studium fachlich mit Medien beschäftigen, tun sie das, wenn überhaupt, nur am Rande und das dann auch noch oberflächlich. In diesem medienpädagogischen Zusammenhang betont dann Gesine Kulcke, dass die Entwicklung und Implementierung der Curricula partizipativ gestaltet werden sollte. Sie wirft angesichts der mit dem Beginn des aktuellen Studienjahrs eingeführten Curricula für die Ausbildung der PrimarstufenlehrerInnen die Frage auf, inwieweit diese Forderung nach (medienpädagogischer) Partizipation bereits umgesetzt wurde bzw. wie eine intensivere demokratiepolitische Entwicklung und Implementierung von Curricula möglich wäre. So geht sie davon aus, dass eine gestaltungsorientierte Bildungsforschung eine partizipative Bottom-up-Implementierung und Weiterentwicklung bereits bestehender Curricula unterstützen könnte und damit auch eine stärkere Berücksichtigung der Medienpädagogik notwendig machen würde. Sie schlägt daher vor, dass in aufeinander aufbauenden Lehrangeboten die Grundlagen der Medienpädagogik, Medienentwicklungen und Medienwelten sowie Handlungsfelder der Medienpädagogik vermittelt werden soll(t)en. Kulcke plädiert insgesamt für eine Weiterentwicklung der jetzt auf Basis der PädagogInnenbildung NEU ausgearbeiteten Curricula bezüglich medienpädagogischer Inhalte. Ganz im Sinne dieser medienpädagogischen Analysen hat die Redaktion der MEDIENIMPULSE die Studienrichtungsvertretung des Instituts für Bildungswissenschaft der Universität Wien um ein Statement in Sachen PädagogInnenbildung NEU gebeten. Bernhard Lasser und Christian Treinen sind dieser Bitte nachgekommen und verlängern den Grundtenor aller Beiträge unserer Schwerpunktausgabe: Denn auch für Lasser und Treinen ist klar, dass die Bedeutung Neuer Medien in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen ist und im Leben von SchülerInnen Medien immer häufiger eine wichtige Rolle spielen. In diesem Sinne kommen die Autoren auf die Diskussionen zum medialen Habitus zu sprechen und konstatieren mit Sven Kommer einen „Clash of Habitus“, welcher eine Kommunikation über Medien zwischen LehrerInnen und SchülerInnen unmöglich machen kann. So betonen die Autoren, dass Medienkompetenz nur vermittelt werden kann, wenn auch LehrerInnen sie besitzen. Auch im Ressort Kultur/Kunst findet sich in dieser Schwerpunktausgabe ein bemerkenswerter Beitrag. So berichtet Barbara Hornberger von einer Tagung mit dem Titel „Let me entertain you. Über das Verhältnis von Populärer Kultur und Bildung“, die an der Universität Hildesheim am 09. und 10. Oktober 2015 stattfand. Intensiv wurde hier das Verhältnis von populärer Kultur und Bildung, das bis dato in den Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften immer noch viel zu unterrepräsentiert ist, diskutiert. Da diese grundsätzliche Lücke zwischen Theorie und Praxis ebenso wie die Frage des Bildungsbegriffs und des spezifischen Potenzials von populärer Kultur für Bildung alle Disziplinen gleichermaßen betrifft, ist, so die Autorin, eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, wie sie diese Tagung erprobt hat, sicher sinnvoll, und es bleibt zu hoffen, dass weitere Veranstaltungen dieser Art folgen. Abschließend können wir HerausgeberInnen nur hoffen, dass die LeserInnen der MEDIENIMPULSE auch in der Druckversion bestätigen, was wir glauben, für PädagogInnen in den Jahren 2014/2015 online geleistet zu haben: Einen Brückenschlag zwischen intellektuell heraus-
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fordernden Themen und der ganz konkreten didaktischen Praxis immer wieder so zu machen, dass Pädagogik theoretisch und praktisch der Medialität unserer Wissens- und Informationsgesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts entspricht. Im Sinne einer handlungsorientierten Medienpädagogik ist es die Aufgabe der MEDIENIMPULSE, als praktischer Begleiter unsere Schulklassen zu erreichen und Bildungsbeauftragte in ihrer Profession zu unterstützen. Mediale Impulse zu setzen, um Kindern und Jugendlichen in den Schulen Freude an Medienbildung zu vermitteln und sie auch an Bildungsprozessen partizipieren zu lassen, ist ein demokratieund bildungspolitischer Auftrag, an den wir uns durchgängig gebunden fühlen. Im Sinne der Mediensynchronie von Gutenberg-Galaxis und Web 2.0 im Global Village wünschen wir uns, dass Sie sich neben der Druckausgabe 2014/2015 medienkompetent in die digitalen Weiten von www.medienimpulse.at einklinken und unsere derzeitige Arbeit ebenfalls zum Teil ihres medienpädagogischen Handapparats machen. Online verfügbar sind derzeit vier Ausgaben des Jahres 2016 über Printmedien in Österreich, Internet und digitale Medien als sexualisierte Räume, Mediales Lernen/Lehren im Fremdsprachenunterricht/beim Spracherwerb sowie Macht, Souveränität und Herrschaft. Wenn Sie sich über die Anordnung und Kapitalverteilung der österreichischen Printmedien unterrichten wollen, wenn Sie sich angesichts von Sexting, Cyber-Grooming, Sextortion, Grooming, Posing oder Rachepornos Problemen gegenübersehen, wenn Sie Neue Medien im DaF-Unterricht einsetzen oder wenn Sie zwischen Lehrenden und Lernenden die Machtfrage stellen wollen, haben wir online schon vieles vorbereitet, das nur darauf wartet, in unseren Schulklassen umgesetzt zu werden. So bleibt uns aktuell nur, Sie herzlich einzuladen, sich am Projekt der MEDIENIMPULSE zu beteiligen und selbst einen Beitrag zu verfassen. Unsere derzeitigen Calls finden sie hier: http://www.medienimpulse.at/ calls. Sie können jederzeit mit uns in Kontakt treten oder gleich selbst einen Beitrag hochladen. Und vielleicht lesen Sie dann in der Druckausgabe 2016/2017 Ihren digitalen Beitrag wieder in Druckform. Über einen derartigen Medienwechsel würden wir uns freuen. Die HerausgeberInnen
Danksagung Die HerausgeberInnen danken an dieser Stelle dem BMB (ehemals bmbf/bm:ukk) und dabei insbesondere Julia Kopetzky, Sonja Hinteregger-Euler, Walter Olensky und Andrea Bannert für die aufrichtige Unterstützung, ohne die dieses Buch nicht hätte realisiert werden können. Auch danken wir den MitarbeiterInnen des Verlags new academic press und dabei ins besondere Harald Knill, Peter Sachartschenko und der überaus sorgsamen Lektorin Martina Lukas für die äußerst freundliche und mehr als produktive Betreuung. Nicht zuletzt hat Brita Pohl sich erneut um die Abstracts unserer Artikel gekümmert und sie auch ins Englische übertragen. Ihnen allen gilt unser Dank.
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Ausgabe 1/2014 Display/Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen kuratorischer und vermittelnder Praxis
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Miriam Kathrein
Handlungsmacht des Displays Von Lichtern, Wänden und Relationen in der Ausstellung Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/644
Abstract Miriam Kathrein analysiert die Rolle und Funktion des Displays im Handlungsfeld des Ausstellungsraums. Dabei zeigt sie wie, der Einsatz von Licht oder Wänden den klassischen Repräsentationsraum von Kunst handlungstheoretisch unterwandern kann, und bestätigt damit die intellektuelle Notwendigkeit einer handlungsorientierten Medienpädagogik anhand des künstlerischen Feldes und des Displays. Die Autorin betont dabei im Rekurs auf Pierre Bourdieus Praxeologie, dass das Display im künstlerischen Feld als ein/-e AgentIn/ein/-e AkteurIn mit Handlungspotenzial zu sehen ist, der/die Relationen auf einer räumlichen, inhaltlichen und soziopolitischen Ebene zwischen den anderen an der Ausstellung beteiligten AgentInnen herstellen kann. Das Display verfügt also über das Potenzial, neue Bedeutungen zuschreiben zu können, die Konventionen der Ausstellungspraxis sichtbar zu machen und diese in der expositorischen Handlung kritisch zu hinterfragen. The Power of the Display – of Lights, Walls and Relations in Exhibitions. Miriam Kathrein analyses the role and function of the display in the field of action of the exhibition space, showing how the use of light or walls may serve to undercut the traditional representative space of art with an action-theoretical approach. She thus confirms the intellectual necessity of an action-oriented media education using the artistic field and the display. Basing her work in Pierre Bourdieu’s praxeology, the author emphasizes that the display in the artistic field has to be understood as an agent/an actor with potential for action, which is able to produce relations between the other agents involved in the exhibition on a spatial, content or socio-political level. The display thus has the potential to ascribe new meanings, to make visible the conventions of exhibition practices, and to critically examine them within the action of exhibiting.
1. Einleitung: die Ausstellung als Handlungsraum Das Display ist in der Ausstellung wesentlich an der Produktion eines sozialen Raums beteiligt und geht dabei über die bloße Funktion als Informationsträger hinaus. Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, dass das Display nicht nur auf die kuratorische und vermittelnde, sondern auch auf eine künstlerische Praxis verweist. Gerade diese Öffnung ist notwendig, um nicht Machtpositionen und Hierarchieverhältnisse der AkteurInnen in der Ausstellung zu reproduzieren, wie etwa die viel diskutierte Dichotomie zwischen KuratorInnen und KünstlerIn-
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nen. Die Ausstellung ist als Praxis zu sehen, die kollaborativ einen sozialen Raum erzeugt, in welchem das Display auf der Ebene des Materials und Werkzeuges, aber auch auf der Ebene des Objekts mit Handlungspotenzial mitgedacht wird. Die Ausstellung verstehe ich als Praxis, die einen sozialen Raum von Beziehungen zwischen KünstlerInnen, KuratorInnen, BetrachterInnen, Institutionen, Architektur, Objekten, Display etc. und deren individuellen Handlungsfeldern erzeugt. Die Handlungsfelder konstituieren die Relationen zwischen Handlungen und Positionen. Dabei verhalten sich das Kuratorische, das Akademische, das Künstlerische etc. als Habitus, der ein System von Dispositionen der in der Ausstellung involvierten ProtagonistInnen – oder in den Worten Bourdieus: AkteurInnen – umfasst. Der jeweilige Habitus stellt eine Basisstruktur und Ideen für die Ausstellung her und definiert, welche Handlungen vollzogen werden können. Ich spreche in diesem Zusammenhang nicht nur von menschlichen AgentInnen, sondern auch davon, wie Dinge zu AgentInnen werden oder auch, wie Bruno Latour sagt, zu Aktanten, die in einer dynamischen Beziehung zueinander stehen, sich gegenseitig beeinflussen und einen Bedeutungsrahmen produzieren können. Alle Handlungen, die in einer Ausstellung vorkommen, haben gemeinsam, dass sie expositorisch sind. Eine Exposition macht laut Mieke Bal in einer öffentlichen Artikulation die Ansichten sichtbar, die dem Subjekt, das etwas veröffentlicht, wichtig sind (vgl. Mieke Bal 2002, 32 f.). Es sind nicht nur menschliche AgentInnen wie zum Beispiel KünstlerInnen, KuratorInnen – die ihre Ansichten offenbaren – oder BetrachterInnen, die expositorisch handeln, indem sie Interesse an der Ausstellungsthematik bekunden. Auch das Objekt, das Relationen in der räumlichen Situation etabliert, eröffnet dadurch Handlungsmöglichkeiten. In der Ausstellung als Praxis artikuliert das Objekt Handlungsanweisungen, wenn auch ohne Worte, und geht über die alleinige Funktion hinaus, die Intention des Subjekts zu bekräftigen oder einfach nur gegenwärtig zu sein. Dies steht im Gegensatz zu Mieke Bals stummem Objekt1, das an einem Diskurs zwischen KuratorInnen und BetrachterInnen beteiligt ist (Mieke Bal 2002, 36). Statt einer illustrativen Funktion hat das Objekt immer Handlungsmacht. Ein/-e menschliche/-r AgentIn hat das Objekt zwar in dessen Position gebracht, aber das expositorische Potenzial liegt in der Fähigkeit und im Handlungsspielraum des Objekts. Es kann Beziehungen im Raum herstellen und beeinflussen, wie andere AgentInnen sich um das Objekt bewegen oder in Beziehung miteinander gesetzt werden, indem es betrachtet, in Relation gesetzt, davor, daneben oder dahinter platziert wird.
2. Displays und White Cubes In diesem Text widme ich nun die Aufmerksamkeit einem Teil dieser Objektebene: dem Display. Zuerst möchte ich klären, wie der Begriff Display in diesem Text zu verstehen ist und von welchem Konzept des Displays er sich abhebt. Julie Ault analysiert den Begriff und die Ge1 „Ein Akteur oder Subjekt stellt ‚Dinge‘ aus, und dadurch wird eine Subjekt-/Objekt-Dichotomie geschaffen. Diese Dichotomie ermöglicht es dem Subjekt, eine Aussage über das Objekt zu machen. Das Objekt ist da, um die Aussage zu erhärten. […] Wie in allen Diskursen […] verhält es sich auch bei Expositionen so, daß eine ‚erste Person‘ (der Ausstellende oder der Kurator) einer ‚zweiten Person‘ (dem Besucher) etwas über die ‚dritte Person‘ sagt, nämlich über das ausgestellte Objekt, das nicht am Gespräch beteiligt ist. Aber anders als bei vielen sonstigen konstativen Sprechakten ist das Objekt hier zwar stumm, aber immerhin gegenwärtig.“ (Mieke Bal 2002, 36).
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schichte des Displays in ihrem Text In großen Abständen und auf Augenhöhe (Julie Ault 2003: 143 ff.) im Detail. Dabei bezieht sie sich auf die Abhandlung von Mary Anne Stanizewski, deren Publikation The Power of Display bis heute eine der wenigen ist, die sich ausschließlich mit dem Display und dessen Entwicklung, Funktionen und Auswirkungen in der Ausstellungspraxis eingehend beschäftigt. Interessant an Stanizewskis Untersuchung ist, dass sie „Installationsdesign eher als Medium denn als Beiwerk“ auffasst (Julie Ault 2003, 143). Stanizewski führt weiter aus, dass Alfred Barr, der erste Direktor des MoMA in New York, in den frühen 30er Jahren im Zuge seiner Ausstellungstätigkeit das Display für moderne Kunst vollends neu überdachte. Zuvor wurden Kunstwerke historisch und dicht aneinandergereiht präsentiert und hoch über den BetrachterInnen installiert. Alfred Barr war es, der versuchte, mit einem neuen Installationsansatz den Ausstellungsraum zu neutralisieren und einfacher lesbar zu machen, indem die Kunstwerke mit Abständen einzeln nebeneinander und knapp unter Augenhöhe gehängt wurden. Er beabsichtigte, die BetrachterInnen als Individuen im Raum zu behandeln, denn durch dieses Prinzip sollte es den BetrachterInnen möglich sein, sich einzeln mit den Werken auseinanderzusetzen. Was nun bemerkenswert ist, auch das merkt Julie Ault an, ist, dass sich dieses modernistische Prinzip als Ausstellungs- und Musemsstandard etabliert hat und bis heute standhält. Durch die Standardisierung des modernistischen Displays im Museum wurde wiederum ein statisches Präsentationsprinzip geschaffen, das keinerlei Betrachtungsdynamiken und Raum für Austausch zulässt. Das modernistische Display, das zum Ziel hatte, die BetrachterInnen miteinzubinden, um eigene Betrachtungsverhältnisse zum Kunstwerk zu erproben, wurde im Zuge der Standardisierung wieder unflexibel und starr. Das erstarrte Display präsentierte das Kunstwerk in jener sakralen Weise, die wir heute als den White Cube kennen, und erzeugte einen Zustand, von dem sich das modernistische Display in den Anfängen eigentlich abwenden wollte. Die Konsequenz für die gegenwärtige „ausstellende Institution – sei es eine Galerie, eine Kunsthalle oder ein Museum“ ist, dass sie durch die Verwendung dieser Standardisierung des Displays „als Beurteilungsinstanz für künstlerisches Können“ gilt (Julie Ault 2003, 149) und keinen Austausch zwischen den an der Ausstellung beteiligten AgentInnen zulässt. Dieser kurze Exkurs verdeutlicht, welche Displaykonventionen vorherrschen, die wir als BetrachterInnen in der Ausstellung als gegeben, normal und neutral empfinden. Dass das Display aber alles andere als neutral ist, dass es eine starke Handlungsmacht in der Produktion der Ausstellung besitzt und dass es durchaus künstlerische und kuratorische Strategien gibt, die das modernistische Display kritisch infrage stellen und versuchen neue Prinzipien zu entwickeln, möchte ich im folgenden Abschnitt darstellen.
3. Zwischen Licht und Schatten: Leuchtstoffröhren Als Analysebeispiel dient das Ausstellungsprojekt Projects and Assignments, das von Oktober 2010 bis April 2011 im Saprophyt, Raum zur Realisierung künstlerischer Projekte und Interventionen stattgefunden hat. Benannt nach einer nichtparasitären Pilzart, die sich von totem organischen Material ernährt, war Saprophyt ein hundert Quadratmeter großer Projektraum im 1. Stock eines Neubaus in Wien, der eine neue Struktur als Experiment vorschlug. Die Auflage aller Ausstellungen war es, dass die Werke nach dem Ausstellungsende im Raum verblieben. Somit gab es, so die Künstlerin Barbara Kapusta und der Künstler Stephan Lugbauer, die das Projekt 2008 zu-
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sammen initiierten, keinen White Cube, keine Tabula rasa am Anfang und am Ende einer Ausstellung. Diese Vorgehensweise wirft die grundsätzliche Frage auf, an welchem Punkt eine Ausstellung beginnt und an welchem sie endet, und betont dadurch ihren ephemeren Charakter. Andrew Berardini, Kunstkritiker, Autor und Kurator aus Los Angeles, schlug für Saprophyt in der Rolle des Kurators das Ausstellungsprojekt Projects and Assignments vor, das inspiriert war von David Askevolds Projects Class am Nova Scotia College of Art and Design, 1969 in Kanada. Askevold lud KünstlerInnen ein, Ideen einzubringen, die von den Studierenden seiner Klasse umgesetzt wurden. In Wien jedoch sollte dieses Projekt nicht wiederholt, nicht das Format einer Klasse reinstalliert werden, sondern es sollte “aū gesture to think about art and ex change in a way that depends less on money and more on possibilities” (Berardini, Andrew aus: Barbara Kapusta, Stephan Lugbauer 2010/11: 9) geschaffen werden. Dazu lud Berardini sechs in den USA lebende KünstlerInnen ein, Aufgaben oder Anweisungen (“Assignments”) vorzuschlagen, die wiederum von KünstlerInnen in Wien über einen Open Call im Raum von Saprophyt umgesetzt wurden. Liz Glynn, Scoli Acosta, Anton Vidokle, Natascha Sadr Haghighian, Robert Barry und John Baldessari stellten Assignments für Can Gülcü & Roberta Lima, Christian Egger, Jakob Lena Knebl, Noële Ody, Josip Novosel und Nathalie Koger zur Verfügung. Daraus resultierten sechs hintereinanderfolgende Ausstellungsprojekte, in denen jede vorhergehende Position neue Bedingungen für die nächste Künstlerin bzw. den nächsten Künstler schuf. Durch das Konzept, das Barbara Kapusta und Stephan Lugbauer vorschlugen, eröffnete sich eine Sichtweise auf den Raum, in dem im Vergleich zum musealen und institutionellen Kontext andere Rahmenbedingungen hergestellt und erprobt werden konnten: KünstlerInnen sowie KuratorInnen waren hier explizit nicht die dominierenden AgentInnen im Prozess des Ausstellens; die einzelnen Positionen und Rollen trafen sich vielmehr auf einer gemeinsamen Ebene: Dinge werden zu Aktanten, die in einer dynamischen Beziehung zueinander stehen und sich gegenseitig beeinflussen. Die teilnehmenden KünstlerInnen, KuratorInnen, TheoretikerInnen, BetrachterInnen, aber eben auch Raum, Architektur, Objekte, Dinge, Licht und Display, waren zu gleichen Teilen AgentInnen und AktantInnen, deren Handlungsfelder sich ständig überschnitten. (Miriam Kathrein 2011, 213 ff.) In den Vordergrund tritt das expositorische Handeln sowohl der KünstlerInnen, KuratorInnen, BetrachterInnen, aber ganz besonders der Objekte und der Strukturen, die der Ausstellung erlauben, öffentlich zu werden – wie das Display. Gerade am Display lassen sich auch die Konditionen der Ausstellung und der Produktionsprozesse und Bedingungen ablesen. Vonseiten der Saprophyt-BetreiberInnen wurden einzig und allein der Raum, ein kleines Produktionsbudget und ausgewählte Kommunikationskanäle wie eine Website, ein einfaches Plakat und eine Mappe mit Texten der Website und Biografien der KünstlerInnen zur Verfügung gestellt. Das Plakat kündigte nur den Beginn des jeweiligen Ausstellungsteils an, jedoch nicht das Ende – eine intendierte “open-endedness”, die mehr Raum für notwendige prozessuale Herangehensweisen schaffen sollte. Von Andrew Berardini kamen die durch ihn organisierten Assignments hinzu. In einen leeren Raum verwiesen, begannen nun die KünstlerInnen sich mit den Assignments auseinanderzusetzen und sie zu produzieren. Die Leerheit des Raums und die begrenzten finanziellen Mittel zwangen die KünstlerInnen, sich genau zu überlegen, welche Objekte produziert werden konnten und welche Materialien notwendig waren, um die Aufgaben und deren Ergebnisse „öffentlich“ machen zu können. So waren sie auf die Frage zurückgeworfen, was erforderlich war, um ihre künstleri-
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sche Artikulation sichtbar zu machen. Besonders klar wurde das bei der Installation von Noële Ody, dem vierten Assignment, mit dem die Künstlerin auf die von Natascha Sadr Haghighians gestellte Aufgabe reagierte: “create a shadow using a slideprojector a rocking chair a newspaper” Im Raum zu sehen waren die in Buchenholz gerahmten, auf DIN-A4-Papier gedruckten Aufgaben und die aus den drei vorhergehenden Ausstellungen verbliebenen Materialien; etwa eine Konstruktion aus Holzlatten, die aussah wie ein Keilrahmen ohne Leinwand, schwarz gestrichen und an die Wand gelehnt. Eine weiße, bespannte Leinwand, die gleich beim Eingang platziert war, versuchte, wie es schien, das angesammelte Material zu verdecken und den Blick darauf zu verstellen. Rote, zerschnittene Papierstücke an der Wand, schwarze Scheinwerfer und rote Schreibtischlampen waren von den vorhergehenden Ausstellungsteilen übrig geblieben. Die Künstlerin hatte zusätzlich einen Diaprojektor auf dem Boden aufgestellt, der ein Bild eines Schaukelstuhls fast bodennah auf die Wand projizierte.
Abb. 1: Projects and Assignments (Jakob Lena Knebl, Anton Vidokle) Bild: Jakob Lena Knebl, Freundschaftsrituale, Installation view, 2010
Das Maßgeblichste aber war das Hinzufügen von Neonleuchtröhren an der Decke des gesamten Raums.
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Abb. 2: Projects and Assignments (Noële Ody, Natascha Sadr Haghighian) Bild: Noële Ody, ohne Titel (Saprophyt), Detail of light installation, 2011
Zuvor gab es als einziges Leuchtmittel nur die schwarzen Spots und die von der Künstlerin Jakob Lena Knebl eingebrachten roten Schreibtischlampen.
Abb. 3: Projects and Assignments (Noële Ody, Natascha Sadr Haghighian) Bild: Noële Ody, ohne Titel (Saprophyt), Installation view, 2011
Für Noële Ody aber war das Schaffen einer Lichtsituation, ähnlich einer Galeriebeleuchtung, eine notwendige Kondition der Ausstellung. Einerseits war es diese Lichtsituation, die eine professionelle institutionelle Atmosphäre schaffen sollte, in der der Raum auch dann noch verwendet werden konnte, wenn das Tageslicht nicht mehr ausreichte. Andererseits wurde das Ergebnis ihrer künstlerischen Produktion so sichtbar. In einem bestimmten Zeitrhythmus schaltete sich das gesamte Licht aus und nur die Projektion des Schaukelstuhls war noch sichtbar, bevor der ganze Raum dann wieder erhellt wurde. Die Leuchtstoffröhren erfüllten also eine wesentliche Rolle als Display. Zuerst einmal machte das Licht den gesamten Raum als eine Einheit sichtbar – nicht wie zuvor die Spots, die nur einzelne Punkte im Raum akzentuierten. Auch im ausgeschalteten Zustand erlaubten die Leuchtstoffröhren, das erkennbar zu machen, was die Künstlerin in ihrem expositorischen Handeln öffentlich machen wollte: In der Dunkelheit warf nur die Projektion des Schaukelstuhls Licht auf
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die Wand und auf die BetrachterInnen und erzeugte dadurch den von Natascha Sadr Haghighian gewünschten Schatten, der von der Schwärze des Raums sogleich verschluckt wurde.
Abb. 4: Projects and Assignments (Noële Ody, Natascha Sadr Haghighian) Bild: Noële Ody, ohne Titel (Saprophyt), Light of projector during the 60 seconds darkness, 2011
In einem Gespräch (in New York 2010) mit TeilnehmerInnen des Forschungsprojekts von Aaron Levy und William Menking zu Beziehungen von Architektur, Display und BetrachterInnen bzw. Öffentlichkeit meinte Martin Beck: “Display is a condition of being on view, as well as a method of presenting things to be viewed.” (Aaron Levy, William Menking 2012, 59) In diesem Zusammenhang ist das Licht in Noële Odys Installation die Bedingung dafür, dass überhaupt erst etwas ausgestellt ist und gesehen werden kann, aber auch Bedingung dafür, wie es gesehen werden kann. Die mehrfache Funktion des Lichts als Kunstobjekt, Teil einer künstlerischen Installation und des Displays macht deutlich, wie das Display in diesem Fall in zweifacher Weise expositorisch ist. Zum einen ist es der expositorische Gestus der Künstlerin, öffentlich zu machen, welches ihre Ansichten zur Institution sind, wie eine Institution auszusehen hat und welche idealen Bedingungen vorherrschen müssen, um ausstellen zu können. Zum anderen erfüllt das Display die Aufgabenstellung von Natascha Sadr Haghighian und macht Odys Interpretation der Aufgabe sichtbar. Die Leuchtstoffröhren beginnen ein expositorisches Potenzial zu entwickeln, indem das Licht die Dinge erleuchtet. Die Leuchtstoffröhren legen fest, wann Dinge zu sehen sind; in ihrer Abwesenheit weisen sie auf das hin, was das “assignment” zu produzieren vorschlug – den Schatten. Die Leuchtstoffröhre gibt darüber hinaus den BetrachterInnen vor, was zu sehen ist und was nicht, wie der Raum und die Objekte darin, die AgentInnen, die an der räumlichen Situation beteiligt sind, wahrgenommen werden. Die Anwesenheit und Abwesenheit des Lichts bestimmen, wie sich die BetrachterInnen durch den Raum bewegen können, und lenken den Fokus durch die Abwesenheit direkt auf die Projektion des Schaukelstuhls. Es ist ein gelenktes, bestimmtes Sehen, in das sich die BetrachterInnen einlassen müssen, sobald sie den Ausstellungsraum betreten.
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Abb. 5: Projects and Assignments (Noële Ody, Natascha Sadr Haghighian) Bild: Noële Ody, ohne Titel (Saprophyt), Detail of Diaprojector, 2011
4. Repräsentationen: von (bekleideten) Wänden In der fünften Ausstellungseinheit brachte Josip Novosel ein weiteres Element in den Raum hinein. Dieses war leichter als ein übliches Display zu erkennen, das im zuvor besprochenen modernistischen Museums- und Ausstellungskontext verwendet wird – eine frei stehende Wand aus einer Sperrholzplatte, die ca. 3 m lang und 2 m hoch war. Auf der Vorderseite der Platte waren Kleidungsstücke drapiert, die – gerahmt durch einen roten Samtstoff in der Form eines Bühnenvorhangs – stellvertretend auf die PerformerInnen verwiesen, die sich der Vorgabe von Robert Barry’s Assignment2 zufolge im Raum befinden sollten (Miriam Kathrein 2011, 213 ff.).
Abb. 6: Projects and Assignments (Josip Novosel, Robert Barry) Bild: Josip Novosel, Das ist alles, Installation view, 2011 2 “I would suggest placing the Performance at a small table somewhere in the ‛middle’ with a microphone and some small speakers placed around somewhere in the space. I thought I already mentioned that the Performers can change when they get tired. But there should be only one at a time. Use as many as you need to fill the time. Attached is a script for an old Performance, MEANWHILE; 1977. One word every 20 seconds, continuous until the end of the exhibit.” (Robert Barry)
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Hinter der Wand versammelte er alle bis dahin angehäuften Materialien, Objekte und Kunstwerke und schob die Wand so weit in ein Eck des Raums, dass beim Betreten ein fast leerer Raum und eine dominierende Wandinstallation sichtbar waren.
Abb. 7: Projects and Assignments (Josip Novosel, Robert Barry) Bild: Josip Novosel, Das ist alles, Installation view, 2011
Nathalie Koger, die Künstlerin des sechsten und letzten Ausstellungsteils mit einem Assignment von John Baldessari3, verwendete diese Wand noch einmal und behielt die Idee bei, das Material hinter der Wand zu verstauen. Sie rückte die Objekte dahinter noch weiter zusammen und erlaubte damit mehr Patz für die BesucherInnen, sich um die Wand herum zu bewegen, das Materiallager genau betrachten zu können und eine Videoarbeit an der dahinterliegenden Wand zu zeigen. Die Vorderseite war grün gestrichen und diente als Hintergrund für den Wohnungspflanzenbestand von Barbara Kapusta und Stephan Lugbauer. An den Wänden rund um die grüne Wand waren Arbeiten der von Koger eingeladenen KünstlerInnen zu sehen, die sich mit Pflanzen und Natur in der Kunst auseinandersetzten.
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“Assignment 5: How can plants be used in art. Problem becomes how can we really get people to look freshly at plants as if they’ve never noticed them before. A few possibilities: 1. Arrange them alphabetically like books on a shelf; 2. Plant them like popsicle trees (as in child art) perpendicular to line of hill; 3. Include object among plants that is camouflaged; 4. Color a palmtree pink; 5. Photo found growing arrangements 6. Or a movie on how to plant a plant.” John Baldessari, Assignments, Cal-Arts – California Institute of the Arts 1970. Das Assignment von John Baldessari wurde noch einmal von Andrew Berardini in Absprache mit dem Künstler für Projects and Assignments, Saprophyt Wien, aufgegriffen.
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Abb. 8: Projects and Assignments (Nathalie Koger, John Baldessari) Bild: Nathalie Koger, Blind Date with Baldessari, Installation view, 2011
Das dominierende Objekt, die Wand, hatte sowohl bei Josip Novosel als auch bei Nathalie Koger Displayfunktionen auf mehreren Ebenen. Zuerst einmal bot die Wand Platz, um das von Josip Novosel und Nathalie Koger geschaffene Kunstwerk bzw. die Kunstinstallation sichtbar zu machen, ihr eine Plattform zu geben, die sie im Raum hervorhob. Des Weiteren hatte die Wand ein raumstrukturierendes Potenzial, das den Ausstellungsraum in Betrachtungszonen mit verschiedenen Aufmerksamkeitsökonomien aufteilte. Somit lenkte die Wand den Fokus im Raum auf sich selbst und die damit verbundenen und gezeigten Arbeiten. Aber sie brachte die BetrachterInnen dazu, sich um die Wand herum zu bewegen, dahinterzublicken, das Materiallager zu sehen und zu entscheiden, welcher Teil und welche Objekte als Kunstwerk wahrgenommen werden sollten. Die Bewegung um die Wand herum erlaubte den BetrachterInnen, besonders bei Kogers Installation, den Raum als zusammenhängende Ausstellung zu sehen und zu erkunden. Die Wand bot eine Orientierungshilfe an, wie man sich im Raum bewegen sollte. Gleichzeitig stellte die Wand eine Orientierung auf einer zusätzlichen Ebene bereit: Sie war zu einem wiedererkennbaren Element des Ausstellungsraums geworden, etwas, das man bei mehrmaligem Besuch identifizieren konnte als eine bestehende Struktur des Raums, in dem sich eigentlich alles in (Ver-)Änderung befand. Genauso wie die Leuchtstoffröhren an eine Galeriebeleuchtung erinnerten oder an die gleichmäßig ausgeleuchteten Räume eines White Cubes4, konnten die BetrachterInnen die Wand als ein typisches Display und Ausstellungselement begreifen, das aus dem museal-modernistischen Kontext erkannt wurde. Denn ohne die Leuchtstoffröhre bot der Raum mit seiner rohen, unausgebauten Neubauwohnungsästhetik wenig Möglichkeit, als typischer Ausstellungsraum wiedererkennbar zu sein. Das hinzugefügte Element der Wand und die Lichter hingegen versuchten, eine institutionelle Atmosphäre herzustellen, diese aber auch gleich kritisch infrage zu stellen. Bei Noële Ody zeigte sich die kritische Distanz, indem der nun gleichmäßig ausgeleuchtete Raum im Minutentakt zur Dunkelheit wechselte und das Betrachten der Kunstinstallation in 4 Der White Cube wurde zu einer Idealvorstellung eines Raums zur Präsentation von Kunst, die Brian O’ Doherty in seinen Essays und der Analyse “Inside the White Cube – The Ideology of the Gallery Space” bereits 1976 hinterfragte.
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seiner Gesamtheit im Raum verunmöglichte, da nur ein kleiner Teil, das projizierte Dia des Schaukelstuhls, zu sehen war. Die Wand bei Josip Novosel wiederum präsentierte und rahmte das Kunstwerk an der Vorderseite, das von den BetrachterInnen wahrgenommen werden sollte, aber sie ließ gleichzeitig den Blick dahinter zu, auf das Materiallager, das den Prozess der Ausstellungen und die Herstellung der Ausstellungsreihe abbildete. Diese Möglichkeit, zu sehen, wie eine Ausstellung entsteht, welcher Arbeitsprozess dahinter steckt, wird im musealen Kontext so weit wie möglich unmerklich gemacht. Denn es widerspricht dem modernistischen Displayprinzip und der Ideologie des White Cubes, wonach das Kunstwerk allein im Raum anwesend sein muss – in einem „neutralisierten“ Raum –, der keine Ablenkung bei der Betrachtung des Kunstobjekts zulässt und dadurch eine künstliche Erhöhung des Kunstwerks schafft. In Project and Assignments wurden so die von den KünstlerInnen gewählten und benötigten oder kritisierten Konditionen des Ausstellens verhandelt. Das Display entwickelte das Potenzial, Orientierungsmomente für die BetrachterInnen herzustellen. Es machte den von den KünstlerInnen intendierten Fokus auf die Kunstwerke sichtbar, lenkte die Aufmerksamkeit bewusst auf die Installationen, die öffentlich gemacht werden sollten, und stellte gleichzeitig Relationen zum Produktionsprozess und zur Raumarchitektur her, also zur Art und Weise, wie die BetrachterInnen sich in diesem Raum bewegten und ihn erfassten. Gleichzeitig verwiesen die Displayelemente auf die Konditionen des Ausstellungsraums, was hinzugefügt werden musste, um die Kunstwerke präsentieren zu können und den Raum auch als Ausstellungsraum bzw. als institutionellen Rahmen für Kunstproduktion erkennen zu können.
5. Das Display im relationalen Raum Für Barbara Kapusta und Stephan Lugbauer war das Zur-Verfügung-Stellen von Saprophyt für Projects and Assignments eine künstlerische Handlung, die Rahmenbedingungen für KünstlerInnen und Kunstproduktion herstellte. Dabei ging es nicht um die Frage der Position einzelner AgentInnen in dieser Struktur, sondern um die Relationen, die zwischen Raum, KünstlerInnen, KulturproduzentInnen, TheoretikerInnen, Objekten, Institutionen, Displays und BetrachterInnen etabliert werden konnten. So sahen Barbara Kapusta und Stephan Lugbauer den von Celine Condorelli und Gavin Wade geprägten Begriff Support Structure als künstlerische Praxis. Diese führte dazu, die viel diskutierten Hierarchien5 in der Ausstellung als neben5
Gerade in den 1990er Jahren wurde der Konflikt der auktorialen Position des/-r Kurator/-in besonders stark diskutiert. Kritisiert wurde vor allem, dass in der aufkommenden Tendenz der Starkuratoren die Ausstellung als Kunstwerk kommuniziert wurde, die die/der KuratorIn als AutorIn geschaffen hatte und KünstlerInnen und deren Kunstwerke dabei als reine Illustration der kuratorischen Ausstellungskonzepte dienten. Beatrice von Bismarck weist in ihrem Text The Exhibition as Collective darauf hin, dass diese polarisierende Debatte vom eigentlichen Potenzial der Ausstellung ablenkt: “Exhibitions have evolved from a tool, medium, and pedagogical form employed to make art and culture public to become autonomous works of their own.[…] This shift is the essential foundation in the controversies between artists and curators concerning claims to subjectivization, the power to create meaning, and the social privileges of authorship but also the creative aspetcs of creating exhibitions. The intensity of this debate, especially over the last ten years threatens to overshadow the discussion of exhibitions and their qualities, functions, and potential. Emotionalized professional alliances and naturalized attributions of tasks, roles, and positions result from such suppression and ultimately block of the prospect of the social significance of exhibitions.” (Beatrice von Bismarck 2012, 290)
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sächlich zu betrachten und einen Raum zu ermöglichen, in dem ein gleichzeitig stattfindender Austausch zwischen den AgentInnen vorherrschte, der die Ausstellung produziert: “A structure of support is a reflexive, performative system – while the structural exists on the level of syntax and grammar, support works on the mode and the operational, both together beyond redemption or a charitable endeavour in a process which, by preceding representation, and working behind appearance, opens-up complex possibilities for multiple, simultaneous authorships.”. (Celine Condorelli 2009, 29) Als wesentlicher Teil der Support Structure ist das Display zu sehen, das, wie weiter oben beschrieben, den Raum strukturiert und vorgibt, wie wahrgenommen wird, wie Orientierung stattfindet und Bedingungen schafft, dass und wie präsentiert und öffentlich gemacht werden kann. Barbara Kapusta und Stephan Lugbauer stellten für das Display nicht nur das Material zur Verfügung, um die künstlerische Produktion zu tragen, sondern unterstützten das Zustandekommen von Situationen der Präsentation und des Austauschs zwischen Kunstobjekten und Betrachtung. “Structures are not the shape of things, but the underlying principles behind how things appear, as if they resided behind a curtain. A structure displays.” (Celine Condorelli 2009: 298) Durch absichtlich flexible Strukturen ließen Kapusta und Lugbauer zu, dass in den Raum Saprophyt weitere materielle und soziale Strukturen eingebracht wurden, indem die eingeladenen KünstlerInnen das einfügten, was sie selbst für notwendig erachteten. Das sich ständig verändernde, wachsende und schlussendlich wiederholende Display zeichnete diese institutionellen Strukturen nach und machte so die Handlungsfelder der beteiligten AgentInnen sichtbar, die in der „Ausstellung als Praxis“ vorkommen. In der „Ausstellung als Praxis“ nämlich sind Handlungsfelder ständig in Bewegung und verschieben sich zueinander. In dieser Bewegung entstehen Überschneidungen und Überlappungen, kollaborative und kollektive sowie soziale Prozesse, die gleichzeitig stattfinden, wenn auch verschieden deutlich, und führen zu einer Verdichtung von Handlungsfeldern der AgentInnen, die an der Herstellung von Ausstellung beteiligt sind. Die „Ausstellung als Praxis“ bedeutet also eine Produktion von sozialem Raum, der durch die Verdichtung der Handlungsfelder und die Beziehung zwischen AgentInnen auch die Objektebene – u. a. das Display – miteinbezieht. Das Display als reines Trägermaterial zu sehen, greift zu kurz. Eyal Weizman meint dazu, dass “[…] a very precise presentation of a very precise object and the way it is mobilized in a situation is what can organise the entire sociopolitical relations and sociopolitical language in a particular situation. I am very much in tune with and very interested in the power of objects to articulate claims or to participate in a situation beyond being a passive thing without agency.” (Beatrice von Bismarck 2012, 89)
6. Conclusio Es ist wichtig, das Display als eine/-n AgentIn mit Handlungspotenzial zu sehen, der/die Relationen auf einer räumlichen, inhaltlichen und soziopolitischen Ebene zwischen den anderen an der Ausstellung beteiligten AgentInnen herstellen kann. Das Display verfügt über das Potenzial, neue Bedeutungen zuschreiben zu können, die Konventionen der Ausstellungspraxis sichtbar zu machen und in der expositorischen Handlung diese kritisch zu hinterfragen. Für die „Ausstellung als Praxis“ bedeutet dies die Möglichkeit, die Konditionen zu verhandeln, die notwendig sind für eine Kunstproduktion, die sich von einem reinen statischen Präsentations-
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charakter und streng musealen, didaktischen Strategien ablösen. Diese Ablösung ermöglicht, dass Kunsträume zu Orten für Experiment, Forschung und vor allem für Austausch zwischen den an der Ausstellung beteiligten AgentInnen werden.
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Antje Lehn
Spielräume schulischer Displays Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/633
Abstract Antje Lehn zeigt in ihrem Beitrag, wie durch einen erweiterten Display-Begriff in der Schulklasse durch konkrete Projekte Frontalunterricht unterwandert und das Klassenzimmer zu einem ergebnisoffenen Handlungsraum umgestaltet werden kann. Sie betont dabei erneut die Plausibilität einer handlungsorientierten Medienpädagogik. Insofern können auch Decken, Spiegel, Tische und Spinde als praxeologische Displays begriffen werden. Denn wenn Bilder an die Decke projiziert, Fenster zu Rahmen und Tische zu Tafeln werden, schafft diese spielerische Erweiterung schulischer Displays durch das explorative räumliche Lernen einen ergebnisoffen Handlungsraum der Ästhetik und in der Folge auch der Medienpädagogik. Margins of Displays in Schools. In her contribution, Antje Lehn shows how a broadened concept of the display in the classroom within concrete projects serves to undercut a chalk-and-talk teaching style, and to turn the classroom into an open-ended field of action, again stressing the plausibility of an action-oriented media education. In this sense, ceilings, mirrors, tables and lockers can be understood as praxeological displays. When images are projected onto the ceiling, windows become frames and tables turn into blackboards, this playful expansion of school displays creates an open-ended field of action of aesthetics and thus also of media education through explorative spatial learning.
1. Einleitung „12.000 bis 15.000 Stunden unseres Lebens verbringen wir in Schulräumen. Für LehrerInnen kommt dazu noch ein ganzes Berufsleben. Warum bringen wir den Klassenzimmern nicht das Fliegen bei und suchen uns neue Räume zum Lernen und Lehren? Raum als Werkstatt, als Bühne, als Dorfplatz, als ,dritter Pädagoge‛.“ Zitat Ausstellungstext Fliegende Klassenzimmer In der Stadt begegnet einem der Andere grundsätzlich als ein Fremder, als eine Erscheinung, die nicht sofort einzuordnen ist, sondern erst wie ein Bild gelesen werden muss, um Spuren der Identität oder Geschichte zu erkennen. Die Dichte der Information, die in der Stadt gelesen werden kann, um die Wahrnehmung in ihrer Gesamtbedeutung,
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die sich erst durch die Zusammenhänge erschliesst, bedarf einer Analyse der Zeichen. Dies sind die Bedingungen, die die Existenz des Flaneurs möglich und notwendig machen, denn nun wird jemand in Bewegung verlangt, sich die Stadt zu Fuß zu erschliessen, um ihren Zeichen zu folgen und sie zu lesen. Manfred Russo, Die Strasse, Urbane Morphologie, Derive Nr. 50 Das Klassenzimmer ist in den meisten Schulen in Österreich ein stark reglementierter Raum, dessen Proportion und Einrichtung institutionell vorgegeben sind. Die in den Schulbaurichtlinien festgeschriebene Fläche des Klassenzimmers von 9m x 7m (vgl. Kühn 2011) leitet sich von historischen Rahmenbedingungen ab, die heute längst nicht mehr gelten. Statt 60 Kindern und einer Lehrperson wie im 19. Jahrhundert, befinden sich heute 25–30 Kinder und manchmal bis zu 3 Lehrpersonen im Raum. Statt Frontalunterricht für alle finden Projektunterricht und selbstständiges Lernen – alleine oder in kleineren Gruppen – statt. Obwohl seine Funktionalität angezweifelt wird, prägt der standardisierte, frontal ausgerichtete Schulraum immer noch den Alltag vieler Lernender und Lehrender. Im folgenden Text will ich anhand einiger Beispiele der Frage nachgehen, wie man durch handlungsorientierte architektonische Interventionen Freiräume schaffen kann, um mit diesen stark reglementierten räumlichen Gegebenheiten in der Schule anders umzugehen.
2. Von fliegenden Klassenzimmern In der Ausstellung Fliegende Klassenzimmer (vgl. Lehn/Stuefer 2011) machten Renate Stuefer und ich als Kuratorinnen verfremdete Schulmöbel zum Gestaltungsprinzip, um einen anderen Blick auf Schule zu generieren. Ausgemusterte Schulmöbel mit Gebrauchsspuren wurden verdreht, gestapelt, auf Räder montiert, beklebt, beschriftet und so zu Trägern der Ausstellungsinhalte. Bei SchülerInnen, die die Ausstellung besuchten, stellte sich zunächst Verunsicherung, dann ein humorvolles Wiedererkennen ein. Die angebotenen Kaugummis wurden gekaut, Tischflächen und Wände beschriftet, Stühle und Tische gekippelt und durch den Raum gerollt. Die Ausstellung konnte mit einer rauen Oberfläche eine Verbindung zu den SchülerInnen herstellen und sie so einladen, auf dieser unfertigen Oberfläche die Antwort auf die Frage nach einer anderen Schule aus ihrer Perspektive weiterzuschreiben.
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Abb. 1: Fliegende Klassenzimmer im kunsthaus muerz Bild: Johanna Reiner, 2009
Den Klassenraum, den Schulraum und das Schulumfeld aus Perspektive der SchülerInnen zu vermessen, ist das Ziel der – im erweiterten Sinne – kartografischen Projekte, von denen im Folgenden berichtet werden soll. Diese Arbeiten zielen unter dem Begriff „Vermessung unsichtbarer Räume“ darauf ab, SchülerInnen selbst zu ermächtigen, den Schulraum und seine verdeckten Agenden und auch seine Krisen kritisch zu hinterfragen. Zunächst analysieren SchülerInnen als ExpertInnen ihres Umfeldes physische, institutionelle und soziale Räume der Schule. Im nächsten Schritt wird angeregt, sich mit künstlerischen Mitteln zu positionieren und eigene Darstellungsformate für Raumqualitäten und Atmosphären zu entwickeln. Auf Basis dieser Recherche entwickeln die SchülerInnen mit der Unterstützung von KünstlerInnen und/oder ArchitektInnen raumgreifende Installationen im Maßstab 1:1. Durch das emanzipierte oder auch gegenkulturelle Handeln als AkteurInnen wird Aneignung von (Schul-)Raum möglich und Reproduktionsmechanismen räumlicher Handlungsmuster werden sichtbar (vgl. Löw 2001). Es stellt sich nun die Frage nach einem Display, das diese Sichtbarmachung unterstützt und die Erfahrung der handelnden Auseinandersetzung mit dem Raum abbildet und an die Institution Schule zurückspielt.
3. Die Tafel als Display Als wichtigstes Display für den (frontalen) Unterricht gilt in Europa seit dem 19. Jahrhundert die Tafel. Die dunkelgrünen oder schwarzen an der Wand befestigten Holzplatten befinden sich meistens an der Stirnseite des Raumes. Ihre Oberfläche ist mit Kunststoff, Glas oder emailliertem Stahl beschichtet und wird traditionell mit Kreide beschrieben. Zusätzlich gibt es seit etwa 50 Jahren die Projektionsmöglichkeit mit Tageslichtprojektoren. Neuere Displaytechnologien wie Beamer gehören bereits immer häufiger zur Standardeinrichtung, während beispielsweise interaktive Whiteboards (eine Mischung aus analogen und digitalen Medien) aus Kostengründen bisher nur in wenigen Schulen angeboten werden. In vielen Klassenzimmern werden auch die Wände, Fenster oder quer durch den Raum gespannte Schnüre zur Ausstellung von Materialien oder SchülerInnenarbeiten verwendet. Schulische Displays werden im Wesentlichen von den Lehrpersonen kontrolliert, zum Zeigen von Lehrinhalten und zum Abfragen von SchülerInnenwissen genutzt.
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Im Klassenzimmer vorhandene Displayelemente wie Tafel, Overheadprojektor, Beamer oder Pinnwände können den SchülerInnen leicht als Werkzeuge aufgeschlossen werden. Raum oberflächen und Schulmöbel dagegen sind als Displays meistens tabu – gerade diese werden aber von SchülerInnen gerne als alternative Kommunikationsplattformen zur Abbildung von Langeweile, Liebeskummer oder Kritik an der Schule verwendet. Zur Erweiterung des Handlungsfeldes habe ich im Rahmen verschiedener Kooperationen (Ausstellung Fliegende Klassenzimmer und Schulprojekte) Oberflächen wie Decken, Wände, Böden, Türen, Möbel, Spiegel, Fenster und Spinde jenseits der gewohnten Blickregime als Displays erschlossen, um die in Schulen beliebte Stellwandkultur zur Domestizierung von Schülerkunst zu vermeiden. Durch Verfremdung und untypische Verwendung banaler Gegenstände des Schulalltags entsteht Irritation, die aufmerksam macht auf das vonseiten der SchülerInnen eröffnete Gestaltungsfeld. Das verfremdete schultypische Display eröffnet einen ergebnisoffenen Rahmen, der einer institutionskritischen Raumvermessung auch in Zukunft als Hintergrund dienen kann.
Abb. 2: Fliegende Klassenzimmer im kunsthaus muerz Bild: Johanna Reiner, 2009
4. Unsichtbare Räume Die Methode der Vermessung unsichtbarer Räume setze ich unter anderem im Rahmen von Lehrveranstaltungen der Kunst- und Kulturpädagogik um, die ich seit einigen Jahren am Institut für das künstlerische Lehramt an der Akademie der bildenden Künste Wien gemeinsam mit Anna Pritz abhalte. Das Projekt findet mit wechselnden thematischen Schwerpunkten, eingebettet in vier bis sechs Unterrichtsblöcken, im Fach Bildnerische Erziehung (BE) in der Unterstufe eines Wiener Gymnasiums statt. Vermittlungsstrategien werden in einer Art Kaskade von uns Lehrenden an die Studierenden und von den Studierenden an Gruppen von sechs bis acht SchülerInnen im Unterricht weitergegeben. Unter dem Titel Schattenräume entwickelten 14-jährige SchülerInnen eine kurze Geschichte, die pantomimisch in ein Schattentheater übersetzt und auf Video aufgenommen wurde. In der Vorbereitung wurde der Gangbereich mit Overheadprojektoren und Projektionsrahmen zum Bühnenapparat umfunktioniert, der Klassenraum mit Theaterrängen aus Tischen und Stühlen ausgestattet, die Projektionsgeräte interaktiv manipuliert. Zum Abschluss wurde das Video per Beamer im Klassenraum projiziert und mit weiteren Ebenen aus projizierter Schrift und spontanem Schattenspiel performativ überlagert. Als Medien verwendeten die SchülerIn-
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nen gleichzeitig Beamer- und Overheadprojektionen, Live-Performance und Musik. Alle Maßnahmen führten zu einem synästhetischen Gesamtwerk und zu ungewohnt atmosphärischer Verfremdung des Schulraumes. Obwohl die Inszenierung selber nur wenige Minuten dauerte, blieb für die SchülerInnen aber die Erfahrung des empowerment durch die autonome Veränderung eines gegebenen schulischen Settings prägend. Im Projekt Das fliegende Klassenzimmer wurde der Klassenraum als Netzwerk von Bewegungen und Beziehungen mit Schnüren nachgezeichnet. Das Klassenzimmer wurde quasi zur „Karte des Reiches im Maßstab 1:1“ (Eco, 1990), und die SchülerInnen machten spielerisch die Erfahrung, dass es keine Karte geben kann, die der Wirklichkeit entspricht, da die Abbildung der sozialen Räume auf die physische Umgebung umgehend zu einer Auflösung der Funktionalität des Klassenraumes führte. Nachdem vielfarbige Schnüre alle Bewegungen im Raum nachzeichneten und so sämtliche Wege einschließlich der Tür miteinander verwoben, konnte niemand den Raum betreten oder verlassen – die anarchische Vernetzung wurde in Zeichnungen dokumentiert und kurz vor Beendigung des Unterrichts mithilfe von Scheren aufgelöst.
Abb. 3: Beziehungsnetz im Klassenzimmer Bild: Antje Lehn, 2013
5. Das Projekt Nest Auch außerhalb des Lehrkontextes steht die Hinterfragung schulischer Räume im Mittelpunkt meiner Projektarbeit mit SchülerInnen: Eine gebaute räumliche Inszenierung war das Ergebnis des Projektes Nest, welches in Zusammenarbeit mit Johanna Reiner konzipiert und umgesetzt wurde. Aufgrund der Unzufriedenheit einer Klasse der 6. Schulstufe mit ihrem engen Klassenzimmer wurden wir eingeladen, Maßnahmen zur Raumverbesserung zu ent wickeln. Nach einer Besichtigung vor Ort beschlossen wir, partizipatorisch mit der Klasse zu arbeiten. Zunächst wurden SchülerInnen mit historischen, künstlerischen und literarischen Karten und Welt-Bildern konfrontiert. Es folgte die zeichnerische Erforschung eigener Welt-Bilder vom Klassenzimmer durch Interpretation von Atmosphäre und Sozialraum als Landschaft mit Orten und Regionen. Die Analyse des eigenen Klassenraumes auf Ebene von subjektiven Karten ermöglichte eine Folie zur Formulierung von Bedürfnissen der SchülerInnen und führte zu konkreten Wünschen an ihren Raum: Rückzugsräume, Eroberung der Vertikalen, sowie prägnante Möblie-
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rung und Klassenidentität. Mit entwerferischer und handwerklicher Unterstützung durch KünstlerInnen und die Nähwerkstatt der Akademie der bildenden Künste wurden diese Utopien in räumliche Variationen zum Thema Nest übersetzt, die die SchülerInnen an zwei Projekttagen selber herstellen und im Klassenraum installieren konnten. Die gebauten Objekte vergegenständlichten die Wünsche der SchülerInnen nach Aktivität, Identität und Rückzug oder eben Schaukeln, Klettern und Verstecken. Im Rahmen der Projekttage konnten diese neuen Spiel-Räume im Klassenzimmer demonstriert werden und zeigten sofort Wirkung in der positiven Identifizierung der SchülerInnen mit ihrer Klasse.
Abb. 4: Nest im Klassenzimmer Bild: Antje Lehn, 2012
6. Forschende Flaneure Abschließend möchte ich ein Schulprojekt vorstellen, bei dem sich die Vermessung unsichtbarer Räume in den städtischen Maßstab ausweitete. Ausgangspunkt des stadträumlichen Workshops Forschende Flaneure war die Tatsache, dass sich eine Schule im zweiten Wiener Gemeindebezirk auf zwei getrennte Gebäude verteilt und somit LehrerInnen und SchülerInnen im Schulalltag immer wieder über die Straße gehen müssen. Um die Verschränkung von Schulraum mit öffentlichem Raum sichtbar zu machen, entwickelte ich in Zusammenarbeit mit der Lehrerin des Faches Geografie und Wirtschaftskunde ein Konzept für eine kartografische Untersuchung der Schulumgebung. Einerseits sollten Jugendliche in der Rolle von Flaneuren zu einer aktiv-neugierigen Haltung zur Stadt angeregt werden, andererseits ging es darum, die SchulakteurInnen als StadtakteurInnen sichtbar zu machen. Die Flaneure wurden auf Expeditionsrouten geschickt, mit der Aufgabe, gezielt Faktisches und scheinbar Beiläufiges zu sammeln. Die Notationen der SchülerInnen wurden in einen maßstäblichen Stadtplan übertragen, um daraus eine gemeinsame Dokumentationsebene der Schulumgebung zu konstruieren. Es bleibt kritisch zu hinterfragen, ob diese Karte als Abbild von Erfahrungen gelten kann oder diese Art des Displays den Fokus möglicherweise zu stark auf die Fähigkeit zu Abstraktion von
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Orientierung setzt. Wünschenswert wäre, im nächsten Schritt prozesshaftere Displays zu konzipieren, die abbilden können, inwieweit sich die SchülerInnen auf die Entdeckung von neuen Räumen und Lernprozessen in ihrer (scheinbar bekannten) Umgebung einlassen. Zum Abschluss sollten die SchülerInnen eine öffentliche Aktion entwerfen, wobei das freie Format der Handlung im Stadtraum gut angenommen wurde. Drei Gruppen planten unterschiedliche Interventionen: Eine Gruppe von SchülerInnen suchte über Kreideschrift am Boden und Teilabsperrung der Gehwege das Gespräch mit PassantInnen. Andere gestalteten einen Haarlem Shake, einen Videoclip, bei dem durch Schnitt und Musikunterlegung eine anarchische Tanzaktion vor städtischem Hintergrund simuliert wurde. Die dritte Gruppe inszenierte mit Körpereinsatz sogenannte extreme plankings. Dabei wird versucht, in steifer Körperhaltung auf diversen Objekten liegend zu balancieren. Diese performativen Displays im öffentlichen Raum zeigten in der Gruppe identitätsstiftenden Effekt, da sich die Jugendlichen ihre Schul umgebung in selbst choreografierten Handlungen ein Stück weit eigenverantwortlich aneignen und dabei auch Grenzen ausloten konnten. Auch hier wurde von den Jugendlichen über die Ebene der Verfremdung alltäglicher Handlung ein spielerischer Freiraum geschaffen, in dem sie gesellschaftlich geregeltes Raumverhalten kritisch hinterfragen konnten.
Abb. 5: Forschende Flaneure Bild: Antje Lehn, 2013
7. Conclusio Zusammenfassend möchte ich noch einmal auf die Rolle von Displays im künstlerisch begleiteten Projektunterricht zurückkommen. Allen vorgestellten Projekten ist eine Verwendung von Displays sowohl als begleitendes Kommunikationsmittel als auch als abschließendes Präsentationsmedium gemeinsam. Idealerweise werden von SchülerInnen aus den Zwischenschritten der Prozesse eigenständige Werkzeuge der Präsentation entwickelt, die gleichwohl durch die projekteigene Ästhetik geprägt sind. Durch die Vermischung von konventionellen mit verfremdeten Formaten wird immer wieder die Tauglichkeit der abbildenden Oberfläche als Transporter für die Inhalte des jeweiligen Projekts zur Disposition gestellt. Nach anfänglicher Irritation steigen SchülerInnen meistens schnell und humorvoll darauf ein, die zur Verfügung stehenden Objekte, Medien und Räume durch Verfremdung kritisch zu hinterfragen.
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Das versetzt sie in die Lage, aus ihrer Perspektive die Werkzeuge an den Inhalt anzupassen, anstatt sich von institutionell vorgegebenen zielorientierten Vorgaben der Werkzeuge einengen zu lassen. Es werden Bilder an die Decke projiziert, Fenster zu Rahmen und Tische zu Tafeln. Diese spielerische Erweiterung schulischer Displays schafft begleitend zum explorativen räumlichen Lernen einen ergebnisoffen Handlungs-Raum.
Literatur Eco, Umberto (1990): Karte des Reiches im Maßstab 1:1, in: Eco, Umberto: Platon im Striptease-Lokal, Parodien und Travestien, München: dtv. Kühn, Christian (2011): Neue Räume für die Bildung, in: Lehn, Antje/Stuefer, Renate (Hg.): räume bilden – Wie Schule und Architektur kommunizieren, Wien: Löcker. Lehn, Antje/Stuefer, Renate (Hg.) (2011): räume bilden – Wie Schule und Architektur kommunizieren. Band 5 der Publikationsreihe Arts & Culture & Education, Wien: Löcker. Löw, Martina (2001): Raumsoziologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp.
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Johanna Braun/Thomas Ballhausen
Die Künstlerin als Produzentin Johanna Braun im Gespräch mit Thomas Ballhausen Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/635
Abstract Thomas Ballhausen interviewt die sehr erfahrene Künstlerin Johanna Braun hinsichtlich des Verhältnisses zwischen KuratorInnen und KünstlerInnen. Dabei wird deutlich, wie prekär die „Autonomie“ der Kunstproduktion ist und welchen Einfluss externe Machtfaktoren haben. Die Wiener Künstlerin ist eine der prononciertesten Vertreterinnen eigenaktiver, kuratorischer Tätigkeit der künstlerisch Schaffenden. Mit zahlreichen internationalen Projekten hat sie die Richtigkeit ihrer Haltung immer wieder bewiesen – und sich dabei nicht selten an den ihr fragwürdig vorkommenden Konventionen kuratorischen Selbstverständnisses kritisch abgearbeitet. – Freimütig und provokant hat sie auf die Fragen der MEDIENIMPULSE geantwortet. The Artist as Producer – a Conversation between Johanna Braun and Thomas Ballhausen. Thomas Ballhausen interviews Johanna Braun, an artist with lots of experience, on the relationship between curators and artists. This highlights the precarity of the “autonomy” of the production of art and the influence of external powers. The Viennese artist is one of the most pronounced representatives of curatorial activity on the art creator’s own initiative. She has repeatedly demonstrated the validity of her attitude in a number of international projects – which often involved a critical examination of conventions of curatorial self-conceptions she regards as questionable. Her answers to the questions MEDIENIMPULSE asked are outspoken and thought-provoking.
Interview Thomas Ballhausen: „Künstler als KuratorInnen“ ist eine mitunter heftig attackierte Praxis der vermittelnden Arbeit. Wo siehst du hier medien- und kunsthistorische Grundierungen, die immer noch die Vor- und Nachteile eines solchen Zugriffs prägen? Johanna Braun: Der Kurator mit seiner institutionellen Machtposition handelt, wie wir wissen und annehmen müssen, weder finanziell noch politisch unabhängig. Durch das Amt der ausführenden Hand einer öffentlichen Institution ist der Kurator diesem spezifischen Ort und dessen politischen wie ideologischen Prinzipien verhaftet und kann somit nicht als autonomer Akteur angesehen werden. Auch der immer weiterwachsende Einfluss und Starfaktor des Kurators ist natürlich jedem Künstler ein Dorn im Auge. Anders als der/die KunsthistorikerIn oder KunstwissenschafterIn, die ganz klar die künstlerische Arbeit ins Zentrum ihres scharfen Blickes stellen, stilisieren sich die KuratorInnen mehrheitlich zu den alleinigen Drahtziehern
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der Kunstszene hoch. Doch wie wir ebenso klar wissen, gibt es ohne KünstlerInnen keine Kunst. Es werden aber sehr wohl auch gute Ausstellungen ohne Kuratoren produziert – und das macht schnell klar, wie die Hierarchien tatsächlich geordnet sein sollten. Hans Dieter Huber erklärt in „Künstler als Kurator – Kurator als Künstler?“ die Genese des Kurators aus dem Kirchenrecht als „bestellter Vormund oder Pfleger“, welcher im Namen der Geistesschwachen oder Geisteskranken handelt. In diesem Sinne wird der Künstler im wahrsten Sinne des Wortes vom Kurator bevormundet, im weitesten Sinne sogar entmündigt. Huber spricht hier von einer semantic ascent des Kurators und der semantic descent des Künstlers und kommt zu dem deprimierenden Schluss: „Mit jeder Stufe dieses ‚semantic ascent‘ wird der Künstler ärmer und bedeutungsloser.“ Dabei ist doch seit jeher bekannt, dass es der Künstler mit seiner Autonomie besonders ernst nimmt und selbst das Sprachrohr seiner politischen wie ideologischen Botschaften verkörpert. TB: Können KünstlerInnen also etwas, das KuratorInnen nicht vermögen? Gibt es hier eine ideologische Bias, die auch mit neuen Ausstellungskonzepten nicht zu überwinden ist? JB: Es ist im Moment besonders absurd zu beobachten, wie Kuratoren in der Vermittlung und Präsentation von Einzelpositionen zum Einsatz kommen. Wo vor nicht allzu langer Zeit selbstverständlich der Künstler höchstpersönlich Regie führte, kommt jetzt der Kurator als Ko-Autor ins Spiel oder versetzt die/den KünstlerIn komplett auf die Ersatzbank und katapultiert sich selbst in die Kommandozentrale. Ohne Kurator scheint zurzeit keine einzige museale Ausstellung eines Künstlers umsetzbar zu sein. Es macht den Anschein, als wäre der/die KünstlerIn schlicht unfähig, sein/ihr eigenes Werk appetitlich für die notorische Öffentlichkeit zu präsentieren. Somit nimmt der Kurator seine kirchenrechtliche Position wieder ein und übernimmt den Vormund des verstandesschwachen Künstlers. Ähnlich wie bei Charcots höchst öffentlichkeitswirksamer „Einrichtung“ von Patientinnen, welche für die Langzeitbelichtungsphase der Fotoapparate brav die hysterische Stellung vor der Linse hielten, kommt nun der Kurator als Dompteur der wilden Künstlerpersönlichkeiten und als Zentralfigur im Kunstzirkus zum Einsatz. Doch wie wir mittlerweile belegen können, hätte ohne das aktive Mitwirken von Charcots PatientInnen die Salpêtrière nie zu diesem einzigartigen Spektakel avancieren können. Das sollte uns als Bild und Vergleich doch zu denken geben. TB: Wie würdest du dann deine eigene Position innerhalb dieses diskursiven Minen- und Mimenfelds beschreiben? Welche Prinzipien oder auch Vorbilder haben da deiner Ansicht nach prägende Spuren hinterlassen? JB: Ich selbst verstehe mich weniger als Kuratorin denn als Produzentin oder auch im Sinne John Millers als Meta-Künstlerin. Auch Sabine B. Vogel kommt mir in den Sinn – ich stimme nicht mit all ihren Ansätzen überein, aber man kann mich wohl problemlos in das von ihr definierte 3-K-Künstlerprinzip einordnen. Damit sind KünstlerInnen beschrieben, die sich auch als KritikerInnen und KuratorInnen sehen und in diesem Sinne agieren. Hier muss man natürlich höchst angespannt den Balanceakt zwischen schlichtem Wahnsinn und banalem Größenwahnsinn hinkriegen, ohne in die von Heinz Bude skizzierte Falle der „Selbstvergeudung, Selbstverzehrung oder Selbstüberschreitung“ zu tappen und dann bestenfalls zwischen den verschiedensten Stühlen eine Verschnaufpause einzulegen. Ich meine, die Tätigkeit oder auch Beschreibung des Kuratierens ist gegenwärtig sehr großzügig oder auch viel zu großzügig gefasst.
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TB: Wie gehst du bei deiner Arbeit vor? Kann man hier noch von kohärenten kuratorischen Strategien sprechen oder schon von Überblendungen in den Bereich eigener künstlerischer Positionen und Prozesse? JB: Ich verstehe mich als kuratierende Produzentin. Beim Film hat jede Aufgabe eine ganz klare Bezeichnung, im Kunstbetrieb hingegen werden ziemlich wild Kraut und Rüben unter den Hut des Kurators geschoben. Hier ist schon lange eine Differenzierung fällig. Wie schon erwähnt, produziere ich Ausstellungen. Unter anderem mit den Werken von anderen KünstlerInnen. Dabei fühle ich mich manchmal in meinem Arbeitszimmer wie Dr. Victor Frankenstein in seinem Labor. Immer wenn es darum geht, eine Ausstellung zusammenzustellen, hole ich mir aus meinen Notizheften und Zetteln Nachrichten an mich selbst heraus, in denen mich mein vergangenes Ich, sozusagen mein Retro-Ich, erinnert, die eine bestimmte Arbeit von XY auf gar keinen Fall zu vergessen oder doch noch YZ zu kontaktieren, da ich mir vorstellen kann, dass sie/er genau die passende Arbeit für mich auf Lager hat. Und falls nicht, bestimmt die perfekte Idee, die ohnehin nur noch darauf wartet, exekutiert zu werden. In diesem Rahmen ist dieses Impulsgeben auch eine für mich extrem wichtige Sache. Vom Begriff der Auftragsarbeit will ich mich da aber ganz klar distanzieren, da hier weder die entsprechenden finanziellen Mittel noch konkrete Vorstellungen, im Sinne von Anweisungen, eine Rolle spielen. Ich sehe mich da mehr in der Aktion des Einflüsterns. Als Souffleuse bin ich kein aktiver Part der eigentlichen Produktion des Kunstwerkes, jedoch am Schaffensprozess nicht unbeteiligt. Darum ist es auch schwierig, von einer kuratierten Ausstellung im engen Sinne zu sprechen. Schließlich beginnt die Arbeit jedes Mal mit einer ziemlich konkreten Vorstellung davon, wohin mich das aktuelle Abenteuer führt. Doch durch die enge Zusammenarbeit mit einer weitgestreuten Dichte von KünstlerInnen, DesignerInnen, ArchitektInnen, LiteratInnen usw. führt mich die Reise zumeist in unerforschte Landschaften. TB: Kuratieren als medienkartografisches, künsteübergreifendes Konzept erscheint da doch als vertraute Weise des Zugriffs und der Vermittlung. Wo unterscheidest du dich in deiner aktiven Positionierungsarbeit? JB: Vielleicht könnte man davon sprechen, dass ich eine Art Arche Noah zusammenstelle und die Produktion der Ausstellung die fürchterlich spannende Reise in unbekannte Gewässer darstellt. Kann man Noah als zoologischen Kurator bezeichnen? Apropos göttliche Beweggründe, hier fällt mir Justin Hoffman, der selbst in die Kategorie des sogenannten 3-K-Künstlers fällt, und sein Vortragstitel „God is a Curator“ ein. In diesem übernatürlichen Sinne verstehe ich das Kuratieren wohl eher doch als Laborbetrieb des schon erwähnten Dr. Frankenstein. Das Erbgut der Moderne, die Idee des Victor Frankenstein, die Vorstellung, einen geflickten, einheitlichen Körper aus eigentlich autonomen Einzelteilen entstehen zu lassen, ist hierbei sicher keine unwesentliche Motivation. Wie schon erwähnt, sehe ich Ausstellungen eher als Momentaufnahmen eines Schaffensprozesses, einer Ansammlung aktueller Fragestellungen und Auseinandersetzungen. Auch wenn die einzelnen Teile manchmal auf den ersten Blick diffus zusammengewürfelt erscheinen, ergeben sie doch gemeinsam eine konkrete, zeit- wie auch ortsspezifische Auseinandersetzung mit aktueller Kunstproduktion. Auch wenn dieses liebevoll fabrizierte Monster oftmals die anfänglich euphorischen Motivationen infrage stellt. Ich verstehe meine künstlerischen, kuratorischen und wissenschaftlichen Produktionen ganz klar als Teil eines großen Ganzen, als zusammenspielende Zahnräder, die das Machwerk des Gesamtkunstwerkes vorantreiben. Auch wenn
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es mir etwas anders geht als Victor Frankenstein beim Anblick des zusammengesetzten Endergebnisses. TB: Mit dem mehr oder weniger unheimlichen Anblick drängt sich ja auch die Frage nach dem Ort auf, also nach dem sich so entfaltenden Raum. Wie schätzt du das Gefälle zwischen etablierten Galerien und den sogenannten Offspaces ein? Welche Auswirkungen lassen sich hier auf Produktion, Präsentation und potenzielle Rezeption nachweisen? JB: Die Raumfrage scheint mir eine nicht enden wollende Frage nach Autonomie zu sein. Wie schon Virginia Woolf treffend festgestellt hat, braucht es spezifische Produktionsorte, um konsequent arbeiten zu können. Im Falle des bildenden Künstlers erweist sich dies als zusätzlich schwieriges Unterfangen, weil wir nicht nur einen stillen Rückzugsort für die Produktion brauchen, sondern auch einen öffentlich sichtbaren Raum zur Präsentation. Diese für ein kunstaffines Publikum zugänglichen, einsehbaren Räume orientieren sich meist an finanziellen Parametern, die weder für junge KünstlerInnen noch für innovative Ausstellungskonzepte offen sind. Obwohl beispielsweise hier in Wien eine unglaubliche Dichte an international agierenden Galerien auf engem Raum zu finden ist, decken diese Einrichtungen doch nur einen geringen Prozentsatz der aktuellen Kunstproduktion ab. Dies wird natürlich noch durch den Umstand verschärft, dass es kaum Galerien mit einem ausschließlich jungen Programm gibt und auch Museen und Kunsthallen ohne Galerien-Gütesiegel ungern mit noch unbekannten KünstlerInnen arbeiten. Auch jene Galerien, die junge KünstlerInnen ins Programm aufnehmen, legen selten das konservative Galerien-Ausstellungsformat beiseite. Das derzeitige Massensterben der sogenannten „Offspace“-Szene in Wien zeigt, wie unbefriedigend die Arbeit von KünstlerInnen, die sich in Gruppen zusammenschließen, um Ausstellungen auf die Beine zu stellen, zu sein scheint. Es dürfte sich bei jeder Raumauflösung um ähnliche Gründe handeln: Der Offspace als Starthilfe für die eigene Karriere ging nach hinten los und man findet sich in einem unbefriedigenden, unbezahlten Bürojob wieder, der nicht mit den anfänglichen idealistischen Vorstellungen vereinbar ist. Oder die Sprunghilfe hat den gewünschten Effekt erzielt und die Beteiligten in die gewünschten Höhen hinaufkatapultiert. Dann hat man es ohnehin nicht mehr nötig, unter diesen schwierigen, entbehrungsreichen Arbeitsbedingungen weiterzumachen. TB: Was sind deine eigenen Erfahrungen mit diesen Strukturen und Herausforderungen? Wie haben sich diese Umstände auf deine eigenen Projekte und Arbeiten ausgewirkt? Wo stehst du derzeit mit deinen kuratorischen Ansätzen und der Praxis der nun auch international agierenden „Chic Boutique“? JB: Das Blockieren des eigenen künstlerischen Vorwärtskommens, die unnötig beengenden bürokratischen Abläufe, die Leerwege der Förderanträge und der Sponsorensuche lähmen schnell den vorerst euphorischen Geist. Genau daran ist auch die „Fondation Herz“ zugrunde gegangen, die ich zwischen 2009 und 2011 mitgeleitet und kuratiert habe. Entstanden durch die eigene Not, Platz für Einzelpräsentationen zu finden und das Leid der Gleichgesinnten an den Kunstuniversitäten nicht mehr mit ansehen zu wollen, war die Idee geboren, einen Raum zu öffnen, der ausschließlich als Labor für junge KünstlerInnen galt, die noch keine oder nur wenige Erfahrungen mit Einzelausstellungen sammeln konnten. Doch – wie schon skizziert – fand ich mich schnell in der Position des simplen Veranstalters wieder. Schneller, als man glaubt, wird man dann von den Eingeladenen mitunter auch als Handlanger für die lästigen bürokratischen Aufwände gehalten. Als ich dann von Michael Niemetz eingeladen wurde, in dem von ihm organisierten Ausstellungsraum „DieAusstellungs-
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strasse“ eine Einzelausstellung zu präsentieren, bin ich bei den Vorbereitungen über eine Liste gestolpert, auf der ich all jene Werke festgehalten habe, die befreundete KünstlerInnen produziert haben und die ich im erweiterten Sinne im Zusammenhang mit meinen eigenen Werken sehe. Hier waren auch Werke aufgeführt, die konzeptuell schon Teil meines eigen-frankensteinschen body of works waren und eben von anderen umgesetzt worden waren. Also habe ich das Resultat all dieser wunderbaren Arbeiten, die im Kontext meiner Ausstellung höchstwahrscheinlich auch noch eine weitere Bedeutungsebene erhalten haben, in diese bestimmte Ausstellung inkludiert. An diesem Ansatz waren die Herangehensweise von Elke Silvia Krystufek und John Bock – und im entferntesten Sinne auch Christoph Schlingensief – bestimmt nicht unwesentlich. Diese Neukontextualisierung anderer Werke und KünstlerInnen hat solchen Spaß gemacht, dass daraus wiederum „Die Chic Boutique“ entstanden ist. Bei der „Chic Boutique“ handelt es sich um einen Versuch, neue Alternativen zu den ewig langweiligen Ausstellungskonzepten zu finden. Die weiße Wand, das brave Bild mit dem beengenden Rahmen, all das drückt mir die Kehle zu. Ich bin mir sicher, damit stehe ich nicht alleine. Gleichzeitig bezieht sich „Die Chic Boutique“ mit ihrer salonartigen Ausrichtung ganz bewusst auf vorangegangene Ausstellungspraktiken, die unter anderem auch in Wien eine lange Tradition haben, wie beispielsweise die Wiener Werkstätte, die Secession oder auch das Bauhaus. Da „Die Chic Boutique“ zurzeit keinen fixen Raum bespielt, sondern sich je nach Einladung an unterschiedlichsten Orten manifestiert, ist die Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Architektur bzw. Ausstellungsarchitektur besonders spannend und intensiv. Weitere Information zu Johanna Braun online unter www.johannabraun.com (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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Alessandro Barberi
Von Medien, Übertragungen und Automaten Pierre Bourdieus Bildungssoziologie als praxeologische Medientheorie. Teil 1 Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/605
Abstract Alessandro Barberi unterzieht in seinem zweiteiligen Beitrag die Schriften Pierre Bourdieus hinsichtlich der Debatten zum medialen Habitus einem close reading und betont, dass Bourdieus Bildungssoziologie als eine Medientheorie begriffen werden kann. Denn im Zuge der Debatten zum medialen Habitus wurde vielfach betont, dass die „Theorie der Praxis“ von Pierre Bourdieu aus unterschiedlichen Gründen als Referenz medienpädagogischer Argumentationen und Ansätze fungiert. Weniger oft wurde dabei betont, dass sich die Bourdieu'sche Bildungssoziologie selbst als eine Medientheorie begreifen lässt. Dabei zeigt eine eingehende Auseinandersetzung mit den Schriften Bourdieus, dass er an mehreren Stellen den Begriff des Mediums verwendet hat und mithin von einer >praxeologischen Medientheorie< des medialen Habitus avant la lettre gesprochen werden kann. Die beiden Artikel untersuchen – ausgehend von den Debatten zur „Medienkompetenz“ –, wie Bourdieu Sprache, Sprechen und Diskurs, Akteure, Felder und Habitus, Fotografie und Fernsehen sowie Institutionen als Medien begreift, und betonen dabei die Nützlichkeit der Bourdieu'schen Bildungssoziologie im Rahmen einer handlungsorientierten/praxeologischen Grundlegung der Medienpädagogik. On Media, Transmission and Automatons – Pierre Bourdieu’s Sociology of Education as a Praxeological Media Theory. Part 1/On Photographs, Televisions and Symbolic Machines – Pierre Bourdieu’s Sociology of Education as a Praxeological Media Theory. Part 2. In his two-part contribution, Alessandro Barberi examines Pierre Bourdieu’s works with regard to the debates about the media habitus in a close reading and emphasizes that Bourdieu’s sociology of education may be understood as media theory. In the course of the debates on media habitus, it is often emphasized that the >theory of practice< of Pierre Bourdieu functions as a reference for media education arguments and approaches for diverse reasons. What is less emphasized is that Bourdieu’s sociology of education itself may be understood as media theory. A detailed discussion of Bourdieu’s works shows that he has used the concept of the medium in several instances, and therefore we may identify a „praxeological media theory“ of the media habitus avant la lettre. Based on the debates on „media competence“, the two essays examine how Bourdieu understands language, speaking and discourse, actors, fields and habitus, photography and television as well as institutions as media, underlining the usefulness of Bourdieu’s sociology of education within the framework of an action-oriented/praxeological foundation of media education.
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1. Einleitung Es ist mehr als bezeichnend, dass Dieter Baacke im Umfeld seiner vierstufigen Definition der Medienkompetenz als Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung (Baacke 1999) deutlich darauf verweist, dass zwischen seinem Begriff der Medienpädagogik und der Bildungssoziologie Pierre Bourdieus mehrere Korrespondenzen bestehen und folglich eine Verbindung der Medienpädagogik mit der Praxeologie Bourdieus1 wünschenswert wäre. Baacke hält in diesem Zusammenhang nachdrücklich fest: „Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1970) erweiterte die Debatte um soziologische Aspekte. Bourdieu bezog sich wie Habermas (und Baacke in seiner Schrift >Kommunikation und Kompetenz< 1972) auf Chomskys Begriff und Konzept der „Kompetenz“. Bourdieu betonte freilich stärker die >‚generative Grammatik‛< und verstand >‚Habitus‛< als ein System von Mustern, die der Mensch verinnerlicht hat und die es ihm ermöglichen, variabel Wahrnehmungen, Gedanken und auch Handlungen eines kulturellen Raums zu erzeugen. […] Dieser soziologische Diskurs ist in vielfältiger Hinsicht anschlussfähig.“ (Baacke 1999, 33) In der Folge haben MedienpädagogInnen die Bourdieu'sche Bildungssoziologie im weiteren Umfeld der Debatten zum „medialen Habitus“ diskutiert (Niesyto 2002, Biermann 2009, Kommer 2006/2010, Swertz 2011), wobei im Zuge dieser Diskussionen insgesamt selten darauf verwiesen wurde, dass sich bei Bourdieu selbst eine gehäufte Verwendung des Medienbegriffs nachweisen lässt und mithin im Gesamtwerk Bourdieus bereits eine „praxeologische Medientheorie“ avant la lettre rekonstruiert werden kann, die vor allem vier Ebenen umfasst: 1. Bourdieu begreift Sprache, Sprechen und Diskurs als Medien, 2. Bourdieu begreift Akteure, Felder und Habitus als Medien, 3. Bourdieu begreift Fotografie, Fernsehen und Aufzeichnungsgeräte als (technische) Medien, und 4. Bourdieu begreift Institutionen wie die Universität als Maschinen bzw. Automaten und mithin ebenfalls als Medien. Der folgende Artikel arbeitet die ersten beiden Ebenen heraus und rekonstruiert die Bourdieu'sche Medientheorie auf der Ebene von Sprache, Sprechen und Diskurs sowie auf der Ebene von Akteur, Feld und Habitus, um die medienpädagogischen Diskussionen zum „medialen Habitus“ anhand eines close readings der Schriften Bourdieus zu intensivieren. Das Hauptargument ist dabei, dass die Bourdieusche Bildungssoziologie im Sinne einer praxeologischen Medientheorie gefasst werden kann und daher künftig auch für eine sozialwissenschaftliche Grundlegung der Medienpädagogik geeignet ist.
2. Kompetenz(en): Sprache, Sprechen und Diskurs als Medien Zuvorderst kann im Sinne einer medienpädagogischen Fragestellung festgehalten werden, dass Pierre Bourdieu im Rahmen seiner praxeologischen Bildungssoziologie das Sprechen, die 1
Der Begriff der „Praxeologie“ hat sich im Rahmen der Soziologie und dabei vor allem im Umkreis der Bourdieurezeption für die Beschreibung der „doppelten Konstitution“ der sozialen Wirklichkeit durchgesetzt. Die Praxis vermittelt dabei zwischen sozialen Strukturen und den Dispositionen der handelnden Akteure (vgl. Bourdieu 1979).
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Sprache bzw. den Diskurs an mehreren Stellen explizit als Medium im Sinne eines „kommunikativen Mittels“ und „interaktiven Instruments“ in gegebenen Sprechsituationen begriffen hat. Dabei ist vorauszuschicken, dass mit der Bourdieu'schen Diskussion und Verwendung eines an der Praxis orientierten Kompetenzbegriffs auch diskursanalytisch die Möglichkeit gegeben ist, seine Bildungssoziologie mit einer handlungsorientierten Medienpädagogik (vgl. etwa Hug 2011) und dabei vor allem mit dem Terminus der u. a. von Dieter Baacke definierten „Medienkompetenz“ (Baacke 1999, Schorb 2009) zu verbinden. Der Kompetenzbegriff ist dabei nach Bourdieu immer mit einer Soziolinguistik verknüpft, wie im Folgenden knapp skizziert werden soll, um dann in einem zweiten Schritt zu zeigen, dass Bourdieu selbst die Sprache, das Sprechen und den Diskurs nicht nur als Medien bezeichnet, sondern auch begriffen hat. Zuerst gilt es aber, zu betonen, dass Bourdieu in einer kritischen Aufnahme und gleichzeitigen Abgrenzung von Noam Chomskys generativer Grammatik die (Sprach-)Kompetenz nicht als angeborenes und biologisches Sprachvermögen konzipiert (wie Chomsky 1981, 187– 217)2, sondern eher im Sinne einer „kommunikativen Kompetenz“ (Hymes 1979, 23 f. und auch Habermas 1971) soziologisch und soziolinguistisch davon ausgeht, dass Kompetenz(en) in verschiedenen Sozialräumen bzw. Feldern wie Familie, Schule oder Berufswelt durch Lernprozesse und Erfahrungen praktisch erworben wird. Dies distanziert auch Chomskys Annahme eines „idealen Sprechers“, da (Sprach-)Kompetenz immer in bestimmbaren sozialen und ökonomischen Konstellationen realisiert wird, was sich in der Folge auch auf Bourdieus Theorie des Sprachgebrauchs auswirkt, der das Medium zwischen symbolischen Formen und sozialer Wirklichkeit (Niesyto 2002) bildet. In Die feinen Unterschiede (1987) formuliert Bourdieu daher die soziale und ökonomische Einbindung der Kompetenz(en) folgendermaßen aus: „Die je besondere Kompetenz (für klassische Musik oder Jazz, Theater oder Kino, etc.) hängt ab von den Chancen, welche die verschiedenen Märkte (der Familie, der Schule oder des Berufs) ihrer Akkumulation, Umsetzung und Verwertung zugleich einräumen, hängt mit anderen Worten davon ab, in welchem Ausmaß sie den Erwerb [sic! A.B.] einer derartigen Kompetenz in der Weise begünstigen, daß sie Gewinne suggerieren oder garantieren und damit zu neuer Investierung bestärken oder überhaupt veranlassen. Die Chancen der Nutzung und ‚Rentabilisierung‛ der kulturellen Kompetenz auf den verschiedenen Märkten tragen wesentlich bei zur Bestimmung des jeweiligen Hangs zu ‚schulischen‛ Investitionen und jenen anderen, die deswegen als ‚freie‛ bezeichnet werden, weil sie im Unterschied zu den durch die Schule organisierten sich weder den Zwängen noch den Anreizen dieser Institution zu verdanken scheinen. Kompetenz ist um so gebieterischer gefordert und ‚zahlt‛ sich um so mehr aus – In2 So formuliert Chomsky in bezeichnenderweise organizistischen und technologischen Metaphern: „Das, was viele Linguisten >>Universalgrammatik<< nennen, kann als eine Theorie angeborener [sic! A.B.] Mechanismen betrachtet werden, als eine zugrundeliegende Matrix, die den Rahmen absteckt, in dem das Wachsen der Sprache [sic! A.B.] voranschreitet. Für den Linguisten gibt es keinen Grund, dieser Anfangsausstattung des Geistes keine Existenz zuzuschreiben. […] So gesehen ist die Linguistik eine abstrakte Untersuchung gewisser Mechanismen, ihres Wachstums und ihrer Reifung [sic! A.B.]. Wir können den für die Anfangs-, Zwischen- und Endzustände angenommenen Strukturen in genau demselben Sinn Existenz zuschreiben, wie einem Programm, von dem wir glauben, es sei irgendwie in einem Computer realisiert: […]“ (Chomsky 1981, 189). Bourdieu übernimmt dabei rund um den Kompetenzbegriff die „Matrix“, die „Mechanismen“ und die „Programme“, distanziert sich aber über den Erfahrungsbegriff von den lebenswissenschaftlich-biologischen Terminologien, um die Kompetenz in diskursiv-soziale Felder einzulagern.
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kompetenz wird um so schärfer bestraft und ist um so >>kostspieliger<<, je höher der Legitimitätsgrad eines bestimmten Bereichs ist.“ (Bourdieu 1987a, 152–153) Medienpädagogisch relevant ist dabei der Umstand, dass (musische oder kulturelle) Kompetenzen bzw. Inkompetenzen sich nach Bourdieu vor allem in der Familie, der Schule oder den Berufswelten herausbilden und mithin konsequenterweise auch „Begabungen“ oder „Anlagen“ auf Lernprozessen und Erfahrungen beruhen. Dabei begreift Bourdieu Familie, Schule und Berufswelt als Märkte, auf denen Kompetenzen erworben und ins Spiel gebracht werden. Auf diesen Märkten stellen dann die zirkulierenden (z. B. politischen oder ästhetischen) Kompetenzen immer auch symbolische Sprach- bzw. Sprechkompetenzen (der Distinktion) dar, die tief in den Denk- und Handlungsweisen von habituierten Akteuren verankert bzw. „inkorporiert“ sind, wobei die Sprache über die Grammatik zu einer Art von Code wird, der – so Bourdieu an die Informationstheorie angelehnt – aus praktischen „Informationsschemata“ besteht: „Sprache ist nicht von Anbeginn ein genuiner Kode. Zu einem solchen wird sie erst durch die Grammatik, die die quasi juridische Kodifizierung [sic! A.B.] eines Systems von Informationsschemata [sic! A.B.] darstellt.“ (Bourdieu 1992, 103) In der Folge grenzt Bourdieu in Was heißt sprechen? (2005c) seine praxeologische Theorie der Sprechhandlungen dezidiert von einer „internen Sprachwissenschaft“ ab, die Worte und Zeichen zwar positiv und „objektiv“ beschreiben kann, es aber unterlässt, sie auf singulär Handelnde in verschiedenen sozialen und ökonomischen Sprach- und Sprechsituationen der Performanz und damit auch auf Macht, Herrschaft und symbolische Gewalt zu beziehen. In einer Absetzbewegung zur strukturalen Linguistik in der Tradition Ferdinand de Saussures (Saussure 2001)3 und Roman Jakobsons (Jakobson 1969) stellt die Sprachkompetenz, die neben der Performanz des Sprechaktes nur einen Teil des Sprachgeschehens abdeckt, nach Bourdieu kein abstraktes und vom Sprechen abstrahiertes Regelsystem dar, sondern muss auf diskursive bzw. kommunikative „Interaktion(en)“ im Sinne einer „praxeologischen Semiotik“ und daher auf die sozialen Bedingungen ihrer (Diskurs-)Produktion bezogen werden: „[…] es macht jedoch die Irrtümer und Fehlschläge verständlich, denen die Sprachwissenschaft anheimfällt, wenn sie dem Sprechen in seiner konstellationsabhängigen Einzigartigkeit gerecht zu werden versucht, indem sie von nur einem der beteiligten Faktoren ausgeht, nämlich von der eigentlichen Sprachkompetenz, die sie abstrakt definiert, daß heißt losgelöst von allem, was sie den sozialen Beziehungen ihrer Produktion schuldet.“ (Bourdieu 2005c: 42) Die Sprachkompetenz ist des Weiteren bei Bourdieu immer auch auf das Problem des legitimen Sprechens bezogen, wodurch die Frage nach unterschiedlichen (und klassenspezifischen) Sprachkompetenzen im sozialen Raum (vgl. Bourdieu 1985) eindringlich vor Augen geführt wird: „Sprecher ohne legitime Sprachkompetenz [sic! A.B.] sind in Wirklichkeit von sozialen Welten, in denen diese Kompetenz vorausgesetzt wird, ausgeschlossen oder zum Schweigen 3 Zu erwähnen ist an dieser Stelle indes, dass die gegen Wandel, Prozess und Diachronie gerichtete strukturale, systematische und synchrone Ausrichtung der Saussur'schen langue (Sprache), sich vor allem der Rezeption des Cours de linguistique générale aus dem Jahr 1916 verdankt. In den Notizen aus dem Nachlass Saussures lassen sich dem entgegen eingehende Auseinandersetzungen mit der Eigendynamik der parole (Sprechen) nachweisen. Vgl. dazu Saussure, Ferdinand de (2003): Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente, hg. von Johannes Fehr, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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verurteilt. Nicht die im biologischen Erbgut angelegte universelle, also ihrem Wesen nach nichtdistinktive Sprechfähigkeit ist also selten, sondern diejenige Sprachkompetenz, die man braucht, um die vom sozialen Erbe abhängige legitime Sprache zu sprechen, die die sozialen Unterschiede in die genuin symbolische Logik der differentiellen Unterschiede oder, mit einem Wort, in die Logik der Distinktion übersetzt. Die Entstehung eines Sprachmarktes schafft die Voraussetzungen für die objektive Konkurrenz, in der und durch die legitime Sprachkompetenz als sprachliches Kapital [sic! A.B.] fungieren kann, das bei jedem sozialen Austausch einen Distinktionsprofit abwirft.“ (Bourdieu 2005c, 60) Kompetenz(en) sind nach Bourdieu also immer auch auf das Problem von klassenspezifischem Einschluss (Inklusion) bzw. Ausschluss (Exklusion) bezogen. Die Handelnden verwenden dabei im Spiel um den Distinktionsprofit auf dem Sprachmarkt das akkumulierte Diskursund d. i. „Informationskapital“ – auch dies medientheoretisch bzw. medienpädagogisch relevant – als Mittel bzw. Instrument und eignen sich in den sozialen Kämpfen um (symbolische) Anerkennung (Bourdieu 1998a, 173–176)4 verschiedene (ästhetische, politische oder pädagogische) Kompetenzen an, die sie dann – bewusst oder unbewusst – ins sozioökonomische Spiel von Akkumulation, Umsetzung und Verwertung einbringen. Die Worte und die Zeichen zirkulieren – ganz so wie in der Diskursanalyse Michel Foucaults (Foucault 1991/1971)5 – in ihrer individuellen Einzigartigkeit als Werte im Rahmen einer auf Macht und Autorität bezogenen (Diskurs-)Ökonomie, die im Sinne einer Produktion, Distribution und Konsumtion von Diskursen seitens der Akteure in unterschiedlichen sozialen Feldern praktisch „getragen“ wird. Eben diese Abhängigkeit des Sprechens von den singulären Handlungen der Akteure und ihren feldspezifischen Kontexten macht die Sprache und näherhin das Sprechen – gegen Ferdinand de Saussures langue und Noam Chomskys competence und in positiver Bezugnahme auf William Labovs Soziolinguistik (Labov 1980, Bourdieu 2005c, 57)6 – nach Bourdieu dezidiert zu ei4 Die Frage der Anerkennung, fr. reconnaissance, zieht sich wie ein roter Faden durch die Bildungssoziologie Bourdieus. So kann Kapital erst durch die soziale Anerkennung zu symbolischem Kapital werden, das allererst damit in den (diskursiven) Zirkulationsprozess eintritt. 5 So formuliert Foucault: „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses [sic! A.B.] zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird […]“ (Foucault 1991, 10–11). An einer weiteren Stelle analysiert Foucault die soziale und ökonomische Funktionsweise von „Diskursgesellschaften“ anhand der Marx'schen Trias von Produktion, Zirkulation und Distribution, die im französischen Original manifest ist, allerdings in der Übersetzung Walter Seitters eindeutig verloren ging: „Ein teilweise abweichendes Funktionieren zeigen die ‚Diskursgesellschaften‛, welche die Aufgabe haben, Diskurse aufzubewahren oder zu produzieren [sic! A.B.], um sie in einem geschlossenen Raum zirkulieren [sic! A.B.] zu lassen und sie nur nach bestimmten Regeln zu verteilen [sic! A.B.], so daß die Inhaber bei dieser Verteilung nicht enteignet werden.“ (Foucault 1991, 27) Das französische Original lautet: „D’un fonctionnement en partie différent sont les «sociétés de discours», qui ont pour fonction de conserver ou de produire [sic! A.B.] des discours, mais pour les faire circuler [sic! A.B.] dans un espace fermé, ne les distribuer [sic! A.B.] que selon des règles strictes et sans les détenteurs soient dépossédés par cette distribution [sic ! A.B.] même.“ (Foucault 1971, 41–42). Diskurse sind mithin in ihrer „Materialität“ auch etwas, das – ganz im Sinne Marxens – enteignet wird und enteignet werden kann. Bourdieu schließt im Übrigen an mehreren Stellen an die Studien Foucaults an. 6 William Labov ist für die Geschichte der Linguistik deshalb von großer Bedeutung, weil sein Erkenntnisinteresse im Gegensatz zur synchron-strukturalen Linguistik dem performativen und sozial bedingten „Sprachwandel“ gewidmet ist: „Das Studium des Sprachwandels in seinem Kontext ist von einigen als ein unberührtes, von anderen als ein unfruchtbares Feld dargestellt worden. Eine kurze
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nem praktischen „Instrument“, das im Kampf um Anerkennung, Macht, Herrschaft und soziale Position im Sinne von parole und performance (inter-)aktiv gebraucht und benutzt wird. Dahingehend hält Bourdieu fest: „Das sprachwissenschaftliche Modell ließ sich deshalb so leicht in den Bereich der Ethnologie und Soziologie übertragen, weil man der Sprachwissenschaft das Wesentliche zugestand, nämlich die intellektualistische Philosophie, die aus der Sprache mehr eine Objekt intellektueller Erkenntnis macht, als ein Instrument [sic! A.B.] des Handelns und der Macht.“ (Bourdieu 2005c, 41) Eine solche „instrumentelle“ und „instrumentierte“ Soziolinguistik und Diskurspragmatik, welche noch Bourdieus Theorie des symbolischen Kapitals (vgl. grundlegend Bourdieu 1983a) inspiriert und mitbestimmt, ist mithin immer eine Theorie des praktischen Gebrauchs von Worten und Zeichen, die Bourdieu – durchaus medientheoretisch – als „Wahrnehmungsprogramme“ (Bourdieu 2005c, 100) begreift, welche ihrerseits eine generative Funktion besitzen. Dabei ist es eben im Rahmen der von Bourdieu konzipierten Produktions- und Markttheorie des sprachlichen Austausches nicht nur die auf Erfahrung beruhende sprachliche Kompetenz, sondern – durchaus im Sinne der Sprechakttheorie von Austin und Searle (Austin 2002 und Searle 1971) – vor allem die „performative Wirkung des Diskurses“ (Bourdieu 2005c, 100), die das symbolische Sprachgeschehen ausmacht und bestimmt (vgl. zur „poststrukturalen“ Theoretisierung des Sprechakts auch: Butler 1997 und Sontag 2012)7. Die Bourdieu'sche Argumentation besteht dabei nicht zuletzt darin, den Nachweis zu führen, dass sich in bestimmten Sprechweisen und Symbolisierungen immer auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausmachen lassen. Dahingehend betonen auch Krais und Gebauer, dass die Sprache nach Bourdieu ein „mächtiges Medium symbolischer Herrschaft“ darstellt. (Krais/Gebauer 2002, 11). Sprachliche Kompetenz ist also nach Bourdieu immer auch soziale und ökonomische Kompetenz an Distinktion und Definitionsmacht, die als (akkumuliertes) „Kapital an Information“ performativ wirksam werden kann, um in die soziale Wirklichkeit in ihrer doppelten Konstitution einzugreifen. Sie vollzieht sich dabei im Sinne der Interaktion und Face-to-Face-Kommunikation von Akteuren eben auch „interaktiv“. Es ist daher aus medienpädagogischer Sicht schon auf dieser primären Ebene des Sprechens, Zeichensetzens und Symbolisierens bemerkenswert, dass Bourdieu die Sprache und das Sprechen bzw. den Diskurs an mehreren Stellen mit dem Begriff des Mediums verbindet. Hatte schon Ernst Cassirer in seiner radikalidealistischen Philosophie der symbolischen Formen (1987/1988/1990) betont, dass beispielsweise die Kunst immer in einem (sprachlichen und symbolischen) Medium stattfindet, das den Formgebungsprozess allererst ermöglicht, und jede kulturelle „Objektivierung“ dahingehend auf „Vermittlung“ und „Mediatisierung“ beruht (Cassirer 1990: 27), so geht auch Bourdieu im Rahmen seiner materialistischen Soziologie der Durchsicht dessen, was in der Vergangenheit zu diesem Thema geschrieben worden ist, zeigt, daß es sich eher mit einem verlassenen Hinterhof vergleichen läßt, auf dem die verschiedensten Arten ineinander verschlungener, sekundärer Wissenschaft wuchern.“ (Labov 1980, 95) In seinen Studien ging es daher – so wie bei Bourdieu – immer auch um die sozial geschichteten Unterschiede der Sprachverwendung. 7 Zu meinem Verständnis des „verletzenden Sprechakts“, den Judith Butler in der Auseinandersetzung mit Austin (aber auch Lacan) konzipiert und der die Ebene der Performanz mit Geschichte und vor allem Macht verbindet, haben intensive Diskussionen mit Katharina Sontag beigetragen, der ich hiermit herzlich danke.
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symbolischen Formen (1970) davon aus, dass Ausdrucksformen wie das Schreiben oder Zeichnen sich im Medium der symbolischen Formen – als Kapitalformen – und also im Medium der Sprache bzw. des Sprechens vollziehen (Magerski 2005). So thematisiert Bourdieu etwa den linguistischen Gegensatz von Denotation und Konnotation und betont die Vielfalt des „Instrumentariums“, mit dem im Rahmen der Kommunikation vor allem die EmpfängerInnen (als KonsumentInnen und MediennutzerInnen) „symbolisch Aneignung einbringen“ (Bourdieu 2005c, 43), und fährt dann unter Verwendung des Medienbegriffs fort: „Es ist das Paradox der Kommunikation, dass sie ein gemeinsames Medium [sic! A.B.] voraussetzt, aber ihr Ziel nur erreicht, wenn sie – wie an dem Grenzfall gut zu sehen ist, bei dem es, wie oft bei der Lyrik, um die Vermittlung [sic! A.B.] von Gefühlen geht – einmalige, das heißt sozial geprägte Erfahrungen erzeugt oder wiederaufleben lässt.“ (Bourdieu 2005c, 43) In Produktion und Rezeption erreicht die Nutzung des sprachlichen Mediums mithin nur dann ihr Gelingen, wenn ihr sozialer Charakter die Übereinstimmung der sozial geprägten Erfahrungen von SenderInnen (ProduzentInnen) und EmpfängerInnen (KonsumentInnen) vermittelt, einhält und erreicht. Da die verschiedenen Sprechweisen indes immer schicht- und klassenspezifisch auf Autorität und Macht bezogen sind, werden Sprache und Sprechen durch Distinktion auch Medien der sozialen Ungleichheit (Kreckel 1983). Und so begreift Bourdieu im Rahmen seiner Analyse der „konservativen Schule“ (Bourdieu 2006b) auch und gerade die Universitätssprache der gelehrten Kultur erneut als Medium, das trennend zwischen der Kultur der Lehrenden und jener der Lernenden steht: „Zwischen einem charismatischen Gebrauch der Sprache, die den Schüler durch verbale Verzauberung in den Stand der Gnade versetzen soll, und einem traditionellen Gebrauch der Universitätssprache als geweihtem Medium [sic! A.B.] einer geweihten Kultur schwankend, gehen die Lehrer von der Voraussetzung aus, dass zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden eine Gemeinsamkeit der Sprache und der Kultur und ein vorgängiges Einverständnis in Bezug auf die Werte existiert, was aber nur dann der Fall ist, wenn das Schulsystem es mit seinen eigenen Erben zu tun hat.“ (Bourdieu 2006b, 42) Bourdieu erinnert dahingehend immer wieder an Wittgensteins Sprachphilosophie der handlungsorientierten „Sprachspiele“ (Wittgenstein 2001, Bourdieu 1979, 161 f. und Bourdieu 1992, 27), die auch in der medienpädagogischen Diskussion eine eminente Rolle spielen (Hartwich/Swertz/Witsch 2007). Festzuhalten ist daher, dass die Sprache, das Sprechen und mithin der Diskurs bei Bourdieu nachdrücklich – und im wiederholten Rekurs auf die Marx'schen Feuerbachthesen (Marx 1969) – in ihrem Gebrauch und mithin als materielle Handlung, Tätigkeit und Praxis in Betracht kommen. Wenn Sprache und Sprechen in der Bourdieu'schen Bildungssoziologie mithin explizit als Medien (der ästhetischen oder schulischen Distinktion) begriffen werden, lässt sich schon auf der Ebene des Sprachlichen, Symbolischen oder Diskursiven eine praxeologische Theorie der Mediennutzung bzw. des Mediengebrauchs nachweisen, die in der Folge bei Bourdieu auch für andere Medien (von der Schrift bis hin zu Fernsehen, Fotografie und Institutionen) von Belang ist, aber schon für die Nutzung und den Gebrauch des „Diskursinstruments“ im Sinne einer Theorie der Praxis (Bourdieu 1979) in Veranschlagung gebracht werden kann. Insofern ist auch nachdrücklich hervorzuheben, dass Bourdieu seine Theoriebildung explizit als Diskursanalyse begriffen hat (Bourdieu 2005c: 141 ff.) Gerade weil Menschen bzw. Akteure die Sprache gemäß ihrer Position im sozialen Raum und also auch gemäß ihrer Herkunft in bestimmten Sprechsituationen praktisch und handelnd benutzen und gebrauchen, reprodu-
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zieren sich im Medium des Sprechens die sozialen Unterschiede und Ungleichheiten durch die Distinktionsspiele in den unterschiedlichen Feldern des sozialen Raums. Dabei ist für die Medienpädagogik vor allem das von Bourdieu im Homo Academicus (1988) eingehend analysierte Feld des Bildungssystems von besonderem Interesse. Im Medium des Sprechens bzw. des Diskurses werden mithin klassenspezifische Klassifikations- und Distinktionsformen gesetzt, da beispielsweise das „Medium“ der Universitätssprache von der stillschweigenden Voraussetzung getragen wird, dass es keine sozialen Unterschiede zwischen Lehrenden und Lernenden gibt. Eine an Bourdieu orientierte sozialwissenschaftliche Grundlegung der Medienpädagogik – die (wie auch Dieter Baacke betonte) als „durchaus marxistisch“ (Baacke 1999, 33) zu begreifen wäre – geht indes von einer prinzipiellen Ungleichheit der Kompetenzverteilung aus und betont, dass die Sprache sich nach Bourdieu nur im individuellen und singulären Akt des Sprechens realisiert und dabei den Charakter eines (Primär-)Mediums – im Sinne von Dieter Baacke und Harry Pross (Pross 1972, 127–144) – besitzt. Dieser Zusammenhang sollte im Rahmen der Medienpädagogik eingehender diskutiert werden.
3. Habituierung(en): Akteure, Felder und Habitus als Medien Lässt sich mithin bereits die praxeologische Diskursanalyse und d. i. Diskurspragmatik (vgl. dazu auch Deleuze 1993)8 Bourdieus als medientheoretisch angereichert fassen, so ist es in einem weiteren Schritt bemerkenswert, dass auch Akteure, Felder, Habitusformen und gesellschaftliche Funktionen in den Schriften Bourdieus wörtlich als Medien aufgefasst werden. Sorgen die Performanzen, die Sprechakte und mithin die Diskurse gleichsam als (Primär-)Medien in gegebenen Spannungsfeldern für die Wirksamkeit der symbolischen Ordnung in der sozialen Wirklichkeit, da sie diese (diskurspraktisch bzw. diskursiv und praktisch) formen, so fasst Bourdieu davon ausgehend und darüber hinaus auch die Akteure selbst als Medien von sozialen und psychologischen Strukturen auf, welche sich umgekehrt durch die generative Vermittlung des Habitus „objektivieren“ und vergegenständlichen. So kennt etwa die Arbeit Die Regeln der Kunst (2001), welche anhand von Flauberts Erziehung des Herzens den Versuch unter-
8 Gilles Deleuze, den Bourdieu sehr schätzte und auch mehrfach zitierte, erörtert in den Unterhandlungen an mehreren Stellen, dass die französische Diskussion (vor allem) nach 1945 sich vom harten, klassischen Strukturalismus wegbewegte, indem die Forschungsprogramme mehrerer Autoren (etwa Barthes, Foucault und eben auch Bourdieu) sich von der Phonologie über die Syntax und Semantik hin zu einer Diskurspragmatik und Soziolinguistik entwickelten: „Für mich ist die Linguistik nicht wesentlich. Wenn Félix [Guattari, A.B.] da wäre, würde er vielleicht etwas anderes sagen. Aber Félix hat eine Bewegung miterlebt, die versucht hat, die Linguistik zu verändern: diese war ja zunächst phonologisch ausgerichtet, dann syntaktisch und semantisch, wurde aber immer mehr zu einer Pragmatik. Die Pragmatik (die Umstände, Ereignisse, Handlungen) ist lange als ‚Müllhalde‛ der Linguistik angesehen worden, aber jetzt wird sie immer wichtiger: die Sprache gewinnt Handlungscharakter, so daß die abstrakten Einheiten oder Konstanten der Sprache immer mehr an Bedeutung verlieren.“ (Deleuze 1993, 45). Insofern könnte der Unterschied zwischen Strukturalismus und sog. „Poststrukturalismus“ rund um den Mai ’68 und in genau dieser „Rückkehr der parole“ ausgemacht werden. Bourdieu müsste dann ebenfalls im Sinne eines „Poststrukturalismus“ diskutiert werden. Dieser Entwicklung entspricht auch das Kapitel Postulate der Linguistik in Tausend Plateaus (Deleuze/Guattari 2005, 105–153), das gegen die „Despotie des Signifikanten“ die kontextbezogene „Parole“ und „kollektive Gefüge der Äußerung (énonciation)“ im Gegensatz zur „Aussage (énoncé)“ setzt und untersucht.
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nimmt, das literarische Feld Frankreichs im 19. Jahrhundert zu rekonstruieren, bemerkenswerterweise schon zu Beginn den Begriff des (akteur-und habitusspezifischen) Mediums: „Und muß man sich nicht fragen, ob nicht die Arbeit an der Form genau das ist, was die partielle Anamnese tiefsitzender und verdrängter Strukturen ermöglicht, ob, mit anderen Worten, selbst der dem Formexperiment huldigende Schriftsteller – wie Flaubert und viele nach ihm – unwillkürlich als Medium [sic! A.B.] von (sozialen oder psychologischen) Strukturen wirkt, die durch ihn und seine Arbeit an den induzierenden Wörtern, gleichsam elektrische ‚Leiter‛ [sic! A.B.], aber auch mehr oder minder undurchsichtige Filter [sic! A.B.], zur Objektivierung kommen.“ (Bourdieu 2001a, 20) Der Akteur Flaubert wird mithin zum diskurspragmatischen und (medien-)kompetenten „Vermittler“ gesellschaftlicher Gegebenheiten und besitzt daher im Grunde genommen schon bei Bourdieu selbst einen mediatisierten und medialen Habitus. Dabei ist es erneut – und an Marx angelehnt – eine „Synthesis durch gesellschaftliche Arbeit“ (Habermas 1991, 36–59) und „Produktion“, die mit den und durch die Worte samt ihren Formen gebildet wird. Die Akteure können so eine reflexive und kritische „Objektivierung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse leisten und – je nach der sozialen Position – über den praktischen Einsatz des Symbolischen gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten. Mag es auch nur auf einer metaphorischen Ebene argumentierbar sein, dass Worte wie „elektrische Leiter“ funktionieren, so verweist diese Metapher – also auch diese „Übertragung“ physikalischer Termini in den Bereich der Sozialwissenschaften – durchaus auf medientheoretisch relevante Grundannahmen in der Bildungssoziologie Bourdieus. Denn auch die Bourdieu'sche Theorie der Felder – schon Marx analysierte die Maschine der Fabrik als „Produktionsfeld“, in dem verschiedene „Kräfte“ (u. a. Bewegungskraft und Dampfkraft oder Muskelkraft und Pferdekraft, die als Arbeitskraft, Lebenskraft bzw. insgesamt als Produktivkraft synthetisiert werden)9 wirksam sind – bedient sich nachdrücklich und mit kritischer Distanz einer Terminologie, die Elemente einer medientheoretisch auswertbaren „Sozialphysik“ (vgl. Bourdieu 2006a, 24–30) aufweist: „Das intellektuelle Kräftefeld ist mehr als nur ein simples Aggregat isolierter Kräfte, ein Nebeneinander bloß zusammengereihter Elemente. Es bildet vielmehr nach Art eines magnetischen Feldes [sic! A.B.] ein System von Kraftlinien: Die in ihm wirkenden Mächte bzw. deren Wirkungsgruppen lassen sich als ebensoviele Kräfte beschreiben, die dem Feld zu einem beliebigen Zeitpunkt kraft ihrer jeweiligen Stellung, gegeneinander und miteinander, seine spezifische Struktur verleihen.“ (Bourdieu 1970, 76) Es ist diese „Metaphorologie“ (Blumenberg 1997, Haverkamp/Mende 2009) und Terminologie „sozialphysikalischer“ Art, die Bourdieu an verschiedenen Stellen von „Spannungen“, „Mechanismen“ und „Operationen“ oder von (gesellschaftlichen) „Maschinen“ und „Apparaten“ sprechen lässt. Dabei kann bei Bourdieu auch eine Kenntnis von Kurt Lewins Feldtheorie aufgezeigt werden (Lewin 1963, dazu auch Güntzel 2008; Erwähnung findet Lewin u. a. in 9 Marx formuliert – bezeichnenderweise im Rahmen des Kapitels zu „Maschinerie und große Industrie“ – in Das Kapital: „Ein großer Trost für die pauperisierten Arbeiter soll sein, daß ihre Leiden teils nur ‚zeitlich‘ (‚a temporary inconvenience‘), teils daß die Maschinerie sich nur allmählich eines ganzen Produktionsfelds [sic! A.B] bemächtigt, wodurch Umfang und Intensität ihrer vernichtenden Wirkung gebrochen werde.“ Vgl. Marx, Karl (1989): Das Kapital, Kritik der Politischen Ökonomie. Erster Band, Berlin: Dietz, 454. Vgl. auch zu weiteren medientheoretischen Aspekten bei Marx den bemerkenswerten Band: Schröter, Jens/Schwering, Gregor/Stäheli, Urs (Hg.) (2006): Media Marx. Ein Handbuch, Bielefeld: transcript.
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Bourdieu/Wacquant 2006a 125)10. Die Akteure binden mithin als Medien im Sinne einer Machtballung unterschiedliche und kollektive Spannungszustände und üben eine „Anziehungskraft“ (Bourdieu 1988, 159) aus, die auf der jeweiligen Akkumulation der unterschiedlichen Kapitalsorten im (gleichsam elektromagnetischen) Feld (vgl. auch Deleuze 1993)11 der sozioökonomischen Kraftlinien beruhen. Man kann mithin schon Bourdieus Feldbegriff buchstäblich als medientheoretisch „aufgeladen“ bezeichnen, wobei – wie im Fall Flauberts – das Medium des Akteurs sich im Rahmen seiner gesellschaftlichen Rolle als Schriftsteller der formgebenden Medien des Diskurses und des Schreibens bedient, um je nach der Kapitalausstattung seiner „Anlage(n)“ und „Kompetenz(en)“ im Medium des (Kraft-)Feldes über seine Produktionen wirksam werden zu können. Im Blick auf diese mehrfache Funktion des Medienbegriffs in der Bildungssoziologie Bourdieus ist des Weiteren daran zu erinnern, dass auch die gesellschaftliche Funktion bzw. das Amt eines Akteurs von Bourdieu als Medium im Sinne eines „(Über-)Trägers“ bezeichnet wird. Bourdieu formuliert dahingehend: „Der wirkliche Ursprung der Magie der performativen Aussage liegt im Mysterium des ‚Ministeriums‘, des Amtes, das heißt in jener Delegation von Macht, aufgrund derer ein einzelner Akteur – König, Priester, Wortführer – ermächtigt ist, im Namen der dergestalt in ihm und durch ihn konstituierten Gruppe zu sprechen und zu handeln; er liegt, genauer gesagt, in den sozialen Bedingungen der Institution des Amtes, die den legitimen Amtsträger [sic! A.B.] dadurch, dass sie das Amt als Medium [sic! A.B.] zwischen ihn und die soziale Gruppe stellt, dazu befähigt, mit Worten auf die soziale Welt Einfluss zu nehmen, indem sie ihn unter anderem mit Zeichen und Insignien versieht, die daran erinnern sollen, dass er nicht im eigenen Namen und nicht aus eigener Machtvollkommenheit spricht.“ (Bourdieu 2005c, 82) Dabei kann auch im Umfeld des Kernstücks von Bourdieus Bildungssoziologie – dem Konzept des Habitus – ebenfalls medientheoretisch und medienpädagogisch Relevantes herausgearbeitet werden. So stellt der Habitus per definitionem ein System dauerhafter und (von einer Generation auf die nächste) „übertragbarer“ Dispositionen dar,12 die sich über den Körper und den Leib der Akteure als „strukturierte und strukturierende Struktur“ und als „System generativer Schemata von Praxis“ auswirken. Dabei vermittelt der inkorporierte Habitus zwischen 10 Für den Hinweis und Diskussionen zur Feldtheorie bei Lewin und Bourdieu danke ich Wolfgang Neurath. 11 Im Blick auf Michel Foucaults späte Widerstandslehre der Subjektivierungslinien formuliert Deleuze: „Ich glaube sogar, daß die Subjektivierung [bei Foucault, A.B.] sehr wenig mit einem Subjekt zu tun hat. Es handelt sich eher um ein elektrisches oder magnetisches Feld [sic! A.B.], eine Individuierung, die über Intensitäten verläuft (niedrige sowohl wie hohe), über individuierte Felder und nicht Personen oder Identitäten.“ (Deleuze 1993, 135) 12 Dieses Bourdieu'sche Verständnis der „Übertragung“ von Dispositionen wie dem Bildungskapital ließe sich medienpädagogisch auch anhand der Definition diskutieren, die Richard Hönigswald vom pädagogischen Verhalten gibt. Er definiert es „als Sachverhalt der Überlieferung [sic! A.B.] eines bestimmten Wissens- bzw. Geltungsbestandes von einer Generation an die nachfolgende durch die Vermittlung [sic! A.B.] der zeitlich nächsten.“ Christian Swertz nutzt diese Definition, um die Grundlagen der Medienpädagogik handlungstheoretisch über den Gebrauch von Medien zu bestimmen: „Es ist möglich, mit einem Medium im Gebrauch [sic! A.B.] des Mediums eine Verständigung über das Medium zu erreichen. Über das Sprechen kann gesprochen [sic! A.B.] werden und über das Schreiben kann geschrieben [sic!. A.B.] werden.“ (Swertz 2007, 213) Diese Definition des Mediengebrauchs lässt sich direkt mit Bourdieus Praxeologie verbinden. Für diesbezüglich äußerst erhellende Diskussionen danke ich an dieser Stelle Christian Swertz.
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objektiven sozialen Strukturen und subjektiven Wahrnehmungs- bzw. Informationsschemata. Bourdieu begreift den Habitus daher – und hier greift seine kritische Rezeption der „generativen“ Grammatik auch medientheoretisch – im Sinne eines „Generators“, „Regulators“ oder „Operators“ für schöpferische Aktivität, für praktische Kreativität. Im Blick auf die Rolle des Habitus im Rahmen von Mediennutzung (Konsumtion) und Mediengestaltung (Produktion) ist es folglich äußerst interessant, dass Bourdieu den „Operator Habitus“ angesichts des – nach Harry Pross und Dieter Baacke sekundären – Schriftmediums und im Blick auf die Praxis des Schreibens expliziert und dabei eingehend die diesbezüglichen „Materialitäten der Kommunikation“ (vgl. dazu grundlegend Gumbrecht/Pfeiffer 1995) in den Blick nimmt: „Ein vertrautes Paradigma für diesen Analogie stiftenden und auf Analogien basierenden Operator [sic!. A.B.], eben den Habitus, liegt im ‚Schreiben‛ vor: kraft dieser Disposition, d. h. dieser besonderen Art und Weise des Zeichnens von Buchstaben, wird stets die gleiche Schrift erzeugt, d. h. graphische Linien, die ungeachtet aller Unterschiede in Größe, Stoff und Farbe der Schreibunterlage (Blatt Papier oder Schiefertafel), oder des Schreibmaterials (Füller oder Kreide), ungeachtet also der Unterschiede des jeweils aufgewendeten motorischen [sic! A.B.] Gesamtkomplexes, auf Anhieb eine Art Familienähnlichkeit sichtbar werden lassen, ähnlich wie die stilistischen Merkmale oder die Manier, an denen man einen Maler oder Schriftsteller ebenso unfehlbar erkennt wie einen Menschen an seiner Gangart.“ (Bourdieu 1987 a, 282) Ganz im Sinne des auf habituierter Alphabetisierung und praktischer Aneignung der Schrift beruhenden Akts des Schreibens entwickeln sich auch auf anderen Ebenen durch den praktischen Sinn bzw. durch den Sinn für das Praktische im Habitus eines menschlichen Körpers – besonders deutlich bei TänzerInnen oder SchauspielerInnen – „motorische Schemata und automatische Körperreaktionen“ (Bourdieu 1987a, 127) heraus, wobei der Habitus mit seinen Kompetenzen nach Bourdieu immer auch praktische Metaphern – und d. h. auch im psychoanalytischen Sinn – „Übertragungen“ schafft und erzeugt (vgl. dazu auch Freud 1989)13: „Der Habitus erzeugt fortwährend praktische Metaphern, bzw., in einer anderen Sprache, Übertragungen [sic! A.B.] (worunter die Übertragung motorischer Gewohnheiten nur einen Sonderfall darstellt) oder besser, durch die spezifischen Bedingungen seiner praktischen Umsetzung erzwungene systematische Transpositionen […]“ (Bourdieu 1987a, 281) Insofern kann aus mehreren Gründen das Argument ins Spiel gebracht werden, dass der Habitusbegriff bereits im Rahmen seiner näheren Spezifikation und Verwendung bei Bourdieu 13 Bezeichnenderweise ist es in Freuds Traumdeutung das Kapitel zur Traumarbeit, in dem er Verdichtung und Verschiebung als die wesentlichen „Mechanismen“ des Traums beschreibt und dabei von der „Übertragung des Traumgedankens in eine andere Ausdrucksweise“ spricht. Im darauffolgenden Kapitel Zur Psychologie der Traumvorgänge vergleicht Freud dann bemerkenswerterweise den „psychischen Apparat“ mit technischen Übertragungsmedien: „Wir bleiben auf psychologischem Boden und gedenken nur der Aufforderung zu folgen, daß wir uns das Instrument [sic! A.B.], welches den Seelenleistungen dient, vorstellen wie etwa ein zusammengesetztes Mikroskop, einen photographischen Apparat u. dgl. [sic! A.B.] Die psychische Lokalität entspricht dann einem Orte innerhalb eines solchen Apparates, an dem eine der Vorstufen des Bildes zustande kommt. Beim Mikroskop und Fernrohr sind dies bekanntlich zum Teil ideelle Örtlichkeiten, Gegenden, in denen kein greifbarer Bestandteil des Apparats gelegen ist.“ (Freud 1989, 437). Diese technologischen Begriffe der Psychoanalyse spielen durchaus in der Terminologie Bourdieus eine manifeste Rolle. Vgl. auch die Einführung (von Joseph Vogl) und die diesbezügliche Textzusammenstellung des Kapitels Technologien des Unbewussten in: Pias, Claus/Vogl, Joseph/Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/Neitzel, Britta (2004): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA, 372–425.
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medientheoretisch bestimmt ist. Dafür spricht, dass der Habitus gleichsam an den Körpern und der Leiblichkeit der Akteure (vgl. auch Meder 2008)14 samt ihrer Praxis haftet und nur durch ihre Materialität hindurch symbolische Ordnungen und soziale Strukturen „generativ operationalisieren“, „verschalten“ und strukturell „koppeln“ kann, da er eine – durchaus technologisch gedachte – „Schnittstelle der Übertragung“ von aktiv strukturierenden und passiv strukturierten Kräften darstellt. Wird mithin nach Bourdieu die Sprache im Sinne eines (Primär-)Mediums begriffen, so stellt in der Folge und bemerkenswerterweise der Leib eines Menschen – so wie die Sprache, der Diskurs – eine Form von „Speicher“ dar, aus dem Informationen abgerufen werden können. Bourdieu spricht dahingehend auch von unterschiedlichen „Induktorzuständen“ des Leibs, der insofern auch zum „Stromüberträger“ (vgl. auch Deleuze/ Guattari 1977)15 von Gefühlen oder Gedanken bzw. Informationen werden kann: „In allen Gesellschaftsordnungen wird systematisch ausgenutzt, daß Leib und Sprache wie Speicher [sic! A.B.] für bereitgehaltene Gedanken fungieren können, die aus der Entfernung und mit Verzögerung schon dadurch abgerufen [sic! A.B.] werden können, daß der Leib wieder in eine Gesamthaltung gebracht wird, welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwören kann, also in einen jener Induktorzustände [sic! A.B.] des Leibs, der Gemütszustände herbeiführen kann, wie Schauspielern bekannt ist. […] Symbolische Wirkung dürfte auf der Macht über andere und insbesondere über deren Leib und Glauben fußen, verliehen von der kollektiv anerkannten Fähigkeit, durch verschiedenste Mittel [sic! A.B.] auf die zutiefst verborgenen verbal-motorischen [sic! A.B.] Zentren einzuwirken, um sie zu neutralisieren oder um sie zu reaktivieren, indem man sie mimetisch fungieren lässt.“ (Bourdieu 1987 b: 127–128) Vor diesem Hintergrund und in Erinnerung an die Voraussetzungen der soziolinguistischen Diskurspragmatik ist es auch bemerkenswert, dass Bourdieu die handelnden Akteure – und damit wohl auch ihren „Operator Habitus“ –,m in Rekurs auf Leibniz über praktische Routinen und Motoriken im Sinne eines starken Materialismus, mit „Automaten“ vergleicht: „Der Logozentrismus und Intellektualismus der Intellektuellen, in Verbindung mit der der Wissenschaft inhärenten Voreingenommenheit für die psyche, Seele, Seelenleben, Bewußtsein, 14 In seiner Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Systemtheorie und dem Medienbegriff begreift auch Norbert Meder den Leib als Medium: „In meiner theoretischen Grundlegung der Medienpädagogik bildet der Leib in seiner spezifischen Sinnlichkeit deshalb auch das Urmedium. Es ist nach den fünf Sinnen gegliedert. Denn jeder dieser fünf Sinne ist ein eigenes Medium als Gewühl von Empfindungen mit eigener spezifischer Formbildung, was Helmuth Plessner unabweisbar nachgewiesen hat.“ (Meder 2008, 41) 15 Deleuze und Guattari entwerfen im Anti-Ödipus eine Theorie des Libido- und Diskursstroms, der in sozialen Feldern eingespannt ist und über die Organe des Körpers läuft bzw. laufen kann. So formulieren sie im Rahmen der Ausführungen zur Wunschproduktion: „Unaufhörlich bewirkt der Wunsch die Verkopplung der stetigen Ströme [sic! A.B.] mit den wesentlich fragmentarischen und fragmentierten Partialobjekten.“ (Deleuze/Guattari 1977, 11) An anderer Stelle kritisieren Deleuze und Guattari die psychoanalytische Situation zwischen Arzt und Patient marxistisch anhand ihrer „Stromtheorie“ des Diskurses und des Geldes: „Am Eingang des Analytikerzimmers steht geschrieben: lass deine Wunschmaschinen [sic! A.B.] draußen vor der Tür, verzichte auf deine elternlosen zölibateren Maschinen [sic! A.B.], auf dein Tonband [sic! A.B.] und dein kleines Fahrrad [sic! A.B.], tritt ein und laß dich ödipalisieren. Alles erwächst dem, angefangen mit dem unbeschreibbaren Charakter der Behandlung, ihrem endlosen, zutiefst kontraktuellen Charakter: Redestrom gegen Geldstrom [sic! A.B.]“. (Deleuze/Guattari 1977, 70) Insofern steht eine eingehende Verknüpfung des Anti-Ödipus mit der Bourdieu'schen Praxeologie noch aus.
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Vorstellungen, einmal ganz abgesehen vom bürgerlichen Anspruch auf den Status der ‚Person‘, haben die Einsicht verhindert, daß wir Menschen, laut Leibniz, ‚in dreiviertel unserer Handlungen Automaten‛ [sic! A.B.] sind, […]“ (Bourdieu 1987a, 740). Dabei ist gerade angesichts dieses „technologischen“ Arguments nachdrücklich festzuhalten, dass die Bourdieu'sche Praxeologie gerade nicht mehr strukturalistisch oder deterministisch ist, da diese Handlungstheorie des (Un)bewussten die routiniert maschinellen Medien der „leibhaftigen Akteure“ im Medium ihrer „singulären (Sprach-)Äußerungen“ – und im Sinne des vierten Viertels unserer Handlungen – gegen vollständige Determination und regelnde Strukturfunktionen stark macht und die Akteure – bei aller Medienbegrifflichkeit – keinen „mechanischen Gesetzen“ folgen, die sich zur Gänze ihrem Bewusstsein entziehen. Sie sind eben doch nicht nur „geregelte(n) Automaten gleich Uhren“. Denn sie befolgen nicht einfach eine Regel, sondern setzen ihren Habitus „noch in den kompliziertesten Handlungsverläufen“ (Bourdieu 1992, 28) durch die Verwendung von Worten und über ihren Körper gemäß verschiedener Strategien und Regelmäßigkeiten praktisch aufs Spiel.
4. Conclusio und Ausblick In diesem Sinne lässt sich zusammenfassen, dass Bourdieu nicht nur Sprache, Sprechen und Diskurs, sondern auch Akteure, Felder und den Habitus mit medienspezifischen Termini umschreibt, anhand derer – ganz im Sinne Dieter Baackes – eine sozialwissenschaftlich orientierte Medienpädagogik mehrfach ansetzen kann. Dabei soll im Rahmen der Diskussionen zum „medialen Habitus“ das Argument stark gemacht werden, dass das Konzept des Habitus schon bei Bourdieu auf mehreren Ebenen medientheoretisch durchsetzt ist und mithin im Gesamtwerk Bourdieus – auch wenn der Begriff des „medialen Habitus“ von ihm nicht verwendet wurde – von einem mediatisierten (strukturierten) und mediatisierenden (strukturierenden) Habitus insofern gesprochen werden kann, als das Konzept des Habitus sich schon bei näherer Betrachtung der Bourdieu'schen Praxeologie mehrfach mit informations-, kommunikationsund medienwissenschaftlichen Termini verknüpft. Eine eingehende Diskussion dieser Termini kann auch die aktuellen Debatten der Medienpädagogik bereichern. Dies vor allem im Sinne der Grundlagenforschung: Denn wenn eine sozialwissenschaftlich orientierte Medienpädagogik auf die Bourdieu'sche Bildungssoziologie rekurriert, stößt sie dabei auf eine praxeologische Medientheorie. Erinnert man gleichzeitig daran, dass Dieter Baackes Medienpädagogik nicht zuletzt im Rekurs auf Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1995) von Beginn an sozialphilosophisch und sozialwissenschaftlich ausformuliert wurde, bestünde die von Baacke in Aussicht gestellte Verbindung beider Theoriebildungen in einer übergreifenden trans- und interdisziplinären Mediensoziologie. Eine Mediensoziologie, die (Baackes) Medienpädagogik und (Bourdieus) Bildungssoziologie im Sinne einer produktiven Synthese theoretisch und praktisch als „medienpädagogische Sozialwissenschaft“ oder „sozialwissenschaftlich fundierte Medienpädagogik“ verbinden könnte. Wie einleitend erwähnt, untersucht der vorliegende Artikel nur zwei Ebenen des Medienbegriffs bei Bourdieu. Neben Sprache, Sprechen und Diskurs, neben Akteuren, Feldern und Habitus lassen sich im Gesamtwerk Bourdieus allerdings noch zwei weitere Ebenen einer praxeologischen Medientheorie isolieren: So geht seine Auseinandersetzung mit den Medien Fotografie (Bourdieu 1983b) und Fernsehen (Bourdieu 1998b) grundlegend von ihrem sozialen Gebrauch aus und stellt insofern eine praxeologische Theorie der „Mediennutzung“ dar. Und
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so beschreibt auch seine Analyse der Institution Universität im Homo Academicus (1988) das Bildungssystem im bahnbrechenden Kapitel zu den „Kategorien des professoralen Verstehens“ als „Bewertungsmaschine“ (Bourdieu 1988, 355 und 376). Bourdieu hält dabei fest, dass es sich bei diesem Mechanismus der schulischen Bewertung und Klassifikation um eine Maschine handelt … „[…] die mit sozial bewerteten Produkten gefüttert wird, um dann schulisch bewertete Produkte auszuspucken. Allerdings fällt bei dieser Betrachtungsweise ein wesentliches Moment der von ihr geleisteten Transformation unter den Tisch: Tatsächlich sorgt diese Maschine [sic! A.B.] für eine enge Korrespondenz zwischen Eingangsbewertung und Ausgangsbewertung, ohne je die sozialen Kriterien und Prinzipien der Bewertung zu kennen oder offiziell anzuerkennen.“ (Bourdieu 1988, 363–364) Auch MedienpädagogInnen wären als Akteure mit ihrem (medialen) Habitus mithin Teil dieser Maschine. Doch die nähere Auseinandersetzung mit den letztgenannten Ebenen der Bourdieu'schen Bildungssoziologie und/als Maschinentheorie steht auf einem zweiten medienpädagogischen Blatt.
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Alessandro Barberi
Von Fotografien, Televisionen und symbolischen Maschinen Pierre Bourdieus Bildungssoziologie als praxeologische Medientheorie. Teil 2 Beitrag online im Ressort Forschung unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/629
1. Einleitung Im Gesamtwerk Pierre Bourdieus lässt sich wie in Teil 1 gezeigt hinsichtlich des Diskurses und des Habitus eine breite Anzahl von Medienbegriffen nachweisen. So wird der Bereich des Sprechens, Handelns und Gebrauchens von Gegenständen im Sinne (s)einer von Karl Marx und Max Weber her gedachten Theorie der Praxis (Bourdieu 1979) konzipiert und mit medien-, kommunikations- und informationstheoretischen Termini umsetzt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass derartige Begriffe und Konzepte sich auf der Ebene technischer Medien und auf der Ebene der technologischen Modellierung von Institutionen als Maschinen oder Apparate fortsetzen. Wie bereits in Teil 1 argumentiert, lassen sich im Rahmen des Bourdieu’schen Gesamtwerks insgesamt vier Ebenen einer praxeologischen Medientheorie isolieren und unterscheiden: 1. Bourdieu begreift Sprache, Sprechen und Diskurs als Medien, 2. Bourdieu begreift Akteure, Felder und Habitus als Medien, 3. Bourdieu begreift Fotografie, Fernsehen und Aufzeichnungsgeräte als (technische) Medien, und 4. Bourdieu begreift Institutionen wie die Universität als Maschinen bzw. Automaten und mithin auch als Medien. Der hier folgende zweite Teil behandelt nach der Ausarbeitung der ersten beiden Ebenen in Teil 1 die dritte und die vierte Ebene und versucht erneut, mediensoziologisch und medientheoretisch relevante Konzepte in der Praxeologie Bourdieus aufzuzeigen. Dabei wird ganz besonders im Umfeld der Bourdieu’schen Analysen von Fotografie, Fernsehen und Tonbandgerät deutlich, dass er ihre technologische Eigendynamik als materielle Produktionsinstrumente genauso berücksichtigt wie die Tatsache ihrer sozialen Verwendung, ihres gesellschaftlichen Gebrauchs. Schon in der Auseinandersetzung mit dem technischen Medium der Fotografie entfaltet Bourdieu dabei eine (mediale) Epistemologie im Sinne einer (medialen) Erkenntnissoziologie1, die auch für seine Modellierung anderer technischer Medien von großer Bedeutung ist. 1
Die Bourdieu'sche Praxeologie beruht zu einem Gutteil auf der Auseinandersetzung mit der französischen (historischen) Epistemologie i. e. Erkenntniskritik. Vgl. dazu Canguilhem, Georges (1979):
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2. Technologie(n): Fotografie(n) So ist es für die Bourdieu’sche Diskussion des Mediums Fotografie in Eine illegitime Kunst (1983b) grundlegend, dass man ihr seit dem historischen Auftauchen des Fotoapparats im 19. Jahrhundert bestimmte gesellschaftliche Gebrauchsweisen eingeschrieben hat. In ihrem zentralperspektivischen Aufbau erscheint sie dabei als realistisch und objektiv. Demgegenüber ist es medientheoretisch bemerkenswert, dass Bourdieu die fotografische Zentralperspektive (vgl. auch Panofsky 1927) eher als „Technik der Sinnestäuschungen“ (Bourdieu 1983b, 87) beschreibt und untersucht, wie das technische Medium der Fotografie im Sinne von Roland Barthes einen „Realitätseffekt“ (effet de réel) in Szene setzt und hervorbringt (Barthes 1968). Im Sinne einer medienpädagogischen und -theoretischen Epistemologie ist dieser Umstand relevant, da Bourdieu in der Analyse der sozialen Gebrauchsweisen des technischen Mediums Fotografie diese als realitätskonstitutiv beschreibt. Darin besteht auch der neokantianische Anteil der Bourdieu'schen Praxeologie (Bickel 2003, Magerski 2005), die auch als eine Theorie der konstruktivistischen Mediennutzung2 aufgefasst werden kann. Hinsichtlich dieses praxeologischen Aspekts kann sie daher auch mit einer handlungsorientierten Medienpädagogik (Baacke 1997, 46–50, Tulodziecki et al. 1995, Hug 2011) verknüpft werden. Medientheoretisch kommt Bourdieu dabei bezeichnenderweise im Sinne einer „materialistische(n) Theorie der Erkenntnis“ (Bourdieu 2002, 26) auf die marxistische Ästhetik Walter Benjamins zu sprechen, wenn er die Fotografie konzeptuell als praktisches Mittel und Bedingung der Realitätsherstellung und sogar der Realitätsauflösung begreift: „Es ist ihre zeitliche Definition, in der sich das ganze Paradox der Photographie in ihrer gebräuchlichsten Version offenbart. Als plötzlicher Schnitt in die sichtbare Welt ist die Photographie das Mittel, die solide und kompakte Wirklichkeit der alltäglichen Wahrnehmung in eine unendliche Vielfalt flüchtiger Ansichten aufzulösen, einmalige Konstellationen, Aspekte der wahrgenommenen Welt festzuschreiben, die – darauf hat Walter Benjamin hingewiesen – ihrer Flüchtigkeit wegen im Grunde gar nicht wahrgenommen werden können.“ (Bourdieu 1983 b, 87)3 Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Vgl. dazu auch Rheinberger, Hans-Jörg (2007): Einführung in die Historische Epistemologie, Hamburg: Junius. Von dieser Traditionslinie her ist auch zu verstehen, weshalb Bourdieu sich immer wieder auf die Radikalität der Kant'schen Kritik beruft: „Und der Rückgriff auf Kant ist nun nicht zu sehen als Mittel zur Überschreitung der Hegelschen Tradition durch Rettung des Universellen, wie es bei einigen deutschen Denkern der Fall ist, vielmehr als ein Weg zur Radikalisierung der Kritik in dem Sinne, daß in jedem Einzelfall nach den gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit gefragt wird – einschließlich der Möglichkeit der Kritik selber“ (Bourdieu 1992, 38). Damit ist auch der Schritt von einer „reinen“ Erkenntniskritik zu einer Erkenntnissoziologie angedeutet. 2 Zur Argumentation des Konstruktivismus vgl. grundlegend Glasersfeld, Ernst von (1996): Der Radikale Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt/M.: Suhrkamp, und: Watzlawick, Paul (2006) (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München: Piper. 3 Benjamin formuliert im Rahmen des Kunstwerkaufsatzes: „Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jener.“ Deshalb winkt auch aus den frühen Fotografien die Aura zum letzten Mal im „flüchtigen“ Ausdruck eines Menschengesichts. Vgl. Benjamin, Walter (1934/35): Das Kunstwerk im Zeitalter sei-
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Dabei ist das Besondere an der Bourdieu'schen Fassung der ästhetischen Produktionsbedingung des „Mittels“ Fotografie, dass sie nachdrücklich mit dem „naiven Realismus“ einer Abbild- oder Widerspiegelungstheorie bricht.4 Denn gerade dem Medium der Fotografie wurde und wird oft bescheinigt, eine objektive Repräsentation des Wirklichen zu leisten. Ganz im Gegenteil begreift Bourdieu den Gebrauch der fotografischen Technik im Rekurs auf Gilbert Simondon (Simondon 2012)5 in einem dialektischen Wechselwirkungsverhältnis: technische Voraussetzungen wie die Fotografie sind an den gesellschaftlichen Vorstellungen/Repräsentationen genauso beteiligt, wie diese realistischen Vorstellungen/Repräsentationen den gesellschaftlichen Gebrauch dieser Technik praktisch mitbestimmen. Der Fotoapparat und das Bild der Fotografie sind mithin immer schon selbst technische und praktische „Produkte“: „Zweifellos liegt es ebensosehr an der gesellschaftlichen Vorstellung vom technischen Gegenstand, der sie hervorbringt, wie an dem gesellschaftlichen Gebrauch, der von ihr gemacht wird, wenn die Photographie als die treue Spiegelung des Wirklichen gilt. In der Tat, das ‚mechanische Auge‛ genügt der gängigen Vorstellung von ästhetischer Perfektion und Objektivität, definiert durch die Kriterien der Ähnlichkeit und der Lesbarkeit. Das so hergestellte Bild ist das Produkt eines Gegenstandes. Und – darauf hat Gilbert Simondon hingewiesen – Anbeter wie Verächter der Maschine stimmen jedenfalls darin überein, daß die Perfektion einer Maschine dem Grad der Automatisierung korrespondiere.“ (Bourdieu 1983b, 89) Die technische Medialität des Fotoapparats ist also vom maschinellen Perfektions- und Automatisierungsgrad der jeweiligen Produktionsverhältnisse abhängig. Diese bestimmen materiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Pias, Claus/Vogl, Joseph/Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/Neitzel, Britta (2004): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA, 18–33, hier: 23. 4 Für die Entwicklung der marxistischen Epistemologie formulierte Friedrich Engels in den Materialien zum Anti-Dühring ganz im Gegensatz zu Bourdieu und in erkenntnistheoretisch vereinfachender Weise: „[Ideen – Spiegelbilder der Wirklichkeit] Die Ideen alle der Erfahrung entlehnt – richtig oder verzerrt – der Wirklichkeit.“ Vgl. Engels, Friedrich (1962): Materialien zum „Anti-Dühring“, MEW Band 20, Berlin: Dietz, 573–596, hier: 573. Bezeichnend ist aber auch, dass Engels seine Unterschrift unter folgende Sätze, die wohl eher von Marx stammen, gesetzt hat: „Nachdem unser wahrer Sozialist die Natur so mystifiziert hat, mystifiziert er das menschliche Bewußtsein, indem er es zum ‚Spiegel‛ der so mystifizierten Natur macht. Natürlich, sobald die Äußerung des Bewußtseins den Gedankenausdruck eines frommen Wunsches über menschliche Verhältnisse der Natur untergeschoben, versteht es sich von selbst, daß das Bewußtsein nur der Spiegel ist, in dem die Natur sich selbst beschaut. Wie oben aus der Qualität des Menschen als bloßer Naturkörper, so hier aus seiner Qualität als bloßer passiver Spiegel, in dem die Natur zu Bewußstsein kommt, wird bewiesen, daß ‚der Mensch‛ den in der Natur als nicht existierend unterstellten Zwiespalt ebenfalls in seiner Sphäre aufzuheben habe.“ (Marx/Engels 1969, 460–461) Mit diesen Sätzen in Händen lässt sich mithin bei Marx selbst eine Kritik an der (Wider-)Spiegelungstheorie nachweisen. Die Abbild- oder Widerspiegelungstheorie hat aber in bestimmten Formen des orthodoxen Marxismus u. a. die (neo-)kantianische Erkenntniskritik oft dogmatisch negiert. Dass indes über die Frage nach den Möglichkeits- und Produktionsbedingungen der menschlichen Erfahrung (ohne Widerspiegelung) eine Verbindung von Kant und Marx möglich ist, wurde nicht zuletzt im Umfeld der Frankfurter Schule eingehend diskutiert. Vgl. dazu Negt, Oskar (2005): Kant und Marx. Ein Epochengespräch, Göttingen: Steidl. Vgl. auch Sohn-Rethel, Alfred (1990): Das Geld, die bare Münze des Apriori, Berlin: Wagenbach. Auch der Austromarxismus suchte im Umfeld des Begriffs „Sozialapriori“ eine diesbezügliche Verbindung von Kant und Marx. Vgl. dazu Adler, Max (1936): Das Rätsel der Gesellschaft. Zur erkenntnis-kritischen Grundlegung der Sozialwissenschaft, Wien: Saturn. 5 Vgl. Simondon, Gilbert (2012): Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich: diaphanes.
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alistisch noch die Vorstellungen, Repräsentationen und Bilder mit, die man sich von der oder einer Fotografie macht. Umgekehrt gehen aber diese objektivistischen und realistischen Vorstellungen unter Aktivierung traditioneller Bestände der Kunst(-Geschichte) durch die Formierung und Objektivierung des technischen Geräts in die soziale Klassifikation und Bestimmung der Fotografie ein. Deshalb analysiert Bourdieu neben der Funktionsweise des Fotoapparats immer auch die gesellschaftlichen Direktiven und Vorgaben, welche die Art und Weise bestimmen, wie der Apparat im Rahmen der Herstellung und Produktion von Bildern seitens der Akteure handelnd genutzt und eingesetzt wird. Hinter der Kamera befindet sich eben immer ein ästhetisch habituierter Kameramann bzw. eine Kamerafrau, die den Apparat praktisch verwenden: „Es ist ebenfalls richtig, daß die Grundprinzipien der gebräuchlichen Technik, die von den Photohändlern oder den Amateuren weitergegeben werden, hauptsächlich aus Verboten bestehen (nicht verwackeln, den Apparat nicht schräg halten, nicht im Gegenlicht oder bei schlechten Belichtungsverhältnissen photographieren), die aufgrund der schlechten Qualität der verwendeten Apparate und fehlender technischer Fertigkeiten im Allgemeinen von der Erfahrung bestätigt werden.“ (Bourdieu 1983b, 91) Die gesellschaftlichen Funktionen sind also der Materialität des Fotoapparats selbst eingeschrieben. Umgekehrt ist die Fotografie als Praxis und ästhetische Klassifikationsform auch dem Habitus der Akteure und damit der symbolischen Auffassung und Behandlung von Fotoapparat und Fotografie eingelagert. Betont Bourdieu mithin die widerständige Materialität des Fotoapparats als Produktionsinstrument, gerät praxeologisch immer auch die Verwendung des Apparats durch habituierte und mediatisierte Akteure in den Blick. Insofern funktioniert der Fotoapparat nach Bourdieu als (technisches) Medium zwischen symbolischen Ordnungen und sozialer Wirklichkeit (Niesyto 2002). Die Fotografie ist ein praktisches Mittel zur Ordnung der alltäglichen Wahrnehmung und verweist als Apparat oder als Bild auf die ästhetischen Voraussetzungen jener Gruppen und Individuen, die sie gebrauchen und nutzen. Die fotografische Praxis mediatisiert in ihrer Gegenständlichkeit also die subjektive Aktivität der Handelnden und die objektive Materialität des technischen Mediums Fotografie. Technische Medien und ihr gesellschaftlicher Gebrauch konstituieren sich mithin – im Sinne eines dialektischen (Produktions-)Verhältnisses – gegenseitig. Schon in der Auseinandersetzung mit der Fotografie entwirft Bourdieu mithin eine praxeologische Mediensoziologie, die auch seine Konzeptualisierung anderer technischer Medien bestimmt. Im Sinne einer reflexiven medienpädagogischen Deutung der Bourdieu’schen Bildungssoziologie als Medientheorie wäre darüber hinaus zu diskutieren, welche Rolle der Fotoapparat und die Fotografien in Bourdieus eigener (medialer) Forschungspraxis spielten. So unterstützt Bourdieu in Die feinen Unterschiede (1987a) seine soziologisch-statistischen Tableaus auch durch das Einflechten explizierender Bilder und Fotografien (vgl. etwa Bourdieu 1987a, 246– 247). Im Jahr 2009 sind darüber hinaus in einem schönen Band auch jene Fotografien publiziert worden, die zwischen 1958 und 1961 während seiner algerischen Feldforschungen entstanden waren.6
6 Vgl. Bourdieu, Pierre (2009): In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Konstanz: UVK.
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3. Technologie(n): Television(en) Mit den zwei Vorträgen Über das Fernsehen (1998) verlängert und intensiviert Bourdieu dann die bisher vorgestellten medientheoretischen Aspekte seiner Bildungs- und Kultursoziologie: Allein durch die mediale Ausstrahlung im französischen TV7 markieren diese beiden Vorträge eine selbstreflexive Form von Mediensoziologie. Im Sinne der Selbstkritik von Ein soziologischer Selbstversuch (2002) wird die wissenschaftliche Reflexion direkt auf die Funktionsweisen und Mechanismen der Akteure und Felder angesichts des technischen Mediums Fernsehen gelenkt. Dabei begreift Bourdieu als intellectuel engagé das Fernsehen erneut und im Marx'schen Sinne als „Produktionsmittel“ und „Kommunikationsinstrument“ (Bourdieu 1998 b, 49) der Information, das immense symbolische Macht ausübt. Genauso wie das Sprechen, der Habitus oder die Fotografie setzt es dabei einen medialen „Realitätseffekt“ (effet de réel) in Szene. Es sind jedoch nicht so sehr die durchaus bekannten und wichtigen Eigentumsverhältnisse der großen Fernsehanstalten, sondern erneut die feinnervigen mediensoziologischen Mechanismen der journalistischen und politischen Selbstzensur, die Bourdieu am Bildschirm, den er einen modernen „Spiegel des Narziß“ (Bourdieu 1998b, 43) nennt, in den Blick nimmt: „Es ist nicht belanglos zu wissen, daß NBC der General Electric gehört (was heißt, daß bei eventuellen Interviews mit Anrainern von Atomkraftwerken wahrscheinlich … und übrigens würde niemand auf die Idee kommen …), daß CBS Westinghouse gehört, daß ABC Disney gehört und TF1 Bouygues [großes französisches Bauunternehmen, A.B.] gehört, was über eine ganze Reihe von Vermittlungsschritten durchaus seine Folgen hat. Klarerweise wird eine französische Regierung, die weiß, daß TF1 für Bouygues steht, bestimmte Schritte gegen Bouygues nicht unternehmen. Hinter diesen altbekannten, abgeklapperten Tatsachen, die noch die primitivste Kritik wahrnimmt, verstecken sich aber anonyme, unsichtbare Mechanismen, über die auf vielerlei Art eine Zensur ausgeübt wird, die aus dem Fernsehen ein phantastisches In strument zur Aufrechterhaltung der symbolischen Ordnung macht.“ (Bourdieu 1998b, 20) Dabei existieren beim Auftritt und dem medialen Erscheinen der Akteure auf dem Bildschirm selbstredend ökonomische Zensurinstanzen, die sich der Medienkommunikation der Television gleichsam vom Außen her über Strukturhomologien mit andern Feldern auferlegen. Wichtiger aber sind feldspezifische Mechanismen wie das Ausrichten an der Einschaltquote oder das Nichthinterfragen der jeweiligen (klassen- und medienspezifischen) „Brille“ (Bourdieu 1998b, 29 oder auch 49) der Wahrnehmung, die JournalistInnen aufsetzen, wenn sie etwa über die proletarischen Wohnviertel der Pariser Banlieues berichten. Dabei sagen sie nach Bourdieu mehr über sich selbst aus als über die Lebenswelten der ArbeiterInnen oder Jugendlichen, die sie beschreiben. Die Sicht der Medien ist insofern immer schon sozial positioniert, gefärbt und gefiltert (Champagne 1997)8. Sie effektuiert die Wahrnehmung von sozialer Wirklichkeit viel mehr, als dass sie ein Abbild von ihr liefert. In der Suche nach dem Aufregenden und auf der Jagd nach dem nächsten Scoop ist es nach Bourdieu darüber hinaus auch im Medi7 Die beiden Vorträge in Über das Fernsehen (1998) stellen die Transkription der Aufzeichnung von zwei Fernsehsendungen dar, die vom Collège de France produziert und am 18. März 1996 vom französischen Privatsender Paris Première ausgestrahlt wurden. 8 Patrick Champagne hat diesen „Sozialperspektivismus“ der Medien eingehend herausgearbeitet. Vgl. dazu: Champagne, Patrick (1997): Die Sicht der Medien, in: Bourdieu, Pierre et al. (Hg.): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz: UVK, 75–86.
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um des Fernsehens und angesichts der Macht der Bilder das Medium des Wortes (und des Diskurses), durch dessen (Fernseh-)Übertragung symbolische Gewalt ausgeübt wird. Gibt das Fernsehen dabei vor, die Wirklichkeit abzubilden, ist es daher ganz im Sinne von Bourdieus „strukturalistischem Konstruktivismus“ bzw. „konstruktivistischem Strukturalismus“ (Bourdieu 1992, 135) ein mediensoziologisches Instrument zur Schaffung von mediensoziologischer Wirklichkeit. Dabei spielen das Produktionssetting, die Kamera, der Fernsehbildschirm und eben nicht zuletzt die Akteure im Feld eine maßgebliche Rolle. Das Kommunikationsinstrument Fernsehen ist daher nach Bourdieu als Massenmedium immer auch in der Gefahr der Instrumentalisierung und der Manipulation von Information durch gleichsam automatisierte Informatoren: „Wenn man sich die naiv scheinende Frage stellt, wie die Leute sich eigentlich informieren, deren Aufgabe darin besteht, uns zu informieren, zeigt sich, daß sie, grob gesagt, von anderen Informanten informiert werden. Natürlich, es gibt die Presseagenturen, offizielle Quellen (Ministerien, Polizei usw.), mit denen die Journalisten auf komplexe Weise zusammenarbeiten müssen, usw. Das Entscheidende aber an der Information, jene Information über die Information nämlich, die zu entscheiden ermöglicht, was wichtig, was übermittelnswert ist, kommt zum großen Teil von anderen Informatoren. Und das führt zu einer Art Nivellierung, einer Homogenisierung der Wichtigkeitshierarchien.“ (Bourdieu 1998b, 34–35) Begreift Bourdieu die Habitusformen durchaus medientheoretisch als Generatoren, Regulatoren oder Operatoren (vgl. Teil 1 dieser Artikelserie) so funktionieren ganz in diesem medientheoretischen Sinne auch die Akteure des Journalismus vor und hinter dem Bildschirm partiell automatisiert und im Namen des Kommerzes als Informatoren und Manipulatoren (Bourdieu 1998, 21). Sie sind Kommunikatoren (Bourdieu 1998b, 53) und Zensoren (Bourdieu 1998b, 45) bzw. im alltäglichen Sinn des Fernsehens aktive Moderatoren (Bourdieu 1998b, 43) der Informationsübertragung. Ihr medialer Habitus unterwirft sich dabei auch im Sinne der Informationstheorie dem praktisch eingesetzten „Messinstrument“ der Einschaltquote, die durch die medialen Zwänge zwischen Akteur und Feld eine subtile Medienzensur auf (gesellschafts-)kritische Reflexionspotenziale ausübt – Potenziale, die indes zu den höchsten Errungenschaften der Menschheit zählen. Bourdieu denkt dabei an Mathematik, Poesie, Literatur, Philosophie und auch an politisches Denken, linkes Bewusstsein und Gesellschaftskritik. Die neoliberal kommerzialisierten JournalistInnen stabilisieren indes und demgegenüber im Rahmen des televisionären Signal- und Informationsaustauschs nur allzu oft Informationsherrschaft, indem sie u. a. der Plattitüde oder dem Gemeinplatz gegenüber differenzierter Information großen Raum geben. Medientheoretisch wird die Information durch das Medium Fernsehen also eingeebnet. Dies bringt Bourdieu erneut medien-, informations- und kommunikationstheoretisch auf den Punkt: „Nun lautet jedoch die Grundfrage aller Kommunikation, sei es eine Rede, ein Buch oder eine Fernsehbotschaft, ob die Voraussetzungen des Verständnisses erfüllt sind: Verfügt der Hörer über den Code, mit dem er decodieren kann, was ich sage? Wenn sie einen ‚Gemeinplatz‛ von sich geben, ist das Problem von vornherein gelöst. Die Kommunikation gelingt augenblicklich, weil sie in gewisser Hinsicht gar nicht stattfindet. Oder nur zum Schein. Der Austausch von Gemeinplätzen ist eine Kommunikation ohne anderen Inhalt als eben den der Kommunikation.“ (Bourdieu 1998b, 39)
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Gleichsam geschützt durch das symbolische Kapital und das „strahlende Charisma“ als Professor (Bourdieu 1987b, 257)9 wird Bourdieu auch von der audiovisuellen Abteilung des Collège de France, welche die beiden Vorträge Bourdieus Über das Fernsehen aufgenommen und ausgestrahlt hat, sozial abgeschirmt. So kann Bourdieu bei voller „Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel“ (Bourdieu 1998b, 15) im Medium des Fernsehens das Medium des Diskurses kommunikationspraktisch einsetzen, um im Rahmen dieser kritischen Informationsübertragung die Mechanismen und Funktionsweisen des Mediums Fernsehen im Fernsehen selbst zu sezieren und offenzulegen. Auf der Ebene dieser mikrosoziologischen Mechanismen sind die JournalistInnen – nach Platons medientheoretisch bemerkenswertem Spruch – nur „Marionetten der Gottheit“ einer kommerzialisierten und damit abgeflachten Information: „Das Fernsehen ist ein Universum, das den Eindruck vermittelt, daß die Akteure, trotz allem Anschein von Wichtigkeit, von Freiheit, von Autonomie und manchmal sogar einer erstaunlichen Aura (man braucht nur die Fernsehzeitschriften zu lesen), Marionetten eines Zwangszusammenhanges sind, der zu beschreiben, einer Struktur, die herauszuarbeiten und ans Licht zu bringen ist.“ (Bourdieu 1998b, 53) Dabei geht es Bourdieu nicht um eine Denunziation der JournalistInnen, sondern darum, in der Auseinandersetzung mit JournalistInnen und im Sinne der Aufklärung „Mittel zur gemeinsamen Überwindung der bedrohlichen Instrumentalisierung ausfindig zu machen.“ (Bourdieu 1998b, 17) Insgesamt zeigen die beiden Vorträge Über das Fernsehen, wie Bourdieu im Rahmen seiner Analyse des technischen Mediums Fernsehen erneut medien-, kommunikations- und informationstheoretische Begriffe verwendet, um die medialen Mechanismen des journalistischen Feldes zu modellieren. Im Rahmen von Bourdieus Analyse des Mediums Fernsehens stehen mithin wie bei der praxeologischen Analyse der Fotografie die Mechanismen des journalistischen Feldes und die in ihm eingesetzten Mittel und Instrumente vor Augen. Dabei ist der Signal- und Informationsaustauch am Bildschirm kommunikationstheoretisch durch eine Verknappung der Information gekennzeichnet. Unter den Voraussetzungen des technischen Mediums Fernsehen zirkuliert das diskursive Medium des Wortes als Überträger der Information im Rahmen allgemeiner symbolischer Herrschaftsverhältnisse. Dabei trägt das leibliche Medium des journalistischen Akteurs ein bestimmtes Informationskapital über den medialen Habitus und reproduziert so die Automatismen des journalistischen Feldes. Technische Medien und gesellschaftlicher Gebrauch konstituieren sich nach Bourdieu also gegenseitig. In-
9 Bemerkenswert ist, dass Bourdieu im Rahmen seiner Theorie des Charismas, die er in kritischer Auseinandersetzung mit Max Weber gewinnt, selbiges durchaus marxistisch und damit auch medientheoretisch als Produkt von Kreditübertragungen begreift. Bourdieu spricht vom entfremdeten Bewusstsein und bestimmt dann das Bewusstsein näher: „[…] Ein Bewußtsein, das keine Ahnung davon hat, daß es das, was es erkennt, selbst hervorbringt, und deshalb gar nicht wissen will, daß der tiefinnerste Reiz seines Bezugsobjekts, nämlich dessen Charisma, lediglich das Produkt unzähliger Kreditübertragungen ist, mit denen die Subjekte dem Objekt Kräfte zuschreiben, denen sie sich dann unterwerfen.“ (Bourdieu 1987b, 257) Medientheoretisch relevant ist auch der Umstand, dass Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft vom „Träger des Charismas“ spricht, in dem eine „Sendung“ verkörpert wird (Weber 1976, 658). Eine Seite weiter spricht Weber auch von einem „Apparat von Leistungen und Sachgütern“, der dem „Charismaträger“ angepasst ist (Weber 1976, 659). Damit zeigt sich auch hier (bei Weber und Bourdieu), dass eine medienwissenschaftliche Ausdeutung der sozialwissenschaftlichen Klassiker allemal lohnend ist und die sozialwissenschaftliche Grundlegung der Medienpädagogik bereichern kann.
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sofern steht auch mit Bourdieus Analyse des technischen Mediums Fernsehen eine praxeologische Medientheorie vor Augen.
4. Technologi(en): Radiografie(n) Des Weiteren ist hinsichtlich der Behandlung von technischen Medien bei Bourdieu auch hervorzuheben, dass er im Rahmen seiner Reflexion der soziologischen Interviewszenen von Das Elend der Welt (1997) eingehend auf die Problematik des Medienwechsels zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort im Rahmen der Transkriptionsoperation zu sprechen kommt. Dabei reflektiert er an einigen Stellen auch über das Aufzeichnungsgerät, also das Tonband, als technisches Medium. Wie bei der Fotografie ist es Bourdieu insbesondere darum zu tun, die sozialen Praktiken von Interviewern und Interviewten reflexiv in den Blick zu nehmen, um über das tatsächlich durch das Tonband Aufgenommene hinaus auch die sozialen Kontexte und Gebrauchsweisen von Sprache, Schrift und eben auch Tonband zu berücksichtigen. Das Transkriptions- und Analyseverfahren besteht dabei nach Bourdieu explizit in einem Medienwechsel, der seinerseits von technischen Medien unterstützt und getragen wird. Deren Eigenart besteht dabei aber auch in einer Informationsverkürzung, da u. a. die körperlichen und gestischen Eigenarten eines Akteurs vom Tonband nicht aufgenommen werden können: „Das Protokoll, das der Autor der Transkription von dem auf Band aufgenommenen Diskurs anfertigt, ist zwei Arten von Ansprüchen unterworfen, die sich häufig schwer miteinander vereinbaren lassen: Um dem Anspruch gerecht zu werden, möglichst nah an dem zu bleiben, was während des Interviews in jeglicher Weise manifestiert wird und was sich nicht auf das tatsächlich auf Band Aufgenommene reduzieren lässt, müßte man eigentlich versuchen, dem Diskurs das zurückzugeben, was ihm die Verschriftlichung und die gewöhnlichen, sehr begrenzten und armseligen Instrumente der Zeichensetzung tendenziell nehmen, was gleichzeitig aber seinen ganzen Sinn und Zweck ausmacht. […] Transkribieren heißt also immer auch schreiben im Sinne von neu schreiben: Gleich dem Übergang vom Geschriebenen zum Gesprochenen, der im Theater vollzogen wird, erzwingt auch der Übergang vom Gesprochenen zum Geschriebenen durch diesen Wechsel des Mediums Ungenauigkeiten, die zweifellos die Voraussetzung für wahre Genauigkeit sind.“ (Bourdieu 1997, 797–798) Aus dieser Perspektive lässt sich mithin nach Bourdieu die gesamte soziografisch-ethnografische Arbeit und Forschungssituation von Das Elend der Welt buchstäblich als mediale Operation eines sozialwissenschaftlich reflektierten und analysierten Medienwechsels begreifen. Die Interviewten beantworten Fragen und setzen so einen medialen Informationsaustausch in Gang. Durch die Praxis der Transkription, die ihrerseits unter Verwendung von Tonbändern und Transkriptionsgeräten erstellt wird, greift dann ein praktisch organisierter Medienwechsel, der durch die Verschriftlichung den empirischen Datensatz der Analyse konstituiert. Wie im Fall der Fotografie stellen auch die Medien Schrift und Tonbandgerät eine mediale Voraussetzung der Gegenstands- und Realitätskonstruktion, also der sozialwissenschaftlichen Objektivierung der untersuchten Akteure dar. Dabei wird im medientheoretischen Sinn eine „schonungslose Radiografie“ der gesellschaftlichen Auswirkungen des Neoliberalismus erstellt, wie Franz Schultheis in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe von Das Elend der Welt pointiert formulierte: „In ihrer Zusammenschau ergeben die auf diesem Wege gewonnenen Lebens- und Gesellschaftsbilder ‚von unten‛ eine schonungslose Radiographie der französischen – und nicht nur
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der französischen – Gegenwartsgesellschaft, geprägt von zunehmendem Konkurrenzdruck in allen Lebensbereichen, struktureller Massenarbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Marginalisierung bzw. Ausgrenzung immer breiterer Bevölkerungsgruppen […]“ (Bourdieu 1997, 829).10 Im Rahmen dieser mediensoziologischen Radiografie durch Tonbandaufzeichnung geht es wie angesichts des journalistischen Feldes erneut um die verborgenen Mechanismen und Automatismen der Macht, die nach Bourdieu keineswegs unveränderlich sind, da sie historisch von Menschen gemacht wurden. Um diese Mechanismen aber zu ändern, muss der (Medien-) Soziologe die von „Meinungs-Techniker(n)“ (Bourdieu 1997, 825) in Szene gesetzten Wirklichkeiten fast im Sinne des ideologie- und gesellschaftskritischen Durchbrechens der Schein-Sein-Dialektik analysieren und aufdecken. Bei der Beschreibung dieses Umstands verwendet Bourdieu erneut medientheoretisch relevante Terminologien: „Dazu muß man den Schirm von nicht selten absurden, ja oft sogar widerwärtigen Projektionen durchbrechen, durch die Unbehagen und Leiden zugleich und gleichermaßen zum Ausdruck gebracht und verschleiert werden. Die Mechanismen, die das Leben leidvoll und oft unerträglich machen, zu Bewußtsein zu bringen, heißt noch keineswegs, sie auszuschalten.“ (Bourdieu 1997, 825) In diesem Sinne sind auch Bourdieus politische Engagements und Einsätze, etwa seine Solidaritätsaktion vor streikenden Bahnarbeitern am 4. Dezember 1995 im Gare de Lyon in Paris, die Unterstützung von Attac und die Gründung von raison d’agir, dezidiert als mediensoziologische und medienpolitische Angriffe auf neoliberal-kapitalistische Automatismen und Mechanismen zu interpretieren. Nach ihrer wissenschaftlichen und politischen Analyse können sie der Möglichkeit nach gesellschaftlich ausgeschaltet werden, weil sie zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt auch von bestimmbaren Akteuren und Interessensgruppen eingeschaltet wurden. Ein aktuelles Beispiel für derartige Schaltungsproblematiken stellen die Debatten zur Regulierung respektive Deregulierung der Finanzmärkte dar. Insofern ist die Soziologie eben immer auch ein schaltungstechnologisch instrumentierter „Kampfsport“ (Carles 2009)11, der die verborgenen Mechanismen und Maschinerien der Autoritäten enthüllt und im Blick auf soziale Veränderungen umprogrammieren will. Man möchte fast mit Heinz von Förster von einem kybernet(h)ischen (Förster 1993) Kampfsport sprechen. Kybernet(h)isch deshalb, weil sich die medialen Schaltungen der Macht im symbolischen Medium der Worte tief in den medialen Habitus und den Körper eingraben: „Die Worte bringen die politische Gymnastik der Herrschaft bzw. der Unterwerfung nur deshalb so gut zum Ausdruck, weil sie, zusammen mit dem Körper, die Stütze der tief vergrabenen Schaltungen sind, in denen sich eine gesellschaftliche Ordnung dauerhaft verankert.“ (Bourdieu 2005b, 82–83) 10 Vgl. Schultheis, Franz (1997): Deutsche Zustände im Spiegel französischer Verhältnisse. Nachwort zur deutschsprachigen Ausgabe in: Bourdieu, Pierre et al. (Hg.): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz: UVK, 827–838, hier: 829. Für diesen luziden Hinweis danke ich Reinhard Sieder sehr herzlich. 11 Das von Pierre Carles gedrehte Bourdieu-Porträt „Soziologie ist ein Kampfsport“ (Carles 2009) wäre seinerseits einer medienreflexiven und praxeologischen Feinanalyse zugänglich. In verschiedenen Situationen und von Beginn an wird im Rahmen dieser Dokumentation die Mediennutzung des Pierre Bourdieu (Mikrofon, Radio, Fernsehen, Schrift, Wort etc.) sicht- und hörbar und müsste eigens analysiert werden. Auf YouTube findet sich der Film unter: http://www.youtube.com/watch?v=5Joz5G94L7U (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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Um es hinsichtlich technischer Medien in der Bildungssoziologie Bourdieus pointiert zusammenzufassen: Im Medium der Worte, die vom Medium des Körpers getragen und gespeichert werden, nutzen die Akteure mit ihrem (medialen) Habitus im jeweiligen Feld auch technische Medien wie Fotografie, Fernsehen und Tonbandgeräte. Dabei stellen technische Medien maschinelle Produktionsbedingungen im Sinne einer widerständigen Materialität dar, welche als mediale Voraussetzungen der menschlichen Praxis gelten können. Sie spielen dabei auch eine gewichtige Rolle bei der praktischen Konstruktion und Konstitution von sozialer Wirklichkeit, die ihrerseits über die Vermittlung des (medialen) Habitus wieder formend auf die Materialität von technischen Medien zurückwirken kann. Denn die symbolischen Ordnungen der menschlichen Klassifikations- und Wahrnehmungssysteme konstituieren auch die spezifische Struktur und Materialität technischer Medien. Auch im Fall des Fernsehen stehen technische Medien als Produktionsbedignungen und ihr gesellschaftlicher Gebrauch in einem Wechselwirkungsverhältnis. Dabei ist es vor allem diese praktische Nutzung der technischen Medien durch die habituierten Akteure, die eine Interpretation der Bourdieu’schen Bildungssoziologie als praxeologische Medientheorie legitimiert.
5. Institution(en): die Staatsmaschine(n). Ein Exkurs Im Zuge der hier vorgestellten Ausführungen wurde das Argument vorgetragen, dass sich bei Bourdieu auf mehreren Ebenen markante Medienbegriffe im Sinne einer praxeologischen Theorie der Mediennutzung nachweisen lassen. So ist der Diskurs ein symbolisches Instrument, so stellt der Habitus wie im Fall Flauberts ein Medium im Feld dar und so sind Fotografie, Fernsehen und Tonband explizit als technische Medien in ihrem gesellschaftlichen Gebrauch beschrieben. All diese mediensoziologischen Elemente können nun dort gebündelt werden, wo im Rahmen der Bourdieu'schen Bildungssoziologie auch Institutionen mit medientheoretischer Relevanz als Maschinen oder Apparate begriffen werden. Schon in der Geschichte der Sozialwissenschaften finden sich mehrere AutorInnen, die Institutionen wie den Staat, eine Fabrik oder die Universität in diesem medientheoretischen Sinne konzipierten. Dies soll im Rahmen eines kurzen Exkurses verdeutlicht werden, um danach die bei Bourdieu vorhandene Maschinen- und Apparatustheorie der Institution(en) vor Augen zu führen. Schon die sozialwissenschaftlichen Klassiker Karl Marx und Friedrich Engels kommen immer wieder auf die Staatsmaschine zu sprechen. So schreibt Engels etwa an einer von vielen Stellen von den „Triebrädern der Staatsmaschine“ (Engels 1973, 486). Und Marx korreliert das materielle Interesse der französischen Bourgeoisie dezidiert mit dem Aufbau einer repressiven „Staatsmaschine“: „Aber das materielle Interesse der französischen Bourgeoisie ist gerade auf das innigste mit der Erhaltung jener breiten und vielverzweigten Staatsmaschine verwebt. Hier bringt sie ihre überschüssige Bevölkerung unter und ergänzt in der Form von Staatsgehalten, was sie nicht in der Form von Profiten, Zinsen, Renten und Honoraren einstecken kann.“ (Marx 1960, 150–151) In der Folge hat auch Max Weber die innere Struktur von Parteien und mithin die Schaffung der plebiszitären Demokratie in Maschinenbegriffen ausformuliert: „Der Tatsache nach liegt aber natürlich die Macht in den Händen derjenigen, welche kontinuierlich innerhalb des Betriebes die Arbeit leisten, oder aber derjenigen, von welchen – z. B. als Mäzenaten oder Leitern mächtiger politischer Interessentenklubs (Tammany Hall) – der Betrieb in seinem Gang pekuniär oder personell abhängig ist. Das Entscheidende ist, daß die-
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ser ganze Menschenapparat – die ‚Maschine‛, wie man ihn in den angelsächsischen Ländern bezeichnenderweise nennt, – oder vielmehr diejenigen, die ihn leiten, den Parlamentariern Schach bieten und ihnen ihren Willen ziemlich weitgehend aufzuzwingen in der Lage sind. Und das hat besonders Bedeutung für die Auslese der Führung der Partei. Führer wird nur derjenige, dem die Maschine folgt, auch über den Kopf des Parlaments. Die Schaffung solcher Maschinen bedeutet, mit anderen Worten, den Einzug der plebiszitären Demokratie.“ (Weber 1976, 843) Des Weiteren hat auch Louis Althusser die sozialwissenschaftliche Debatte durch eine Erweiterung einer solchen maschinellen Institutionentheorie bereichert. Hier sei nur im Rahmen eines Zitats an seine „ideologischen Staatsapparate“ erinnert: „Ich bezeichne als ideologische Staatsapparate eine bestimmte Anzahl von Realitäten, die sich dem unvoreingenommenen Beobachter in Form von unterschiedlichen und spezialisierten Institutionen darbieten. Ich schlage eine empirische Liste vor, die natürlich detailliert untersucht werden, in Frage gestellt, verbessert und verändert werden muß. Bei allen Einschränkungen, die dieses Erfordernis mit sich bringt, können wir im Augenblick folgende Institutionen als Ideologische Staatsapparate bezeichnen (die Reihenfolge der Aufzählung hat keine besondere Bedeutung): • der religiöse ISA (das System der verschiedenen Kirchen), • der schulische ISA (das System der verschiedenen öffentlichen und privaten Bildungsinstitutionen), • der familiäre ISA [In der Anmerkung hält Althusser fest: Die Familie erfüllt offensichtlich (auch) andere „Aufgaben“ als die eines ISA. Sie greift ein in die Reproduktion der Arbeitskraft. Sie ist, je nach den Produktionsweisen, Produktionseinheit und (oder) Konsumtionseinheit.], • der juristische ISA [In der Anmerkung hält Althusser fest: Das „Recht“ gehört sowohl zum (repressiven) Staatsapparat als auch zum System der ISA.], • der politische ISA (das politische System, zu dem u. a. die verschiedenen Parteien gehören), • der gewerkschaftliche ISA, • der ISA der Information (Presse, Radio, Fernsehen usw.), • der kulturelle ISA (Literatur, Kunst, Sport usw.)“ (Althusser 1977) Und auch Deleuze und Guattari haben auf unterschiedlichsten Ebenen und in der Tradition von Marx und Engels12 den Maschinencharakter von gesellschaftlichen Institutionen und dabei vor allem des Staates hervorgehoben: 12 Gilles Deleuze verbindet seine gemeinsame Arbeit mit Félix Guattari in einem Interview, das Toni Negri bezeichnenderweise 1990 mit ihm führte, deutlich und klar mit Marx und dem Marxismus: „Ich glaube, daß Félix Guattari und ich Marxisten geblieben sind, alle beide, wenn auch vielleicht in verschiedener Weise. Denn wir glauben nicht an eine politische Philosophie, die nicht auf eine Analyse des Kapitalismus und seiner Entwicklungen gerichtet ist. Bei Marx interessiert uns am meisten die Analyse des Kapitalismus als immanentes System, das seine eigenen Grenzen immer wieder hinausschiebt, auf einer höheren Ebene jedoch immer auf sie stößt, denn die Grenze besteht im Kapital selbst.“ Vgl. Deleuze, Gilles (1993): Kontrolle und Werden. Gespräch mit Toni Negri, in: Deleuze, Gilles: Unterhandlungen. 1972–1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 243–253, hier: 246. Dass Deleuze immer wieder die „Größe von Marx“ vor Augen stand, belegt auch die Tatsache, dass er kurz vor seinem Tod im Jahr 1995 mit den Arbeiten zu einem Buch mit dem Titel La Grandeur de Marx begann.
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„Die Stadt Ur, Ausgangspunkt von Abraham oder des Neuen Bundes. Der Staat hat sich nicht nach und nach entwickelt, sondern taucht vollbewaffnet auf: Meisterstück, originärer Urstaat, ewiges Vorbild dessen, was jeder Staat sein will und begehrt. Die sogenannte asiatische Produktionsweise, einschließlich des Staates, der sie zum Ausdruck bringt oder deren objektive Bewegung er konstituiert, bildet keine distinkte Formation; sie ist vielmehr die Basisformation, die den Horizont der gesamten Entwicklung absteckt. Allseits stoßen wir auf imperiale Maschinen, die den traditionellen historischen Formen vorausgehen und sich durch die Besonderheit des Staates, durch isolierten Gemeinbesitz und kollektive Abhängigkeit definieren.“ (Deleuze/Guattari 1977, 279) Darüber hinaus und ganz in diesem Sinne durchsetzt auch Michel Foucault Überwachen und Strafen (1976) mit einer ganzen Reihe von medientheoretisch bemerkenswerten Begriffen: So handelt Foucault von „Staatsapparaten“ (Foucault 1976, 220), vom „Produktionsapparat“ (Foucault 1976, 226), vom „Disziplinarapparat“ (Foucault 1976, 230) und von „Räderwerken der Disziplin“ (Foucault 1976, 244). Und so sind es bestimmte „Machtmechanismen“ (Foucault 1976, 285), die das Panopticon als „Apparat-Gefängnis“ und „Maschine“ vor Augen führen: „Die Wirkung der Überwachung ‚ist permanent, auch wenn ihre Durchführung sporadisch ist‛, die Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausübung überflüssig zu machen; der architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen und aufrechterhalten kann, welches vom Machtausübenden unabhängig ist; die Häftlinge sind Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen.“ (Foucault 1976, 258) Insofern ist es auch bemerkenswert, dass Foucault an anderer Stelle Max Webers Idealtypen explizit durch institutionelle „Programme“ ersetzt sehen wollte, nach denen Institutionen in ihrem Ablauf funktionieren: „Das rationale Schema des Gefängnisses, des Hospitals oder des Asyls sind nicht allgemeine Prinzipien, die allein der Historiker durch retrospektive Interpretation wiederfinden könnte. Es sind explizite Programme; es handelt sich um Gesamtheiten kalkulierter und durchdachter Vorschriften, denen gemäß man Institutionen zu organisieren, Räume einzurichten oder Verhaltensweisen zu regeln hat.“ (Foucault 2005, 35) Diesen Exkurs zusammenfassend, lässt sich anhand dieser wenigen Beispiele hervorheben, dass in der Tradition der Sozialwissenschaften bereits mehrfach Institutionen wie der Staat, Fabriken, Gefängnisse oder Schulen und Universitäten als Apparate und Maschinen begriffen wurden, worauf Pierre Bourdieu unzweifelhaft aufbaut und reagiert.
6. Institution(en): symbolische Maschine(n) Parallel zu den anderen medientheoretisch relevanten Ebenen der Bourdieu'schen Bildungssoziologie und Praxeologie lässt sich nun auch im allgemeinen Gesamtbild seiner (medialen) Bildungssoziologie der Umstand hervorkehren, dass Institutionen in medien- und maschinentheoretisch relevanter Art und Weise konzipiert werden. So formuliert Bourdieu bereits im Umfeld seiner Analyse der männlichen Herrschaft das Phänomen der Reproduktion von sozialer Ordnung auf allgemeinster Ebene unter Verwendung des Maschinenbegriffs aus: „Die soziale Ordnung funktioniert wie eine gigantische symbolische Maschine zur Ratifizierung der männlichen Herrschaft, auf der sie gründet: Da ist die geschlechtliche Arbeitsteilung,
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die äußerst strikte Verteilung der Tätigkeiten, die einem der beiden Geschlechter nach Ort, Zeit und Mitteln zugewiesen werden.“ (Bourdieu 2005a, 21)13 Diese Maschine der rollenzugeteilten Geschlechterordnung funktioniert, weil sie sich in die Körper einschaltet wie ein Wahrnehmungsprogramm, das vom vergeschlechtlichten Medium Habitus und mithin vom Medium des Körpers getragen wird: „Die soziale Welt konstruiert den Körper als geschlechtliche Tatsache und als Depositorium von vergeschlechtlichten Interpretations- und Einteilungsprinzipien. Dieses inkorporierte soziale Programm einer verkörperten Wahrnehmung wird auf alle Dinge in der Welt und in erster Linie auf den Körper selbst in seiner biologischen Wirklichkeit angewandt.“ (Bourdieu 2005a, 22)14 Ganz parallel zu dieser Analyse der programmierten Geschlechtlichkeit finden sich bei Bourdieu zahlreiche Stellen, an denen er Institutionen wie das Militär im Sinne der soeben knapp aufgezeigten sozialwissenschaftlichen Tradition als Apparate und Maschinen begreift: „Man könnte endlos die Dispositionen aufzählen und analysieren, die das Getriebe des militaristischen Apparats bilden […]“ (Bourdieu 2013, 93). Oder wenig später: „Alle auf der sozialen Welt lastenden Notwendigkeiten tragen dazu bei, dass die Mobilisierungsfunktion, die an die mechanische Logik des Apparats appelliert, dazu tendiert, die Ausdrucks- und Repräsentationsfunktion in den Hintergrund zu drängen […]“ (Bourdieu 2013, 96) Auch in einem kurzen Kapitel von Rede und Antwort (1992) mit dem Titel Die Delegierten des Apparats zeichnet Bourdieu ganz in diesem Sinne das Verhältnis von delegierten Akteuren und der Funktionsweise des bürokratischen Apparats nach: „Das fundamentale Gesetz bürokratischer Apparate lautet, daß der Apparat all denen alles (nicht zuletzt die Macht über den Apparat) gibt, die ihm alles geben und alles von ihm erwarten, weil sie außer ihm nichts haben und nichts sind. Anders ausgedrückt: Der Apparat hängt am stärksten an denjenigen, die am stärksten an ihm hängen, weil er sie am festesten in der Hand hat.“ (Bourdieu 1992, 189) Auch hinsichtlich der Bourdieu’schen Staatstheorie lässt sich diese institutionelle Maschinentheorie nachweisen. Die diesbezüglichen Vorlesungen am Collège de France mit dem Titel Sur l’Etat (2012)/Über den Staat (2014) sind soeben im Deutschen erschienen. Loïc Wacqant 13 Es wäre äußerst interessant, Bourdieus Begriff der „symbolischen Maschine“ über Ernst Cassirer und unter Berücksichtigung der Mechanismen des „symbolischen Kapitals“ mit der Promotionsschrift Sybille Krämers zu vergleichen und zu verbinden, deren Erkenntnisinteresse nicht zuletzt darin besteht, das Umkippen des Symbolischen ins Technische epistemologisch und medientheoretisch zu beschreiben und zu analysieren. Vgl. dazu Krämer, Sybille (1988): Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriss, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Welche Bedeutung „symbolische Maschinen“ und damit auch „Neue Medien“ für die (doppelte) Konstitution unserer Wirklichkeitsvorstellungen haben, wird deshalb auch in folgendem Band kulturund medienwissenschaftlich diskutiert: Krämer, Sybille (1998) (Hg): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Dabei ist es bezeichnend, dass keiner(r) der überaus kompetenten AutorInnen dieses Bandes auf den Begriff der „symbolischen Maschine“ bei Bourdieu zu sprechen kommt, obwohl damit Sozial- und Kulturwissenschaften sehr produktiv verbunden werden können. Könnte dies ein blinder sozialwissenschaftlicher Fleck der medienwissenschaftlich orientierten (Berliner) Kulturwissenschaft sein? 14 Erwähnt sei hier am Rande, dass Bourdieu im Rahmen der Anmerkungen auf ebendieser Seite sein ethnografisches Instrumentarium als ‚Analysegerät‛ bezeichnet. (Bourdieu 2005a, 22: Anmerkung 8.)
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hat dahingehend festgehalten, dass die Staatsmaschine nach Bourdieu gleichzeitig als Repressions- und als organisiertes Befreiungsinstrument des Widerstands gegen Neoliberalismus und Kapitalismus eingesetzt werden kann: „So erscheint der Staat [nach Bourdieu, A.B.] als eine janusköpfige Institution: einerseits als Vehikel, das jene, die am längeren Hebel sitzen, zum Zweck ihrer Bereicherung nutzen; andererseits als das Mittel, durch das das Allgemeine vorangebracht und Gerechtigkeit durchgesetzt werden kann.“ (Wacquant 2012, 334) Die Liste an Stellen, die eine derartige Maschinen- oder Apparatustheorie15 der Institutionen bei Bourdieu lesbar macht, ließe sich beliebig verlängern. Medientheoretisch und bildungswissenschaftlich äußerst wichtig ist aber, dass die Grundannahmen der hier vorgestellten praxeologischen Mediensoziologie Bourdieus ihr Kondensat und ihren Gipfelpunkt in der reflexiv-anthropologischen Analyse des Bildungssystems selbst finden. Denn ein Close Reading des Homo Academicus (1988) macht an mehreren Stellen die Verbindung der unterschiedlichen mediensoziologischen Ebenen der Bourdieu’schen Bildungs- und Kultursoziologie lesbar. So bündeln seine Reflexionen zur Reaktion von Institutionen auf Krisenerscheinungen und -zeiten mehrfach die hier diskutierten medientheoretischen Annahmen. Denn wenn eine Institution als Apparat von Apparatschiks als Akteuren getragen wird, so setzen sie zur Regulierung bzw. Deregulierung von Marktmechanismen verschiedene mediale Manipulationstechniken (etwa das Fernsehen), Redetechniken (das symbolische Medium des Diskurses) und organisatorische Techniken (etwa die Mobilisierung von AnhängerInnen) in Gang und greifen durch diese politische Automatisierung der institutionellen Maschine in die soziale Wirklichkeit effektiv und nachdrücklich ein. Diese technologischen und medialen Zusammenhänge finden sich in folgendem Zitat aus dem Homo Academicus bemerkenswert zusammengeführt und gebündelt: „Diese Arbeit ist sicher niemals wichtiger als in Krisenzeiten, in denen der Sinn einer sozialen Welt, die sich weniger noch als sonst zu einer Totalität fügen will, einstweilen unentschieden ist. Und tatsächlich sind die politischen Apparate, vor allem aber die Apparatschiks, die durch den ständigen Umgang mit ihnen in den sozialen Techniken der Manipulation von Gruppen geübt sind – selbst wenn, wie im Falle so mancher politischen Grüppchen und Sekten, die Zahl der Führer größer ist als die aktive Basis – nie massiver und wirksamer vertreten als in solchen historischen Konstellationen. In den halbanonymen Versammlungen der kriti15 An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass der französische Begriff dispositif im angelsächsischen Raum mit apparatus übersetzt wird. Insofern ist auch die Debatte zum Begriff Dispositiv medientheoretisch eingehend zu berücksichtigen. Vgl. Agamben 2008, Deleuze 2005 und Foucault 1978. Dabei ist es mehr als bemerkenswert und – im Sinne der hier vorgestellten sozialwissenschaftlichen Argumentation – von großer Bedeutsamkeit, dass Foucault im Umfeld seiner Definition des Dispositivs (Foucault 1978, 119–120) den Bereich des Nicht-Diskursiven explizit als jenen der gesellschaftlichen Institution(en), also als den Bereich des „Sozialen“ begreift: „Was man im allgemeinen ‚Institution‘ nennt, meint jedes mehr oder weniger aufgezwungene, eingeübte Verhalten. Alles was in einer Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert, und keine Aussage ist, kurz also: alles nicht-diskursive Soziale ist Institution.“ (Foucault 1978, 125). Das Gesellschaftliche, das Soziale und das Institutionelle werden von Foucault dann erneut an verschiedenen Stellen mit Maschinenbegriffen verbunden und beschrieben. So thematisiert Foucault u. a. nicht-diskursive „Relais“ und „Mechanismen“ (Foucault 1978, 108), „Staatsapparate“ (Foucault 1978, 130), „Moralisierungsprogramme für die Arbeiterklasse“ (Foucault 1978, 133), den „Verwaltungsapparat“ (Foucault 1978, 139) die „Bestrafungsmaschine“ (Foucault 1978, 137) oder allgemeiner unterschiedliche „Technologieformen“ (Foucault 1978, 195).
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schen Momente, in denen die Mechanismen der Konkurrenz um Formulierung und Durchsetzung der legitimen Meinung nach Art von Marktmechanismen, das heißt – wie Engels einmal sinngemäß bemerkt – trotz, in und durch Anarchie wirken, sind diejenigen im Vorteil, die sowohl über Techniken der Rede und Aneignung der Redeform, als auch über organisatorische Techniken der Vereinheitlichung und Monopolisierung des Sinns und der Artikulation von Sinn verfügen […]“ (Bourdieu 1988, 299) Zugespitzter und im Sinne der Aufklärung noch „militanter“16 wird Bourdieus Kritik in der Auseinandersetzung mit den „Mechanismen der schulischen Segregation“ (Bourdieu 1988, 268). Dies ist gerade für die Medienpädagogik und Bildungswissenschaft von größter Bedeutung. Denn davon handelt schlussendlich der Homo Academicus: von der Tatsache, dass die (professoralen) Bewertungsmaschinen durch klassifikatorische Adjektive wie etwa „einfältig“, „ärmlich“ oder „glanzlos“ bis hin zu „fesselnd“, „fein“ und „meisterhaft“ über „Rituelle Beschimpfung“ und „Blütenlese(n) des Stumpfsinns“ (Bourdieu 1988, 368–369) auf das Brutalste die sozialen Unterschiede einer gegebenen Gesellschaft reproduzieren, stabilisieren und verdecken. So werden entlang der „Kategorien des professoralen Verstehens“ (Bourdieu 1988, 353– 393)17 die Kinder von Ärzten, Chirurgen oder Professoren durch diese Bewertungsmaschine deutlich besser bewertet und schneiden demgemäß in den schulischen Marktmechanismen auch besser ab als die Kinder von Kaufleuten, Handwerkern oder Steuerprüfern (Bourdieu 1988, 356–357). Das von Bourdieu untersuchte französische Bildungssystem ist mithin eine groß angelegte „Umwertungsmaschine“, welche die soziale Bewertung mit der schulischen Bewertung korreliert. Klassenunterschiede werden so durch distinktive Klassifikationssysteme in den Schulklassen auf das Härteste reproduziert. Dabei ist die Analyse und Aufdeckung dieser Mechanismen nach Bourdieu eben immer auch maschinen- und damit medientheoretisch ausformuliert: „Das Diagramm (der schulischen und außerschulischen Bewertung, A.B.) läßt sich als Schema einer Maschine ansehen, die mit sozial bewerteten Produkten gefüttert wird, um dann schulisch bewertete Produkte auszuspucken. Allerdings fällt bei dieser Betrachtungsweise ein 16 Militant versteht sich hier im Bourdieu'schen Sinne als die „Militanz der Aufklärung“, die er sich für die Intellektuellen im Gespräch mit Axel Honneth wünschte: „Ich glaube, daß die Zeit der Intellektuellen als Propheten vorbei ist. Ich glaube auch, daß wir die Rolle als Experten zur Lösung von Management-Problemen nicht akzeptieren können. Man müßte es fertigbringen, Wissenschaft und Militanz zu versöhnen, den Intellektuellen die Rolle von Militanten der Vernunft wiederzugeben, die sie etwa im 18. Jahrhundert innehatten. Dazu ist den Intellektuellen wieder Vertrauen in ihre ‚Mission‛ einzuflößen, in ihre Aufgabe, ihren Beruf.“ (Bourdieu 1992, 48–49). 17 Dieses Kapitel zu den „Kategorien des professoralen Verstehens“ zählt zu den radikalsten Leistungen Bourdieus hinsichtlich einer soziologischen Erfassung von (professoralen) Bewertungsschemata. Dementsprechend groß waren auch die Widerstände seiner Kollegen, von denen Bourdieu in einem Interview mit Roger Chartier berichtet: „Einer meiner Kollegen am Collège de France, der ein bedeutendes Mitglied des Instituts ist, sagte mir, meine Arbeiten hätten bei gewissen Mitgliedern (certains membres, A.d.Ü.) des Instituts gewisse Widerstände (certaines résistances A.d.Ü.) hervorgerufen, sogar gesicherte Widerstände (résistances certaines, A.d.Ü.). Und unter meinen Arbeiten war ein Artikel am schockierendsten, den ich unter dem Titel ‚Die Kategorien des professoralen Verstehens‛ veröffentlicht habe und mit viel Ironie versetzte […]“ (Bourdieu/Chartier 2001b, 26–27). Die professoralen Widerstände sind angesichts dieses Meisterwerks nur allzu verständlich. Vgl. dazu auch Barberi (2011): Wer prüft die Prüfer? Von den Blue-Chips der Wissenschaft. In Erinnerung an Pierre Bourdieu und Michel Foucault, in: 0816, Ausgabe 6/2012, online unter: http://homepage.univie.ac.at/ alessandro.barberi/Wer%20pr%FCft%20die%20Pr%FCfer.html (letzter Zugriff: 15.08.2016)
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wesentliches Moment der von ihr geleisteten Transformation unter den Tisch: Tatsächlich sorgt diese Maschine für eine enge Korrespondenz zwischen Eingangsbewertung und Ausgangsbewertung, ohne je die sozialen Kriterien und Prinzipien der Bewertung zu kennen oder auch (offiziell) anzuerkennen.“ (Bourdieu 1988, 363–364) Und wenig später in gleichem Sinne: „Die Klassifikationssysteme ermöglichen es ihnen (SchülerInnen wie LehrerInnen, A.B.), alles – also auch sich selbst – nach den schulischen Taxonomien zu bewerten und einzuordnen. Sie funktionieren in jedem von ihnen – nach bestem Glauben und Gewissen – im Sinne einer Maschine, die soziale Bewertungen in schulische Bewertungen – verstanden als anerkannte und als solche verkannte soziale Rangordnungen – transformiert.“ (Bourdieu 1988, 370) Dabei sind es erneut die Medien des Diskurses und der Worte, durch die und mit denen sich Machtverhältnisse reproduzieren, wobei es Bourdieu auch kommunikationstheoretisch und diskursanalytisch um die Mechanismen geht, „die gleichermaßen die Worte wie die Menschen hervorbringen, die sie aussenden und empfangen“ (Bourdieu 1988, 373). Denn das universitäre Feld legt sich „den Sendern wie den Empfängern dieses Diskurses“ (Bourdieu 1988, 373) ununterschieden auf und reproduziert so auf das Bedenklichste soziale Hierarchien und unhinterfragte Autoritarismen. Wenngleich also die schulisch-akademischen Bewertungsmaschinen als kybernetische Selektionsmaschinen erscheinen und analysiert werden, warnt Bourdieu politisch und mit allem Nachdruck davor, die Mechanismen institutioneller Apparate als abgeschlossene Feedback-Schleifen im Sinne einer kybernetischen Durchsteuerung zu begreifen: „Doch wenn der wissenschaftliche Bericht sich schon einmal der – bequemen – Sprache des ‚Mechanismus‛ bedient hat (zum Beispiel in Zusammensetzungen wie ‚Rekrutierungsmechanismen‛), dann läßt sich auch die universitäre Körperschaft als Apparat begreifen, der in der Lage ist, ohne jeden bewußten oder unbewußten Eingriff der Akteure die festgestellten Regelmäßigkeiten hervorzubringen. Demographen und all jene, die die Geschichte am liebsten auf eine Naturgeschichte reduzieren würden, fallen nicht selten diesem spontanen Physikalismus anheim, der eine finalistische Konzeption im übrigen nicht ausschließt: Das Modell eines kybernetischen Mechanismus, der so programmiert ist, daß er die Auswirkungen seines Handelns registrieren und darauf reagieren kann, ist der erträumte Mythos zur Erklärung der immer wieder neu erfolgenden Rückkehr in den Gleichgewichtszustand – zum Entzücken des konservativen Szientismus.“ (Bourdieu 1988, 239) Eine progressive und aufgeklärte Sozialwissenschaft in diesem Sinne könnte mithin auch nach Bourdieu als Mediensoziologie für eine handlungsorientierte Medienpädagogik fruchtbar gemacht werden. Dies wäre Aufgabe einer eigenen Studie, die genauer unter die Lupe nehmen müsste, wie die eingelagerten Schaltungen der sozialen Ungleichheiten unserer Gegenwart funktionieren, um deren Mechanismen aufzudecken. Man könnte dann auch diskutieren, wie die Bildungsmaschine in demokratischer und sozialer Abzweckung reformiert, umgestaltet oder sozusagen umprogrammiert werden könnte. Dabei wären medienpädagogisch und bildungswissenschaftlich mit allem Nachdruck die Aktivität der Lehrenden und Lernenden, ihre Rolle als „leibhaftige Akteure“ (Bourdieu 1992, 28) sowie die Kontingenzen und Imponderabilien ihrer Entscheidungen und Handlungen zu berücksichtigen. Dies würde auch die Möglichkeit schaffen, sich jedweder (neoliberalen) Durchsteuerung der (pädagogischen) Lebenswelten positiv und im Sinne der Aufklärung zu widersetzen.
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7. Conclusio: Bildungssoziologie als praxeologische Medienpädagogik Ausgangspunkt der hier vorgestellten Überlegungen war die Tatsache, dass Dieter Baacke in der Konzeption seiner Medienpädagogik deutlich darauf verwiesen hat, dass die Bourdieu’sche Bildungssoziologie mit seiner Medienpädagogik verbunden werden kann (Baacke 1999, 33). Denn Baackes Begriff der Kompetenz ist nicht zuletzt durch seine Auseinandersetzung mit Habermas (Habermas 1971/1995) genauso explizit sozialwissenschaftlich ausformuliert wie die gesamte Handlungsorientierung seiner Medienpädagogik (vgl. erneut Baacke 1997, 46–50). Ausgehend von dieser Voraussetzung wurde das Gesamtwerk des Soziologen Pierre Bourdieu aus einer medientheoretischen und medienpädagogischen Perspektive gesichtet, um der Hypothese Nachdruck zu verleihen, dass sich im Rahmen der Bourdieu'schen Bildungs- und Kultursoziologie auf mehreren Ebenen eigenständige Reflexionen des Medialen aufzeigen und nachweisen lassen. So sind es im Nachhinein betrachtet nicht nur die „soziologischen Aspekte“ (Baacke 1999, 33), die für eine sozialwissenschaftlich fundierte Medienpädagogik nach Bourdieu fruchtbar gemacht werden können. Vielmehr kann das Argument vorgetragen werden, dass in der Bourdieu’schen Bildungssoziologie auch vier Ebenen des Medialen thematisiert werden und daher schon bei Bourdieu selbst medien-, kommunikations- und informationstheoretische Begriffe, Argumente und Konzepte eine maßgebliche Rolle spielen. Rund um den Kompetenzbegriff konnte so anhand der Bourdieu'schen Soziolinguistik und Diskursanalyse gezeigt werden, dass Bourdieu das Sprechen und den Diskurs in ihrer Materialität als Mittel und Instrumente von Kommunikationspraktiken begreift und sie insofern als Medien gelten können. Hinsichtlich der Debatten zum „Medialen Habitus“ (Barberi/Swertz 2013) konnte in der Folge der Nachweis geführt werden, dass Bourdieu etwa den Akteur Flaubert explizit als Medium bezeichnet und auch in der Beschreibung des Habitus immer wieder auf medientheoretische Begriffe zurückgegriffen hat (Habitus als Speicher, Generator, Operator etc.). Auch angesichts der Feldbegriffe ließ sich medientheoretisch Relevantes aus den Arbeiten Bourdieus isolieren. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass Bourdieu auch technische Medien wie Fotografie, Fernsehen oder Tonbandgeräte reflektierte und dabei Grundlagen für eine „praxeologische Mediensoziologie“ zur Verfügung stellt, die für die Medienpädagogik von großer Relevanz sein können. Die drei zuerst untersuchten medialen Ebenen in der Bildungssoziologie Bourdieus, die hier als 1. Kompetenz(en), 2. Habituierung(en) und 3. Technologie(n) zusammengefasst und diskutiert wurden, lassen sich dann viertens auf den allgemeinen Rahmen einer mediensoziologischen und praxeologischen Theorie der Institution(en) beziehen. Denn Bourdieu hat Institutionen als symbolische Maschine(n) und Apparat(e) begriffen, innerhalb derer die anderen drei mediensoziologischen Ebenen eine maßgebliche Rolle spielen oder zumindest spielen können. Damit steht auch auf allgemeinster Ebene das Argument im Raum, dass die Bourdieu’sche Bildungssoziologie als praxeologische Mediensoziologie begriffen werden kann, wodurch sie, um noch einmal mit Dieter Baacke zu reden, für die Medienpädagogik buchstäblich „anschlussfähig“ (Baacke 1999, 33) ist. Die hier vorgestellten Ausführungen reden dabei insgesamt der Annahme das Wort, dass die Bourdieu'sche Bildungssoziologie im Sinne der Grundlagenforschung für eine sozialwissenschaftliche Fundierung der Medienpädagogik mehr als geeignet ist. Um die Verbindungslinie zur sozialwissenschaftlich orientierten Medienpädagogik Dieter
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Baackes deutlich hervortreten zu lassen, wird es indes notwendig sein, bei Baacke selbst die sozial- und medienwissenschaftlichen Grundannahmen präzise herauszuarbeiten, um sie direkt mit der Bourdieu'schen Bildungssoziologie zu vergleichen und zu verknüpfen. Hier werden künftige Forschungen zu den (sozial-, kultur- und medienwissenschaftlichen) Grundlagen der Medienpädagogik ansetzen können und ansetzen müssen.
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Anna Högner
Das Kino in der Zeitung Notizen zur Geschichte der Kinomater Beitrag online im Ressort Kultur/Kunst unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/620
Abstract Druckmatern waren bis in die 1970er Jahre Bestandteil von Werberatschlägen für Kinofilme. Als Mittel zur Bildreproduktion sind sie heute obsolet. Als Oberflächen und Displays, in die sich verschiedene Bezüge ihrer Zeit eingeschrieben haben, werden sie jedoch zum Exponat der Druck-, Werbe- und Kinogeschichte. Die Autorin rekonstruiert so Lebensspuren vergangener Reproduktions-, Druck- und Werbepraxen anhand konkreter Beispiele, erläutert die Mediengeschichte der Druckmatern und liefert so einen Beitrag zu einer historisch – auch über sich selbst – aufgeklärten Medienpädagogik. Cinema in the Newspapers – Notes on the History of Cinema Matrices. Printing matrices were part of the recommended promotion for cinema films up until the 1970s. As a means of image reproduction, they are obsolete today. As surfaces and displays which have been inscribed with different references of their time, however, they have become an exhibit of the histories of printing, advertising and cinema. The author uses concrete examples to reconstruct traces of the life of past practices of reproduction, printing and advertising, explains the media history of printing matrices and thus contributes to a historically enlightened media education which also knows its own history.
1. Archivarisches Strandgut Archive sind Orte der Geschichte, besser gesagt Orte, in denen solche Gegenstände aufbewahrt werden, anhand derer sich Geschichte (re)konstruieren lässt. Sie sind, um es auf eine Wendung von Aleida Assmann zu bringen, das „technisch materiale Gedächtnis“ (Assmann 2006, 5–6) einer Gesellschaft. Die Gegenstände werden zu Artefakten und als Artefakte zu Zeichen, die auf eine nicht mehr greifbare Vergangenheit verweisen. „Die Vergangenheit als das schlechthin Entzogene scheint in den Exponaten noch einmal auf, die aus ihren Kontexten herausgelöst und zu keinem Gebrauch mehr tauglich sind.“ (ebd.) Das österreichische Filmmuseum hat es sich unlängst zur Aufgabe gemacht, seinen Bestand an Kinomatern aufzubereiten. Druckmatern waren bis in die 1970er Jahre ein Teil von Werberatschlägen, also Konglomeraten von vorgefertigten Werbemitteln, mit denen der Release eines Films begleitet wurde. Neben Plakaten, Standfotos, kurzen Synopsen des Inhaltes und Schlagzeilen enthielten diese meist auch eine Auswahl an Anzeigen- und Pressematern:
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Abb. 1: Pressemater zu Vertigo (1958) und Anzeigenmater zu Die Verachtung (1963). Bild: Österreichisches Filmmuseum
Der Form nach sind Matern dünne, maximal postkartengroße Rechtecke aus meist pastellfarbener Pappe, deren Vorderseite eine zarte Prägung im Negativrelief aufweist. Sie fungierten als Vorstufe zu einer Hochdruckplatte mit der sich bildliche und schriftliche Inhalte in den Zeitungssatz integrieren ließen. Druckmatern sind also eine mediale Hybridform. Als Zwischenstufe bei der Reproduktion von Druckvorlagen sind sie keine Drucke; obwohl sie Teil von Werbekampagnen waren, sind sie selbst nicht die Werbung; und obwohl sie Bilder und Texte transportierten, sind sie selbst weder das eine noch das andere. Sie gehören weder ausschließlich in den Funktionszusammenhang des Kinos noch in den der Presse. Am zutreffendsten lassen sich Druckmatern als mediale Träger bezeichnen, die innerhalb eines bestimmten drucktechnischen Dispositivs ihre Funktion bei der Vervielfältigung von Bild und Text erfüllten – sie waren ein materieller Bestandteil des drucktechnischen Vermittlungsvorgangs. Der vorliegende Text stellt einen ersten Anlauf dar, einige der medialen und drucktechnischen Bezüge offenzulegen, in die Kinomatern eingesponnen und deren materielles Zeugnis sie sind. Ein historisches Unterfangen also, weil Druckmatern seit nunmehr über 30 Jahren im Bereich der Bild- und Textreproduktion keine Rolle mehr spielen. Als Teil von Schriftgutsammlungen in Archiven und Museen und als Objekte des Tausches auf Sammlerbörsen sind auch sie zu Artefakten geworden, die ihren Gebrauchswert eingebüßt, aber stattdessen einen Wert als Exponat hinzugewonnen haben. Ihrem ursprünglichen funktionalen Kontext entkleidet, sind sie Repräsentanten einer bestimmten medienhistorischen Periode, in deren Oberfläche sich die medialen, sozialen und ökonomischen Konfigurationen ihrer Zeit eingeschrieben haben.
2. Hochdruck, Stereotypien und die Reproduktion von Bildern Der technische Ursprung der Druckmater liegt im ausgehenden 19. Jahrhundert. Nachdem im 18. Jahrhundert die Nachfrage nach Druckerzeugnissen sprunghaft angestiegen war, suchten Druckereien nach einem Weg, einmal gesetzte Schriftsätze zu konservieren (vgl. Gerhardt 1975, 121 ff.). Nach verschiedenen Anläufen zur Herstellung „fester Druckplatten“ entwickelte Jean Baptiste Genoux in den 1820er Jahren das Verfahren der Papier-Stereotypie. Ein Schriftsatz wurde abgeformt, indem man einen Bogen feuchter Pappe in den fertigen Satz „einklopfte“ und so einen Negativabdruck erhielt (vgl. ebd.). Wurde diese leichte und robuste „Papier-
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matrize“ oder „Mater“ mit Schriftmetall ausgegossen, war der Satz als druckbares „Stereo“ reproduziert – knapp 300 Jahre nach Gutenberg druckte man wieder mit unbeweglichen Lettern. Ungefähr zu der Zeit, als Genoux die Papierstereotypie etablierte, begann man auch, fotochemische Prozesse für die Herstellung von Druckplatten fruchtbar zu machen. Dem Protofotografen Nicéphore Nièpce war es gelungen, ein Papiernegativ fotografisch auf eine mit Asphalt beschichtete Kupferplatte zu übertragen. An den Stellen, die dem Licht ausgesetzt waren, härtete der Asphalt aus und wurde säurebeständig. Durch Ätzung wurden die nicht druckenden Stellen entfernt und es entstand eine Hochdruckplatte oder richtiger ein „Klischee“ (vgl. Frizot 1998, 20). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war das Verfahren ausgereift. Reproduktionen von Zeichnungen und Stichen mussten nicht länger vom Graveur per Hand in eine Holz- oder Metallplatte eingearbeitet werden, sondern waren als sogenannte „Strichätzungen“ fotochemisch reproduzierbar (vgl. Gerhardt 1975, 125). Ende des 19. Jahrhunderts begann man, auch Fotografien durch Klischees zu reproduzieren. Nachdem es auf einer Hochdruckplatte nur druckende und nicht druckende Stellen gibt, die im Druckbild entweder schwarz oder weiß erscheinen, war es erforderlich die Graustufen, die eine Fotografie ausmachen, entsprechend aufzulösen. 1882 patentierte Georg Meisenbach sein autotypisches Verfahren: eine Fotografie wurde hierfür durch eine mit einem Linienraster versehene Glasplatte belichtet und erschien auf dem Abzug in Rasterpunkte zerlegt, die, je nach Größe, hellere und dunklere Flächen markierten. Wie auch bei der Strichätzung wurden die nicht druckenden, weißen Elemente im Ätzvorgang abgetragen. Das Ergebnis war eine Druckplatte, von der je nach Rastergröße eine mehr oder weniger genaue Reproduktion der Fotografie gedruckt werden konnte, wobei die Rasterpunkte für das menschliche Auge zu Grauflächen verschmolzen (vgl. Gerhard 1975, 126). Mit dem Aufkommen der Rotationsdruckmaschinen um die Mitte des 19. Jahrhunderts erschloss sich Stereotypien und Klischees ein breites Einsatzgebiet bei der Zeitungsherstellung. Man kann sich nicht deutlich genug vor Augen halten, dass die Herstellung von Klischees im Vergleich zu vorher, wo Abbildungen noch vom Graveur per Hand gestochen wurden und Fotografien überhaupt nicht im Hochdruck reproduzierbar waren, geradezu Revolutionäres für die Bebilderung des Zeitungswesens bedeutete – nicht zuletzt waren autotypische Klischees eine der technischen Vorbedingungen für die Entstehung der Pressefotografie (vgl. Weise 2003. 97–101). Die Stereotypie kam da zum Einsatz, wo es erforderlich war, aus dem zunächst flachen Satz eine passende Druckform für die Rollen der Rotationsdruckerpressen herzustellen. Man formte ihn als Stereotype ab und goss diese dann als halbrundes Stereo aus, das auf den Druckzylinder montiert werden konnte (Gerhardt 1975, 122). Das Verfahren des „Abmaterns“ von Klischees und Schriftsätzen war im Zeitungsdruck noch bis in die 1970er Jahre gängig – bis Letternsatz und Hochdruck dem praktischeren und schnelleren Lichtsatz und Offsetdruck weichen mussten. Bis dahin hatte also jeglicher Inhalt, der auf Zeitungspapier erscheinen sollte, einen unvermeidlichen Weg über die Dreidimensionalität zurückzulegen: vom Manuskript oder Bild zum Letternsatz oder Klischee, über die Abformung desselben in Maternpappe bis zur Herstellung des Stereos, von dem schließlich gedruckt werden konnte. Die Geschichte der Kinomatern ist also aufgehoben in der langen Geschichte von Stereotypie und Klischee im Buch- und Zeitungsdruck, die mit der Entdeckung der Fotografie und der Industrialisierung des Buchdruckes ihren Anfang genommen hatte.
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3. Zwischen Kinoindustrie und Massenpresse Um die Jahrhundertwende stand die sich formierende Filmindustrie vor ganz ähnlichen Problemen wie die eben sich etablierende Massenproduktion von Konsumgütern. Man verkaufte ein Produkt, das sich an eine anonyme Schar potenzieller Verbraucher richtete – auf einem konkurrierenden und zunehmend ausdifferenzierten Markt galt es, nach Wegen zu suchen, um die entsprechende Nachfrage nach diesem Angebot zu schüren. Die industrielle Güterproduktion hatte 1895, im Geburtsjahr des Kinos, das Konzept der Marke und die bebilderte Anzeige in Printmedien als Mittel zur Produktdifferenzierung bereits entdeckt (vgl. Borscheid 1995, 25–29). Bis auch die Kinoindustrie die Massenpresse als regelmäßige Werbeplattform nutzte, sollte es jedoch noch einige Jahre dauern. Janet Staiger bemerkt, dass es zunächst auch keineswegs klar war, für welche Art von Produkt man warb – war es überhaupt ein normierbares „Produkt“ oder nicht eher eine „Erfahrung“ im Sinne einer Bühnenvorstellung oder eines Konzerts (vgl. Staiger 1990, 3)? Da die frühen Kinos ihr Programm zuweilen täglich wechselten und die Kinematografenbesitzer nicht immer ganz sicher wussten, welche Filme ihnen von den Verleihen geliefert werden würden, war es zunächst unmöglich, den einzelnen Film als „Produkt“ zu bewerben. Dies änderte sich, zumindest für den amerikanischen Markt, mit der Regulierung des Verleihsystems ab 1909 und der Einführung des abendfüllenden Spielfilms um 1915 – an diesem Punkt setzt laut Staiger auch die, bis heute übliche, Produktdifferenzierung des einzelnen Films ein (vgl. ebd., 5/6). Im Prinzip beginnt damit auch die Geschichte der Kinomater als Teil vorgefertigter Konglomerate von Werbematerialien. Produktionsunternehmen gründeten Werbeabteilungen und begannen, ihren Filmen mehrseitige Hefte beizugeben, die neben Bildern und Textinformationen auch Kinoanzeigen enthielten, die in der Presse platziert werden konnten (vgl. ebd., 7). Nach und nach entwickelte sich die Presse zur festen Größe bei der Ankündigung von Filmen. In den 20er Jahren war es bereits üblich, dass die Presseabteilungen von Produktions- und Distributionsunternehmen sogenannte „Pressbooks“ oder „Werberatschläge“ ausgaben, an die sich die Kinos vertraglich zu halten hatten (vgl. Staiger 1990, 7/8; Hediger 2001, 79). Auch Autotypien von Stars oder Standfotos beginnen in den Zehnerjahren, in den Filmrubriken von Tageszeitungen und der frühen Fanpresse aufzutauchen (vgl. Staiger 1990, 10). Der größte Teil der im Österreichischen Filmmuseum befindlichen Matern stammt aus den Jahren zwischen 1950 und 1970. In diesem Zeitraum waren Werberatschläge, die Kinos von Verleihen beziehen konnten, nicht nur fester Bestandteil des Filmmarketings, sie waren auch formal und inhaltlich weitgehend standardisiert (vgl. Staiger 1990, 14–16). Da diese Werbematerialien in großen Auflagen hergestellt wurden, bot es sich an, Autotypien und Anzeigen in abgematerter Version zu verschicken. Das war nicht nur billiger als die Herstellung und der Vertrieb von Klischees, Stereotypien hatten auch den entscheidenden Vorteil, dass sie relativ bruchsicher, leicht und gut zu transportieren waren. Pressematern sind für die Zeitung aufbereitete Fotos von Stars oder Szenen des Films, die in Anzeigen, in den redaktionellen Teil, und später auch ins Fernsehprogramm integriert werden konnten. Sie enthalten oft bereits eine Bildunterschrift, die den Inhalt des Films in wenigen Worten anreißt. Inseratmatern wurden, der Name sagt es, im Anzeigenteil von Zeitungen platziert, wo sie zumeist mit einer gesetzten Ergänzung von Spieldauer, Spielzeit, Hinweisen auf den Erfolg des Films oder um Schlagzeilen, die ebenfalls dem Werberatschlag zu entnehmen
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waren, ergänzt wurden. Die Gestaltung von Anzeigen lag zwar bei den Verleihen und Produktionsunternehmen, aber es war die Sache der Kinos, sie in die Zeitungen zu bringen – sie wählten die nicht zuletzt auch vom Werbeetat des Hauses abhängige Größe und die Ergänzungen im Satz. Wie die Bestände des ÖFM an circa 80 Klischees und einigen Entwürfen zu Anzeigenklischees außerdem zeigen, ließen Kinos und Verleihe gegebenenfalls auch Anzeigen herstellen, die nicht in den Werberatschlägen enthalten waren, sei dies, weil das benötigte Format nicht vorhanden war oder der Film in der Zwischenzeit den Verleih gewechselt hatte. Das Kino und die Massenpresse pflegen ihre auf gemeinsame Interessen gegründete Beziehung bis heute. Zeitungen kündigen noch immer Zeit und Ort von Filmvorführungen an, schalten Kinoanzeigen, und bebilderte Filmbesprechungen und auch die Neuigkeiten zum Kino füllen noch immer die Unterhaltungsrubriken bzw. bei gehobenerer Leserschaft die Feuilletons. Vinzenz Hediger bezeichnet das als einen „intermedialen Rückkopplungseffekt“: Das Kino kann von der Fähigkeit der Zeitung, Aktualitäten zu transportieren, ebenso profitieren wie die Zeitung von dem Interesse, das den Filmen von ihren LeserInnen entgegengebracht wird (Hediger 2001, 199). Kinomatern, so kann man schließen, waren gewissermaßen die technische Verwirklichung dieser Rückkopplung, ein Scharnier, das beide Institutionen verband.
4. Filme auf Zeitungspapier. Matern als Paratexte Als Teil filmspezifischer Kampagnen waren Matern in einen Verbund visueller und textueller Verweise eingebunden, die auf die gezielte Repräsentation und Verkörperung eines Films angelegt waren (vgl. Beilenhoff/Heller 1995, 38). Wie Plakate, Trailer, Vorankündigungen und Filmbesprechungen kann man sie in der gängigen medienwissenschaftlichen Adaption von Gerard Genettes Theorem als „Paratexte“ bezeichnen – als im Umraum des Films angesiedeltes „Beiwerk“, das als „Hilfsdiskurs […] im Dienst einer anderen Sache steht, die seine Daseinsberechtigung bildet“ (Genette 1992, 18). So stehen filmische Paratexte zwar außerhalb des Filmes, erzeugen aber, so fassen es Beilenhoff und Heller in ihrer Abhandlung zum Filmplakat, „an verschiedenen Orten unterschiedliche Formen vorweggenommener Präsenz und Repräsentation“ (Beilenhoff/Heller 1995, 38). Als paratextuelle „Anhängsel“ unterliegen Druckmatern oder besser die ihnen eingeschriebenen Inhalte den „Erfordernissen der jeweiligen medialen Eingebundenheit“ (ebd.). Paratexte, die im Medium der Zeitung erscheinen sollten, wiesen also auch deren mediale Eigenheiten auf. Bilder und Texte erschienen ausschließlich in Schwarz-Weiß und mussten noch bis in die 70er Jahre „materntauglich“ sein: Weder das autotypische Raster noch die Strichzeichnung oder die verwendeten Schriften durften für die Vervielfältigung in Stereotypien zu fein sein, da die sehr schnell an ihre Auflösungsgrenze stießen. Und so ist die Ästhetik der Druckmatern immer auch affiziert von der medialen Spezifität der Zeitung – die Anzeigen und Fotos überschreiten selten die doppelte Spaltenbreite, ihre Darstellungen sind in harte Schwarz-Weiß-Kontraste, Fotografien in das autotypische Raster aufgelöst. Oft wird auch versucht, die Inhalte eben dadurch hervorzuheben, dass Schriften und Bilder schräg gesetzt sind und damit die Kolumnen- und Zeilenstruktur des Satzspiegels gezielt durchbrechen. Und auch formal musste zunächst eine Übersetzung des filmischen „Fluss-Körpers“ in die Bedingungen einer, räumlich äußerst beschränkten, bild-textlichen Repräsentation erfolgen (vgl. ebd., 42). Es galt, den sich Zeit, Bild und Ton entfaltenden Film im Medium von Schrift
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und Bild wiederzugeben, ihn, wie es Werner Biedermann fasst, „zu verdichten und auf ‚den Punkt‘ zu bringen“ (Biedermann 1986, 9), wobei ganz Unterschiedliche visuelle und diskursive Strategien zum Tragen kamen. Für Pressematern griff man auf Standfotografien und Porträts von SchauspielerInnen zurück, die schon während der Dreharbeiten im Hinblick auf die spätere Vermarktung angefertigt wurden. SetfotografInnen fertigten in eigens hierfür anberaumten Shootings Publicity-Fotos und Porträts an, Standfotografien hingegen entstanden unmittelbar im Zuge der Dreharbeiten. Die DarstellerInnen posierten nach einer Szene noch einmal „for stills“, wobei man die fiktionale Illusion des Films möglichst zu erhalten suchte. Die SchauspielerInnen blieben in ihrer Rolle und vermieden den Blick in die Kamera (vgl. Jacobs 2010: 374). Für die Verwendung in der Zeitung wurden diese Fotografien noch einmal beschnitten und so ausgewählt, dass sie für die autotypische Reproduktion nicht zu kleinteilig ausfielen. Es sind Momentaufnahmen, Ausschnitte aus dem Fluss der Bilder, deren Wirksamkeit als Werbung eng an die Personen der abgebildeten Stars gekoppelt gewesen sein dürfte. Setting, Kostüme und Posen lieferten darüber hinaus Informationen zu Genre und Erzählung und gaben Einblicke in die Visualität des beworbenen Films.
Abb. 2: Für die Zeitung aufbereitetes Szenenfoto aus Fantasmi a Roma (1961), am unteren Bildrand der beigefügte Werbetext, der in aller Deutlichkeit die Beteiligung von Marcello Mastroianni und Belinda Lee hervorhebt. Bild: Österreichisches Filmmuseum
In den Anzeigen stand oft noch weniger Raum zur Verfügung, um den Inhalt des Films zu „verdichten“. Dafür verfügten sie über das Gestaltungsmittel der Schrift. Neben dem Titel des Films, der auf allen Anzeigenmatern zu finden war, wurden die Hauptdarsteller, Farb- und Tonverfahren, der Regisseur oder die Regisseurin und seltener auch der Autor oder die Autorin der Literaturvorlage oder der/die KomponistIn des Soundtracks genannt (vgl. Biedermann 1986, 10/11). Im Satz wurden die Anzeigen außerdem mit kurzen Schlagzeilen versehen, die den Werberatschlägen zu entnehmen waren. „Ein Film, der zu Herzen geht!“ oder „Ein geistreiches, gepfeffertes Filmvergnügen“ lauten beispielsweise die Vorschläge aus den Werberatschlägen zu
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Run wild, Run free (1969, Columbia) und Heldinnen (1960, UFA). Ein beliebter Zusatz waren auch Kommentare zur Laufzeit oder Auswertung des Films: „Die 40. Woche“ oder „Schon 10000 Besucher sahen diesen Film“ (vgl. Biedermann 1986, 10). Da die Anzeigenklischees auf gezeichneten Vorlagen beruhten, waren sie in der typografischen Gestaltung relativ frei (vgl. ebd., 10/11). Der Titelschriftzug entwickelt den anderen Schriftelementen gegenüber ein gewisses Eigenleben – er wird durch geschwungene oder schräg gesetzte Gestaltung „dramatisiert“, zuweilen stellt die Schriftgestaltung aber auch assoziative Bezüge zu den Inhalten des Films her, wie im Falle des quasi in Blut geschriebenen Schriftzuges „Mord“ in der Anzeige zu An American Dream (1966) (vgl. Abb. 3). Auch bei den bebilderten Anzeigen dominieren, analog zur Textgestaltung, Abbildungen der beteiligten DarstellerInnen. Das Spektrum der Darstellungsmittel reicht vom gerasterten Foto über Strichzeichnungen bis hin zu Karikaturen. Wie auch im Falle der Filmfotografien sind es hier vor allem die Posen und das Kostüm der abgebildeten Personen, die Rückschlüsse auf Genre und Sujet des Films zulassen. Zuweilen übernehmen aber auch Abbildungen von Gegenständen die Aufgabe, symbolisch auf den Inhalt des Films Bezug zu nehmen. Ein Beispiel ist die bereits angesprochene Blutlache bei An American Dream, ein anderes die drohend über der laufenden Frauenfigur schwebende Hand mit Pistole auf der Anzeigenmater zu dem Film policier À pleines mains (1960).
Abb. 3: Anzeigenmatern zu An american Dream (1966) und À pleines mains (1960) Bild: Österreichisches Filmmuseum.
Durch die Bildelemente, ihre Posen, ihre Platzierung und ihr grafisches Verhältnis zueinander, aber auch durch die Deutung, die der Titel des Films nahelegt, wird ein Raum dessen abgesteckt, was der Betrachter sich vom Besuch des Films erwarten darf. Sowohl Standfotos als auch Anzeigen konstituieren ein Wissen vom Film, das mit visuellen Fragmenten angereichert ist. Eine Synthese muss allerdings von denen geleistet werden, die sie betrachten. Genresignaturen und die Hervorhebung von beteiligten Stars geben hierbei Anhaltspunkte, mit denen über den begrenzten Raum der Darstellung hinaus gewiesen wird. Wie Werner Biedermann bemerkt, kann die Rückbindung an den Inhalt des Films dabei relativ lose ausfallen. Als Paratexte hatten Kinoanzeigen und Pressebilder vor allem auch eine persuasive Funktion und waren ästhetisch und inhaltlich dem jeweils von ihren Aufraggebern vermuteten Publikumsgeschmack unterworfen (vgl. Biedermann 1986, 12). Sie gaben eine grobe Orientierung über Handlung und Genre und sollten zugleich die Lust an dem wecken, was man sah. Die Überführung filmischer Inhalte ins Medium der Tageszeitung unterlag also auch
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einem handfesten ökonomischen Kalkül, das sich nicht scheute, solche Aspekte hervorzuheben, von denen man sich erwartete, dass sie den Kassenerfolg des Films steigern würden. Und so ist besonders im Falle der Kinoanzeigen eine gewisse Entfremdung vom Inhalt des Films und seiner Repräsentation in der Zeitung nicht von der Hand zu weisen. Eine „Abdrift ins Reißerische“, die Wolfgang Biedermann ganz analog zu dem Erwartungsbild setzt, das deutsche Verleihtitel, die oftmals gänzlich vom Inhalt des Films entkoppelt waren, zu generieren halfen (vgl. ebd.). „Wer ins Kino geht“, so bemerken es Wolfgang Beilenhoff und Martin Heller sehr treffend, „bringt seine Bilder bereits mit“ (Beilenhoff/Heller 1995, 31). Und so mag, wer sich von der lasziv hingestreckten Gestalt der Bardot zu Godards Le mépris (1963) hatte locken lassen, vielleicht ein wenig enttäuscht gewesen sein.
5. Lebensspuren vergangener Reproduktions-, Druck- und Werbepraxen Kinomatern sind Abdrücke. Sie sind nicht das Foto und auch nicht die Anzeige, die sie ursprünglich reproduzieren halfen, sondern die Spur einer Druckplatte, eines Schriftsatzes oder eines Klischees. George Didi-Huberman charakterisiert Abdrücke als die „sicht- und tastbare ‚erinnernde Gegenwart‘ einer Vergangenheit“, die gestalterisch im Substrat fortwirkt und dort eine gewissermaßen paradoxe Präsenz erhält, die eben durch die Abwesenheit dessen, was sich da abgedrückt hat, gekennzeichnet ist (Didi-Huberman 1999, 8). In diesem Sinne verweisen auch Druckmatern auf eine doppelte Abwesenheit. Die Abwesenheit des Klischees einerseits, dessen Berührung ihre Form bestimmt hat. Und andererseits durch die Abwesenheit eines drucktechnischen Dispositivs, das sie, nunmehr überlebt, zu einem toten Arm in der Entwicklungsgeschichte der Drucktechniken macht. Denn Matern waren zuallererst technische Gegenstände, Objekte, die nur zum Transfer, wiederum technisch bedeutsamer, taktiler Informationen dienten. Sie liefern einen Einblick in das technisch Unbewusste, den Teil der Bild- und Textproduktion, der bei der Bild- und Textlektüre eben um der Bilder und Texte willen zurücktreten muss. Da sie ursprünglich nie dazu bestimmt waren, das, was sie technisch vermittelten, auch zu repräsentieren, ist ihre Betrachtung auch immer eine Operation der Rekonstruktion und des Erahnens – oft ist der Vergleich der negativen Druck-Form mit ihrem Druck-Bild geradezu überraschend. Der archivarische Wert von Kinomatern bestimmt sich aus ihrem Anteil an der Geschichte. Nachdem ihr ursprünglicher funktionaler Kontext verschwunden ist, werden Matern eben doch zu Bildern oder besser zu „Bild[ern] über Bilder“ und zum „Medienkonzentrat [ihrer] jeweiligen Zeit“ (Beilenhoff/Heller 1995, 34), in das sich mediale, kommerzielle und künstlerische Praxen in verschiedenen Schichten und Überlagerungen eingeschrieben haben. Ihr Studium ist also gewissermaßen eine, um noch einmal George Didi-Huberman zu bemühen, „ichnologische“ Operation, die ihnen und den in sie eingeschriebenen Zeichen historische Bedeutung verleiht. Ein Unterfangen, das die Technikgeschichte von Bilderdruck und Zeitung ebenso streift wie die Wirtschaftsgeschichte des Kinos. Auch für die Erforschung der Kinomater gilt so, was Beilenhoff und Heller für das Filmplakat feststellen: „Das grafische Ereignis, und seine Funktion als Werbeinstrument für eine Fantasieware, seine Materialität und Sprache, seine Zwänge und Möglichkeiten müssen gleichermaßen interessieren.“ (ebd.)
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Shusha Niederberger
Lernen von der Medienkunst: Handlungsstrategien der Netzwerk-Kultur Eine medienkulturgeschichtliche Perspektive Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/657
Abstract Shusha Niederberger diskutiert in ihrem Beitrag die aktuellen Handlungsstrategien der Netzwerk-Kultur und zeigt, dass mit der fortschreitenden Medialisierung der Welt auch der Begriff der Medienkunst immer problematischer wird. Die Digitalisierung hat alle künstlerischen Medien (ob technische oder nicht) als Medien sichtbar gemacht und deren Verhältnis untereinander grundlegend verändert. Rosalind Krauss bezeichnet dieses neue Verhältnis als “post-medium condition” (Krauss 2000). Wenn wir also von der Medienkunst etwas über Medien lernen wollen, das für eine Medienpädagogik nutzbar ist, müssen wir die Entgrenzung des Medialen berücksichtigen. Diese macht die Abgrenzung der Medienkunst von anderen Künsten sehr schwierig, da eine solche künstlerische Praxis weder an formalen, inhaltlichen oder materiellen Eigenschaften festgemacht werden kann. Shusha Niederberger schlägt deshalb in diesem Text vor, die Medienkunst in ihren methodischen Strategien zu betrachten. Ihre Referenzen in der Kunstgeschichte sind dabei die Konzeptkunst und die Institutionskritik, wobei die Autorin im Sinne des kulturgeschichtlichen Hintergrunds auf die Kybernetik zu sprechen kommt. Learning from Media Art: Strategies of Network Culture – A Media Cultural History Perspective. In her contribution, Shusha Niederberger discusses the current strategies of network culture and shows that the progressive mediatization of the world also makes the concept of media art more and more problematic. Digitalization has made visible all artistic media (whether technological or other) as media and it has fundamentally changed their mutual relations. Rosalind Krauss describes this new relation as “post-medium condition” (Krauss 2000). If, then, we want to learn something about media from media art that can be applied in media education, we have to take into account the dislimitation of the mediatic. This results in serious difficulties in delimitating media art from other forms of art, as this artistic practice can neither be exemplified by formal, content, or material characteristics. In her essay Shusha Niederberger therefore suggests an examination of media art in its methodical strategies, using references from the history of Conceptual Art and Institutional Critique, and referring to cybernetics for a cultural history background.
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1. Post-digitale Verhältnisse Die oben angesprochene Entgrenzung der Medien und deren Auswirkungen auf die Kunst werden in der Kunstkritik unter dem Begriff des Post-Medialen diskutiert (Krauss 2000). Dieselbe Ausgangslage wird auch in der Medientheorie diskutiert, hier unter dem Begriff des Post-Digitalen (Cramer 2014). Beide Ansätze gehen davon aus, dass wir es heute nicht mehr mit den Umwälzungen der Digitalisierung zu tun haben, sondern mit den Dynamiken einer schon weitgehend digitalisierten Welt: “the state of affairs after the initial upheaval caused by the computerisation and global digital networking of communication, technical infrastructures, markets and geopolitics”. (Cramer 2014) Cramer unternimmt eine grundlegende Begriffskritik, in deren Folge die Gegensätze zwischen digital und analog und neuen und alten Medien aufgelöst werden. Das Digitale, argumentiert Cramer, bezeichnet das in diskrete, zählbare Einheiten Aufgetrennte, und das muss keinesfalls etwas mit Computern zu tun haben. Auch das Klavier ist ein digitales Instrument, da es das Kontinuum der Töne auf die einzelnen Tasten aufteilt und so beschränkt (im Gegensatz zur Geige, deren Hals nicht wie bei der Gitarre durch Stege in Einheiten geteilt ist). Das Analoge ist also im Gegensatz dazu das Ungetrennte, was nicht unbedingt bedeuten muss, dass es mit Computern nichts zu tun hat. So sind die meisten Medientechnologien komplexe Mischungen aus analog und digital, Cramer nennt sie treffend “analog-to-digital-to-analog converters”: Ein MP3-Player mit Touchscreen übersetzt die analogen Gesten als Input, um ein digital gespeichertes Musikstück abzuspielen, d. h. in analoge Klangwellen aus den Kopfhörern zu übersetzen. Das Verhältnis von digital und analog lässt sich in der post-digitalen Welt als eine komplexe Verschränkung von beiden beschreiben. Diese Verschränkung macht auch die Unterscheidung zwischen „alten“ und „neuen Medien“ überflüssig. So kann es in der post-digitalen Welt durchaus Sinn machen, eine Schreibmaschine als Medium der Stunde zu benutzen, ohne dies als historische Referenz zu verstehen. Wenn man im Park schreiben und das Geschriebene gleich an Passanten verteilen möchte, ist dies mit einer Schreibmaschine viel einfacher zu bewerkstelligen als mit einem Laptop und einem Drucker – nur schon, weil man das Problem der Stromversorgung damit gar nicht aufkommen lässt. Im Post-Digitalen geht es nicht darum, die neueste Technologie zu verwenden, sondern darum, die am besten den Bedürfnissen entsprechende zu wählen. So wird die Schreibmaschine in diesem Fall ein post-mediales Medium. Das Zurückkommen auf „alte“, „analoge“ Medien wird bei Cramer wie bei Krauss als ein Effekt der post-medialen bzw. post-digitalen Bedingung beschrieben. Während bei Krauss aber in der Kunst alles beim Alten bleibt und mit Rückgriff auf Benjamin nur das Besondere des Alten unter den Vorzeichen des Neuen besonders zum Erscheinen kommt (Krauss: 2000), weist Cramer auf eine grundsätzliche Verschiebung hin: die von der “shrink-wrapped culture” hin zu einer DIY-(Do-It-Yourself )-Kultur (Cramer 2014). Das Besondere dieser neuen DIY-Kultur ist nun nicht das DIY an und für sich, sondern die Betonung auf den sozialen Aspekt des Austauschs und der Gemeinschaft. Diese neue Gemeinschaftlichkeit stammt dabei aus den Medienkulturen, wie sie im Social Web entstanden sind. “New ethical and cultural conventions which became mainstream with Internet communities and Open Source culture are being retroactively applied to the making of non-digital and post-digital media products.” (Cramer 2014)
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Die sozialen und gemeinschaftlichen Aspekte von Medientechnologien sind aber nicht erst mit dem Social Web erfunden worden, sondern haben wesentlichen Anteil an ihrer Entstehungsgeschichte, wie ein Blick auf die Kulturgeschichte der Medientechnologien zeigt.
2. Der gemeinschaftliche Geist der Medientechnologien 1946 startete unter dem Titel Circular, causal, and feedback mechanisms in biological and social systems die Serie der Macy-Konferenzen. In deren Rahmen trafen sich bis 1953 Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen (Mathematik, Physik, Elektrotechnik, Psychologie, Neurophysiologie, Psychiatrie und Soziologie) zu einem interdisziplinären Austausch über Vorstellungen von Systemen und ihrer Funktionsweisen. Mit Systemen waren dabei keineswegs nur technische gemeint, vielmehr bezogen sich die Teilnehmenden auf Phänomene aus der Biologie, der Psychologie und der Psychiatrie sowie der Soziologie, welche unter dem Begriff des Systems neu formuliert werden sollten. Für diesen spartenübergreifenden Diskurs prägte Norbert Wiener 1947 den Begriff der Kybernetik (englisch: cybernetics). Er bezeichnet die Kunst der Steuerung von Kreisläufen von Information in unterschiedlichsten Systemen (Wiener 1989). Zentral für den kybernetischen Diskurs ist die Vorstellung von Verbünden unterschiedlicher Entitäten (welche auch nichtmenschliche Akteure mit einschließen können), welche zusammenhängen und sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Aus der technologischen Umsetzung des kybernetischen Diskurses vor allem im Umfeld des militärisch-industriellen Komplexes des Zweiten Weltkrieges entstand die frühe Computertechnologie.1 Die Spannweite des kybernetischen Diskurses lief quer durch die ganze Gesellschaft und umfasste z. T. höchst widersprüchliche Positionen, ohne diese aufzulösen. Die Schriften der Kybernetiker mit ihren Ideen von einer vernetzten Welt als Informationssystem hatten enormen Einfluss auf die entstehende Alternativkultur der Nachkriegszeit. Obwohl die Hippies den militärisch-industriellen Komplex als Ganzes ablehnten, nahmen sie die Vorstellungen von organischen, durch Informationsflüsse gelenkte Systeme als Grundlage eines Gesellschaftsentwurfes, der in Kommunen gelebt wurde. Das Netzwerk ist also nicht nur ein Konzept, wie die Welt und das Leben verstanden werden können, sondern es stellte auch einen neuen Modus Operandi dar – neue Formen des Zusammenlebens (Hippies), aber auch neue Formen der Zusammenarbeit entstanden und lösten die hierarchischen Formen ab. Turner beschreibt dies anhand der Geschichte von XXX, der einflussreichen Verkörperung des neuen Typus des “networking enterpreneur”. Dieser verknüpfte Akteure aus vormals getrennten sozialen und intellektuellen Sphären und baute so über Jahrzehnte neue Netzwerke einflussreicher Persönlichkeiten. Diese etablierten sich und ihre Diskurse schließlich in einer eigenen Wirtschaftlichkeit, der New Economy (Turner 2006). Die dabei entstandene Verbindung von rechtsliberalem Unternehmertum und dem Glauben an die Technologie als Kraft der Weiterentwicklung der Menschheit wird im Allgemeinen
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Der kybernetische Diskurs war aber auch in anderen Disziplinen sehr einflussreich. Stellvertretend sei hier auf den Strukturalismus verwiesen, die Systemtheorie von Niklas Luhmann und die Actor-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour. Der Psychiater Gregory Bateson, der ebenfalls zu den Kybernetikern gerechnet wird, hat diesen Ansatz zum Begriff der „Ökologie“ weiterentwickelt (Bateson 1985), der gegenwärtig auch in der Medientheorie wieder diskutiert wird (Fuller 2005).
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als „Kalifornische Ideologie“ bezeichnet.2 Mit Kalifornien ist dabei vor allem das Silicon Valley gemeint, wo sich die Firmen der New Economy niedergelassen haben. Die sozialen Netzwerke sind also eine Erscheinung einer langen und tief greifenden Entwicklung: Ausgehend von den Ideen der Kybernetik von Vernetzung und Informationsflüssen, den daraus folgenden neuen Arbeitsformen von transdisziplinärem Denken, Austausch und Handeln und den damit einhergehenden neuen Arten von Gemeinschaftlichkeit, haben wiederum neue Technologien der Netzwerke wie das Internet und Social Media entstehen lassen. “[...] the revolution it represents began long before the public appearance of the Internet or even the widespread distribution of computers. It began in the wake of World War II, as the cybernetic discourse and collaborative work styles of cold war military research came together with the communitarian social vision of the counterculture.” (Turner 2006, 9) Die Entwicklung der Mediengesellschaft ist eng verknüpft mit der Ideologie des Fortschritts, dem Glauben daran, dass die Weiterentwicklung der Menschheit mit dem technologischen Fortschritt zusammenhängt. Die Narrative der Medientechnologien erzählen auch heute noch alle durchwegs vom digitalen Fortschritt, von Innovation und besserer Repräsentation: sei es die immer größere Megapixel-Auflösung der Handykameras, das immer höhere Auflösungsvermögen der Bildschirme oder der bessere Umgang mit Prozessen der Verwaltung nach der Zusammenlegung unterschiedlicher Register von öffentlichen Ämtern. Gegen diese Ideologie des Fortschrittes und der Erlösung durch Technologie richtet sich der Begriff des Post-Digitalen. Es ist kein Zufall, dass der Begriff selber von einem Künstler eingebracht wurde (Cascone 2000). Es gab in den Künsten – vor allem der Medienkunst und der elektronischen Musik – immer Bewegungen und Akteure, die sich gegen die Cyberideologien positioniert haben, ohne der Technologie den Rücken zu kehren. Diese kritischen Stimmen berufen sich denn auch nicht auf die Cyberkultur nach kalifornischem Stil, sondern auf andere Seitenlinien der Medienkulturgeschichte: die Hacker-Kultur und die Hobbyist-Kultur. Die Hacker-Kultur entstand Ende der 1950er Jahre im Umfeld der großen akademischen Zentren, die neben dem Militär als Einzige Zugang zu Computertechnologie boten – bis zur Erfindung des Personal Computers 1968 waren das raumfüllende Mainframe-Systeme. Hier entstanden Computerclubs und -Labs, an denen ein offener Austausch von Ideen, Visionen und Praktiken gepflegt wurde. Das Artificial Intelligence Laboratory am MIT, die University of California in Berkeley und die Carnegie Mellon University waren die besonders bekannten Hotspots einer frühen Hacker-Kultur. Der Begriff des Hackers meint hier nicht den heute umgangssprachlich gemeinten destruktiven Computerknacker, sondern bezeichnet laut dem Jargon File “a person who enjoys learning the details of programming systems and how to stretch their capabilities”3. Hacker legen großen Wert auf fundiertes Fachwissen im Gegensatz zu den sogenannten Script-Kiddies, die vorgefertigte Tools benutzen. Aus der akademischen Hacker-Kultur gingen unter anderem die Basistechnologien für das Internet, die Open-Source-Bewegung und die Freie-Software-Bewegung hervor. 2 Siehe auch die Dokumentarfilme von Lutz Dammbeck (2003) und Adam Curtis (2011). 3 Das Jargon File ist ein Textfile, welches dazu diente, den Slang der Hackerkultur zu dokumentieren. Es wurde ursprünglich in Stanford angelegt und dann am MIT erweitert. 1983 wurde es erstmals von Guy Steele editiert und als Hacker’s Dictionnary publiziert und kursiert seither in unterschiedlichen Varianten im Netz. Das Zitat bezieht sich auf The Original Hacker’s Dictionnary, online unter: http:// www.dourish.com/goodies/jargon.html (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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Neben den akademischen Computerlabs unterhielt vor allem Bell eine beeindruckende Forschungs- und Entwicklungsabteilung, die immer wieder Zugang auch für KünstlerInnen zu den Mainframe-Computern bot. Nam June Paik trat dort 1967 eine Stelle als residential visitor an, und die Gruppe Experiments in Arts and Technology um den Wissenschaftler Billy Klüver entstand aus einer von ihm initiierten Kooperation und zwischen Künstlern (u. a. Robert Rauschenberg und John Cage) und hauseigenen Ingenieuren. Die Kooperation führte 1966 zu den berühmten und viel diskutierten Nine Evenings: Experiments in Arts and Technology in der Armory in New York (Higgins/Kahn 2012). Neben der Hacker-Kultur gab es aber immer auch eine rege informelle Gemeinschaft von Amateuren, Computer-Enthusiasten und DIY-Tüftlern, die sich in Computer-Clubs zusammenschlossen. Die bekannteste davon war der Homebrew Computer Club in Kalifornien, gegründet in Menlo Park 1975, aktiv bis 1986. Aus ihm gingen einige der schillerndsten Persönlichkeiten der digitalen Kultur hervor: Steve Wozniak traf dort Steve Jobs, gemeinsam sollten sie später Apple gründen. Im deutschsprachigen Bereich ist der wichtigste Club der Chaos Computer Club mit Sitz in Hamburg. Er ist bekannt als politische Stimme und reichte am 3. Februar 2014 wegen der NSA-Affäre Klage gegen die Bundeskanzlerin Angela Merkel, Mitglieder des Kabinetts und die Leiter des Geheimdienstes ein.4 Der letztjährige Kongress des Chaos Computer Clubs beschäftigte sich mit einer großen Bandbreite von Themen, die in sog. Tracks zusammengefasst wurden: Hardware & Making, Science & Engineering und Security & Safety, aber auch Ethics, Society & Politics, Entertainment, Music und ein eigener Track für die Kunst (etwas unglücklich Art & Beauty genannt), an der u. a. die !Mediengruppe Bitnik, Ubermorgen und Aram Bartholl präsent waren. Allesamt KünstlerInnen(-Kollektive), die sich einer kritischen Haltung zu Medienideologien verpflichtet fühlen und Hacking in unterschiedlichen Formen als künstlerische Methode entwickelt haben.
3. Netzwerk-Praxis Die frühen Kollaborationen von KünstlerInnen und ComputerLabs erkundeten vor allem die ästhetischen Möglichkeiten von Computertechnologie,5 doch auch sie waren Teil der networking culture, welche aus dem kybernetischen Diskurs hervorgegangen ist. Die im Zusammenhang mit dem Chaos Computer Club erwähnten zeitgenössischen künstlerischen Praktiken zeichnen sich dagegen eher durch eine Bewegung oder eine performative Strategie aus, durch welche Aspekte der mediengeprägten Gegenwart sichtbar werden können. Auch wenn sich die Inhalte oft auf soziale, politische oder kulturelle Aspekte von Medientechnologien beziehen, ist es die Anlage der Werke, die als kybernetisch bezeichnet werden kann. Durch den (als Hack bezeichneten) Eingriff in ein bestehendes System wird das System geöffnet und für neue Perspektiven zugänglich gemacht. Das Kunstwerk besteht darin, diese Möglichkeit zu eröffnen. Die Produktion des Werkes liegt dabei nicht mehr alleine in der Hand der KünstlerInnen, sondern das Werk wird durch alle involvierten Akteure substanziell mitproduziert.6 4 Quelle: http://www.ccc.de/de/updates/2014/complaint (letzter Zugriff: 15.08.2016). 5 Eine durchaus kritische Würdigung der Möglichkeiten von Kunst und Technologie, wie sie in den 1960er Jahren versucht wurden, ist bei Jack Burnham nachzulesen (Burnham 1980). 6 Siehe Aufzeichnung des Vortrags der !Mediengruppe Bitnik: “Hacking as Artistic Practice”, online un-
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In einer solcherart gelagerten Praxis verstehen sich die KünstlerInnen als Teil eines Netzwerkes oder Systems, welches sie durch ihr Handeln beeinflussen können. Diese Haltung lässt sich auch auf Bildungszusammenhänge übertragen. Ein solcher Blickwinkel sieht Medientechnologien als Teil des Systems Bildung an, das sich mit der Etablierung der Medientechnologien in ihm grundlegend verändert. Wie kann man diese Veränderungen für eine Medienpädagogik produktiv machen? Analog zur künstlerischen Methodik des Hackings können sich durch die Medientechnologien (oder besser ein geschicktes Handeln mit ihnen) neue Perspektiven auf bestehende Inhalte und Themen eröffnen. Der amerikanische Künstler und Poet Kenneth Goldsmith hat dafür ein sehr interessantes Format erarbeitet. Seit 2004 unterrichtet er an der University of Pennsylvania am English Departement, unter anderem gibt er ein Seminar mit dem Titel “uncreative writing”. Er geht in diesem von der Annahme aus, dass wir mit den digitalen Medien mehr mit Texten zu tun haben als je zuvor.7 Er fragt sich, was dies für die Literatur und das Schreiben bedeutet, und kommt zum Schluss, dass “while traditional notions of writing are primarily focused on ‘originality’ and ‘creativity’, the digital environment fosters new skill sets that include ‘manipulation’ and ‘management’ of the heaps of already existent and ever-increasing language” (Goldsmith 2011, 15). Sein Kurs versucht dies radikal umzusetzen: Die Aufgabenstellung ist, keinerlei Art von Kreativität zu versuchen, sondern nur mit Techniken wie “plagiarism, identity theft, repurposing papers, patch-writing, sampling, plundering, and stealing” (ebd., 8) zu arbeiten. Auch wenn sein Kurs die gemeinhin als Untergang der Kreativität und Autorenschaft verdammten neuen textuellen Möglichkeiten der digitalen Technologien erkundet, ist es doch kein Abschied von einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Text. Im Gegenteil, Goldsmith untersucht die neuen, durch die digitalen Medien hervorgebrachten Möglichkeiten der Textproduktion auf ihr Potenzial für eine neue Art von Kreativität, eine neue Art von Poesie und Textualität. Denn natürlich kann ein individueller Ausdruck des Autors auch unter diesen Voraussetzungen nicht unterdrückt werden, denn auch die Akte des Auswählens und Neu-Kontextualisierens erzählen etwas über den Schreibenden. Auch sind die Methoden nicht so neu und werden z. B. in der bildenden Kunst seit Jahrzehnten verwendet.8 Indem Goldsmith das Schreiben als System von Medientechnologie, Produktionsweise und Autorschaft begreift, ermöglicht er es, neue ästhetische Formen zu entwickeln und sichtbar zu machen. Die dahinterstehende Frage „Was bedeuten Medientechnologien für Texte?“ könnte man als Blaupause für unterschiedliche pädagogische Settings verwenden.
ter: http://media.ccc.de/browse/congress/2013/30C3_-_5425_-_en_-_saal_6_-_201312281900_-_hacking_as_artistic_practice_-_mediengruppe_bitnik_-_mediengruppe_bitnik.html (letzter Zugriff: 15.08.2016). 7 Tatsächlich sind alle digitalen Technologien zutiefst textuell geprägt. Im Internet wird dies am augenfälligsten, da alle Webseiten als für Menschen lesbare Texte (HTML-Code) gespeichert sind, aber auch jedes Bild oder jeder Film, überhaupt jede Datei auf einem Rechner in einem Textformat gespeichert ist (welches allerdings nicht für Menschen lesbar ist). 8 Goldsmith hat die Verbindungen zur bildenden Kunst in einem eigenen Kapitel, Infallible Processes: What Writing Can Learn from Visual Arts, dargelegt (Goldsmith 2011: 125–149). Er bezieht sich dabei u. a. auf die Konzeptkunst und die Situationisten, Referenzen, die auch von Hacker-Artists oft genannt werden.
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4. Soziale Produktion Die Medientechnologien als System zu begreifen, schließt auch die beteiligten Menschen in das Produktionsdispositiv ein. Bei Goldsmith werden mit der Konzentration auf die Arbeit mit fremdem Textmaterial die Begriffe von Kreativität und Autorenschaft neu akzentuiert. Dabei kommt aber auch eine andere Form von Produktion in den Blick: Die Produktion in einer Kultur des Netzwerkes verlagert sich vom Individuum auf die beteiligten Akteure im Netzwerk selber. Diese Verlagerung ist komplex, Felix Stalder hat in seinem längeren Essay einige Aspekte der durch die Netzwerkkultur hervorgebrachten neuen Gemeinschaftlichkeiten beschrieben. Dabei spricht er auch Umwälzungen im Bereich des Wissens und der Wissensvermittlung an: “The more the world is becoming interconnected, the more we realise how important interconnections are, the more we realise we actually know less than we thought we knew. But this experience of not-knowing is tempered by the possibility of finding someone (or something) who possesses this particular piece of information, skill or knowledge that one is lacking.” (Stalder 2013, 17 ff.) Die Medientechnologien haben neue Zugänge zu Wissen und neue Institutionen des Wissens geschaffen, welche mit den etablierten Institutionen des Wissens konkurrieren. Das bekannteste Beispiel ist sicher Wikipedia: Der Bedarf an allgemeiner Information ist noch immer groß, aber dieses Bedürfnis wird nicht mehr in der Form einer gedruckten Enzyklopädie bedient, sondern mittels einer im Internet zugänglichen Enzyklopädie, die Wissen in gemeinschaftlichen Prozessen erzeugt, verwaltet und kontrolliert. Was bedeutet es also für unsere Bildungsinstitutionen, wenn Wissen im Netzwerk zirkuliert und nicht mehr nur in einem einzelnen Individuum verortet ist? Wenn die Produktion zunehmend im Netzwerk stattfindet und nicht mehr einem Individuum alleine zugeschrieben werden kann? Müssten in der Folge nicht die institutionellen Formen der Bildung selber als Netzwerke neu gedacht werden? Verändern sich unter dem Druck der Medientechnologien nicht gerade ohnehin die Rollen von Lernenden und Lehrenden und die Formen von Unterricht? Wenn ein Lehrer nach einem Pilotversuch mit Medienpädagogik an einer Schweizer Mittelschule sagt, dass „jede Form von Medienpädagogik, die davon ausgeht, dass die Älteren die Medien besser verstehen als die Jüngeren, [...] ausgedient“ hat, spricht er diese Verschiebungen an (Betschon: 2014). Kenneth Goldsmith hat es so ausgedrückt: “[...] I can never go back to a traditional classroom pedagogy. I learn more from them than they can ever learn from me. The role of the professor now is part party host, part traffic cop, full-time enabler.” (Goldsmith 2011, 9)
5. Fazit Kompetenz in einer Kultur des Netzwerkes liegt nicht darin, die Tools zu beherrschen, sondern sie liegt darin, die Potenziale der Verbindungen der Tools mit Fragestellungen und Inhalten zu erkennen und nutzbar machen zu können. Hier liegen die großen Potenziale einer von der Netzwerk-Kultur her gedachten Medienpädagogik. Es geht darum, einen Sinn für die Wirkungen der Medientechnologien auf das ganze Gefüge von anderen Medien, Lerninhalten, Methodik und Rollen zu entwickeln.
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Die Realität der Medientechnologien hat in ihrem tiefsten Wesen sehr viel mehr mit Beziehungen der Dinge und Menschen untereinander zu tun als mit spezifischen Technologien. Der kybernetische Diskurs hat uns gelehrt, die Dinge in ihren Zusammenhängen zu betrachten, und der kurze Blick auf die Kulturgeschichte der Medientechnologien zeigt uns, dass es neben der allgemein verbreiteten Ideologie des Fortschritts und der Notwendigkeit der Aufrüstung eine Perspektive gibt, welche den Fokus auf die Verhältnisse unter den AkteurInnen legt und uns erlaubt, uns selber als aktiven Teil der Zusammenhänge zu sehen. Medien können ohne Inhalte nicht gedacht werden, und beide sind aufs Engste verbunden mit den Praktiken, welche sich in ihrem Verbund herausbilden. Eine Perspektive, welche diese Zusammenhänge berücksichtigt, schließt die funktionale Ebene nicht aus, bettet sie aber in einem breiteren Verständnis von Medientechnologien ein. Das wechselseitige Verhältnis von Technologie, Inhalten, AkteurInnen und Methoden neu zu denken, ist eine große Herausforderung für die Pädagogik, und hier können wir tatsächlich etwas von den kritischen Diskursen in den Künsten lernen, nicht nur inhaltlich, sondern vor allem methodisch und strategisch.
Literatur Bateson, Gregory (1985): Ökologie des Geistes, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Betschon, Stefan (2014): Abenteuerreise ins Reich der neuen Medien, NZZ Bildung: Digitale Welten, online unter: http://www.nzz.ch/aktuell/spezial/bildung-in-digitalen-welten/abenteuerreise-ins-reich-der-neuen-medien-1.18279913 (letzter Zugriff: 15.08.2016). Burnham, Jack (1980): Art and Technology: The Panacea That Failed, in: Woodward, Kathleen (Hg.): The Myths of Information – Technology and Postindustrial Culture, London and Henley: Routledge. Cascone, Kim (2000): The Aesthetics of Failure: ‘Post-Digital’ Tendencies in Contemporary Computer Music, in: Computer Music Journal, 24.04.2000, 12–18. Cramer, Florian (2014): What is ‘Post-digital’?, in: APRJA Journal, 03.01.2014, online unter: http:// www.aprja.net/?p=1318 (letzter Zugriff: 15.08.2016). Fuller, Matthew (2005): Media Ecologies: Materialist Energies in Art and Technoculture, Cambridge, MA: MIT Press. Goldsmith, Kenneth (2011): Uncreative Writing, New York/Chichester: Columbia University Press. Higgins, Hannah, B./Kahn, Douglas (Hg.) (2012): Mainframe Experimentalism: Early Computing and the Foundations of the Digital Arts, Berkeley/Los Angeles: University of California Press. Introduction, 1–14. Krauss, Rosalind (2000): A Voyage on the North Sea: Art in the Age of the Post-Medium Condition, London: Thames & Hudson. Latour, Bruno (2010): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Stalder, Felix (2013): Digital Solidarity, London/Lüneburg: PML Books/Mute. Turner, Fred (2006): From Counterculture to Cyberculture: Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago/London: University of Chicago Press. Wiener, Norbert (1989): The Human Use of Human Beings, Cybernetics and Society, London: Free Association Books.
Filme Curtis, Adam (2011): All Watched Over by Machines of Loving Grace, BBC. Dammbeck, Lutz (2003): Das Netz, Lutz Dammbeck Filmproduktion.
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Slavko Kacunko
Das Leben, der Tod und die staubige Wiedergeburt Zur Vermittlung von Bo(o)tschaften zwischen Kunst und Wissenschaft Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/622
Abstract In ihrer ‚Bakterienkunst‘ greift Sabine Kacunko unter anderem auf die Patina und den Biofilm als Zeugnisse von Oberflächenveränderungen zurück, welche sie mithilfe von naturwissenschaftlichen und medialen Techniken auch für die Kunst erschließbar macht. Der folgende Beitrag macht sich zur Aufgabe, die interdisziplinären und medienpädagogischen Potenziale des entsprechenden, bislang ungenügend kontextualisierten, Forschungsfeldes vorzustellen. Am deutlichsten vermittelbar war das Interesse an Bakterien bislang vor allem durch die diesbezügliche forschungsbasierte Kunst gewesen. Diese soll hier an einer künstlerischen Position verdeutlicht werden, welche die Breite des genannten Forschungsfeldes bewusst zum eigenen, fortlaufenden Programm gemacht hat. Die derzeit global verbreiteten akademischen Programme zur kunstbasierten Forschung (Art-based Research; Practice-based Research etc.) untersuchen bekanntlich die Querverbindungen zwischen Forschung durch Kunst, Forschung über die Kunst und Forschung, welche die Kunst benützt. Definiert wird diese disziplinübergreifende kunstbasierte Forschung einerseits durch den systematischen Gebrauch von künstlerischen Prozessen als Quellen zum Verstehen und zur Vermittlung von Erfahrungen von Forschern, Institutionen und Publikum. Sie liefert andererseits Einsichten in die übergreifenden epistemischen Wendungen (Twists), welche wiederum eine hohe Relevanz für die künftige Bildung und professionelle Praxis darstellen. Life, Death and Dusty Rebirth – On the Communication of Messages between Art and Science. In her “bacteria art”, Sabine Kacunko often returns to patina and biofilm as witnesses to changing surfaces, making them accessible for art using science and media technologies. The following contribution aims to introduce the interdisciplinary and media education potential of the research field corresponding to this, which has so far not been contextualized sufficiently. The interest in bacteria has so far been most easily accessible through the corresponding science-based art, which will be shown using an artistic position that has consciously used the wide range of the mentioned research field for its own, continued programme. As we all know, current programmes on art-based research (art-based research, practice-based research etc.) all over the world examine the cross-links between research through art, research on art and research using art. This cross-disciplinary art-based research is defined by the systematic use of artistic processes as sources of understanding and communication of experience of researchers, institutions
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and the public. It also offers insights into overarching epistemic twists that are themselves highly relevant to future education and professional practice.
0. Einleitung: Bakterienkunst – ein Rückblick in die Zukunft der kunstbasierten Forschung und forschungsbasierten Kunst “To ask for the origins of life is to ask for the origin of the environment.” Jesper Hoffmeyer1
Abb. 1: Sabine Kacunko, Besiedeltes Negativ vom Wildschweinschädel mit Bakterien; Kunstverein Coburg 2003 Bild: Sabine Kacunko
Den Ausgangspunkt zu dem hier vertretenen – zunächst kunsthistorischen – Interesse an diesem Bereich lieferten die frühen monografischen Arbeiten zur Video- und Medienkunst (2001),2 welche letztlich zu einer global angelegten, historischen Kartografierung von ClosedCircuit-Videoinstallationen (2004)3 geführt haben. Bei einem zentralen der sechs dort heraus1 Hoffmeyer, Jesper (1998): Semiosis and Biohistory: A Reply, in: Semiotica 120 (3/4). 2 Kacunko, Slavko (1999): Marcel Odenbach. Performance, Video, Installation 1975–1998, München/ Mainz [Dissertation]; Kacunko, Slavko (2001a): Dieter Kiessling, Closed-Circuit Video 1982–2000, Nürnberg; Kacunko, Slavko (2004): Closed Circuit Videoinstallationen. Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie der Medienkunst mit Bausteinen eines Künstlerlexikons, Berlin [Habilitation]; Slavko Kacunko (2001b): Las Meninas transmedial. Malerei. Katoptrik. Videofeedback, Weimar: VDG, sowie die erst kürzlich veröffentlichte monografische Feedback-Videostudie aus derselben Zeit: Kacunko, Slavko (2012): Differenz, Wiederholung und Infinitesimale Ästhetik. Matthias Neuenhofer, eva – edition video art #1: Berlin. 3 Vgl. Kacunko, Slavko (2004) (wie Anm. 2.). – Kulturhistorisch entwickelt wurde das Thema später in: Kacunko, Slavko (2010): Spiegel. Medium. Kunst. Zur Geschichte des Spiegels im Zeitalter des Bildes, Paderborn: Fink.
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gearbeiteten inhaltlichen Forschungsfelder – dem der „Systemmodelle und Verhaltensmuster“ – führte die Schwerpunktsetzung immer mehr von ontologischen zu epistemologischen Fragestellungen und von den Informationstheorien hin zu den Bioepistemologien. Anschließend wurde der Neologismus Bakterienkunst zum ersten Mal auf die forschungsbasierte Kunst von Sabine Kacunko angewandt. Der Grund dafür war die Tatsache, dass die Künstlerin in einer Reihe von Ausstellungen und öffentlichen Aktionen ein umfassendes Verständnis über die Rolle und Bedeutung von Bakterien und Biofilm demonstrierte. Darüber hinaus machte sie die Vermittlung von entsprechenden Inhalten zu ihrer Hauptaufgabe, indem sie bewusst die möglichst breite Öffentlichkeit suchte, welche der Bezeichnung Bio-Kunst (im Sinne der mancherorts mit der Labor-Kunst identifizierten Kunst) geradezu entgegenlief. Erst aus dieser Perspektive konnte das Spezifische an diesem Zugang deutlich werden, das sich von den meisten VertreterInnen der sogenannten Bio-Kunst abhebt. Schätzungsweise zwei Drittel von ihnen arbeiteten entweder sporadisch oder auch mehrfach mit Bakterien.4 Jedoch keine(r) von ihnen stellte mit dieser programmatischen Konsequenz die Breite und Bedeutung von ubiquitären Anwendungsfeldern von Bakterien ins Zentrum der medialen Öffentlichkeit.5 Diese thematische Einschränkung auf nur einen künstlerisch-wissenschaftlichen Ansatz rechtfertigt sich also nicht nur durch die vorgegebene Vermittlungsthematik und den zur Verfügung stehenden Platz: Der wichtigste Grund für diesen Rückblick liegt darin, transparent zu machen, dass und wie sich die hier reflektierte künstlerische Logik auf die Gegenwart und die Zukunft eines realen Forscherverbundes projizieren ließe und damit faktisch ihre Vermittlerrolle als forschungsbasierte Kunst – auch über die gewachsene Strategie von öffentlich wirksamen künstlerischen Acts hinaus – einlösen konnte: Diesem noch jungen Verbund, der den Namen Big Bacteria trägt, gehören einige dänische und deutsche Partner an, denen weitere universitäre und nicht universitäre Partnerinstitutionen aus dem europäischen und nichteuropäischen Ausland beigetreten sind.6 4 Dazu gehören: Eduardo Kac, Edgar Lissel, Critical Art Ensemble, Adam Brown, Joe Davis, Marc Quinn, Wim Delvoye, Thomas Feuerstein, Tuur Van Balen, Anna Dumitriu, Andy Gracie, Marc Dusseiller, Yashas Shetty, Mukund Thattai, Paul Vanouse, Marta de Menezes, Peta Clancy, Andre Brodyk, Julien Haye, SymbioticA, Oron Catts, Karen D. Thornton, David Kremer, Francois-Joseph Lapointe, Gjino Šutić, Erich Schopf. Eine Zusammenfassung der Entwicklung der Bio-Kunst liefert die demnächst erscheinende Dissertation von Jens Hauser. 5 Künstlerin (Berlin) und Autor (Kopenhagen) sind Eheleute. An dieser Stelle können weder die Vorgeschichte noch der Prozess ihrer entweder konvergierenden oder sich überschneidenden Interessen in Bakterienforschung näher dargelegt werden. Bei den möglichen Fragen zur Unabhängigkeit der jeweiligen Arbeit und Forschung und zur Transparenz sowie zur gegebenenfalls angezweifelten wissenschaftlichen oder künstlerischen Distanz empfiehlt sich ein Besuch auf den jeweiligen Websites (www.slavkokacunko.com; www.sabinekacunko.de) und bei den anderen unabhängigen Offline- und Online-Quellen (z. B. Institutionen, mit denen bisher jeweils gearbeitet wurde, Rezensionen, Kritiken usw.). 6 Zu den vertretenen, inhaltlich und methodisch konvergierenden wie divergierenden Forschungsbereichen gehören – aus Präzisionsgründen hier im Englischen belassen und dennoch nur annährungstechnisch zu bezeichnenden Kategorien –: 1. Agency (Bacteria as Matter & Medium in environmental Research [Dust], Bacteria, Autonomous Agents & Information, Res Vivens: The discursive Fields of ‘Life’ in the 17. & 18. Century); 2. Form & Growth (Bio Film in Preservation of Heritage [Patina]), Epistemic Twists: Motility & Adherence, Bacteria’s Structures & Visualization); 3. Size & Sensing (Classifying Cultures: Bacterial taxonomy, System Models Behavioral Patterns [Quorum Sensing], Epidemic Twists: Germ Theory of Disease and medical praxis, art and literature in the 19. & 20. C.); 4. Diversity (Bacteria’s metabolic diversity & medical praxis, Bacteria’s variation diversity: Mutation &
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Wenn man sich auf die Suche nach den prägenden Lehren und Erfahrungen mit der Bakterienkunst7 von Sabine Kacunko begeben will, wird man zurück in den Heften ihrer Schulleistungskurse der Biologie und Religion blättern müssen. Die Sicherheit, das humanistische Boot zwischen Skylla und Charybdis der Religions- und Naturwissenschaften zu navigieren, gewann sie zuerst durch Tauchgänge in den Grundlagen der Zellbiologie, Molekularbiologie und der auftauchenden Ökologie. Die Reaktionsfähigkeit von Mikroorganismen und anderen organischen Substanzen auf ihre Umwelt und vor allem auch immer wieder die Struktur, der Metabolismus und die Ökologie von Bakterien wurden schnell durch den Bezug zum Energie- und Stoffkreislauf ins Zentrum künstlerischer Auseinandersetzung gerückt. In dicht beschrifteten Notizbüchern finden sich die naturwissenschaftlichen Themen wieder, die von der allgemeinen Organisation der Bakterienzelle und chemischen Reaktionen von Bakteriengattungen bis zu Micrococcus, Thiobacillus und ‚springenden Genen‘ auf Bakterienplasmiden8 reichen, begleitet von Hinweisen auf Antibiotika-Resistenzen und diesbezügliche Naturdenkmäler.9 Mit Blick auf die Bakterienkunst von Sabine Kacunko lösen sich scheinbare Widersprüche umso natürlicher und ohne theoretischen Zwang, wenn die Bio-Logie – die Lebens-Wissenschaft – als die Grenzwissenschaft par excellence aufgefasst wird. Rückblickend wird ersichtlich, wie die Grenzkünste und Grenzwissenschaften in der Bakterienkunst ihr Medium fanden, nachdem die frühe Interpenetration von Biologie und Religion ihren geschichtlichen Hintergrund verließ, um neue Kontexte zu erschließen. Die gerne im Verborgenen operierende Alchemie dieser fruchtbaren und zugleich hochexplosiven Mischung wurde in den 90er Jahren zur typischen Arbeitsweise der Absolventin der Düsseldorfer Kunstakademie, als sie die ausschließlich mithilfe von Tageslicht entstandenen Groß- bis Detailaufnahmen der Stillleben (in diesem Fall nature morte im wahren Sinne des Wortes) aus den bekannten Zusammenhängen entband und dadurch eine spannende, sinn- und bedeutungsgebende Umwandlung erkennen ließ. Diese Umwandlung mündete ab den 2000er Jahren schließlich in der Bakterienkunst. Mit ihrer Closed-Circuit-Videoinstallation Product of Life (2002)10 setzte Sabine Kacunko den wohl ranghöchsten Themenkreis ihrer Kunst ab, den Kreis in dem, „das lebendige Licht“ (Hildegard von Bingen) nun zum ersten Mal auf die Mikroebene heruntergeholt worden ist. Es handelte sich um eine interaktive Großbildinstallation, die aus einem 400 cm hohen und 160 cm breiten Diapositivmaterial bestand.11 Als Motiv wurde ein Schweineschädel gewählt,
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Recombination, Bacteria tweaking in contemporary culture); 5. Provision & Productivity (Microbial Ecology and Sociality, Duplicity: Synthetic Biology in Industrial & Agricultural Bacteriology, Between Lab and Field Research: Bacteria’s Etiology & Evolution). Der Begriff wird im Folgenden ohne Anführungszeichen verwendet werden. Schmitt, Rüdiger (1982): Antibiotika-Resistenzen und ihre Verbreitung durch Plasmide und ‚springende Gene‘, in: Naturwissenschaftliche Rundschau, 35. Jg., Heft 4, 139 ff. Vgl. Pflanzenschutz und Umwelt. Hg. v. Industrieverband Pfanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel e.V. (IPS), Frankfurt/M. – Vgl. Klingauf, F.: Internationales Symposium über Pflanzenschutz am 5. Mai 1981 in Gent, Belgien. Nachrichtenbl. Deut. Pflanzenschutzd., Braunschweig 33: 159. Maße: 400 cm x 600 cm. Material: 20 Kb Dias/1 Leuchtkasten 20 cm x 200 cm/1 Negativ 9 x 12 cm mit Bakterienkulturen/1 Lifekamera/1 Computer/1 Beamer/1 Metallregal. Wie in der Installation Origin of Light (2001) wurden die an einen Bewegungsmelder angeschlossenen Leuchtstoffröhren an der Wand befestigt und durch die Bewegung der Ausstellungsbesucher aktiviert. Aber anders als dort, konnte man bei Product of Life nun das Motiv nur beim Einschalten des Lichtes erkennen, während ansonsten eine tiefschwarze und stark reflektierende Fläche – die Betrachterin selbst – zu sehen war.
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eine großformatige Schwarzweiß-Fotoarbeit der Künstlerin („Schädel“, 1997), dessen Negativ durch Besiedelung von Bakterien dem Verfall ausgesetzt wurde. Dieser – ein innewohnendes medienpädagogisches Potenzial tragende – Akt der Besiedlung des vermeintlich Toten durch das vermeintlich Lebende kann als der Anfang der Bakterienkunst von Sabine Kacunko bezeichnet werden. Der in Gang gesetzte Prozess wurde mithilfe digitaler Bildtechnik dokumentiert, indem der Verfall des Negativs selbst von seinem Anfangsstadium bis zur fortgeschrittenen Zerstörung in Form von Diapositiven präsentiert wurde.
Abb. 2: Sabine Kacunko, Bloody Moon. Kunstpalast Düsseldorf 2003 Bild: Sabine Kacunko
Mit dieser und den zahlreichen darauf folgenden, unter dem Oberbegriff P.O.L. Art (Product of Life) versammelten Installationen betrat Sabine Kacunko bewusst ein künstlerisches, mediales und wissenschaftliches Neuland. Dieser Komplex der Arbeiten wird wie bei der Installation Culture Round Culture (2002) für die nächste Dekade prägend bleiben. Hier ließ die Künstlerin das unter einem Videomikroskop liegende Original-Negativ mit der Abbildung eines Fisches (Fisch, 1997) von Bakterien zerfressen. Der Prozess des sich zersetzenden Negativs wurde als Videoprojektion an die Wand wiedergegeben, und zwar live, mit allen Paradoxien, welche in diesem speziellen Zusammenhang aufeinandertreffen. „Der Betrachter wird“, so Sabine Kacunko in einer Projektbeschreibung, „zum Zeugen der unterschiedlichen Phasen des Verfalls und der Zerstörung. Vergängliches birgt die Chance für etwas gänzlich Neues und Anderes.“ Dieses Projekt hinterfragte auf einer allgemeinen Ebene „die Jetztzeit im Kontext von Kultur und Religion“ und fiel offenbar auf fruchtbaren Boden. Culture Round Culture war die erste realisierte Zusammenarbeit zwischen Sabine Kacunko und dem Geologen und Mikrobiologen Wolfgang Krumbein.12 Der fruchtbare Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft im Œuvre der Künstlerin wurde seitdem vertieft und intensiviert, nicht zuletzt auch die Suche nach den geeigneten, sich zunehmend in den öffentlichen Raum verschiebenden Vermittlungsformen dieses Dialogs. Die darauf folgenden Videoinstallationen, darunter Leben (2002) können insofern als konsequente
12 Universität Oldenburg, FB für Mikrobiologie.
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Fortsetzung der foto- und videografischen natura morta e viva der Künstlerin erfasst werden“13, die sich seit Mitte der 90er Jahre fortschreibt. „Das ‚Künstliche‘ tritt somit in den Dialog mit dem ‚Natürlichen‘, wobei sich das Inhaltliche und Sinngebende, das ‚Lebendige‘ der Kunst dem formal anscheinend ‚toten‘ Motiv aus der Natur entgegensetzt und zugleich in ihm sein Fortleben erfährt.“14
1. Bo(o)tschaft Gefolgt wurde die angedeutete frühe und Interimsphase von dem seitdem in mehreren Etappen realisierten Projekt BOOTSCHAFT, das primär Objekte im öffentlichen Raum mit einem besonderen kulturellen oder ökologischen Hintergrund in den Fokus der Beachtung stellt. Die Ausgangssituation bildet die zunehmende Überforderung der Träger von demokratischen Entscheidungsprozessen unter globalisierten Bedingungen medialer und sonstiger Hyperproduktion. In diesem Zusammenhang – so die Ausgangsanalyse der Künstlerin – wird es immer wichtiger, individuelle Inhalte, darunter die Oberflächen natürlicher und kultureller Botschaften, metaphorisch wie faktisch zu beleuchten und so ihren Sinn und ihre Bedeutung sowie ihr medienpädagogisches Potenzial sichtbar zu machen. Mithilfe von bereits genutzten und auch neuen Visualisierungstechniken wird zunächst in der Regel die Patina eines Objektes (z. B. eines öffentlichen Gebäudes) auf die Oberfläche desselben gewählten Objektes als Live-Videobild projiziert. Durch die mediale Visualisierung seiner mikroskopischen Struktur wird die Geschichte und Gegenwart des illuminierten Gegenstands und seiner Umgebung derart aus sich selbst heraus zirkulär veranschaulicht, dokumentiert und der aktuellen Öffentlichkeit zur Reflexion und Diskussion präsentiert. Die neue mediale und materielle Präsenz des repräsentierten Objektes verwandelt es so in das kulturelle Subjekt, dessen Rezeption unter neuen Bedingungen – als Botschaft – tendenziell zur (Selbst-)Reflexion und Interaktion führt. Diese Konstellation von beobachteten und beobachtenden Subjekten evoziert die von Bruno Latour vorgelegte und danach vielfach aufgegriffene Tendenz des gegenwärtigen Umgangs mit den Objekten und Subjekten der natur- und kulturgeschichtlichen Dinge und Agenturen. Der so inhaltlich fixierte Umgang mit den Visualisierungstechniken gewinnt durch die dezidierte Verzahnung von Technologie, Kultur, Ökologie und Ökonomie an Relevanz und Aktualität, die sich offenbar nicht in erster Linie an wirtschaftlichem Wachstum orientiert. Das Wachstum, von dem Sabine Kacunko ausgeht, umschließt allerdings die Logik der genannten, im Zeitalter der (von Latour so genannten) Technokulturen getrennt behandelten Bereiche, indem Kacunko die Aufmerksamkeit auf ihre gemeinsamen ressourcenmaterialistischen Grundlagen und Zukunftsperspektiven lenkt.15 Dem Projekt BOOTSCHAFT liegt in diesem Kontext eine scheinbar simple Beobachtung zugrunde: Mikroorganismen produzieren die natürliche Patina. Unter dem Einfluss der Kleinstlebewesen lassen Temperatur, Wind, Luft, Wasser und darin gelöste chemische und organische Substanzen einen Schutzfilm entstehen, der einem Objekt wie ein Fingerabdruck auf seiner verstaubten Oberfläche anhaftet. Der natürliche Biofilm, die Patina, schützt Objekte als analoge Speicher der Vergangenheit vor dem Verfall. Die Kunst fungiert in diesem Zusammenhang auch als Beschützer dieser sensiblen Schutz13 Kacunko 2004, 728. 14 Ebd. 15 Zum ‚ressourcenmaterialistischen‘ Konzept vgl. Kacunko 2010.
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schicht, die zugleich einen medial-materiellen naturanalogen Träger der Kultur/Natur (re-)präsentiert.
Abb. 3: Sabine Kacunko, BOOTSCHAFT Plange-Mühle, Düsseldorf 2006 Bild: Sabine Kacunko
2. Patina Der Begriff der Patina16 zeigt besonders deutlich, welche politische Brisanz schon im Erkennen der Schönheit der Irreversibilität steckte und welche ästhetischen und wahrnehmungspsychologischen Aspekte die Akzeptanz von Patina mit sich brachte. Während die einen die Beseitigung von Spuren der Zeit als ein „unerträgliches ‚Facelifting‘ ansahen, das die „Geschichte des Objektes negiert“17, schrieben ihr die anderen weitaus weniger ‚Würde‘ und Schutzfunktion zu. Bislang blieb es leider meistens bei der Wunschbekundung darüber, dass in Zukunft nicht zuletzt auch wahrnehmungspsychologisch die Patina-Frage gestellt werden soll, nämlich „aufgrund welcher Kriterien bewusst oder unbewusst Ablehnung oder Akzeptanz von Patina definiert wird. Wo also verläuft die Grenze zwischen Verschmutzung, Verrottung, Zerstörung einerseits und akzeptierten Gebrauchsspuren alterungsbedingter Farbverschiebungen und jeglicher Patina andererseits?“18 Die (Kunst-)Geschichte ist aus dem Patina-Biofilm sowohl ablesbar als auch absehbar. Die Relevanz der Patina und ihrer mikrobiellen Verfassung für die Natur- und Kulturgeschichte ergibt sich nicht nur aus der relativ neuen Feststellung der Geologie, dass die Bioerosion (verursacht durch Besiedlung von Bakterien und anderen Mikroben) stärkere Auswirkung auf das betreffende Material habe als beispielsweise die Winderosion. Daraus lernen wir auch, dass das vom Material und von der Umwelt abhängige Gleichgewicht auf der Mikro- und Makroebene gleichermaßen einwirkt. Wenn man es zusammen mit W. E. Krumbein – nicht einmal zugespitzt – ausdrücken wollte, könnte es heißen: „Nichts ist Dreck, alles ist Leben.“19 Aus diesem bewussten vitalismusverdächtigen Scheinanimismus heraus ließen sich nicht nur die neuen Forschungsprioritäten und -felder der Gegenwartskunst ableiten; auch die politisch brisanten 16 Der Begriff wird ohne Anführungszeichen verwendet. 17 Toyka, Rolf (1996): Patina als Folge von Ge-Schichte, in: ders. (Hg.): Patina, Hamburg/Berlin/Dresden: Juwins, 6–7, hier: 7. 18 Toyka (wie Anm. 17.). 19 Wolfgang Krumbein, mündliche Mitteilung, Berlin 2009.
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Fragen der Denkmalpflege, ihrer Öffentlichkeit und Nachhaltigkeit rückten in ein neues Licht. Die Tatsache, dass die „Entscheidung zur Denkmalwürdigkeit“ heute „nicht mehr alleine in Hand der Öffentlichkeit oder öffentlichen Gewalt“ liegt, sondern „zum Teil im Ermessen einer Teil-Öffentlichkeit oder sogar einer Einzelperson“20 – diese Tatsachen müssten auch als Folge von Privatisierungsstrategien, dem erstarkten Willen zur Macht der Bilder, ihrer digitalen Speicherung und lückenlosen Zuordnung sowie … Manipulation angesehen werden.
3. Leben Die Frage nach dem Leben unter Bedingungen seines Verfalls und gleichzeitiger mechanisch-chemischer Reproduzierbarkeit wird im Kontext des gesamten Œuvres von Sabine Kacunko sowohl von künstlerischer als auch von wissenschaftlicher Seite gestellt. Wir kennen zwar Aspekte der molekularen Maschinerie, der Kreisläufe des Stoffwechsels und des genetischen Netzwerks sowie die Aspekte der Biosynthese der Membrane, aber wir wissen immer noch nicht, was die freilebende Zelle lebendig macht.21 Einen wichtigen Beitrag hinsichtlich dieser Lebensfrage lieferte der Biochemiker und Physiker, Astronom und Philosoph, Mediziner und Systemtheoretiker Stuart Kauffman.22 Durch seine Arbeit mit Modellen auf unterschiedlichen Gebieten der Biologie, insbesondere der Entwicklungs- und Evolutionsbiologie, zeigte er, dass das Verständnis der Fundamente des Lebens für die Biologie die Etablierung einer sogenannten General Biology bedeuten würde. Sie müsse befreit von Beschränkungen der uns bislang einzig bekannten terrestrischen Biologie agieren, um die Fragen zu den Gesetzen der Biosphäre im gesamten Universum stellen zu können.23 Damit erfuhr die Gaia-Hypothese (Lynn Margulis u. a.) eine auch in Fachkreisen akzeptierte Aktualisierung. Die hier untersuchte künstlerische Argumentation steht im Kontext der Kritik des reduktionistischen wissenschaftlichen Modells, wie sie beispielsweise bei Stuart Kauffman vorzufinden ist. Das Projekt BOOTSCHAFT setzte sich als solches nicht nur von der Rhetorik der Artificial-Life- and Artificial-Intelligence-Kunst und -Forschung ab, sondern es setzte gleichwohl die Mittel und Arbeitsweisen der Molekularbiologie, Geologie und anderer naturwissenschaftlicher Disziplinen ein, um die anhaltenden Dispute zwischen den Makro- und Mikroerzählungen mit künstlerischen Mitteln fortzuführen. Die zentrale Frage des Buches „Was ist Leben?“ (1944) von Erwin Schrödinger24 betraf die Quelle der erstaunlichen Ordnung in biologischen Systemen, eine Frage, deren Antwort S. Kauffman zufolge nicht die Frage beantwortete, die mit dem Buchtitel Schrödingers gestellt 20 Ratzmann, Jan (2008): Der Denkmal- und Mahnmalbegriff in der Bildenden Kunst in Deutschland. Öffentlichkeit und Nachhaltigkeit als Eigenschaften eines werkhaften Denkmals nach 1945 (Magisterarbeit [unveröffentlicht], Universität Osnabrück), 41. 21 Kauffman, Stuart (2002): What is Life?, in: Brockman, John (ed.): The Next Fifty Years. Science in the First Half of the Twenty-First Century, New York, 126–141, hier: 126. 22 Kauffman (wie Anm. 21.). 23 Kauffman (wie Anm. 21.). – Vgl. auch Kauffman, Stuart (2004): Prolegomenon to a General Biology, in: Dembski, William A./Ruse, Michael (eds.) (2004): Debating Design: From Darwin to DNA. Cambridge University Press – Vgl. auch Atkins, Peter (2002): The Future of Matter, in: Brockman 2002, 194–205. 24 Schrödinger, Erwin (1951): Was ist Leben? – Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet (1944), München: Piper.
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worden war. Vereinfacht ausgedrückt, verkürzte dieser seine Frage nach dem Leben, die ihn zur Annahme führte, dass die Ordnung des Lebendigen eine Stabilität von chemischen Bindungen erfordert. Diese Stabilität vermutete er wiederum – im Unterschied zu seiner ersten Annahme, korrekterweise – in den aperiodischen Kristallen, deren Struktur einen Mikrocode des lebenden Organismus beinhalten müsste. Ein knappes Jahrzehnt später entdeckten James D. Watson und Francis Crick tatsächlich die Molekularstruktur der aperiodischen Beschaffenheit der Desoxyribonukleinsäure (DNA), deren Mikrocode im Sinne des genetischen Codes selbst ein weiteres Jahrzehnt danach verstanden worden ist. Jedoch im Gegensatz zum Mitbegründer der Quantentheorie und zu dem philosophischen Physiker Schrödinger stellte Kauffman nicht die Frage, was die Quelle der biologischen Ordnung sei, sondern: „Was muss ein physisches System sein, um ein autonomes Agens zu sein?“ Kauffmans provisorische Antwort darauf lautet: „Ein autonomer Akteur (autonomous agent) muss in der Lage sein, sich selbst zu reproduzieren (1) und mindestens einen thermodynamischen Arbeitszyklus vollbringen (2).“25 Als Beispiel nimmt Kauffman eine Bakterie in einer Traubenzuckerlösung. Die Bakterien ‚lieben‘ Zucker, wie viele von uns wissen, und indem sie in einer solchen Umwelt schwimmen, erfüllen sie den Arbeitszyklus des Lebens nebst ihrer Fähigkeit, sich durch Teilung geschlechtslos zu reproduzieren. Kauffman gibt im Anschluss nicht nur zu, dass seine provisorische Definition des ‚autonomen Agens‘ (= des Lebendigen) gewissermaßen zirkulär bleibt, sondern er zeigt auch, dass ebendieser provisorische Charakter der Definition in diesem Fall das Wesentliche an ihrem Definiendum zeigt. An dieser Stelle müssen die von Kauffman beschriebenen konkreten chemischen Systeme nicht zitiert werden;26 wichtig sind die Eigenschaften eines ‚autonomen Agens‘, die sich aus der Definition ableiten lassen: Das System funktioniert nämlich nur außerhalb des chemischen Gleichgewichts, d. h., das autonome Agens hängt von einer Asymmetrie beziehungsweise einem Ungleichgewicht ab. Als solches bildet das autonome Agens eine neue Klasse von Netzwerken mit systemischer Gleichgewichtsstörung mit innewohnender Selbstreproduktion und den Arbeitszyklen. Das Konzept ‚Arbeit‘ (gelegentlich metaphorisch als ‚Spiel‘ angewandt, wobei es im Fall des Lebens natürlich irrelevant ist, welcher Begriff hier als Metapher des anderen genutzt werden soll) bleibt indessen problematisch, denn es bleibt – erstens – offen, woher der Impuls zur Arbeit kommt, und – zweitens – eine Arbeit kann nicht in Isolation verrichtet werden: Das Universum muss also schon in mindestens zwei Teile geteilt worden sein (Material und Umwelt). Diese Teilung in Material und Umwelt bedeutet also eine Beschränkung, einen Zwang, auch eine Regel oder ein Gesetz, aber woher diese kommen, ohne schon vorher die Arbeit ihres Werdens verrichtet zu haben – diese Frage zeigt auf, dass sie – auf das Leben angewandt – selbst einen Teufelskreis produziert. Ausgehend von Schrödingers gestellter Frage nach der Quelle der biologischen Ordnung oder des Lebens konnte Kauffman zufolge nichts Besseres tun, als ein informationstechnisches oder informatisches Konzept hervorzubringen mit der Annahme von gespeicherter Informati25 Kauffman (wie Anm. 21.), 128 f. 26 Kauffman (wie Anm. 21.), 130/131. – Diese Verwendung des Begriffes ‚Akteur‘ [engl. agent] soll nicht verwechselt werden mit demjenigen von Bruno Latour, auch wenn mit Blick auf Bakterien eine interessante und noch genauer zu untersuchende Parallele bei der symmetrischen Gleichstellung von humanen und nicht humanen Akteuren besteht. Vgl. etwa Latour, Bruno (2007): Krieg und Frieden. Starke Mikroben – schwache Hygieniker, in: Sarasin, Philipp/Berger, Silvia/Hänseler, Marianne/ Spörri, Myriam (Hg.) (2007): Bakteriologie und Moderne – Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870–1920, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 111–175.
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on in dem Mikrocode eines aperiodischen Kristalls. Die dort abgespeicherte spezifische Anordnung von Beschränkungen (arrangement of constraints), die für die Freigabe der Energie verantwortlich ist, welche die ‚Arbeit‘ verrichten kann – diese gespeicherte Information kann genutzt werden, um neue Energie zu produzieren, die für die neue ‚Arbeit‘ verwendet werden kann, die wiederum neue Beschränkungen erzeugt usw. Obwohl ein sich teilendes Bakterium exakt dies tut, haben wir nicht einmal einen Entwurf für eine adäquate Theorie, welche die Organisation des Prozesses der Energiefreigabe und ihrer Wirkung (Philosophen würden es ‚Kausalität‘ nennen) erklären würde.27 Die theoretischen Grundsätze der arrangierten Ehe zwischen Informationstechnologie und Molekularbiologie müssten also auch praktisch auf ihre Legitimität hin befragt werden. Es überrascht daher nicht, wenn Kauffman im gleichen Atemzug die Verbreitungsmuster von mikroskopischen Einzellern und ihre makroskopischen Pendants der Biosphäre – die bedrohten Regenwälder – beschreibt. Daraus und erneut am Beispiel der ‚obskuren molekularen Mutation im Bakterium‘ leitet Kauffman auch seine bekannteste These ab, dass bei der Entstehung der Komplexität von Organismen und biologischen Systemen die Selbstorganisation ein ebenso wichtiger Faktor sei wie die darwinsche Selektion.28 Die damit bestärkte Unvorhersehbarkeit – die Todsünde dessen, was man im Englischen als computing bezeichnet – dürfte also auch als Chance begriffen werden, wie es bei Kauffman in der Konklusion heißt: “Life is inherently open, and its understanding will require raising physics and chemistry to new levels, wherein the future is open rather than predictible in prestated categories.”29
4. Umwelt Aus der Perspektive von den seit Lovelaces Zeit über Jahrzehnte hinweg ignorierten Leistungen von KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen wäre es heute sinnvoll und zweckmäßig, die den opportunen Zwängen der globalisierten und vernetzten, curricularen, militärischen und kommerziellen Wissenschaft, Militär und Wirtschaft trotzenden Positionen erneut zu bewerten.30 Sabine Kacunko stellt mit ihrem Projekt BOOTSCHAFT eine Reihe von Fragen, welche die genannten Grundsätze der ‚Technowissenschaften‘, denen die ‚Laborkunst‘ unterstellt ist, direkt angehen. Medienpädagogisch relevant erscheint hier nicht nur die gesuchte Balance zwischen der experimentellen Wissenschaft und der Feldforschung durch Entwicklung von Anwendungen zur Vermittlung entsprechender Inhalte: Der Aufbau von Medienkompetenz und 27 “This organisation of process is carried out by any dividing cell, yet it is stunning that we have no language – at least, no mathematical language of which I am aware – able to describe the closure of process that propagates as a cell makes two, makes four, makes a colony and, ultimately, a biosphere. This self-propagating organization of process is contained in the concept of an autonomous agent […] The cell exhibits a form of organization that is not captured by our concept of information – a concept that leaves out any mention of constructing constraints on the actual occurrence of anything in the real physical world.” Kauffman (wie Anm. 21.), 135. 28 “Could you say that an obscure molecular mutation in a bacterium might allow the bacterium to detect a calcium current from a ciliate and take evasive action? I think not. More generally, I think we just don’t have the concepts ahead of time to state what all possible Darwinian preadaptations might be, nor can we state what all possible environments might be.” Kauffman (wie Anm. 21.), 137. 29 Kauffman (wie Anm. 21.), 140. 30 Vgl. stellvertretend Ryan, Paul (1992): Video Mind, Earth Mind. Art, Communications and Ecology, New York/Bern: Lang.
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Medienwissen wird nicht zuletzt durch das Insistieren auf einer aktiven und vor allem auch parallelen analogen sowie digitalen Teilhabe von Menschen gefördert. Aufklärung, Vermittlungsund auch Entscheidungsprozesse bilden das Herzstück des beschriebenen Ansatzes (in Form von Applikationen, Informationsterminals und anderen interaktiven Medienangeboten innerhalb des Kunstwerks). Der öffentliche Raum wird somit zum Labor, in dem Zusammenhänge von Dingen oder Lebewesen mit ihrer Umwelt untersucht und weiterkommuniziert werden. Das prekäre Verhältnis zwischen Winderosion und Bioerosion (Bakterien und andere Mikroben) wird beispielsweise zwischen dem analogen und virtuellen öffentlichen Raum untersucht, während die sinnliche Wahrnehmung auf der einen und maschinelle Messung auf der anderen Seite in einen (selbst-)bewusstseinsöffnenden Dialog treten und die sogenannte ästhetische Erfahrung der Rezipienten auf der Schnittstelle zwischen diversen Konzepten pendelt. Insbesondere die Frage des Erhaltungszustandes von Kulturgütern rückt im Zusammenhang mit einer nachhaltigen Entwicklung in den Vordergrund. Nicht nur das gegenwärtig breit diskutierte und oft auf die temperaturbedingten Veränderungen reduzierte System Umwelt wird so zum künstlerischen Thema. Gerade auch das System Material, der mikrobielle Biofilm und die bei den Wüsten beobachteten interkontinentalen Migrationen von Bakterien mittels der Wüstenstäube treten in den Vordergrund. Das Problem der Desertifikation explizierte Sabine Kacunko am Beispiel der Ausweitung der Wüste Gobi und der Anstrengungen von China, durch das Projekt ‚Chinas Grüne Mauer‘ diese Tendenz aufzuhalten. Für die interaktive Installation BOOTSCHAFT HAN HAI („Trockenes Meer“), die im Oktober 2009 in Peking vorgestellt wurde, wurden mikroskopische Bilddateien von Pilzkulturen aus der Wüste Gobi hergestellt.
Abb. 4. Sabine Kacunko, Dry Sea. Interaktive Installation, Platform China Contemporary Art Institute Peking 2009 Bild: Sabine Kacunko
Der Mikrokosmos der von Anna Gorbuschina (BAM Berlin) gezüchteten Pilzkulturen der Wüstenpatina wurde auf eine Leinwand projiziert aber je mehr Ausstellungsbesucher den Raum betraten, desto mehr schwand das Patina-Bild, desto weniger von dem ursprünglichen ökologischen wie auch ästhetischen Gleichgewicht blieb bestehen. Ein Jahr später trat das Appellative noch mehr aus dem Schatten visualisierter Prozesse heraus in die Domäne der Kunstdiplomatie. Im Zuge des 300-jährigen Jubiläums der Charité Ber-
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lin fand im Oktober und November 2010 im Robert-Koch-Forum/Institut für Mikrobiologie und Hygiene sowie an anderen Orten in Berlin eine Ausstellung und Kunstaktion mit dem Titel LIFE FLAG – NEWS FROM EVERYWHERE statt. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit dem Institut für Mikrobiologie und Hygiene der Charité Berlin und der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung realisiert. Die Gesamtaktion thematisierte und reflektierte im Rahmen des Berliner Wissenschaftsjahrs 2010 das sensible ökologische, politische und ökonomische Gleichgewicht und die damit involvierten bewussten wie unbewussten Aktivitäten des Menschen.
Abb. 5a: Sabine Kacunko, BOOTSCHAFT Life Flag, Botschaft Israel, Berlin 2010 Abb. 5b: Sabine Kacunko, A. v. Humboldts Staubprobe aus der Ehrenberg-Sammlung Berlin 2011 Abb. 5c: Sabine Kacunko, Mikroskopische Aufnahme von reaktivierten Mikroorganismen aus einer Staubprobe (von A. v. Humboldt) aus der Ehrenberg-Sammlung Berlin 2011 Bilder: Sabine Kacunko
So standen im Fokus des Projektes, das aus einer Reihe von verschiedenen Medienkunstaktionen und Veranstaltungen im öffentlichen Raum bestand, die Bemühungen um eine Synthese aus Wirtschaftswachstum und Umweltschutz als Herausforderung für das 21. Jahrhundert. Das dicht gespannte Netz von 129 Botschaften in Berlin – der europäischen Hauptstadt mit den meisten diplomatischen Vertretungen – wurde für die Aussendung der Bo(o)tschaft genutzt, die – diesmal auf Flaggen buchstäblich abgedruckt – ökologische Belange zugleich als Motiv, Metapher, Model, Material und Medium darstellte. Die teilnehmenden 75 Botschaften erhielten die LIFE FLAG, eine Fahne mit gleichem Motiv, die in allen Botschaftsgebäuden für eine Woche gehisst wurde. Als Grundlage für das Motiv wurde die Darstellung von Mikroorganismen ausgewählt. Deren Eiweißfabriken, die sogenannten Ribosomen, wurden von einem Team am Institut für Mikrobiologie und Hygiene an der Charité mit molekularbiologischen Technologien, der FISH-(fluorescence in situ hybridization)-Diagnostik, angefärbt. Die so sichtbar gemachten Ribosomen kommen sowohl bei Bakterien, Pflanzen und Tieren als auch beim Menschen vor. Dabei wurde eine neue Untereinheit der 16s-rRNA-Sequenz entdeckt, die sowohl bei Pflanzen, Tieren und Menschen vorkommt. Als Entdeckerin taufte die Künstlerin diese „Oceanobacillus Pulvirenatus“ – „Staubige Wiedergeburt“. Die Bakterienkulturen stammten von einer historisch einzigartigen Staubprobe aus der Sahara-Wüste, die Alexander von Humboldt 1823 als Geschenk erhalten hatte. Die Probe befindet sich heute im Naturkunde-Museum Berlin und ist Eigentum der Ehrenberg-Sammlung. Die Berliner Aktion war außerdem Ausgangspunkt für weitere Kunstaktionen, die anschließend über das globale Netz von Botschaften (auch im Internet) weitergeführt wurden.
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5. Bakterien Seit der erfolgreichen Reanimierung der historischen Staubprobe in LIFE FLAG machte die Künstlerin weitere Spuren im Staub – sichtbar – zum Untersuchungsgegenstand. Die quasi wiederbelebten Bakterienkulturen kreierten nun digitale und analoge Botschaften. Sie wurden zum Herzstück und Ausgangspunkt der darauf folgenden Medieninstallation und anderen Projekten, bei denen die schonungslose Schönheit der Bakterienkunst in ihren weiteren, ja allumfassenden Bedeutungen ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte. Sabine Kacunko weist in ihren Projekten immer wieder auf die multiplen Funktionen oder Sichtweisen hin, die uns Bakterien vermitteln: Sie fungieren erstens als lebende Solarzellen. Die frühesten bekannten, sogenannten Urbakterien (Archaeen oder Archaebakterien) waren die charakteristisch blaugrün gefärbten Cyanobakterien, die als marine Blaualgen das Material bildeten, aus dem die noch heute existierenden Stromatolithen (knollige Kalkablagerungen) in Australien bestehen.31 Dank des in ihnen enthaltenen Chlorophylls gelten die blaugrün pigmentierten Cyanobakterien als ‚Erfinder‘ der Fotosynthese, die (unter Einbeziehung von Kohlendioxid mittels lichtabsorbierender Farbstoffe) für die Verwandlung des Sonnenlichtes in chemische Energie verantwortlich ist. Der so entstandene eigene Stoffwechsel und die Fähigkeit, sich (geschlechstlos, durch Teilung) aus eigener Kraft fortzupflanzen, machen Bakterien im Unterschied zu den ebenso alten, widerstands- und verwandlungsfähigen (aber zwischen Leben und Tod immer noch gefangenen) Viren zu den lebenden Wesen im meist akzeptierten Sinne dieses Wortes. Auch hier impliziert die verstandene medienspezifische Differenz zwischen der halbbelebten oder potenziellen und belebten oder aktuellen Materialität eine medienpädagogische Relevanz mit Blick auf das bakterienfreie aber von ubiquitären Viren bewohnte digitale Umfeld. Der zweite Anwendungsbereich der Bakterien in dem hier beschriebenen künstlerischen, wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Zusammenhang hängt mit der zweiten Natur von Bakterien zusammen, mit der Pigmentbildung. Bakterien fungieren als lebende Farbstoffe und sind damit verantwortlich für die wahrnehmbare Vielfalt unserer Welt. Die Mikroorganismen produzieren bei ihren Stoffwechselvorgängen als Abfallprodukt Farbpigmente und damit ein neues künstlerisch-ästhetisches Ergebnis. Neben der weichzeichnerischen Wirkung auf der betroffenen Oberfläche liegt der eigentümliche ästhetische Reiz der so entstehenden natürlichen – und im Fall der Bakterienkunst von Sabine Kacunko auch künstlerischen – Patina vor allem in ihrer Farbe. Die subjektive Natur der Farbe erhält aber durch künstlerische Intervention zusätzlich ihre objektive, ressourcentechnische Erdung, indem die Träger der für die Pigmentierung verantwortlichen molekularen Prozesse ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Die Farbe des betreffenden Gegenstands erhält ihre subjektive Konstitution traditionell (erstens) durch die Einbeziehung idealistischer Farbenlehre. Die Farbe des Gegenstandes wird physikalisch gesehen (zweitens) durch die Wellenlängen und Intensitäten des von ihm ausgehenden Lichts – durch seine Spiegelungsfähigkeit – bestimmt; auch diese Sicht enthält 31 Lesch, Harald/Zaun, Harald (2009): Die kürzeste Geschichte allen Lebens, in: Göttermann, Lilo (Hg.) (2010): Denkanstöße. Ein Lesebuch aus Philosophie, Kultur und Wissenschaft, München/Zürich: Piper, 11–24, hier: 17. – Inzwischen sind ebenso alte, möglicherweise ältere Cyanobakterien in New Mexiko bestätigt worden. Für die Argumentation hier spielen diese Angaben allerdings keine wesentliche Rolle.
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subjektive Elemente durch die Veränderung der Beobachterposition. Zu Recht forderten Philosophen wie Ludwig Wittgenstein oder Ernst Cassirer schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die physikalischen, philosophischen und auch kunsttheoretischen Reflexionen zur Farbe aufeinander zu beziehen. Zu Recht wies man darauf hin, dass eine Polemik der Naturphilosophie gegen die physikalische Betrachtung des Lichts verfehlt sei.32 In Arbeitsnotizen von Sabine Kacunko befinden sich unter anderem die mit dem 04. September 2003 datierten, dem Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie33 entnommenen Hinweise auf die Evolution sozialen Schwärmens bei Bakterien, ein Thema, das die beiden angesprochenen Fähigkeiten dieser Kleinstlebewesen um eine weitere Qualität ergänzt. Dort handelte es sich um die soziale Differenz, die zwischen den Wildtypen des Bodenbakteriums Myxococcus xanthus und ihren Mutanten gezogen werden kann: Während die Ersteren gemeinsam auf weichem Nährboden (Agar) schwärmten, gingen ihren nicht sozialen Mutanten bestimmte extrazelluläre Fortsätze (Pili) verloren.34 Auf besonders interessante Art und Weise zeigt sich die bereits im Kontext der Patinabildung angesprochene Ambivalenz von Bakterien im Hinblick auf die Zerstörung und den Schutz der betreffenden Substanz. Ihr soziales Verhalten und ihre Kooperation (bekannt aus dem Quorum-Sensing-Forschungsgebiet [Bonnie L. Bassler u. a.]) geht bei den Myxobakterien (zu denen auch Myxococcus xanthus gehört) so weit, dass sie sich in großen Gruppen zusammentun, um über Oberflächen zu schwärmen und Opferorganismen zu jagen und zu töten. Wenn sie besonders karge Bedingungen vorfinden, vereinigen sie sich zu Gruppen von bis zu 100.000 Myxococcus-xanthus-Zellen, die dann dreidimensionale Samenstrukturen bilden, um dem Nahrungsmangel, der Austrocknung oder Hitze widerstehen zu können. Auch vor Selbstopferung im Dienste des Ganzen schrecken die Bakterien offenbar nicht zurück, was sicherlich nicht als Widerspruch zur Ausbildung ihrer Individualität zu bewerten wäre. Die Massenausbreitung oder das Schwärmen von Bakterien wird als erster Schritt in der Bildung von Biofilmen, inklusive des organischen Staubs, vermutet. In diesem Prozess findet so etwas wie der Aufbau des Kurz- und Langzeitgedächtnisses von Bakterien statt. Eine Tochterzelle lernt und entscheidet schneller als die andere.35 32 Vgl. dazu Publikationen von Ulrich Ruschig und der „Forschungsstelle Kritische Naturphilosophie“ (Universität Oldenburg). – Vgl. etwa Heisenberg, Werner (1969): Die Goethesche und die Newtonsche Farbenlehre im Lichte der modernen Physik (1941/1984), in: ders.: Gesammelte Werke (hg. v. W. Blum, H.-P. Dürr u. H. Rechenberg. Abt. C. Bd. 1., München: Piper, 146–160 und Pawlik, Johannes (1984): Theorie der Farbe, Köln: DuMont. 33 Als eine mögliche Ursache für die Farbveränderung der Oberfläche wird die Ladungsübertragung vermutet. – Vgl. Krumbein, W. E. (2003): Patina and cultural heritage: a geomicrobiologist’s perspective, in: Cultural heritage research: a Pan-European challenge. Proceedings of the 5th EC conference (16– 18 Mai 2002), Kraków 2003, 39–47, online unter: http://www1.biogema.de/biogema/htdocs/upload/ krakauwekmay.pdf (letzter Zugriff: 15.08.2016). – Vgl. auch die dort angeführte Literatur, darunter: Gorbushina, A. A./Dornieden, T./Krumbein, W. E.: Patina, in: Ciferri, O./Tiano, P./Mastromei, G. (ed.): Of Microbes and Art. New York 2000, 105–119 und Eppard, M./Krumbein, W. E./Koch, C./Rhiel, E./Staley, J. T./Stackbrandt, E.: Morphological, physiological and molecular characterisation of actinomycete isolates from dry soil, rocks and monument surfaces, in: Archives of Microbiology, 166, 12–22, 1996. 34 Gregory J. Velicer und Yuen-tsu N. Yu vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen. Vgl. Nature, Vol. 425, 4. September 2003. Weitere Informationen sind online erhältlich unter http://www.tuebingen.mpg.de (letzter Zugriff: 15.08.2016). 35 Obwohl zwei Stämme, die von den Pili-losen Mutanten abstammen, die Fähigkeit zum sozialen
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6. Kristalle Ein Jahr nach dem Großprojekt in Berlin, am 27. November 2011 wurde in der École des Beaux-Arts in Paris das Medienkunstprojekt BOOTSCHAFT – CRYSTAL MIRROR vorgestellt.36 In einer begehbaren Medien-Skulptur aus Karbon befand sich ein Video-Mikroskop, unter dem eine Petrischale mit lebenden Zellkulturen stand, die audiovisuell erlebbar gemacht wurden. Dabei standen wieder die gleichen historischen Bakterienkulturen aus der EhrenbergSammlung im Mittelpunkt, die schon bei BOOTSCHAFT – LIFE FLAG das Ausgangsmaterial waren und von Prof. Dr. Anna Gorbuschina reaktiviert oder wiederbelebt wurden. Die Bilddaten von den Wachstumsprozessen der reanimierten Bakterienkulturen wurden live ins Internet übertragen und waren somit auf einer Projektwebsite für den virtuellen Besucher zugänglich. Der Karbon-Körper bezog sich auf die Koordinaten der Cheops-Pyramide und setzte sich aus der Spiegelung des Pyramidenapex zu einem Oktaeder zusammen, an welchem Ultraschall-Soundspots befestigt waren. Mittels einer speziell entwickelten Software wurden die Basen der DNA von den Bakterienkulturen in Töne transformiert und mithilfe der aktuellen Windkoordinaten vor Ort direkt als Klänge ausgegeben und weiterkommuniziert (vgl. Kacunkos Bootschaften Online http://www.bootschaft.info/index.php?id=38).
Abb. 6a. & 6b: Sabine Kacunko, BOOTSCHAFT – CRYSTAL MIROOR, Medienskulptur, École nationale supérieure des Beaux-Arts de Paris (ENSBA) 2011 Bilder: Sabine Kacunko
Schwärmen wieder neu evolviert haben, gelang ihnen dies allerdings mit fundamental anderen Mechanismen und Mustern als dem Wildtypen. – Diese Art von Sozial-Darwinismus beschreiben plastisch die folgenden Zeilen: „Wenn die Zeiten hart werden, dann wird Bazillus schwanger. Normalerweise teilen sich Bazillen gleichförmig und gleichartig. Sobald schwierige Zeiten kommen, wandelt sich eine der beiden Tochterzellen oder die Mutterzelle in eine nicht überlebensfähige schützende Hülle. Auf diese Weise kann eine der beiden Zelle Jahrhunderte überdauern, um neue grüne Weidegründe zu erreichen; die andere wird nimmermehr zum Leben erwachen. Liebevoller Opfertod und Altruismus werden auch in der Evolutionslehre als das bessere Überlebensprinzip, als ‚Töte, damit du nicht getötet wirst‘ angesehen.“ Krumbein, W. E. (1997): Der Tod und die Mikrobe, was mich wieder an Hofmannsthals Tor und Tod erinnert, Lori Oliwenstein. 36 Die Performance eröffnete die 17. ICOMOS-Generalversammlung, welche unter der Schirmherrschaft des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und Irina Bokova, der Generaldirektorin der UNESCO, stand.
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Der Wüstenstaub wurde ursprünglich in Kalabrien gefunden und 1823 dem Humanisten Alexander von Humboldt in Paris überreicht, der den Staub später in Berlin untersuchen ließ. Dabei wurde festgestellt, dass der Staub ursprünglich aus der Sahara stammt und von den Passatwinden nach Italien getragen wurde. Damit wurde damals zum ersten Mal wissenschaftlich bestätigt, dass die unterschiedlichen Ökosysteme in einer Wechselbeziehung stehen. Die Mikroorganismen aus der Wüste Sahara ernähren heute noch auf ihrem Weg nach Europa weitere Ökosysteme oder auch in Südamerika den Regenwald. Der Sahara-Staub gelangt über das Mittelmeer und die Alpen mit einer starken Südströmung bis nach Paris. Mit dem nordafrikanischen Staub verteilen die Winde Pflanzennährstoffe wie Calcium, Magnesium oder Mikroorganismen. Von der unfruchtbaren Trockenwüste der Sahara bis zu den tropischen Regenwäldern Südamerikas werden seitdem Staub, Sand wie auch organisches Material weitertransportiert.
7. Fazit Die Wiederbelebung eines beinahe zweihundert Jahre alten Bakteriums als Produkt transdisziplinärer Kollaboration und des produktiven Zusammenspiels von Kultur, Politik und Wissenschaft wird mit kaum einer anderen historischen Persönlichkeit so sehr in Verbindung gebracht wie mit Alexander von Humboldt. Der deutsche Humanist lebte und arbeitete lange Jahre bis einschließlich 1827 in Paris. In Humboldts Forschungsarbeit kamen auch praktische Aspekte bekanntlich nicht zu kurz. Der Mensch sollte in die Lage versetzt werden, die Natur möglichst nachhaltig zu nutzen.37 Die Sicht auf das Leben als eine fundamentale Aktivität der Biosphäre, verstanden als ein hochorganisiertes System von Materie und Energie, führt nicht zuletzt zu einer längst überfälligen Sicht auf das dynamische Gleichgewicht des Ökosystems unserer Erde und unter günstigen Voraussetzungen zur möglichen Verhinderung unseres vorzeitigen Ablebens in einem bakteriell beherrschten System. Bakterien bringen eine schier unendliche Vielfalt von Farben, Strukturen und Interaktionen mit der Umwelt hervor. Die Bakterienkunst von Sabine Kacunko führt uns die darin abgebildete asymptotische Konvergenz von instrumentellen Fragen und Sinnfragen vor Augen. Die bedeutungsoffene Oberfläche der Bilder mit der Entwicklung der Kunst- und Mediengeschichte kurzzuschließen, scheint ein naheliegender Ansatz zu sein, sich dem Werk von Sabine Kacunko zu nähern. Die Unmöglichkeit, über die Oberfläche ihrer Bilder zu dem Gezeigten vorzudringen, bedingt geradezu zwangsläufig die Frage nach Bedeutung und Aussagekraft der (re-)präsentierten Entstehungs- und Zerfallsprozesse des fotografischen, videografischen und digitalen Bildes.
37 Das Projekt CRYSTAL MIRROR in Paris ermöglichte es außerdem, aufeinem virtuellen Parcours durch Paris den Spuren dieser Geschichte nachzugehen und komplexe Zusammenhänge zwischen Umwelt und Mensch mithilfe der von Sabine Kacunko konzipierten Apps zu kommunizieren. Durch den zusätzlichen Einsatz von Verortungssoftware wurden die Hotspots des Parcours (Louvre, Planetarium, Obelisk, Naturkundemuseum) zu real erlebbaren Orten.
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Abb. 7: Sabine Kacunko, Looping Life. Medienperformance, Collegium Hungaricum Berlin (CHB), Ausstellungsansicht 2013 Bild: Sabine Kacunko
Aus dem Chaos und der Methode, mit der sie den Tod und seine Heilung künstlerisch begeht, erschloss Sabine Kacunko ein im besten Sinne des Wortes interdisziplinäres Forschungsfeld, dessen Ergebnisse einen Beitrag zu den zentralen Fragen liefern, worin die Bedeutung von Kunst in einer technisierten Gesellschaft liegt und inwieweit sie noch eine Kapazität zur Visualisierung, Deutung und Darstellung der Welt im Medienzeitalter hat.
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Das Leben, der Tod und die staubige Wiedergeburt
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Raquel Rennó
Activism in Brazil Hacker spaces as spaces of resistance and free education Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/648
Abstract Hackerspaces and medialabs in unusual and traditional cultural places seem to be the alternative to the educational and digital gap between rich and poor in Brazil. Raquel Rennó analyzes this gap and reconstructs the subversive potential auf heterotopic spaces. Many emerging cultural practices assisted or constituted by digital media were fostered in Brazil by the Cultural Points Project (Pontos de Cultura), initially proposed by the former Brazilian Minister of Culture of President Lula da Silva’s, Gilberto Gil. With Dilma Rousseff, Pontos de Cultura was considered of lesser importance, but the same cannot be said of the group of activists that are working across the country disseminating and building knowledge from digital culture. Groups that were organized horizontally and composed in a large sense by youngsters, developed e-waste recovery projects and computer programming (mainly based on free software) in permanent or ephemeral workshops and hackerspaces that were assembled in unique spaces such as offices in malls, classrooms, indigenous villages, Umbanda worship places (Afro-Brazilian worship houses) and houses in slums (favelas). Aktivismus in Brasilien: Hacker Spaces als Räume von Widerstand und freier Bildung. Hacker Spaces und Medialabs an ungewöhnlichen und traditionellen Kulturorten in Brasilien scheinen eine Alternative zur Kluft zwischen Reich und Arm in Bezug auf Bildung und digitale Kompetenz darzustellen. Raquel Rennó analysiert diese Kluft und rekonstruiert das subversive Potential heterotoper Räume. Viele gerade entstehende kulturelle Praktiken, die durch digitale Medien gestützt oder bestimmt sind, wurden in Brasilien durch das Projekt Kulturpunkte (Pontos de Cultura) gefördert, das ursprünglich der ehemalige brasilianische Kulturminister unter Präsident Lula da Silva, Gilberto Gil, vorgeschlagen hatte. Unter Dilma Rousseff verlor Pontos de Cultura an Bedeutung, doch dies gilt nicht für die Gruppe von Aktivisten, die im ganzen Land arbeiten und Wissen aus digitaler Kultur verbreiten und aufbauen. Horizontal organisierte und zum Großteil aus Jugendlichen bestehende Gruppen entwickelten in permanenten oder ephemeren Workshops und Hacker Spaces, die an außergewöhnlichen Orten wie Büroräumen in Einkaufszentren, Klassenzimmern, Indigenendörfern, Umbanda-Gebetsräumen (afrobrasilianischen Gebetshäusern) und Häusern in Favelas eingerichtet wurden, Projekte zur Wiederverwertung von Elektronikmüll und Computerprogramme (meist aufbauend auf frei verfügbarer Software).
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1. Cultura Viva Program and Cultural Points (Pontos de Cultura)1 The Brazilian Ministry of Culture created the Program Cultura Viva in 2005. The program was created with the intent to strengthen the cultural prominence of the Brazilian society, valuing the cultural initiatives of groups and communities, expanding their access to the elaboration, circulation and enjoyment of cultural aspects and services according to the Pontos de Cultura2. According to the Brazilian Ministry of Culture, between 2004 and 2012, 3662 Pontos de Cultura were created in the country. During the last years, the success of the initiative has conveyed the idea of the Cultural Points to Argentina and Peru, among other countries (around 11 countries stated that they were interested in the proposal). The innovative aspect of the Pontos de Cultura proposal in the Brazilian context is the understanding rendered to small and fragmented local cultural initiatives from the viewpoint of the generation of knowledge and innovation, overcoming the paternalistic culture comprising economic parameters confounding economic poverty with cultural poverty.
2. The Cultural Points as a generator of a critical appropriation of the media Directly or indirectly, the Cultura Viva program has supported groups of free culture activists, involved with free software and hacker ethics to structure themselves in different ways, by using digital technologies as a tool for production and dissemination of knowledge or the subject of experimentation itself. It is not uncommon to find there free radios such as Coco da Umbigada (from an Afro-Brazilian worship house), rádio Kiriri (run by Indigenous people in Bahia) or radio programs called Maluco Beleza prepared by patients of a psychiatric center in the state of São Paulo. These initiatives have enabled the community to generate their own media content, encompassing the oral tradition of these groups and enabling the participation and immediate connection to the public without any filtering system from the traditional mass media.
3. The hackerspaces as spaces for innovative learning In the middle of this complex and varied context, some of the people directly involved in the activities of the Cultural Points, militants and activists who are users of technology have realized that they would have to propose new methods and training spaces. As stated by Felipe Fonseca (2008:8), about the Metareciclagem: “The idea of accomplishing workshops to bring together people who could be future replicators of knowledge in different locations was an attempt to solve the huge problem that we had in our hands: how to enable people in hundreds of different places in a combination of complex issues such as multimedia production accomplished with free software reckoning on a limited team and resources?” Based on these local contents far from the metropolis, with limited money, space or even electricity, innovative training proposals were generated which shall be explained as follows. 1
This article was originally published in Spanish at Edumed Congress papers (II Congreso Internacional de Educación Mediática y Competencia Digital) at UOC, Barcelona, November 2013. 2 http://www2.cultura.gov.br/culturaviva/cultura-viva/ (last access: 03 May 2014).
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3.1 Bailux, technologies in a social context Aldeia Velha is an Indigenous reservation inhabited by the Pataxó tribe in southern Bahia (Brazil) in the neighbourhood of a town called Arraial d’Ajuda. The Pataxó are the remaining population of a variety of tribes that included the Monoxó, Kutatoi, Maxakali, Maconi, Kopoxó and Panhame. Actually, the Pataxó tribe is a conjunction of two dozen tribes which were divided, persecuted and exterminated in Brazil in recent centuries (to be clear, the extermination of indigenous peoples did not stop since, lately it was intensified even more as a result of the lobby increase of the agribusiness companies and projects as Belo Monte hydroelectric power plant.)3 Regis Bailux (this nickname was originated by the combination of Bahia-Linux) has been living in Arraial D’Ajuda for more than 20 years and recently, he started to develop a close work with public school teachers at the reserve. In recent years, there were some projects related to the teaching of the use of free software and the preservation of local culture for future generations. In collaboration with the teachers Angelo Pataxó and Arnã Pataxó (the tribe members often used the name of the ethnic group as surname), Bailux developed projects involving technological appropriation and preservation of local culture.
3.1.1 Affective Technologies
Pic.1. Regis Bailux (left) with kids from Pataxó tribe in Aldeia Velha, Bahia
As in other hackerspaces, Bailux created a physical structure of networked computers that were connected to the web with the use of free software. Old electronic equipment is reused for the critical use of technology, always keeping in mind that “technology should be adapted to people and not the other way around” as Bailux says.4 Bailux connects technology to people through personal relationships and mutual support. According to him, it is important to take the time to meet the children and youngsters of the village and to get acquainted with their needs. He called this process affective technology. Gar3 More information on the subject can be read at: http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2013/may/29/brazil-indigenous-people-violates-rights http://servindi.org/actualidad/88635 and at: http://www.bbc.co.uk/mundo/noticias/2013/06/130605_ brasil_luchar_derechos_web_indigenas_lav.shtml (last access: 19 January 2016). 4 Source: personal communication.
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cés (92:2013) spoke of the importance of the relationship between activism and affection: “It is important to understand that this thought is not the promotion of a contemplative attitude and neither will it seek shelter in a new intellectualism. On the contrary, this is regarded as a real concern, to break the relation of indifference that denotes us as consumers – mere viewers of reality. Critical thinking starts when ‘what we know’ (or do not know) affects our relation with things, with the world and with others. This does take courage and this sentiment is cultivated in the affective relation with others. This is the fundamental experience that can change our relationship with the world and its forms of domination, which are more intimate and subjective. From that point, education is once more a challenge to existing structures and field experimentation.” The conservative conception of culture leads to the criticism of the use of technologies by Indigenous tribes since according to it, this may damage or lead them to forget their traditional culture. However, most of the people of Aldeia Velha is in constant contact with non-Indigenous population and the presence of technology in their lives is already a reality that makes the critical approach even more important.
3.2 Coco de Umbigada: technologies in the Afro-Brazilian culture The Coco de Umbigada do Guadalupe is a cultural center associated to Ilê Axé Oxum Karê (Afro-Brazilian worship center) in the Guadalupe neighborhood in the city of Olinda in Pernambuco. It is under the supervision of yalorixá Beth de Oxum and they have been practicing their activities for the past 15 years. It is structured around “brincadeiras de coco” (local music rhythms) and promote local festivals called sambadas every Saturday. Among the activities carried out there, we can mention the percussion workshops, technological appropriation from the recycling of computers, development of network communication tools, applications and gadgets for multimedia production. Ancient and contemporary knowledge blend into the space consisting of the exchange generated by visitors. The Yalorixás have access to social network through mobile devices, recycled technology and workshops to learn how to develop free radios such as the Brincadeira of Terreiros project promoted in collaboration with the SEPPIR (Promotion of Racial Equality Secretariat by the Presidency of the Republic). One of the members of Coco de Umbiagada, Ricardo Ruiz, also took part in the Lab3Ecologías project with Ricardo Brazileiro. 3Ecologías is not a Ponto de Cultura, instead of that, it gathers lab proposals for the training and production of technology, education, culture and art. At 3Ecologías they develop methodologies for teaching creative computing and engineering applied to media art projects. The focus it at the projects, whose objectives are established by the students themselves, surpassing the idea of mere “content learning”.
3.3 Art and Technology: Emerging Spaces The members of the Lab3Ecologias are also involved in the Teia/Nós Digitais, active cultural point since 2006 in São Carlos in the state of São Paulo which have generated a network of initiatives of Pontos de Cultura for the development of free software and other experiments in the field. Specifically, Lab Macambira is quite successful in the combination of political activism and software programming and besides that, the development of workshops and training in the use of free radios and music production. Traditional cultural spaces have also adopted the con-
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cept of the Pontos de Cultura such as the Circo Voador in Rio de Janeiro. Coacting circus practices, space for concerts and dance shows, they also offer training activities at the Escola Livre de Artes (ELA) and a center for audiovisual education.
3.4 Quilombo do Sopapo The project Quilombo do Sopapo located in Porto Alegre, capital of Rio Grande do Sul, began in 2008 and aims towards the promotion of alternative cultural and audiovisual production and training in information technology for youngsters. The project reckons on a Community Council Supervisor and seeks to encourage actions involving art, civic culture and solidarity economy, the assertion of rights and building a culture of nonviolence. The project name is related with the afro-gaucho drum, created in the nineteenth century, made with Arbore shell and horsehide. The Quilombo is also responsible for the project Imagens Faladas, consisting of photographic walks around the neighborhood where the project is located or some research to recover the history of the african culture in the southern Brazilian region as well as the organization of a community library. It is important to note that the quilombos are places and groups founded by slaves who had fled during the period of African slavery who are still fighting for legal and political recognition in Brazil.
4. Towards a hacker learning The previously mentioned projects present a common proposal that at first sight seems simple, almost customary. The teacher as the “know all” or the “great inspirational artist” is not there anymore. The work is performed with everyday objects, innovative practices are used for the proposition of an open method, allowing improvisation and new ideas, therefore a fruitful path for media art development. As explained by Michael Bauwens (2012: s/n), the working principle of the hacker surpasses the idea of someone who works for another person (often something that the hacker is not fond of ) in exchange for a salary. The work counts as knowledge process and takes place during the working period, not only before (as in schools that render a preparation for a job), in other words, is not submitted to the traditional capitalist job system. Knowledge is generated as something continuous and is valued according to its relevance to the community. This type of work is personal and can only make sense in relation to the contexts and values of a community and aims to improve these contexts. In this sense, the concept of knowledge and how it is acquired is instable, since it changes according to the questions and desires presented by the participants. As stated by Bauwens (2012), “knowledge should always happen collectively.” Nelson Pretto (2010) encourages the “hacker attitude” to teachers. According to him, a hacker teacher is not merely a reproducer or distributor of third party content, he works in liaison with his students to generate content; such content should always be free and open, on-line for other groups to take hold of and recreate. It is Pretto’s idea that a permanent production system should be created, in which knowledge and culture are public properties, aloof of the boring “teaching materials” and closer to the peer to peer provision and the remix culture.5 5 The peer-to-peer organization is a fully distributed and horizontal, in opposition to the traditional
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The above examples raise a claim to cultural and epistemological diversity beyond dichotomies such as north-south, or center-periphery. It’s not only about “education for all”, instead of that, it is related to the demand for spaces – not only physical, but subjective and epistemological – of knowledge inside and outside of the traditional system. With the social demonstrations in Brazil that since 2013 question the “up to bottom” political and economic decisions from the government, this is also the moment to question the local education system and its role in the process of culture and arts development and their correlation with technology.
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Theo Hug
Medien Formen Schule Ein Plädoyer für erweiterte Handlungsorientierungen und Reflexionsperspektiven Beitrag online im Ressort Forschung unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/649
Abstract Wie lassen sich schulbezogene Perspektiven der Reflexion und Handlungsorientierung unter Bedingungen der Medialisierung erweitern? Im Beitrag werden ausgewählte Aspekte der Thematik sondiert und kritisch diskutiert. Im Kontext von Schul(re)formen spielen medienbezogene Rhetoriken eine beachtliche Rolle. Das gilt für medienskeptische und -euphorische Argumentationen gleichermaßen. Einerseits wird an das Erfordernis von Schonräumen und Entwicklungsaufgaben für Kinder und Jugendliche, die Ausdifferenzierung von Literalität als Bildungsaufgabe oder von möglichster Gleichheit der Chancen auf den Erwerb von Qualifikationen erinnert. Medien werden dann meistens als Hilfsmittel des Lernens, der Bildung oder der Entwicklungsförderung aufgefasst. Andererseits geht es auch um die Entwicklung geeigneter Infrastrukturen für das Lernen und Lehren mit mehr oder weniger neuen Medien, mediengestützte Schulentwicklungsprojekte oder die Implementierung von E-Learning-Strategien. Dabei fällt auf, dass sich die Innovationsbemühungen bei näherer Betrachtung häufig als strukturkonservative Verwaltungsmaßnahmen erweisen, die an den zeitgenössischen medienanthropologischen, -epistemologischen und -kulturellen Herausforderungen vorbeigehen. Der Beitrag zielt auf eine Problematisierung schulischer Bildungs- und Informationsmonopole sowie auf die Sondierung erweiterter Perspektiven der Reflexion und Handlungsorientierung im Lichte der Theorie medialer Formen. Media Forms School – A Plea for Broadening Action Orientation and Reflection Perspectives. Media-related rhetoric plays a remarkable role in the context of school (re)forms, whether the arguments are euphoric or skeptical about media. On the one hand, there are reminders of the need for protected spaces for developmental tasks for children and adolescents, for the detailed differentiation of literacy as an educational task, or for maximizing equal opportunity. In these cases, media are mostly seen as a means of learning, education or promoting development. On the other hand, debates also deal with the development of adequate infrastructures for learning and teaching with more or less “new” media, media-based school development projects, or the implementation of e-learning strategies. Here it is striking that, on closer observation, innovative efforts frequently turn out to be structural-conservative administrative measures which fail to address the contemporary media-anthropological, media-epistemological and media-cultural challenges. The focus of the article is on school-based monopolies of education and infor-
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mation, and it explores broadened perspectives of reflection and action orientation in the light of the theory of medial forms. Eine englischsprachige und überarbeitete Fassung dieses Beitrags wurde in der Online-Zeitschrift MedienPädagogik publiziert: vgl. Hug, Theo (2014): Media Form School – A Plea for Expanded Action Orientations and Reflective Perspectives, in: MedienPädagogik 24 (25. Sept.): 114–135, online unter: http://www.medienpaed.com/globalassets/medienpaed/24/hug1409.pdf http://www.aprja.net/?p=1318
Einleitung Dass Medien im Zusammenhang mit schulischem Lehren und Lernen verstärkt eine Rolle spielen (könnten), wird von den einen beklagt, von den anderen erhofft und mitunter ignoriert. Dass sie generell in den Prozessen des Aufwachsens, der Entwicklung von Identitäten, Wertorientierungen und Alltagsästhetiken sowie bei der Gestaltung von Selbst- und Weltbezügen bedeutsam sind, wird ebenfalls gemeinhin mehr oder weniger erfreut zur Kenntnis genommen. Knapp und abstrakt ausgedrückt lässt sich sagen: Dass Medien in mancher Hinsicht an der Schaffung von Wirklichkeiten und der Gestaltung von Kommunikationsprozessen beteiligt sind, steht heute außer Zweifel. In diesem allgemeinen Sinne werden ihnen durchaus konstruktive Züge zugestanden, und zwar auch und gerade dann, wenn die medialen Einflüsse und Effekte als problematisch oder destruktiv eingeschätzt werden (vgl. Hug 2011a). Wenn es darum geht, zu beschreiben, worin diese Bedeutung besteht, wie sie zustande kommt, und wie sie zu beurteilen ist, gehen die Auffassungen weit auseinander. Eine Schwierigkeit liegt dabei darin, dass sowohl in der erziehungs- als auch in der medienwissenschaftlichen Forschung viele verschiedene Medienbegriffe und -konzepte verwendet werden, was die fachinterne wie die fachübergreifende Kommunikation nicht gerade erleichtert. Ähnlich verhält es sich mit Begriffen wie ‚Schule‘, ‚Lernen‘ oder ‚Bildung‘ – auch sie werden in sehr unterschiedlichen Weisen verwendet und sie korrespondieren mit zum Teil inkommensurablen Formen der Thematisierung, theoretischen Konzeptionierung und praktischen Anwendung. Hinzu kommt, dass alltagsweltliche Verwendungsweisen mitunter insofern auch wissenschaftliche Diskurse tangieren, als auch WissenschaftlerInnen in der einen oder anderen Weise erzogen worden sind, schulische Erfahrungen gemacht haben, Medien nutzen, dies und jenes (nicht) lernen etc., ohne im Allgemeinen die Relevanz dieser Erfahrungszusammenhänge für institutionalisierte Forschungsprozesse systematisch und konsequent (selbst-)reflexiv einzuholen. Damit meine ich nicht, dass jeder artikulierte Erfahrungszusammenhang einer erziehungs-, medien- oder sprachphilosophisch motivierten Begriffsanalyse standhalten oder etwa ein psychoanalytisches Setting durchlaufen haben müsste. Weder begriffliche Exaktheitsniveaus noch Grade psycho- oder soziodynamischer Klärung stellen Werte an sich dar. Entsprechende Klärungsansprüche und Forderungen machen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich Sinn. Für wichtig befundene Werte können auch nicht ein für alle Mal sinnvoll festgelegt werden. Sie können allerdings von den beteiligten Akteuren in situations- und kontextspezifischer Weise begründet und je nach Geschick, Handlungsspielraum und Akteurs- und Machtkonstellation auch in Wert gesetzt werden.
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Sowohl in alltagsweltlichen als auch in wissenschaftlichen Diskurszusammenhängen spielen einerseits medienphobische und medieneuphorische, andererseits auch relativ nüchtern abwägend-differenzierende Betrachtungsweisen eine Rolle. Ich halte es für wichtig, dass wir die affektlogischen Dynamiken (vgl. Ciompi 1997) in diesem Zusammenhang nicht aus dem Auge verlieren, zumal wiederkehrende Argumentationsmuster im Gefolge historischer und aktueller Mediendynamiken leicht ausgemacht werden können (vgl. Rusch 2007: 44; Leschke 2014). Eine der Herausforderungen, die sich daraus ergeben, besteht in der Weiterentwicklung individueller, institutioneller oder metatheoretisch ausgerichteter Formen der Selbstreflexion sowohl in Bezug auf die affektlogischen Dimensionen der Medien-Thematik als auch als Element pädagogischer Professionalität (vgl. Hierdeis 2009) unter den Bedingungen der Medialisierung. Eine weitere Herausforderung besteht in der Überwindung (selbst-)beschränkender Perspektiven, wenn es um Medien und Schule geht. Im Folgenden wird anhand zweier Beispiele gezeigt, wie diskursive Zwänge im schulpädagogischen und unterrichtstechnologischen Denken überwunden werden könn(t)en. Im Anschluss an einige Ausgangsüberlegungen werden am Beispiel der Konkreten Dichtung und des Medienaktivismus die Selbstverständlichkeit des Umgangs mit sprachlichen und handlungsorientierten Formen hinterfragt. In konzeptioneller Hinsicht wird weiters die Relevanz der Theorie medialer Formen (Leschke 2010) für lern- und bildungstheoretische Diskurse aufgezeigt.
1. Ausgangsüberlegungen Medienfragen werden seit etlichen Jahren verstärkt auch in schulbezogenen Diskursen des Lernens, der Bildung und der Organisationsentwicklung aufgegriffen. In vielen Ländern arbeiten ExpertInnen an der Entwicklung von Positionen und Handlungsempfehlungen zu aktuellen medien- und bildungspolitischen Fragen.1 Das bedeutet allerdings nicht, dass mit den bildungspolitischen Medienrelevanzbekundungen und Technologieversprechungen prominente Positionierungen medientheoretischer oder medienpädagogischer Topoi in Förderprogrammen oder gesetzlichen Strukturvorgaben verbunden wären. Was die Situation in Österreich betrifft, so besteht zwar kein Mangel an innovativer Rhetorik (vgl. die Stichworte ‚PädagogInnenbildung NEU‘, ‚LehrerInnenbildung NEU‘), die einschlägigen ExpertInnenberichte sind jedoch durchwegs auf der Linie traditioneller Vorstellungen verfasst (vgl. Härtel u. a. 2010; Schnider u. a. 2011). Wenn in einer ergänzenden Expertise zur LehrerInnenbildung NEU (vgl. Hopmann u. a. 2010) bemängelt wird, dass in Österreich im Schuldienst „beim Einsatz in beruflichen Arbeitsfeldern auch heute meist noch nach Organisationsprinzipien verfahren [wird], die sich im Wesentlichen im 18. und 19. Jahrhundert flächendeckend etabliert hatten“ (ebd., 4), so wird aber auch hier bei der Diskussion des Übergangs von einem „vormodernen Matrixsystem zu einer modernen, flexiblen Schulgestaltung“ (ebd., 4) die Rolle der Medien nicht explizit berücksichtigt. Im Großen und Ganzen korrespondieren mit den bildungspolitischen Medienrelevanzbekundungen durchwegs marginale Positionierungen von medienbezogenen Anliegen in den einschlägigen Entwürfen. Dass Fragen nach der Ordnung der Welt, des Wissens, der Gesell1
Vgl. im deutschen Sprachraum die Initiativen „Keine Bildung ohne Medien“: http://www.keine-bildung-ohne-medien.de/ und „Medienbildung JETZT!“: http://www.medienbildungjetzt.at/ sowie die Initiative „eEducation“: http://www.eeducation.at/ (letzte Zugriffe: 15.08.2016).
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schaften, der Generationen, der Geschlechter usw. allemal auch Fragen nach der Ordnung der Medien betreffen, wird vielfach nicht gebührend zur Kenntnis genommen. Die Vorstellung, dass Medienpädagogik zu den „geeigneten Vertiefungen“ zählt (Härtel u. a. 2010, 48), die gewählt werden können, zeugt genauso wenig von einem angemessenen Verständnis kontemporärer Erfordernisse wie der marginale Hinweis auf die Nutzung „realer und virtueller Lernorte“ (ebd.: 7) innerhalb und außerhalb der Schule oder gelegentliche IKT-Verweise (ebd.: 11, 19). Während in diesen Expertisen Medienthemen als optionale pädagogische Spezialisierungen gehandelt werden, tragen strukturelle Maßnahmen zusätzlich dazu bei, dass Fragen nach neuen Lernkulturen und Medien in Schule und Unterricht weithin als optional aufgefasst werden. Auch wenn sich im Einzelnen in den Grundsatzerlässen „ganzheitlich-kreative Lernkultur in den Schulen“ und „Medienerziehung“ des (ehemaligen) Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur (vgl. bm:ukk/bmbf 2009; bm:ukk/bmbf 2012) wichtige Reflexions- und Gestaltungsanregungen finden, so bleibt es den Lehrpersonen und SchulleiterInnen überlassen, diese aufzugreifen (oder nicht). Vergleichsweise zögerlich werden hierzulande auch internationale Initiativen aufgegriffen, die sich dem Ziel der Öffnung von Bildung auf verschiedenen Ebenen unter Verwendung von digitalen Kommunikationstechnologien und Creative-Commons-Lizenzen sowie massive open online courses (moocs) verschrieben haben. Digitale Medienentwicklungen werden seit einigen Jahren international unter den Labels Open Education (OE) und Open Educational Resources (OER) diskutiert (vgl. exemplarisch Atkins 2007; Butcher et al. 2011).2 In den erwähnten Expertisen kommen diese Diskurse nicht vor. In zeitgenössischen erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Handbüchern und Nachschlagewerken (vgl. etwa McCulloch/Crook 2008; Tippelt/Schmidt 2010; Horn u. a. 2011) auch (noch) nicht. Kaum anders verhält es sich in schulkritischen Diskursen (vgl. exemplarisch Blankertz 2013). Einzelne Initiativen und Projekte3 machen allerdings deutlich, dass die OER-Bewegung auch im deutschen Sprachraum angekommen ist und zukunftsweisende Lösungsansätze entwickelt werden. Insbesondere Michael Kerres und Richard Heinen haben am Beispiel des Kooperationsprojekts „Edutags“ gezeigt, wie der Aufbau informationell geschlossener und offener Ökosysteme für die schulische Nutzung von Lernressourcen erfolgen kann (vgl. Kerres/Heinen 2014). Auch wenn es zutrifft, dass Medienfragen seit etlichen Jahren in lern- und bildungstheoretischen sowie in schulpädagogischen Diskursen intensiver diskutiert werden, so werden dabei etliche aktuelle Herausforderungen nicht oder allenfalls in einigen Teildiskursen berücksichtigt. Das betrifft nicht zuletzt die folgenden Punkte: • Funktionen von Schule werden häufig mehr oder weniger konsequent mit spezifischen Zeitdiagnosen und gesellschaftstheoretischen Selbstbeschreibungen verbunden. Die Pluralität solcher Diagnosen wird dabei genauso wenig problematisiert wie grundsätzlichere Fragen nach den Arten und Weisen “in which ‘sociology of mobilities’ disrupts ‘sociology of the social as society’” (Urry 2000, 4) oder Überlegungen Nach der Gesellschaft (Faßler 2009). • Begründungen von Schulformen als gesellschaftliche Institutionen erfolgen unter verschie2 Vgl. http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/access-to-knowledge/ open-educational-resources/ (letzter Zugriff: 15.08.2016). 3 Vgl. etwa http://www.e-teaching.org/community/communityevents/onlinepodium/oer_schule_ hochschule, http://www.eduhub.ch/community/special-interest-groups-sig/sig-open-educational-resources/, http://www.edutags.de/ oder http://l3t.eu (letzte Zugriffe: 15.08.2016).
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denen normativen und deskriptiv-analytischen Gesichtspunkten auf Mikro-, Meso- und Makroebenen. In den schultheoretischen Diskussionen werden unterschiedliche Aufgaben und gesellschaftliche Funktionen sowie schulstrukturimmanente und institutionenübergreifende Argumentationen elaboriert und kritisiert. Medientheoretische Begründungsmöglichkeiten werden in diesen Diskurszusammenhängen – von Ausnahmen abgesehen (vgl. Böhme 2006) – weitgehend ausgeblendet. • Analoges gilt für medienepistemologische und -anthropologische Diskurszusammenhänge. Die Vielfalt kultürlicher Einstellungen in medialisierten Lebenswelten und die diversen Arten und Weisen der Referentialisierung von Wahrnehmungen und Wirklichkeitsbereichen erfordern die Klärung von Referenzmodalitäten (Schmidt 1999, 134–139). Informationelle Dynamiken verändern sich angesichts der doppelten Dynamik des „Verschwindens“ und der „Allgegenwart“ von digitalen Technologien sowie von Fragen nach dem Verhältnis der Wirklichkeit der Erfahrung zur Erfahrung der Wirklichkeit. Fragen der Bedeutung „informationeller Intelligenz“ (Faßler 2008), von „Automatismen“ (Bublitz u. a. 2010) sowie post-humanistischer und post-anthropozentristischer Denkansätze (vgl. exemplarisch Braidotti 2013) für die (Medien-)Bildung im Allgemeinen und die schulische Bildung im Besonderen wurden in schulpädagogischen Diskursen bislang kaum aufgegriffen. Die knappen Hinweise zur Ausgangslage zeigen an, dass im Lichte des mediatic turn (Friesen/Hug 2009) etliche relevante und grundlegende Fragestellungen zur Bearbeitung anstehen, die weit über gängige bildungstechnologische Modelle der E-Education, Strategien der Implementierung von E-Learning in schulischen Kontexten und konventionelle Ansätze der Standardisierung schulischer Medienbildung hinausgehen.
2. Konkrete Dichtung und Medienaktivismus als Anlässe und Anknüpfungspunkte für erweiterte Perspektiven der Schul- und Medienpädagogik Wenn es um Anwendungen von digitalen Medien im Zusammenhang mit schulischem Lehren und Lernen geht, so besteht kein Mangel an Modellen und Szenarien.4 Ähnlich wie auch beim Einsatz von analogen Medien und Unterrichtsmitteln aller Art, werden Denk- und Handlungsspielräume häufig nur begrenzt reflektiert und sondiert. Das betrifft einerseits die mehr oder weniger selbstverständlich verwendeten Symbolsysteme und andererseits die Rede von Handlungsorientierungen. Ich will im Folgenden anhand von zwei Beispielen verdeutlichen, was ich damit meine.
4 Vgl. exemplarisch Hettinger (2008), die Beiträge zum Thema „E-Learning in der Schule“ in der Zeitschrift für E-Learning (3/2009, 4. Jg., http://www.e-learning-zeitschrift.org/03_2009/) oder die Informationen des eLearning Netzwerks eLSA (http://elsa20.schule.at) sowie des internationalen Network for Mobile Learning Scenarios (s. http://scenarios.londonmobilelearning.net/) (letzte Zugriffe: 15.08.2016).
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2.1 Überlegungen zum Laut-Bild „Medien f/Formen Schule“ Der Titel dieses Beitrags „Medien Formen Schule“ eröffnet verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Eine Hörart legt Interpretationen in dem Sinne nahe, dass Medien Schule formen. Wie das geschieht, wird dabei nicht ausgesagt. In Betracht kommt ein breites Spektrum direkter und indirekter Einflussmöglichkeiten, beispielsweise durch Entwicklungen der Unterhaltungsindustrie und Medienökonomie, Neuerungen im Medienrecht, Mediensozialisationseffekte und mediengesellschaftliche Entwicklungsdynamiken, Angebote der E-Learning-Industrien und neue Geschäftsmodelle, innovative Medienformate und neue Formen mobiler Medienkultur, die Architektur von Schulgebäuden, die Verwendung von Symbolsystemen, veränderte Wahrnehmungsweisen und Aufmerksamkeitsökonomien, den Gebrauch von Medikamenten sowie biopolitische und biomediale Entwicklungen, verwaltungsbürokratische Routinen usw. Solche und andere mediale Entwicklungen können als Einzelphänomene oder als Ensemble oder Interaktionszusammenhang, als marginal oder zentral und höchst relevant, theoretisch fundiert oder atheoretisch, anwendungsorientiert oder zweckfrei gedacht, global, regional oder lokal, mit Freude, Skepsis oder Verzweiflung usw. aufgefasst werden. Die jeweilige Fokussierung und Thematisierungsweise sowie der Grad der Differenzierung eröffnen allemal spezifische diskursive und performative Horizonte, die in aller Regel nicht schon selbsterklärend sind. Im Gegenteil: Bei näherer Betrachtung erweisen sich gerade die allzu „selbstverständlichen“ Darstellungen und Problemanordnungen als fragwürdig. In den meisten Fällen werden wir nur sehr begrenzt Zeit und Kraft auf die Explikation von Vorannahmen, Ausgangspunkten und Methodenbegründungen aufwenden können. Wenn uns mehr an Prozessen der Verständigung und weniger an Formen der strategischen Durchsetzung oder taktischen Überwindung liegt, dann sollten wir zumindest in Umrissen unser Problemverständnis auch explizit verdeutlichen. Wenn also zum Beispiel der Titel des Beitrags in einem Diagramm veranschaulicht werden soll (vgl. Abb. 1), dann macht es einen Unterschied, ob damit ein nicht näher spezifiziertes „Zusammenspiel“ von drei weit gefassten Faktorenbündeln, ein Modell der Wechselwirkung von bestimmten Unterrichtsformen, Medientechnologien und Schultypen oder ein Venn-Diagramm gemeint ist, das die besondere Eignung von Instrumenten einer Lernplattform für bestimmte Arbeitsformen in einer konkreten Schule in einer logisch informierten Weise zusammenfassend darstellen soll. Die Liste von Optionen ließe sich leicht fortsetzen. Es wird aber damit schon deutlich, dass gängige Veranschaulichungsmodalitäten nicht weniger kontextgebunden und deutungsbedürftig sind als phonetische Gemeinsamkeiten und Unterschiede sprachlicher Artikulationsformen. Weniger offenkundig ist der algorithmische Anteil an der Darstellungsform. Wer sich mit gängigen Anwendungsprogrammen eines kostenpflichtigen Softwarepakets auskennt, weiß um die relative Einfachheit der Generierung der Abbildung 1 und die begrenzten Gestaltungsspielräume des konkret verwendeten Programms und kann so Formen, Wahl der Schrifttype und Farben sowie Anordnung der Diagrammteile leicht nachvollziehen.5 5 Das Argument ließe sich freilich erheblich weiter ausdifferenzieren, etwa anhand von Übersichten über Visualisierungsmethoden (vgl. http://www.visual-literacy.org/periodic_table/periodic_table. html), Überlegungen zur Diagrammatik (vgl. Bauer/Ernst 2010) oder Peter Bextes Projekt über visuelle Argumentation (vgl. http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/embodiedinformation/ projects/index.html) (letzte Zugriffe: 15.08.2016).
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Abb. 1: Schaubild „Medien Formen Schule“ Bild: Theo Hug
Ich will an dieser Stelle einen Schritt weitergehen und eine Betrachtungsweise ins Spiel bringen, die weder in der Schul- noch in der Medienpädagogik viel Beachtung gefunden hat. Die Offenheit der Titelformulierung kann zum Innehalten und Assoziieren einladen. Und wenn assoziierte Spannungsfelder so wie in Abbildung 2 dargestellt werden, dann kann sich eine ähnliche Leseerfahrung einstellen wie bei der Rezeption von Heinz Gappmayrs Werken der gemeinhin wenig bekannten Konkreten Dichtung. Im Zuge einer reflexiven Betrachtung des Text-Bilds „Medien Formen Schule“ (Abb. 2) werden gängige Verwendungsweisen der verwendeten Termini insofern dynamisiert, als deren ontologisierende Züge problematisiert werden und mannigfaltige Zuweisungen von Eigenschaften in Betracht kommen. Optische und begriffliche Elemente erzeugen durch ihre Anordnung Spannungsfelder, die eine Klärung des Verhältnisses der beiden Ebenen nahelegen. Dabei können Verwendungsmöglichkeiten von Begriffen, deren Stellung im Rahmen kultureller Symboliken und gesellschaftlicher Kontexte, Regeln der Komposition, Relationen zu etablierten ästhetischen Darstellungsformen, Formen figurativer Übertragung u. a. m., Beachtung finden (vgl. Hug 2002, 21–23).
Abb. 2: Schaubild „Medien Formen Schule“ Bild: Theo Hug
Wenn wir die Abbildung 2 als Text-Bild im Sinne einer begrifflich orientierten visuellen Poesie auffassen, dann tun sich neue Lesarten auf. Die multiple Zeichenfolge „Medien Formen
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Schule“ kann als grafisches Material gleichsam ein Ereignis in der Wahrnehmung inszenieren, das in einer Paradoxie von Anwesenheit und Abwesenheit besteht. Bereits die räumliche Nähe der einzelnen Ausdrücke kann als Nebeneinander, Miteinander, Gegeneinander, wechselseitig Abhängiges oder ineinander Verschränktes gelesen werden. Das Lese-Bild ist nach innen und außen offen und es hat unter selbstreferenziellen Perspektiven selbst medialen Charakter. Die Differenz von einer endlichen Zeichenkette und offenen Begrifflichkeiten bietet so mannigfaltige Deutungen im Hinblick auf begrifflich-optische Relationen sowie konzeptionelle Dimensionen und Wahrnehmungsprozesse. Beispiele der Konkreten Dichtung können sehr hilfreich sein, wenn es darum geht, Routinen des selbstverständlichen Sprach- und Symbolgebrauchs zu unterbrechen und zu hinterfragen. Indem das materiale Erscheinen von etwas Gedachtem und der Übergang vom Zeichen zum Begriff sichtbar gemacht werden, können Kategorien des Denkens auf grundlegende Weise ins Blickfeld rücken. Damit eröffnen sich auch für die Schul- und Medienbildung Perspektiven der kritischen Betrachtung sprachlicher und symbolischer Formen.6
2.2 Überlegungen zum Medienaktivismus „Muss die aktuelle Medienpädagogik denn immer so brav sein?“, fragte Ben Bachmair neulich im Rahmen einer Diskussion bei der Tagung zum Thema „Medien – Wissen – Bildung: Freie Bildungsmedien und Digitale Archive“7. Nun, ähnliche Fragen dürfen sich mitunter auch die Schulpädagogik und die wissenschaftliche Pädagogik insgesamt und zwar nicht nur im deutschen Sprachraum gefallen lassen. Dass verschiedenste Formen der ideologischen Getriebenheit, engen Begrenzung thematischer Horizonte, benevolenten Subordination und opportunistischen Gelegenheitsargumentation auch und gerade in jenen Kreisen anzutreffen sind, die sehr spezifische Auffassungen von Kritik für andere verbindlich machen oder als einzig wahre verkaufen wollen, mag zwar angesichts der vielen Paradoxien, die in der Pädagogik seit den Anfängen der Theoretisierung erzieherischen Handelns eine Rolle spielen, nicht weiter verwundern. Das hilft aber jenen aufgeweckten Köpfen nicht weiter, die mit bildungsökonomisch motivierter Innovationsrethorik, E-Learning als Förderinstrument technologieorientierter Verwaltungsbürokratie oder medienvergessenen bildungskulturellen Ansprüchen nicht zufrieden sein können oder wollen. Einige Optionen für erweiterte, weniger „brave“ Perspektiven des Denkens und Handelns im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstbestimmung bieten sich im Anschluss an medienaktivistische Interventionsformen an. Dazu habe ich an anderer Stelle (vgl. Hug 2011b) bereits einige Überlegungen publiziert. Ich will diese hier noch einmal aufgreifen und in einigen Hinsichten weiter ausdifferenzieren.
6 Ähnlich grundlegend können auch im Anschluss an die polykontexturale Logik unterschiedliche Rationalitätsformen kritisch hinterfragt werden. So geht es beispielsweise im „The Chinese Challenge“-Teamblog um den Zusammenhang von Schrift- und Denkform und die philosophische Frage, inwieweit mit der chinesischen Schrift auch eine spezifische Rationalitätsform korrespondieren mag (vgl. http://www.thinkartlab.com/CCR/rudys-chinese-challenge.html [letzter Zugriff: 15.08.2016]). Einzelne Aspekte der Thematik wurden auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht untersucht (vgl. Boroditsky 2001). 7 Vgl. http://medien.uibk.ac.at/mwb2013 (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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„Medienaktivismus“ lässt sich einerseits als Sammelbezeichnung für die vielfältigen Formen von politisch oder künstlerisch motivierten Protest- und Partizipationsmedien auffassen, die auf gesellschaftliche Veränderungspotenziale ausgerichtet sind. Die unterschiedlichen Orientierungen, Sprachen, Methoden und Zielsetzungen der neueren Formen des Medienaktivismus8 lassen sich dabei jeweils im Einzelnen beschreiben. In historischer Perspektive kann Medienaktivismus im Sinne einer Thematisierung von „Mediengeschichte als Widerstandsgeschichte“ (Sützl 2011, 9) beschrieben werden, und zwar sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch als „Modus der Mediengeschichte, der es möglich macht, Medienaktivismus in seiner politischen Dimension zu begreifen“ (ebd., 9). Systematisch betrachtet, können die verschiedenen Formen des Medienaktivismus als Variationen sensu Goodman und Elgin (1989, 93–113) analysiert werden. Die konkreten Erscheinungsformen lassen sich dabei anhand von drei Gesichtspunkten untersuchen: (1) unkonventionelle Mediennutzung, (2) Stärkung minoritärer Entwicklungen und (3) kognitive Autonomie in widerständigen Teilkulturen (vgl. Hug 2011, 3 f.). Vereinzelt werden medienaktivistische Bemühungen durchaus auch in schulischen Kontexten aufgegriffen. Am Beispiel von Graffiti lässt sich zeigen, wie unterschiedlich solche Bezugnahmen sein können. Zum einen werden unter „Graffiti Education“ prophylaktische oder bewahrpädagogische Programme verstanden, die auf die lokale oder regionale Verhinderung medienaktivistischer Interventionen abzielen.9 Zum anderen sind Stundenbilder und Anleitungen zur Unterrichtsgestaltung verfügbar, die auf die Nutzung von Software und die Dekonstruktion von Schrift (vgl. Schuster 2004) oder auch Beiträge zur Schulhausgestaltung (vgl. Deisenhofer 2009) abzielen. Vergleichsweise selten geht es um differenzierte sozialkritische Betrachtungen oder Graffiti als informellen Bildungskontext. So eine umfassendere Perspektive hat etwa Richard Christen vor Augen, wenn er schreibt: “Although seldom recognized as such, graffiti crews are also educational organizations that promote valuable learning among their members.” (Christen 2003, 57) Er argumentiert in seinem Beitrag, dass “graffiti education both parallels and diverges from the teaching of these traditional institutions, functioning paradoxically as both a status quo and transgressive organization. Graffiti provides poor and disadvantaged adolescents with knowledge, skills, and values important for success in the mainstream. At the same time, it bonds young people to their urban neighborhoods, empowering them to challenge the dominant society and to transform rather than escape their communities.” (Christen 2003, ebd.) Eine solche Betrachtungsweise geht weit über die schulische Befassung mit Graffiti als historischer oder zeitgenössischer Kunstform, als Anwendungsfall für Software-Übungen oder als Verschönerung speziell dafür vorgesehener Wandflächen in Schulen hinaus. Sie lädt dazu ein, die Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Organisationsformen, die Legitimation von Didaktiken und Lernarrangements, das Verhältnis von Lernen in formellen und informellen Kontexten grundlegend zu reflektieren. Dies kann beispielsweise anhand von Spannungsfeldern erfolgen, die mit Handlungsorientierungen in medienaktivistischen und schulischen Kontexten verknüpft sind (vgl. Tab. 1). Insofern Kreativität, kritisches Denken, eigenständige Problemlösung, verantwortliches Handeln und kompetenter Umgang mit Medien vielerorts als fächer8
Vgl. exemplarisch Culture Jamming, Hacktivism, Alternative Media, Tactical (Bio-)Media, Electronic Civil Disobedience, Electronic Street Theatre, Swarming, Anti-corporate Saboteurs etc. 9 Vgl. exemplarisch http://www.warnergroup.com.au/graffiti-awareness oder http://www.riversideca. gov/graffiti/education.asp (letzte Zugriffe: 15.08.2016).
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übergreifende Leitprinzipien des Bildungswesens ernst genommen werden (sollen), könnten diese Aspekte potenziell in beiden Kontexten eine ähnlich prominente Rolle spielen. Faktisch lassen sich aber erhebliche Unterschiede ausmachen. Kreativität, kritisches Denken, eigenständige Problemlösung etc. sind im Zusammenhang mit schulischem Lehren und Lernen weit mehr auf Stabilisierung und Kontinuität der Bildungsinstitution sowie die Tradierung soziokultureller Programme und nicht zuletzt die Anpassung an diese Programme und Partizipation in gesellschaftlichen Einrichtungen ausgerichtet als im Kontext medienaktivistischer Interventionen. Destabilisierung
–
Stabilisierung
Diskontinuität
–
Kontinuität
Revolution
–
Evolution (Reform)
Subversion
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Gehorsam
Ungehorsam
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Eigensinn
Gehorsam Solidarität
Widerstand (Widerständigkeit)
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Anpassung
Verweigerung
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Partizipation
Tab. 1: Handlungsorientierung in medienaktivistischen und schulischen Kontexten
Meines Erachtens geht es hier nicht um absolute Gegensätze, sondern um relative. Auch wenn die linke Spalte in der Tabelle 1 primär mit medienaktivistischen Kontexten assoziiert werden mag und die rechte Spalte tendenziell mit schulischen Kontexten, so können etwa Eigensinn, Ungehorsam und Verweigerung in Letzteren durchaus in einer Weise Gewicht bekommen, die das Ende der Viabilität konventioneller Arrangements bedeutet. Umgekehrt können in medienaktivistischen Kontexten auch konventionelle Anliegen politischer Partizipation oder ein hoher gruppeninterner Anpassungsdruck eine Rolle spielen. Vor allem dann, wenn kritische Auffassungen von Pädagogik und (Medien-)Didaktik als medienaktivistische konzipiert werden (vgl. Giroux 2001), können die Unterschiede im Einzelfall verschwimmen oder nur noch in Details ausgemacht werden. In den meisten Fällen handlungsorientierter Didaktiken in schulischen Kontexten lassen sich aber – inspiriert von medienaktivistischen Beispielen und mit Blick auf die genannten Spannungsfelder – durchaus erweiterte Handlungsorientierungen und Reflexionsperspektiven entwickeln.
3. Mediale Formen – Überlegungen zur Anwendung medientheoretischer Differenzierungen in schulpädagogischen Kontexten Im bildungs- und schulpädagogischen Denken spielen Formen immer schon eine wichtige Rolle, wenngleich die dabei verwendeten Formbegriffe kaum explizit unterschieden werden.10 10 Vgl. bspw. Platons Auffassung von Idee/Form (gr. idea, eidos) als das wahrhaft Seiende im Unterschied zu sinnlich erfassbaren, vergänglichen Dingen und sein elitäres Stufenmodell von begrenzten
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Während Unterscheidungen von Schulformen, Unterrichtsformen, Arbeitsformen oder Sozialformen vielfältig ausdifferenziert sind, bezieht sich die Rede von Medienformen meistens auf medientechnologische Dimensionen. Ich will im Folgenden aufzeigen, wie konzeptionelle Differenzierungen im Lichte kontrastierender theoretischer Perspektiven überdacht und erweitert werden können. Wenn im Zusammenhang mit Erziehung und Bildung die Rede von Formen in Bezug auf Medien ist, so geht es meistens entweder um unsystematische oder exemplarische Auflistungen von Medien11 oder um die von Harry Pross in den 70er Jahren eingeführte Unterscheidung von primären, sekundären und tertiären Medien (vgl. Pross 1972, 10 ff.),12 die weiterhin auch in Nachschlagewerken als zentrale Bezugsquelle fungiert (vgl. Kommer/von Gross 2012). Einzelne AutorInnen haben spezielle, theoretisch begründete Konzepte entwickelt, die in schulpädagogischen Kontexten angewendet werden (können). So fasst etwa Ben Bachmair Medienformen vor dem Hintergrund lebenswelt-, zivilisations- und zeichentheoretischer Perspektiven als kulturelle Produkte auf, die je nach Dominanz in Sozialisationsprozessen unterschiedlich relevant sind (vgl. Bachmair 2007). Abstraktere Perspektiven lassen sich vor dem Hintergrund der Medium-/Form-Unterscheidung sensu Niklas Luhmann (1995, 165 ff.) entfalten, in der Medien als eine Menge lose gekoppelter Elemente aufgefasst werden, die Formen als Menge fest gekoppelter Elemente wahrnehmbar machen. In diesem Sinne versteht Dirk Baecker „Erziehung im Medium der Intelligenz“ (2006), wobei er seine Position von Luhmanns Sicht des „Lebenslaufs“ als Kommunikationsmedium der Erziehung abgrenzt (ebd., 22 f.). Es mag zutreffen, dass diese abstrakte soziologische Perspektive Vorteile bietet, wie er schreibt: „Sie hält Abstand zu den Professionsideologien der Erziehungswissenschaft und rekurriert stattdessen auf Versuche, die Modalitäten der Ausdifferenzierung des Erziehungssystems mit gesellschaftlichen Strukturen und deren Veränderung rückzukoppeln. Sie hält sich nicht an die Notwendigkeit einer Reflexionstheorie, die Identität des betreuten Systems zu bestätigen und zu pflegen, sondern setzt stattdessen auf die Differenz des Systems im gesellschaftlichen Zusammenhang. Anlaß dazu ist zur Genüge gegeben, da die Umstellung von der Buchdruckgesellschaft auf die Computergesellschaft das Erziehungssystem nicht unberührt läßt.“ (Baecker 2004, 25) Abgesehen davon, dass kontrastierende Perspektiven generell den Vorteil bieten, Einsichten zu ermöglichen, die im Zuge von diskursimmanenten Analysen nicht zu gewinnen sind, ist damit das Problem der Anschlussfähigkeit noch nicht gelöst. Auch wenn die Wahl eines Kommunikationsmediums als primärer Fokus der Thematisierung eines Problemzusammenhangs gut begründet ist, müssen kontextuelle Dimensionen des gewählten Bezugsrahmens reflektiert Möglichkeiten des Aufsteigens zur Idee des Guten und Wahren im Erziehungsstaat, die Formalstufen des Unterrichts sensu Johann Friedrich Herbart (1776–1841) oder Wolfgang Klafkis Unterscheidung formaler, materialer und kategorialer Bildungstheorien. 11 Solche Auflistungen enthalten Medien wie Buch, Tafel, Foto, Film, DVD/CD-ROM, Audio, Video, Internet, Lernplattform, Smart Board, WWW, Java, Flash, Web 2.0, Social Media, etc. 12 In neuerer Zeit wurden von verschiedenen Seiten die quartären Medien als vierte Option ins Spiel gebracht. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass die KommunikationspartnerInnen vernetzte Computer verwenden und neue interaktive Möglichkeiten haben. Hand in Hand mit den Momenten der Digitalisierung und Vernetzung werden dabei auch die traditionellen Rollenaufteilungen von Sender- und Empfänger-Instanzen variiert und modifiziert.
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werden, wenn „non-fundamentalistische Grundlagen“ (Heyting 2001) angestrebt werden.13 Dies erscheint umso wichtiger, als sich nicht nur die Bildungssysteme und das Erziehungssystem und deren Wissenschaft, sondern auch andere Systeme und wissenschaftliche, nicht weniger undisziplinierte Disziplinen in einer Orientierungskrise befinden. Limitationsfragen stellen sich nicht nur im Zusammenhang von Dynamiken der Pädagogisierung, sondern auch von solchen der Soziologisierung, Psychologisierung oder Mediatisierung. Eine Theorie medialer Formen, die sowohl an erkenntnisphilosophische, systemtheoretische sowie informations-, medien- und sozialökologische als auch an handlungstheoretische und anwendungsorientierte Perspektiven anschlussfähig ist, stammt von Rainer Leschke (2010). In Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formbegriffen und in Weiterführung von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen hat er eine Theorie mittlerer Reichweite entwickelt, die Stabilität und Dynamik der medialisierten Konstellationen angemessen beschreibbar macht. Diese neuen Konstellationen verlangen neues Formwissen, das nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Diskussion von Schul- und Unterrichtsformen bedeutsam ist. „Basierte der Komplex von Interpretationswissen, Identitätskonstruktion und Selbstkonzept der Geisteswissenschaften noch weitgehend auf der medienhistorischen Konstellation des Buchdrucks, die die allgemeine Lektürefähigkeit und Sinnsetzungskompetenz nach sich zog, so erfordern und generieren die gegenwärtigen medialen Konstellationen mit Augmented Reality, intermedialer Formmigration und den unmerklichen Übergängen zwischen Unterhaltungsund Gebrauchsmedien vor allem Formwissen.“ (Leschke 2008, 49) Dieses Formwissen kann sich beispielsweise auf Spielformen, narrative Formen oder Interfacelogiken, aber auch auf Einzelformen wie Menüsteuerungen (z. B. Pull-down-Menüs vs. Ensemble) beziehen. Wichtig ist dabei, dass solche Formen neuerdings in verschiedenen Medienkonstellationen und nicht nur in Einzelmedien angewendet werden. Wenn wir nun akzeptieren, dass die Ausrichtung der Binnendifferenzierung von Wissenssystemen an Einzelmedien und ihren Dispositiven generell problematisch geworden ist (vgl. Leschke 2010, 303), dann gilt das auch für Schulwissen als „Bücherwissen“, und dann werden transversale und transmediale Dimensionen auch in schulpädagogischen Kontexten bedeutsam. Rainer Leschke hat vorgeschlagen, mediale Formen als Ordnungsinstrumente im transversal verknüpften Mediensystem zu fokussieren (vgl. Leschke 2010: 305). Seine Theorie der medialen Formen (Leschke 2008) bietet vielfältige Möglichkeiten der Beschreibung und Analyse von Formdynamiken sowie von Austauschprozessen zwischen verschiedenen Medien sowie zwischen Massenmedien und Kunst. Sie ist in medientheoretischer Hinsicht kompatibel mit engeren Konzepten der Schemabildung (Winkler 2012), breiter angelegten Theorien der Mediendynamik (Rusch 2007) und der Medienkulturtheorie von Siegfried J. Schmidt (2008). Im Unterschied zu vergleichsweise konkreten oder sehr abstrakten Begrifflichkeiten (siehe Abb. 3) ist die Theorie der medialen Formen flexibel anwendbar. Sie ermöglicht vielfältige und differenzierte Analysen offener Strukturbildungen im Spannungsfeld von formal-ästhetischen, inhaltlichen und temporalen Dimensionen.
13 Vgl. dazu den Diskurs des epistemologischen Kontextualismus (DeRose 1999; 2006) sowie van Goor et al. (2004).
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Abb. 3: Formen und Medien: Reichweiten und ausgewählte Beispiele Bild: Theo Hug
Das Wissen um die medialen Formen und ihre Analyse ist nicht zuletzt im Hinblick auf die Untersuchung und Gestaltung kultureller, sozialer und bildungsbezogener Konzepte und Praktiken relevant. Hier einige Beispiele für solche Formen, die in schulischen Kontexten bedeutsam sind: • Abfragen von Schulwissen, Evaluation nach dem Schulnotensystem, Gruppenarbeit, Karikaturen in Schulbüchern, Brainstorming, Mindmaps (Conceptmaps), etc. • Hip-Hop-Rhythmen für Lernzwecke, Webquests, Kreation von Lehr-/Lernsequenzen mit frei verwendbaren Game Engines, kollaboratives Schreiben mit Wikis etc. Die Schlüsselfunktion medialer Formen kommt in einem transversal integrierten Mediensystem im doppelten Sinne als „Material der Medienkommunikation“ und als „das Ideelle der Medientechnologie“ (Leschke 2010: 300) in einer Weise zum Tragen, die technikdeterministische oder kulturalistisch verkürzte Blicke auf Einzelphänomene gleichermaßen vermeidet. Was schulische Lern- und Bildungsprozesse betrifft, so können sie als Reflexionsgegenstände, Mittel und konstitutive Momente fungieren. Sie stellen einerseits medienkulturelle Ressourcen für Bildungsprozesse par excellence dar. Andererseits bieten sie auf meso- und makrotheoretischen Ebenen Anhaltspunkte zur Klärung von De-/Rekontextualisierungsdynamiken und von Relevanzen im Zusammenhang mit Reproduktionsproblemen und Pädagogisierungsformeln (vgl. Veith 2003, 183–201). Dabei besteht keine Veranlassung, schul- und medienpädagogische Konsequenzen auf elitäre oder Mittelschicht-Perspektiven zu reduzieren oder einen Bildungsanspruch als „(europäische[n], aufklärerische[n], bürgerlich-verwaltete[n]) Regionalgestus“ (Faßler 2010) zu tradieren. Im Gegenteil: Wenn Bildungsverständnisse sowie Bildungsprozesse und -resultate als Momente der (Ko-)Evolution medialisierter Konstellationen aufgefasst werden, dann werden die Besonderheiten schrift- und buchkultureller Dimensionen und deren „selbstverständlicher“ Charakter erst nachvollziehbar. Angesichts dieser Überlegungen kann es nicht alleine darum gehen, Literalität als Bildungsaufgabe auszudifferenzieren (vgl. Bertschi-Kaufmann/Rosebrock 2009) oder die Literacy-Metaphorik im Hinblick auf immer neue „literacies“ auszudehnen (vgl. Hug 2012). Vielmehr geht es darum, die Relation von Literalität, Numeralität, Piktoralität und Oralität im Formbil-
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dungsprozess zu verdeutlichen.14 Damit sind erweiterte Reflexions- und Handlungsperspektiven möglich, die insbesondere in schulischen Zusammenhängen fruchtbar gemacht werden können. Wenn dabei unterschiedliche mediale Formen in ihrer relativen Bedeutung und Funktion in kommunikationskulturellen Kontexten explizit deutlich werden, so werden damit beispielsweise auch erweiterte Perspektiven der Begründung von Grundsätzen für die Medienbildung mit Jugendlichen aus sozial benachteiligten Verhältnissen (vgl. Niesyto 2004, 129) möglich. Was die Nutzung konzeptioneller und gestalterischer Spielräume zwischen dem „leeren Raum“ (Brook 2004) und durchkomponierten Didaktiken aller Art betrifft, so bietet es sich an, auch in dieser Hinsicht erweiterte Perspektiven über gängige didaktische Arrangements und Szenarien hinaus in Betracht zu ziehen. Anknüpfungspunkte für konzeptionelle Erweiterungen bietet insbesondere die neuere Designtheorie (vgl. Krippendorff 2006).
Fazit Das Plädoyer für erweiterte Handlungsorientierungen und Reflexionsperspektiven mag in der Schulpädagogik aus mehreren Gründen auf Skepsis stoßen. Auch wenn interdisziplinäre Betrachtungen im Kontext von Schulreform- und -innovationsdebatten durchaus eine Rolle spielen (vgl. Berkemeyer et al. 2010), so finden anwendungsnahe Überlegungen (vgl. etwa Schnebel/Keller 2011) in der Schulentwicklung nicht nur bei den PraktikerInnen im Allgemeinen mehr Gehör als grundlagentheoretische Überlegungen. Auch wenn (sozial-)psychologische, soziologische sowie sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze in der erziehungswissenschaftlichen Schulforschung seit den 1960er Jahren in vielerlei Hinsicht Beachtung finden, sind Fragen der Binnen- und Außenlegitimierung dabei nicht obsolet geworden. Im Gegenteil: Das traditionelle schulische Bildungs- und Informationsmonopol ist brüchig, Aufstiegs- und Zukunftsversprechungen sind fragwürdig geworden, und ökonomistisch ausgerichtetes Bildungscontrolling und mediengestützte Verwaltungsbürokratie haben in vielen Ländern längst den Primat gegenüber dem bildungstheoretisch motivierten oder pädagogisch orientierten Handeln in Schule und Unterricht. Schließlich tragen weder neuro-missionarisch beförderte Medienphobien noch lerntechnologisch verkürzte Medieneuphorien oder sporadisch erweiterte Formen der Literalität15 zu einem angemessenen Verständnis kontemporärer Medien- und Informationsökologien bei. Es mag zutreffen, wenn Jürgen Oelkers et al. (2008) in ihrer Replik auf historische Erfahrungen mit Qualitätssicherung in Schulen schreiben, dass die Einführung von Standards immer zur Qualitätsverbesserung gedacht war (ebd.: 17) und dass auf der Ebene von didaktischen Unterrichtsmitteln „Innovationen schnell Verbreitung [fanden und finden], ohne Landesgrenzen zu wahren. Nicht zufällig ist Brauchbarkeit im Unterricht eine zentrale Voraussetzung für wirksame Implementation. Werkzeuge, Medien und Technologien, in diesem Sinne Know14 Eine systematische Bearbeitung dieser Relation nach dem digital turn (Kossek/Peschl 2012) und unter Berücksichtigung der verstreuten Anknüpfungspunkte in einschlägigen wissenschaftlichen Diskursen steht noch aus. 15 Cf. art literacy, computer literacy, consumer literacy, digital literacy, diversity literacy, ecological literacy, emotional literacy, environmental literacy, film literacy, food literacy, geographical literacy, health literacy, information literacy, library literacy, multicultural literacy, numerical literacy, visual literacy, sexual literacy, television literacy, etc.
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How, das sich in ‚Tools‘ kristallisiert, können viel leichter übertragen werden als relativ abstrakte, sprach- und kulturgebundene Theorien, die komplexe Deutungsarbeit verlangen.“ (Oelkers et al. 2008, 19) Die Theorie medialer Formen verlangt nicht nur solcherart komplexe Deutungsarbeit, sie verlangt eine differenzierte historische und systematische Auseinandersetzung mit den medialen Konstellationen schulischer Bildungsansprüche, -konzeptionen und -praktiken. Indem die Medien dabei als historisch situierte Grammatik unserer Bildungsverhältnisse ins Blickfeld rücken, werden (a) konvergente und divergente Dynamiken im internationalen Vergleich von Bildungssystemen erst angemessen verstehbar, (b) relativ stabile, redundante Strukturen im medialen Wandel in ihrer Bedeutung für kommunikationskulturelle Entwicklungen im Allgemeinen und für schulkulturelle im Besonderen nachvollziehbar, (c) Chancen für schulische Entwicklungen jenseits von Innovationsrhetorik und Reformresistenz sichtbar und differenziert begründbar und (d) Herausforderungen angesichts globalisierender Bildungsentwicklungen und Medienökologien besser bearbeitbar. Es wird sich zeigen, inwieweit diese und ähnliche medientheoretisch informierte Anregungen in der Schultheorie und der anwendungsorientierten Schulpädagogik aufgegriffen, ignoriert oder zurückgewiesen werden. Bislang haben Anregungen zur Medienbildung in neuen Kulturräumen (vgl. Bachmair 2010) vereinzelt zu Schulversuchen und Pilotprojekten geführt, über weite Strecken wird Schule jedoch im Sinne „typographischer Bildungsarchitekturen“ (Böhme 2006, 114) entfaltet. Die Sondierung von gestalterischen, konzeptionellen und kritisch-reflexiven Spielräumen muss aber auch im institutionalisierten Bildungswesen nicht zwangsläufig durch literalitätsbasierte Formen der kommunikativen Stabilisierung von Lernkulturen eingeschränkt werden. Die Ausführungen in diesem Beitrag zeigen, dass Erweiterungen zumindest denkbar sind. Inwieweit sie faktisch viabel sind, mag angesichts der Herausforderungen, die mit innovativen Perspektiven zwischen betriebswirtschaftlich inspirierter Verschulung und Forderungen nach Räumen für entschultes Lernen – von Paolo Freire und Ivan Illich bis zur User Generated Education16 – an dieser Stelle offenbleiben. So viel dürfte aber deutlich geworden sein: Das Plädoyer für erweiterte Handlungsorientierungen und Reflexionsperspektiven bezieht sich auch auf das Spektrum bekannter Funktionen der Schule wie Administration, Allokation, Integration, Reproduktion der Sozialstruktur, Selektion, Sozialisation, Qualifikation sowie Kultur- und Wissenstradierung. Einerseits sind diese unter den Bedingungen der Medialisierung kritisch zu überdenken. Andererseits geht es auch um Formenwissen über Schul- und Unterrichtsformen und deren Funktionen und damit um nichts weniger als um Aufklärung über die medialisierten Konstellationen, in denen sie figurieren. Wenn wir das ernst nehmen, bedeutet das auch ein Überdenken traditioneller Verständnisse des Zusammenhangs von Bildung und Aufklärung und ein „Rethinking the Enlightenment“ (Elkana 2011) unter Beachtung der Kontextgebundenheit und Medialität allen Wissens – nicht nur des Schulwissens.
16 Vgl. http://usergeneratededucation.wordpress.com/ (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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Axel Stockburger/Ruth Sonderegger
„Natürlich kann man Geld als Medium begreifen …“ Axel Stockburger im Gespräch mit Ruth Sonderegger Beitrag online im Ressort Kultur/Kunst unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/677
Abstract Ruth Sonderegger hat für die MEDIENIMPULSE Axel Stockburger interviewt, der an der Wiener Akademie der bildenden Künste im Bereich „Kunst und digitale Medien“ arbeitet. Gibt es angesichts der post-medialen Kondition noch eine Medienkunst? Und wie sieht es mit dem Kunst-Wert im Kapitalismus aus? “Of course, you can understand money as a medium …” – A Conversation between Axel Stockburger and Ruth Sonderegger. Ruth Sonderegger has interviewed Axel Stockburger for MEDI ENIMPULSE; he works at the Vienna Academy of Applied Arts in the field of “art and digi- tal media”. Considering the post-mediatic condition, does a thing called media art still exist? And what about the value (of ) art in capitalism?
Interview Ruth Sonderegger: Du hast in einem Gespräch einmal (eher nebenher) gesagt, dass du den Begriff „Medienkunst“ problematisch findest. Da du an der Wiener Akademie der bildenden Künste im Bereich „Kunst und digitale Medien“ arbeitest, könnte man über diese Einschätzung erstaunt sein. Oder ist es gerade deine Auseinandersetzung mit dem Feld von Kunst und digitalen Medien, die zur erwähnten Problematisierung geführt hat? Axel Stockburger: Als ich 1992 begann, in der Klasse von Peter Weibel an der Angewandten zu studieren, hatte der Begriff „Medienkunst“ noch eine andere Bedeutung für mich. Damals waren beispielsweise Computer in der künstlerischen Produktion in äußerst begrenztem Umfang in Verwendung. Um Zugriff auf Computer zu erhalten, die leistungsstark genug waren, um Bilder oder Videos zu verarbeiten, musste man Institutionen wie etwa die Hochschule für angewandte Kunst aufsuchen, denn sie waren zu dieser Zeit für Privatpersonen einfach unerschwinglich. Damals wurden jene künstlerischen Arbeitsweisen, die Computer als wesentliches Medium in Anspruch nahmen, als Medienkunst bezeichnet. Möglicherweise auch aus ökonomisch-pragmatischen Gründen, um gebündelte Aufmerksamkeit für die notwendigen öffentlichen und privaten Mittel zu erlangen, die einen institutionellen Rahmen für die praktische wie theoretische Auseinandersetzung mit diesen Geräten erst ermöglichte. Gegenwärtig lassen sich viele dieser Aufgaben schon mit etwas besseren Mobiltelefonen meistern. Gleichzeitig haben digitale Prozesse potenziell Einzug in beinahe alle Formen der künstlerischen Arbeit gefunden, von diversen Drucktechniken über skulpturale Methoden bis hin zu Recherche und Kommu-
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nikation. Viele der Bildvorlagen gegenwärtiger Maler stammen aus dem Internet, selbst wenn sie dieses „Medium“ nicht explizit thematisieren. Zudem ist die Geschichte der modernen Kunst von Subgenres durchzogen, die von diversen Präfixen markiert werden, wie beispielsweise Video-Kunst, Post-Kunst (Mail Art) oder etwa auch Performance-Kunst. Gerade im Hinblick darauf, dass gegenwärtige künstlerische Praxen sich einer unendlich reichen und heterogenen Kombination verschiedenster medialer Formen bedienen, scheint mir also der Begriff der Medienkunst gegenwärtig nicht mehr das zu erfüllen, was er möglicherweise im Sinne eines Distinktionsgewinnes gegenüber als traditioneller empfundenen Praxen in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch geleistet haben mag. In Rosalind Krauss’ einflussreichem Buch „A Voyage on the North Sea“ (1999) über die Arbeit von Künstlern wie etwa Marcel Broodthaers, prägt sie den Begriff der post-medialen Kondition anhand von Werken, die gerade die Grenzen und Übergänge zwischen medialen Dispositiven in den Vordergrund stellen. Ihr ging es darum, der Vorstellung einer positivistischen “media specificity”, wie sie etwa von Kunsttheoretikern wie Clement Greenberg mobilisiert wurde, einen anderen Zugang entgegenzusetzen.
Abb. 1: Cover von Rosalind Krauss, A Voyage on the North Sea Foto: halishka haafela (http://halishka.ning.com)
Dieser andere Zugang orientiert sich an künstlerischen Positionen, die die komplexen Verhältnisse medialer Konventionen – auch und gerade verschiedener Medien – in einer Arbeit thematisieren und damit die medialen Bedingtheiten künstlerischer Produktion im Sinne eines Aufeinandertreffens verschiedener Systeme sichtbar machen. Dies funktioniert aber nur, wenn man verschiedene Medien miteinander konfrontiert, was in der Welt des Digitalen in dem Sinne zum Normalzustand geworden ist, dass hier Charakteristika verschiedenster Medien parallel zueinander simuliert und eingesetzt werden. Man denke nur an die beliebten Instagram-Filter, die die ästhetischen Qualitäten von Polaroid simulieren, oder auch die unzähligen simulierten Analogsynthesizer im Feld der Musik. Mit anderen Worten, in einem gegenwärtigen Computerspiel können Medien von der Schwarzweißfotografie des 19. Jahrhunderts über die Handkamera des Hollywoodfilms der 70er Jahre bis zur Ästhetik von Google Earth parallel zueinander
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eingesetzt und als Teil eines schlüssigen Ganzen begriffen werden. Damit scheint mir aber auch die Bezeichnung Medienkunst obsolet geworden zu sein. RS: Mir leuchtet deine Rekonstruktion der Entwicklung, wie die Konfrontation unterschiedlicher Medien (in ein und derselben Arbeit) allgegenwärtig geworden ist, vollkommen ein. Ich frage mich allerdings, inwiefern damit nicht nur der Begriff „Medienkunst“ obsolet geworden ist, sondern auch der Kunstbegriff ganz generell herausgefordert wird. Ist der Unterschied zwischen den Medienkonfrontationen in einem Computerspiel einerseits und künstlerischen Arbeiten auf der anderen Seite für dich wichtig? Wenn ja, geht es bei dieser Differenz um eine besondere Reflexion des jeweiligen Mediengebrauchs bzw. auch der Institutionen und Industrien, die mit diesen Medien verbunden sind? AS: Zunächst einmal bin ich tatsächlich davon überzeugt, dass wir derzeit zu ZeugInnen einer sehr wesentlichen Transformation dessen werden, was wir als Kunst verstehen. Das Aufkommen digitaler medialer Technologien hat eine sehr tiefgreifende und weitreichende Veränderung dessen angestoßen, was wir im weiteren Sinn als kulturelle Produktion und im engeren als (bildende) Kunst produzieren und rezipieren. Viele dieser Veränderungen lassen sich erst in Ansätzen beobachten, und es gibt diverse Ansätze, diese Prozesse theoretisch zu erfassen und zu begleiten. Aus meiner Sicht kann man auf jeden Fall Multiplikationen auf allen Ebenen feststellen: Das betrifft die ProduzentInnen, RezipientInnen, ExpertInnen, Kanäle, Institutionen und Werke. David Joselit beispielsweise greift diese Multiplikation in der Sphäre des Visuellen als “Image Explosion” auf und konstatiert anhand dessen eine Veränderung der Wirkungsmacht der Bilder selbst, hin zu einer globalen Währung. Gleichzeitig wächst auch ganz einfach die Anzahl der ExpertInnen, der Kunsträume und Biennalen, der Blogs und Magazine. Also ganz einfach: mehr Kultur von mehr Menschen für mehr Menschen, in mehr medialen Formationen. Ich denke das hat viele verschiedene Effekte, die ich auch noch nicht alle begreifen kann, aber es nagt sehr deutlich an den traditionellen Alleinstellungsmerkmalen der Kunst. In Bezug auf die Bedeutung medialer Bezugssysteme für die Kunst der Gegenwart scheint mir Peter Osbornes Ansatz sehr viele der Veränderungen präzise zu beschreiben, wenn er von “post-conceptual art” als einer kulturellen Form spricht, die sich eben gerade dadurch auszeichnet, dass Kunstwerken gemeinhin als konzeptuell gerahmte Netzwerke akzeptiert werden, die aus spatio-temporalen Konstellationen heterogener medialer und materieller Formen bestehen. Hier taucht auch der Begriff des „Transkategorialen“ auf, der mir große Ähnlichkeit zu der Beobachtung von Rosalind Krauss aufzuweisen scheint, die ja genau diese oft auch lose Verbindung verschiedenster materieller und medialer Elemente in einer Struktur als wesentliches Moment der post-medialen Kondition beschrieben hat. Um genauer auf deine Frage einzugehen: Kunstwerke sind, denke ich, per Definition nicht mehr aufgrund bestimmter medialer Aspekte von anderen kulturellen Äußerungen unterscheidbar. Das heißt: Nein, ich denke nicht, dass es auf dieser Ebene einen Unterschied zwischen medialen Konfrontationen in Computerspielen und jenen in Kunstwerken gibt. Die Differenzierung zwischen einem kulturellen Artefakt, das wir als Kunstwerk wahrnehmen, und einem solchen, das klar als Teil der Unterhaltungsindustrie identifiziert werden kann, muss also auf einer anderen Ebene stattfinden. Dabei geht es, denke ich, darum, welcher Anspruch von den ProduzentInnen mit ihrer Äußerung verbunden wird, welche Rezeptionsplattformen zur Verfügung stehen, ob und wie eine Interaktion mit dem immer komplexer werdenden Kanon stattfindet, und letztendlich ganz generell, ob sich ein (temporäres) Publikum erzeugen lässt, das bereit ist, dieser Äußerung eine graduell erhöhte Aufmerksamkeit zu gewähren und ihr
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(Kunst-)Wert zuzusprechen. Zudem sind diese Zuschreibungen selbst natürlich auch historisch kontingent. Zum zweiten Teil deiner Frage würde ich sagen, dass genau die spezifische Konzentration auf die Produktionsbedingungen und die mediale Praxis ein ganz zentrales Agens der sogenannten Medienkunst war. In dem Maße, in dem spezifische Medien als neu empfunden wurden, war es von vorrangiger Bedeutung, zu versuchen, sie experimentell abzutasten und herauszufinden, was sie denn eigentlich leisten können. Ich denke, dass die zunehmende Gewöhnung an und Praxis mit verschiedensten Formen digitaler Medien dazu führt, dass diese starke Form der (medialen) Selbstreflexion nicht mehr in der gleichen Weise im Vordergrund steht. Mit anderen Worten, ein Kunstwerk wie das von Wolfgang Staehle 1991 ins Leben gerufene The Thing, das in erster Linie eine experimentelle Kommunikationsplattform war, wird man heute wahrscheinlich nicht aus einer künstlerischen Perspektive heraus produzieren. In den letzten Jahren hat sich auch eine gewisse mediale Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien entwickelt. Das heißt aber nicht, dass die kritische Reflexion medialer Bedingungen und Möglichkeiten keine Rolle mehr in der Kunst spielen würde, im Gegenteil ist es vermutlich heute einfacher möglich, sich stärker den sozioökonomischen und politischen Kontexten zu widmen, weil die scheinbare „Neuheit“ des Mediums nicht mehr so viel Raum beansprucht. Mit anderen Worten, heute geht es vielleicht mehr um Fragen, die beispielsweise Urheberrechte oder Privatsphäre betreffen, als um die Erfahrung gesteigerter Reichweite oder Kommunikationsgeschwindigkeit. Obwohl Medien natürlich im McLuhan'schen Sinn die Art der Kommunikation formatieren, dürfen wir uns vielleicht wieder etwas mehr mit dem beschäftigen, was kommuniziert wird. Außerdem würde ich es als sehr positiv bewerten, dass eine gewisse Naivität in der Einschätzung der emanzipatorischen Potenziale digitaler Medien einer klareren Analyse der konkreten Machtverhältnisse, speziell im Bezug auf die Informationsmonopolisten, gewichen ist. Viel mehr Menschen haben mittlerweile Erfahrungen mit digitaler Produktion gemacht und sind daher auch eher bereit und befähigt, beispielsweise an einem komplexeren partizipativen Projekt mitzuwirken. Für mich ist die Beobachtung von Fankultur im Internet eine gute Möglichkeit, um langsam besser zu verstehen, wie sich die Teilhabe an kulturellen Produktionsprozessen entwickelt. Dies hat aus meiner Sicht auch eine enorme Bedeutung für das, was wir in Zukunft als Kunst wahrnehmen werden. RS: In deiner aktuellen Arbeit Quantitative Easing (for the street), die man derzeit am Graben im 1. Wiener Bezirk sehen kann (vgl. auch: http://www.stockburger.at/qe/?pid=139), setzt du dich mit dem Medium Geld und seinen (Ungleich-)Verteilungsmechanismen auseinander. Der goldene Zylinder, der dort nach dem Zufallsprinzip Euromünzen verteilt, hat schon bei der Eröffnung der temporären Installation am 27. Mai 2014 deutlich gemacht, dass es in dieser Arbeit – vermittelt über das Geldmedium – um die Tauschverhältnisse auf der Straße und ganz generell im Stadtraum geht bzw. auch um die Frage, wer was wo tauschen darf. Macht es in deinen Augen Sinn, über diese Intervention in bestehende (Tausch-)Verhältnisse in Begriffen der Medialität nachzudenken? AS: Natürlich kann man Geld als Medium begreifen, weil es eine Mittlerfunktion einnimmt, ein Dazwischen markiert und Übersetzungen zwischen heute und morgen, Ware und Dienstleistung, Arbeitskraft und Reproduktion ermöglicht. Vermutlich ist es sogar das gegenwärtig dominanteste Medium, weil eines der zentralen Dogmen kapitalistischer Ideologie ja genau die Praxis darstellt, alles Existierende potenziell in Geld zu übersetzen. In diesem Sinne
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ist es wahrscheinlich sehr einfach zu verstehen, wenn jemand, der aus dem Feld der Medienkunst kommt, sich für Geld interessiert.
Abb 2: Quantitative Easing (for the street) Bild: Axel Stockburger
Bei dieser Arbeit ging es mir aber auch darum, Ähnlichkeiten zwischen Kunst und Geld im Auge zu behalten. Beide Formen entstehen und erhalten sich nur aufgrund sozialer Projektionen. Geld, wie auch Kunst, existieren nur, solange wir bereit sind, gemeinsam Werte zu imaginieren. Joseph Beuys hat, denke ich, mit seiner Gleichung Kunst=Kapital diesen Moment der Imagination auf eine besondere Weise berührt. Für mich ist in Analogie zur Kunst überhaupt nicht klar, was denn Geld eigentlich ist. Aus diesem Grund schien es mir sinnvoll, ein Kunstwerk zu installieren, das auf der zufälligen Verteilung von Geld beruht, auch und gerade, um mit anderen über diese Frage sprechen zu können. Geld ist zwar ein völlig anderes Medium als Sprache, aber in beiden drücken sich soziale Beziehungen und damit auch Ungleichgewichte sehr deutlich aus. Wer sich gegenwärtig mit finanzpolitischen Themen auseinandersetzt, stößt zum Beispiel sehr schnell auf eine Art der Sprache, die Zusammenhänge tendenziell verschleiert oder zumindest an ExpertInnen verweist – beispielsweise ein Begriff wie Quantitative Easing, den ich als Titel für meine Arbeit adaptiert habe. Mich erinnert diese Sprache der Finanzeliten ein wenig an die Macht der katholischen Priester vor der Reformation; das war ja auch eine Macht, die sich in der Verwendung von und Deutungshoheit über die lateinische Sprache gezeigt hat, die nur von wenigen verstanden wurde. Wenn man nicht gerade von der Revolution träumt, dann könnte man sich ja vielleicht eine Reformation dessen, was Lafargue oder auch Benjamin als Religion des Kapitals bezeichnet haben, wünschen. Dies kann aber nur gelingen, wenn man versucht, diese Spezialsprachen zu übersetzen und ein Verständnis dafür zu entwickeln, was denn da eigentlich vor sich geht. Für mich war die Entschlüsselung eines Begriffes wie CDO (Collateralized Debt Obligation) im Anschluss an die Finanzkrise von 2008 äußerst faszinierend, weil dadurch eine Praxis erst sichtbar gemacht wurde, die ich vorher nicht gekannt hatte: die gezielte Verteilung (und damit auch Verschleierung) der Beziehung zwischen Schulden und Schuldnern als wichtigste Eigenschaft eines damals sehr begehrten „Finanzproduktes“. Das ist doch wirklich unglaublich spannend: ein Netz aus verdeckten Beziehungen als global höchst begehrte Ware. Und schon wieder muss man an den Wert einer solchen Sache einfach glauben, weil sich gar nicht mehr wirklich
„Natürlich kann man Geld als Medium begreifen …“
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nachvollziehen lässt, ob die Sicherheiten, die hinter solchen Schuldenverteilungsnetzen stehen, überhaupt existieren oder nicht. Dazu gibt es dann Institutionen, die diesen Glauben erzeugen und erhalten, die Rating-Agenturen. Auch hier zeigen sich aus meiner Sicht wieder faszinierende Ähnlichkeiten zwischen manchem, was in der Kunst geschieht, und diesen Vorgängen auf den Finanzmärkten: eine CDO ist eine Art paradoxes Konzeptkunstwerk der Finanzindustrie mit unglaublich weitreichenden negativen Folgen für Menschen auf der ganzen Welt. Die Verwendung des Begriffes Quantitative Easing als Titel für meine Installation ermöglicht mir einen polemischen Kommentar zu finanzpolitischen Maßnahmen, die das Ziel verfolgen, den Markt mit Kapital zu versorgen. Das Problem gegenwärtiger Wirtschaftssysteme scheint mir aber generell kein Mangel an Kapital, sondern dessen unvorteilhafte Verteilung zu sein. Dann stellt sich natürlich die Frage, was es bedeutete, wenn man an Menschen auf der Straße in großem Umfang Kleingeld verteilen würde. Man könnte behaupten, das wäre ein Versuch, den gegenwärtigen Kapitalismus am Leben zu erhalten, weil dadurch der Konsum wieder stärker in Gang käme. Die Realität meiner Installation auf der Straße ist dann aber auch wieder ganz einfach jene, dass sich manche Menschen wirklich sehr darüber freuen, wenn sie eine Münze geschenkt bekommen, und dass aufgrund des Zufallsmechanismus eine Art Spiel entsteht, das offenbar Freude bereitet. Weitere Informationen zu Axel Stockburger online unter http://www.stockburger.at/ (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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Medienproduktion im Alltag von Kindern und Jugendlichen
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Katharina Grubesic
Medienproduktionen in der Volksschule: eine Klassenzeitung entsteht Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/709
Abstract Katharina Grubesic berichtet ganz praktisch von der Erstellung einer Klassenzeitung im Unterricht einer reformpädagogischen Mehrstufenklasse und gibt so einen analytischen Einblick in ihre konkrete Unterrichtspraxis. Der Beitrag berichtet so u. a. von der Planung, dem Layout und den Lerneffekten im Umfeld der Zeitungsproduktion. Der Beitrag reflektiert medienpädagogisch dieses schülerinitiierte Projekt und zeigt auf, wie dieses Vorhaben konkret umgesetzt wurde. Auch werden von der Autorin im Sinne der Handlungsorientierung Empfehlungen an pädagogische PraktikerInnen gegeben, die ebenfalls Interesse daran haben könnten, die aktiv-produktive Medienarbeit von Kindern und Jugendlichen am Beispiel des Mediums der Zeitung zu fördern. Media Production in Primary School: The Genesis of a Class Paper. Katharina Grubesic provides a very practical account of developing a student paper in a progressive education multi-age classroom und thus offers analytical insights into her concrete teaching practice. The contribution reports for instance the planning, layout and learning effects involved in newspaper production, and thus reflects this pupil-initiated project from a media education perspective and shows how this project was implemented in practice. For the purposes of action orientation, the author also includes recommendations for education practitioners who might be interested in promoting active-productive media work by children and young people using the medium of the newspaper.
1. Über die Redaktion In einer reformpädagogischen Mehrstufenklasse entstand im Schuljahr 2013/2014 eine Klassenzeitung. Dabei handelte es sich nicht um ein von Lehrpersonen geplantes Unterrichtsprojekt, sondern um die Idee eines Schülers der zweiten Schulstufe. Das Projekt wurde in einer Mehrstufenklasse im 14. Wiener Gemeindebezirk umgesetzt. Diese Klasse orientiert sich an der Pädagogik Celestin Freinets und hat einen bedeutsamen Schwerpunkt auf Integrationsfragen. Die insgesamt 22 SchülerInnen der Klasse sind zwischen 6 und 11 Jahre alt. Davon haben vier Kinder einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Das LehrerInnenteam besteht aus drei PädagogInnen, zwei VolksschullehrerInnen und einer SonderschullehrerInnen, die vorwiegend in freien Lernphasen zu dritt in der Klasse sind. Der Unterricht in der Mehrstufenklasse ist in Form von Wochenplanarbeit organisiert und zeichnet sich durch Großgruppenangebote für
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alle SchülerInnen der Klasse, Pflichtaufgaben in Deutsch und Mathematik und Freiarbeitsphasen, die von den Kindern selbstverantwortlich gestaltet werden, aus. Der freie Ausdruck ist ein zentraler pädagogischer Schwerpunkt der Arbeit in der Mehrstufenklasse. Dazu zählt das freie Schreiben und Zeichnen und das anschließende Veröffentlichen von Texten von der ersten Schulstufe an. Die entstandenen Werke werden bei der wöchentlichen Präsentation im Klassenverband dargeboten und mit einem Applaus belohnt. Ein weiterer pädagogischer Fokus liegt in der Demokratie und dem Mitbestimmungsrecht der Kinder. Deshalb findet einmal in der Woche ein von den Kindern geleiteter Klassenrat statt, bei dem wichtige Anliegen, Probleme und Wünsche von einzelnen Kindern und LehrerInnen der Mehrstufenklasse besprochen werden. Zur Ausstattung der Klasse zählen zwei Computer mit Internetzugang, die von den SchülerInnen zum Tippen von Wörtern und Sätzen, Spielen von Lernspielen oder zum Einholen von Informationen zu Sachthemen aus dem Internet genutzt werden. Auch der Klassenblog, den es seit 2008 gibt und der regelmäßig von dem LehrerInnenteam und den Kindern aktualisiert wird, ist ein wichtiges Medium für die SchülerInnen geworden (vgl. Schöberl 2009).
2. Wie alles begann In freien Arbeitsphasen ist es den SchülerInnen der Mehrstufenklasse möglich, sich je nach Interesse mit unterschiedlichsten Sachthemen auseinanderzusetzen. So war es nicht überraschend, dass ein Schüler sich eines Tages dazu entschied, sich mit dem Medium Zeitung zu beschäftigen und es in Form eines Projektes zu erarbeiten. Mit der Hilfe einer Lehrerin wurden in einzelnen Freiarbeitsphasen im Zeitraum von ungefähr zwei Wochen die einzelnen Teile einer Zeitung, wie die wichtigen Begriffe, Schlagzeile, Titelblatt, Ressort etc., erarbeitet. Dabei gestaltete der Schüler ein Informationsplakat, auf das er ausgeschnittene Teile einer Zeitung klebte und im Anschluss mit den richtigen Bezeichnungen beschriftete. Außerdem brachte er unterschiedliche Zeitungsexemplare zur Demonstration mit. Bei der wöchentlichen Präsentation erklärte das Kind seinen MitschülerInnen verständlich, worum es sich bei den einzelnen Zeitungsbereichen handelte, und demonstrierte sein Plakat im Klassenverband. Die Resonanz war äußerst positiv und das Interesse an unterschiedlichen Zeitungen, an Möglichkeiten und Grenzen der Informationsvermittlung war sehr groß. Einige SchülerInnen äußerten ihre Zweifel daran, dass die Zeitungsberichte nur Wahres berichteten. Auch die unterschiedlichen Qualitäten der verschiedenen Tageszeitungen wurden diskutiert. Wenige Tage später wurde im Klassenrat von einigen SchülerInnen der Wunsch ausgesprochen, eine eigene Klassenzeitung zu gestalten, die für die Klassengemeinschaft wichtige Themen beinhalten sollte. „Wir übernehmen den Sportteil und schreiben etwas über die Hofpause“, meldeten sich sogleich zwei Schüler. Eine Schülerin meinte: „Ich schreibe etwas über das Wetter.“ – „Wir können ja gleich Werbung für unsere Musicalaufführung machen“, sagte ein Schüler. Nachdem so reges Interesse bestand und bei der anschließenden demokratischen Abstimmung fast alle SchülerInnen für die Gestaltung einer Klassenzeitung stimmten, erklärten sich auch die LehrerInnen bereit, eine Planungsstunde für die kommende Woche zu vereinbaren.
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3. Planung und Organisation Die Planungsstunde für das Klassenzeitungsprojekt wurde ähnlich wie bei einem Erzählkreis von zwei Kindern geleitet. Diese sammelten zunächst Ideen und Vorschläge für Themen, die in der Klassenzeitung enthalten sein sollten. Wichtig waren vor allem die Bereiche Sport, Kultur, Horoskop, Comics, Geschichten und Witze. Im Anschluss wurden die verschiedenen Inhaltsbereiche an die SchülerInnen verteilt, indem sich immer ein bis zwei Kinder zu einem Thema meldeten. Zuletzt wurden noch Kinder für die Chefredaktion gesucht. Ein Chefredakteur wurde Patrik, das Kind, das die Zeitungsinitiative mit seinem Projekt gestartet hatte. Als Chefredakteurin meldete sich eine Viertklasslerin, die sich durch ihre große Begeisterung, am Computer zu arbeiten, für diese Rolle eignete.
4. Beiträge entstehen Auch wenn laut Stundentafel andere Themen vorgesehen waren, entschied sich das LehrerInnenteam dazu, den Kindern für die Fertigstellung der Artikel und Berichte genügend Zeit einzuräumen. Während einige SchülerInnen Unterstützung bei ihrer Arbeit benötigten, schrieben und zeichneten andere selbstständig im Team oder alleine. Einige SchülerInnen machten mit der digitalen Klassenkamera Fotos, die ihre Beiträge ergänzen sollten. Die fertigen, handgeschriebenen Artikel wurden dem Chefredaktionsteam überreicht. Dieses kontrollierte gemeinsam mit einer Lehrerin die Beiträge auf die Rechtschreibrichtigkeit.
5. Layout und Formatierung Sobald alle Beiträge eingesammelt waren, wurden diese vom Redaktionsteam mithilfe einer Lehrerin abgetippt. Nun gab es viele Texte und einige Fotos, aber ein passendes Layout fehlte noch. Das Redaktionsteam sah sich einige Zeitungsbeispiele an und fragte die Lehrerinnen nach einer Möglichkeit, die Seitenränder so zu gestalten, dass sie – wie bei einer Tageszeitung – immer gleich aussahen. Als geeignetes Programm für die Gestaltung erwies sich Powerpoint. Dabei wählte das Chefredaktionsteam ein passendes Layoutmuster aus und erstellte für jeden Bericht eine Folie. Anschließend wurden die bereits getippten Beiträge in die Vorlagen eingefügt und danach ausgedruckt. Nun wurden die Blätter von Hand zu einer großen Zeitung geklebt. Jetzt konnte aus der großen Version durch beidseitiges Kopieren und die Unterstützung einer Lehrerin die Vervielfältigung möglich gemacht werden.
6. Fertig – und was nun? Die SchülerInnen konnten es gar nicht erwarten, die Ergebnisse ihrer Arbeit in Händen zu halten. Mit Begeisterung lasen die SchülerInnen die Klassenzeitung, lachten über die Comics und lustigen Horoskope und amüsierten sich über die Geschichten ihrer MitschülerInnen. Schnell wurde die Idee geäußert, die Zeitung an andere Klassen zu verkaufen. Die SchülerInnen sahen darin auch die Chance, die anderen Klassen zu einer eigenen Zeitung anzuregen, sodass in Zukunft ein Austausch möglich wäre. Auch die Möglichkeit einer monatlichen Klassenzeitung wurde diskutiert. Aufgrund mehrerer bereits geplanter Vorhaben – wie Ausflüge,
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Schularbeiten, Projektwoche, Klassenblog und anstehende Semesterferien – reichte die Zeit jedoch nicht aus, um all die Ideen umzusetzen.
7. Lerneffekte 7.1 Soziales Lernen Das von den Kindern entwickelte Projekt der Klassenzeitung hatte einen enormen Wert für die Klassengemeinschaft. Die positive Auswirkung auf den Zusammenhalt unter den SchülerInnen durch die gegenseitige Unterstützung, die gegenseitige Anerkennung für die entstandenen Beiträge sowie die Freude über das gemeinsam gestaltete Werk waren besonders beeindruckend.
7.2. Deutsch: Lesen, Rechtschreiben, Verfassen von Texten, Sprachbetrachtung Die Lernmöglichkeiten im Bereich des Deutschunterrichts erwiesen sich in diesem Projekt als besonders ergiebig. Durch das Lesen von mitgebrachten Zeitungen, das Verfassen von eigenen Beiträgen und deren anschließende Korrektur konnte aus medienpädagogischer Sicht ein großer Teil zur Leseerziehung beigetragen werden. Das Betrachten des entstandenen Werkes steigerte bei vielen SchülerInnen die Lesemotivation und das Leseinteresse an den Beiträgen ihrer MitschülerInnen. Im einem weiteren Bereich des Deutschunterrichts, dem Verfassen von Texten, konnten die SchülerInnen wichtige Erkenntnisse über den Aufbau unterschiedlicher Textsorten, wie beispielsweise den des Horoskops, gewinnen. Durch das Lesen und Korrigieren des eigenen Beitrags und das Beachten der Zeitform und des Satzbaus übten sie ihre Fähigkeiten in der Rechtschreibung und der Sprachbetrachtung.
7.3. Medienerziehung Das Lernen über das Medium „Zeitung“ stand hier im Vordergrund. Das Projekt der Klassenzeitung hatte das Ziel, andere über die aktuell relevanten Themen der Mehrstufenklasse zu informieren. Diese Informationsfunktion des Mediums war den SchülerInnen bereits bewusst. Doch die Tatsache, dass jedes Kind einen auch völlig erfundenen Beitrag schreiben konnte, ließ die SchülerInnen erkennen, dass Veröffentlichtes nicht unbedingt wahr sein muss und hinterfragt werden sollte. Für Diskussion sorgten neben der Auswahl verschiedener Bereiche der Klassenzeitung vor allem die Inhalte und die Qualität der Klassenzeitungsberichte. Wichtig war den Kindern dabei, dass die Geschichten „nicht langweilig“ sein durften. Auch ein vermeintlich „gemeines Comic“ wurde im Plenum besprochen. Daraus resultierten einige Vereinbarungen, wie beispielsweise das Verbot von Beleidigungen und Verletzungen anderer durch Zeitungsbeiträge. Die Kinder der Chefredaktion, die sich um das Einsammeln der einzelnen Beiträge und die „Digitalisierung“ kümmerten, konnten durch ihre Arbeit mit dem Computer bedeutende Lernerfahrungen machen. Die Chefredakteurin erkannte den PC als nützliches Arbeitsins
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trument, das manchmal bei der Korrektur von Texten hilfreich sein konnte. Mit ein wenig Unterstützung von den LehrerInnen eignete sie sich viel Wissen über das Programm Powerpoint und die Möglichkeiten und Grenzen eigener Gestaltungswünsche an.
8. Ausblick Die Vielzahl an in der Klasse genutzten Formen der Medienproduktion, wie Klassenblog, Klassentagebuch, Fotos und Videos, ermöglichen den Kindern unterschiedliche Ausdrucksformen. Dabei hatte jede Schülerin und jeder Schüler individuelle Vorlieben und zeigte diese durch die Verwendung des vorhandenen Medienangebots, das ihr und ihm in den Freiarbeitsphasen frei zur Verfügung stand. Eine gemeinsame Medienproduktion, bei der die ganze Klassengemeinschaft im gleichen Zeitraum Beiträge gestaltet – wie es bei dem Projekt der Klassenzeitung der Fall war –, ist sehr zeit- und betreuungsintensiv. Benötigt wird zunächst viel Organisationsarbeit und dadurch auch ausreichend Zeit, die Vorhaben umzusetzen. In den 50-minütigen Unterrichtseinheiten ist diese Zeit oftmals nicht gegeben. Auch der Betreuungsaufwand ist nicht zu unterschätzen. Obwohl die SchülerInnen der Mehrstufenklasse das Arbeiten in alters- und leistungsheterogenen Gruppen gewöhnt sind und einander gegenseitig helfen, ist ebenso eine angemessene Unterstützung der Lehrpersonen erforderlich. Aufgrund der vielen positiven Auswirkungen des Projektes wäre eine Weiterführung in kommenden Schuljahren sehr wünschenswert, um die von den Kindern gesammelten Erfahrungen erweitern und neue Ideen, Wünsche und Anregungen der SchülerInnen verwirklichen zu können.
Literatur Schöberl, Dagmar (2009): Ein Jahr Bloggen in der Volksschule – ein Erfahrungsbericht, in MEDIENIMPULSE 1/2009, online unter: http://www.medienimpulse.at/articles/view/100 (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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Manfred Gilbert Martin
Block, Blog, Blogtopus … Blogs im Geschichteunterricht der Sekundarstufe II Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/688
Abstract Manfred Gilbert Martin beschreibt anhand des konkreten praktischen Beispiels des Projekts I-Museion den Einsatz eines Weblogs bei der Aufarbeitung von Historiografie und historischem Material im Rahmen des vorwissenschaftlichen Arbeitens an einer AHS-Oberstufe. Seine zentrale medienpädagogische Fragestellung ist: Was kann man von Geschichteblogs (nicht) erwarten? Dabei verweist der Autor auf die Medientransformation vom Schreibblock zum digitalen Blog, die beide ob ihrer medialen Materialität auf je eigene Weise archivarische Funktionen im Sinne einer Überlappung von Medien und Geschichte bzw. Geschichte und Medien mit sich bringen. Wie viele Tentakel hat ein historiografischer Oktopus als Blogtopus? Pad, Blog, Blogtopus … Blogs in Higher Secondary Level History Lessons. Using the project I-Museion as a concrete example, Manfred Gilbert Martin describes the use of a weblog for revising historiography and historical material for the pre-academic paper at the higher secondary level of a general secondary school. His main media education-related question is: What may (not) be expected of history blogs, pointing out the media transformation from the writing pad to the digital blog, which both bring their own specific archival functions in the sense of an overlap of media and history, or rather history and media. How many tentacles does a historiographical octopus have when it turns into a blogtopus?
1. Blogs im Geschichteunterricht – ein Praxisbericht Vor fünfzig Jahren freuten sich SchülerInnen über einen neuen Schreibblock wie unsere Kinder heute über ihr erstes Smartphone. Für Jugendliche liegt der Wert eines linierten Schreibblocks heute unter jenem einer coolen Smartphonehülle. Der Block dient mir zur Planung von Projekten. Er ist gut für spontane To-do-Listen. Auf Papier mache ich während eines Gesprächs dem Gegenüber die eigenen Ideen durch Schlagwörter, Kreise und Pfeile nachvollziehbar. Die digitale Welt hat uns ein „neues“ (oder schon wieder altes?) Kommunikationstool beschert: den Blog. Im Juni 2013 kannte ich keine Blogs. Ich assoziierte damit undurchschaubare, vielschichtige Wesen aus einer anderen, der digitalen, Welt. Wahrscheinlich hatte ich vorher in viele Blogs reingeklickt. Ich hatte aber keine Ahnung, wozu diese Kreaturen im Netz gut waren, geschweige denn, wie man so etwas macht. Dann kam der Juli und Christian Berger von der PH Wien begann mir mit der Geduld eines Walfängers die Vorteile von Blogs zu erklären und wie einfach das sei. Nur weil er sich Zeit nahm und als Captain Ahab seiner Zunft
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erwies, begann ich trotz meiner Befürchtungen mit der Planung eines Blogs für den Geschichteunterricht meiner SchülerInnen. Was mich noch zögern ließ, waren folgende Überlegungen: • Ich werde zwar einen Blog gestalten können – mit nachhaltiger Anleitung ist das nicht allzu schwierig, aber so etwas verlangt nach ständiger Betreuung. Was man sich da aufhalst, kann Mühlsteinmasse entwickeln. • Unser Blog wird sich verändern. Das Betreiben wird nicht nur Zeit fressen, der Prozess wird nicht in absehbarer Zeit abgeschlossen sein. • Jeder redet von Blogs. Jeder scheint einen zu haben oder zu verfolgen. Blogs werden als Textsorte Teil der Matura. Könnte ich da einem momentanen Hype aufsitzen? In fünf Jahren könnte man mich fragen, ob ich tatsächlich mit diesem überholten Kram gearbeitet hätte, so wie man jetzt Mönche bedauert, die vor tausend Jahren in Klöstern jahrelang Bücher abmalen mussten. Trotz allem, die medienpädagogischen Vorteile klangen zu verlockend: • Arbeitsanweisungen auch bei Abwesenheit unmissverständlich und nachvollziehbar zur Verfügung stellen können. • Arbeitsergebnisse und Zwischenergebnisse ansehnlich und klar geordnet immer für jede(r)mann/-frau parat haben. Ich konnte nicht wissen, wozu ein Blog noch gut sein könnte. Also legten wir los. Ein Unterrichtsprojekt zur Museumspädagogik mit dem Thema „Die große Welt hinter kleinen Dingen“ war an der Schule gerade angelaufen. Das Projekt I-Museion, das online unter http://podcampus.phwien.ac.at/schlossmuseum/ zu finden ist (letzter Zugriff: 15.08.2016). • • • • • •
Ziele: Museumsbesuche zu einem Erlebnis mit Erkenntnisgewinn machen Dehnen der Aufmerksamkeitsspanne für „unscheinbare“ Objekte Vorbereiten auf vorwissenschaftliche Arbeitsweisen (Recherche, Schreiben, Themenwahl) Verbessern der IT-Fertigkeiten das Große im Kleinen finden (vom Objekt zum historischen Hintergrund) Anlegen eines faktenbasierten Wissensnetzes für die TeilnehmerInnen zur Orientierung in der Geschichte
2. Methoden 2.1 Peerlearning SchülerInnen, die etwas Besonderes können (IT-Fertigkeiten, Formulieren, Telefonieren …) werden ein oder zwei „LernerInnen“ beigestellt, die erleben, wie ihre Peers die Leistung erbringen. Texte werden peergelesen, Produkte erhalten im Blog oder im Plenum Rückmeldungen.
2.2 Individuelles Tutoring Die LehrerInnen minimieren die von ihnen dominierte plenare Kommunikation auf einen kurzen Impuls- und Klärungsinput zu Beginn und Zwischenberichtsmoderation am Ende jeder Unterrichtseinheit (100 Minuten). Anweisungen und Erklärungen werden in den Blog un-
Block, Blog, Blogtopus …
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ter http://podcampus.phwien.ac.at/schlossmuseum/archive/category/auftrage (letzter Zugriff: 15.08.2016) verlagert. Dazwischen begleiten sie einzelne oder kleine Teams in ihrer Arbeit. Go out there and do it: Feldforschung betreiben (Führungs- und Begleitmethoden an historischen Orten erleben, Fundberichte erfragen und dokumentieren, E-Mail-Kontakte herstellen, Besuche organisieren). Create your own: Von SchülerInnen gefilterte Museumsinhalte im Smartphone (der SchülerInnen) verfügbar machen. Audiotracks mit ExpertInnen machen.
3. Grundgedanken zur Didaktik und Methodik „Geschichte erschließt sich über Orte und Menschen“ Historische Erkenntnis gelingt meist am besten im Gespräch mit WissensträgerInnen und vor allem vor Ort. Hinter jedem Objekt stehen Orte und Menschen. Gegenstände verweisen auf historische Hintergründe. Um zu den angeführten Zielen zu gelangen, sollten die SchülerInnen unterschiedliche Begegnungsformen mit historischen Objekten/Inhalten oder auch mit Menschen erleben. Dazu gehörten neben digitalen Recherchemitteln auch das gute alte Buch, die Zeitschrift, das papierene Lexikon. Im Zentrum standen aber tatsächliche Begegnungen vor Ort: klassische Gruppenführungen durch Museumsbegleiter (Schloss Ćeský Krumlov, Schloss Thurn und Taxis Regensburg), Führungen durch Privatmuseen und Privathäuser durch die BesitzerInnen (Schloss Steyregg, Schloss Altenhof ), Peerführungen (Winterpalais Prinz Eugen), individuelles Erkunden von Ausstellungen im In- und Ausland (Rijksmuseum Amsterdam, Militärhistorisches Museum Brüssel, Foltermuseum Ćeský Krumlov, Walhalla Donaustauf, Stollen der Erinnerung in Steyr), KuratorInnenführungen mit komplexer didaktischer Aufbereitung (Museum Arbeitswelt Steyr) und ein Rollenspiel im Schloss Lamberg (Fürstentag Steyr). Darüber hinaus wurden Zeitzeugenbesuche an der Schule (Gabriela Vidláková, Theresi enstadt, und Ari Rath, Wien/Jerusalem) in Hinblick auf den erzielten Erkenntnisgewinn reflektiert. Beschreibungen der Aktionen findet man im Blog unter: http://podcampus.phwien. ac.at/schlossmuseum/begegnungen (letzter Zugriff: 15.08.2016). Ohne diesen weit ausholenden Hintergrund wäre der Blick auf die Objekte zu eng gewesen. Dieser Blick – soll er eine gute Tiefe erreichen – verlangt, dass man nicht nur die Objektgruppe, sondern eine ganze Welt im Kopf hat. Fragen, wie „Was macht diesen Gegenstand interessant?“, „Auf welche interessanten Hintergründe verweist der Gegenstand?“ und „Welche Erkenntnis können wir aus diesem Gegenstand für heute ziehen?“, müssen außerhalb des Museums, dessen Objekte man bearbeitet, immer wieder in unterschiedlichste Kontexten gestellt und durchgedacht werden. Und dabei half bereits der Blog.
4. Der Blog als Werkzeug und die Geschichte des Projekts I-Museion Wozu überhaupt ein Blog für einen Geschichtekurs? Das kam so: Wir hatten am BRG/ BORG Kirchdorf unsere SchülerInnen auf „vorwissenschaftliche Arbeitsweisen“ vorzubereiten. Als Teil dieser Vorbereitung begannen wir ein Projekt mit dem Oberösterreichischen Landesmuseum. Dabei ging es darum, wenigen, von SchülerInnen ausgesuchten Leitobjekten im Museum mehr Informationstiefe in Form von vorwissenschaftlichen Übungstexten, aber auch
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ein digitales Leben zu verleihen. Museumsobjekte bekamen bei früheren Museumsbesuchen meist ebenso viel und so lange Aufmerksamkeit von SchülerInnen wie die kleinen Täfelchen an den Vitrinen. Nichts hielt den Blick. Einmal hinschauen, Arbeitsblatt abhaken und die Beine waren schon beim nächsten Ding. Wie kann man aber das Interesse der SchülerInnen über die Dauer eines Smartphonewischers binden? Vor einem Museumsobjekt verweilen nur jene BesucherInnen länger, die den Gegenstand in ihr bereits geknüpftes Wissensnetz einbinden können, die in der Lage sind, das „Ding“ in einen sinnvollen, interessanten Kontext zu setzen. Solche BesucherInnen erzielen bei der Betrachtung des Objekts und der Reflexion darüber auch einen Erkenntnisgewinn, der den Besuch lohnt. SchülerInnen fehlen oft die Anknüpfungspunkte zur Kontextualisierung der Objekte, der sachbezogene Hintergrund, sozialhistorische und kulturhistorische Hintergrundfolien. Diese Informationen sprengen allerdings den Rahmen jeglicher Beschriftungsformen. Man müsste schon mit einem umfassenden Katalog durch die heiligen Museumshallen ziehen, um an das erforderliche Vor- und Hintergrundwissen heranzukommen. Kaum ein Erwachsener würde das tun. Im Stehen. Bei einer ganzen Objektreihe. Zwei Projektziele waren: einerseits zukünftigen MuseumsbesucherInnen (zumindest jenen aus unserer Schule) vor dem Besuch und vor dem Objekt eine Möglichkeit zur Vertiefung zu geben und sich andererseits bei der Erstellung der Texte gleichzeitig vorwissenschaftlicher Methoden zu bedienen, sich diese anzueignen. Ein drittes Ziel kam nach ersten Erfahrungen mit Textinhalten in Blogs dazu: Audiotracks, Minihörspiele zu den Objekten herstellen zu können. Dieses Ziel ergab sich, als klar wurde, dass das Internet mehr kann, als Texte abzubilden. Alle Kanäle müssen im Endausbau eines digitalen Guides genützt werden, vorerst die Audioschiene. Audioguides in Museen enthalten meist sachlich sehr gut durchdachte Texte, die allerdings einfach im Studio vom Blatt gelesen wurden, im besten Fall von professionellen Sprechern. Konnte da die Faszination von Hörspielen mit mehreren Sprechern und Geräuschkulissen nicht die Gefahr der Monotonie abwenden helfen? Unser lokales freies Radio B 138 war bereit zu helfen.
4.1 Blockplanung Ich malte die ersten Planungsmindmaps wie einen Oktopus. Ein blasenartiger Kopf mit acht Armen. Die ersten acht Museumsobjekte – Bihänder, Hallstattschmuck, Depotfund, Münzfund, Topfhelm, Astrolabium, Hochzeitsmedaille und Schandwiege – sollten mit Texten, Bildern und Tonspuren digital hinterlegt werden, sodass BesucherInnen bereits zu Hause oder in der Schule recherchieren können, welche Geschichten etwa der Topfhelm erzählt oder wie die Fundgeschichte des Depotfunds verlief. Es sollten möglichst Inhalte entstehen, die nicht im Museumskatalog oder in der faktenschwangeren Wikipedia zu finden waren: Gespräche mit dem Finder des Depotfundes etwa. Wie Fangarme sollten Fragen an das Objekt wachsen, bevor man die Museumsschwelle überschreitet. Vor dem Objekt sollten dann im Idealfall über QRCodes diese Informationsebenen am Smartphone angewählt werden können, um das Objekt während der Betrachtung mit Bedeutung aufzuladen. Die BetrachterInnen sollten sich mit mehreren Sinnen am Gegenstand festsaugen können. Im Zentrum der Hintergrundinformation war eine Audiospur gedacht. Die Entscheidung dazu entstand aus folgender Überlegung: Audio und Video werden eher abgerufen als geschriebene Texte, Audiospuren wiederum sind
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für uns mit der Unterstützung des lokalen freien Radios B 138 einfacher herzustellen als Videos. Stimmen, Geräusche und bewegte Bilder stellen unvermittelt eine Intimität mit dem Geschehen her. SchülerInnentexte und Texte im Allgemeinen tun sich schwerer, Blogbesucher zu binden.
4.2 Blogplanung Wir legten mithilfe der PH Wien die Urform unseres I-Museion-Blogs an. Die Plattform sollte die elektronische Welt mit der griechischen Uridee des Museions verbinden: ein elektronisch vermittelter Musentempel. Eine erste Funktion des neuen Werkzeugs war jene des Schaufensters: Schülertexte sollten in ansprechender Form lesbar und zugänglich gemacht werden. Die zweite Funktion, die wir dem Blog zuwiesen, war jene der Projektorganisation. Alle Aufgaben wurden im Blog veröffentlicht. SchülerInnen konnten auch ohne Aufsicht in den zwei Wahlpflichtgegenstandstunden am Projekt arbeiten, wenn ich auf Fortbildung war. Selten, aber doch arbeiteten SchülerInnen auch außerhalb der Unterrichtszeit am Projekt. Die historischen Hintergründe zu den Objekten wurden mithilfe der SammlungsleiterInnen des Landesmuseums recherchiert. Diese Unterstützung war unschätzbar. Wir erhielten eine Depotführung von der Sammlungsleiterin für „Waffen und Technik“, Mag. Ute Streitt. Dort konnte man einen Bihänder von der Wand nehmen und einmal ordentlich durch die Halle schwingen. Um den SchülerInnen zu zeigen, wie viel Information man über ein scheinbar totes Objekt erhalten kann und auf wie viele Lebensbereiche und historische Zusammenhänge es verweisen kann, recherchierte ich zum Hintergrund einer barocken Porträtmedaille, die ein Schüler ausgesucht hatte. Im Hinblick auf die vorwissenschaftlichen Arbeiten, die jede/-r SchülerIn erstmals schreiben musste, entstand ein von mir mit fachkundiger Unterstützung von Sammlungsleiter Univ. Doz. Dr. Bernhard Prokisch verfasster 70-seitiger Text in (populär-)wissenschaftlicher Sprache über numismatische Details, barocke Lebenswelt, Erziehung, jesuitischen Geist, Pest, Duelle, Kavalierstouren und Machtstrukturen des 17. Jahrhunderts. Daraus wurde ein 10-seitiger wissenschaftlicher Text destilliert, der im Herbst 2014 im Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereins veröffentlicht wurde. Auch ein weiterer (vorwissenschaftlicher) Text wurde erstellt. Beide Texte dienten und dienen der VWA-Ausbildung der SchülerInnen und finden sich im Blog unter folgenden Adressen: http://podcampus.phwien.ac.at/schlossmuseum/files/2014/08/Jahrbuch-159_martin.pdf http://podcampus.phwien.ac.at/schlossmuseum/files/2014/08/JahrbuchMUSEALVEREIN_Weissenwolff_Selfie1.pdf (letzte Zugriffe: 15.08.2016). Damit war eine dritte Funktion für unser neues Werkzeug erschlossen: jene des Archivierens. Die Texte dienten auch dazu, den SchülerInnen vorzuführen, wie man (semi-)professionell recherchiert und wissenschaftliche Texte verfasst. Die Recherchen der SchülerInnen führten in das Haus Salm-Reifferscheidt-Raitz in Steyr egg bei Linz, den Nachkommen des auf der Medaille abgebildeten Barockjünglings. Herr Mag. Salm besuchte uns an der Schule und war damit wiederum wesentlich am Gelingen eines Buches beteiligt, das beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten im April 2014 mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Diese Arbeit wurde auf einem Nebenprodukt unseres Blogs zugänglich gemacht: einem zweiten, neuen Blog mit neuen Funktionen unter: http://podcampus.phwien.ac.at/kirchdorf/ (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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4.3 Blognachwuchs So war ein zweiter Blog entstanden. Dieser hatte während der Erstellung die Funktion, den Arbeitsfortschritt bzw. Text- und Recherchemängel sichtbar zu machen. In der Juryphase hatten die Jurymitglieder Gelegenheit, nicht nur den 30-seitigen analogen Wettbewerbsbeitrag, sondern darüber hinaus die Interviewtranskripte, weitere Kapitel und einen umfangreichen Anhang zu lesen. Der Blog erlaubte einen Blick in das Making-of. Nach der Preisverleihung übernahm dieser Blog die Funktion des Schaufensters. Lokale und überregionale Interessenten konnten auf den Blog verwiesen werden, nachdem in einer oberösterreichischen Tageszeitung, den Oberösterreichischen Nachrichten (OÖN), darüber berichtet worden war. Die Projektinhalte waren unkompliziert allen InteressentInnen verfügbar. Jetzt, nachdem dieses Projekt aus der Tagesaktualität gerutscht ist, kommt dem Blog archivarische Funktion zu. Es gibt die Idee, daraus die „Kirchdorfer Historische Reihe“ zu entwickeln, die Ergebnisse historischer Laienforschung (vorerst unserer Schule) der Öffentlichkeit zugänglich machen könnte. So hatte unser Ursprungsblog I-Museion einen kleinen Nachwuchsblogtopus in die Welt gesetzt, der seine Fangarme aus den Schulmauern in die Gemeindeebene recken könnte.
4.4 Die Audioebene im Blog I-Museion hatte als Blogtopus seine ersten Tentakel entwickelt und einen Körper gewonnen. Es fehlten Ohren. Wir leben ja nicht in der museumsdidaktischen und medienpädagogischen Tiefsee. In Zusammenarbeit mit unserem freien Lokalradio B 138 entstanden Audiotracks, Minihörspiele gewissermaßen, die im I-Museion-Blog platziert wurden (online auch unter: https://cba.fro.at/series/wpg-geschichte-i-museion [letzter Zugriff: 15.08.2016]). Dabei ver suchten wir nicht wie in klassischen Audioguides, einen „ExpertInnentext“ lesen zu lassen, sondern den Hörspielcharakter zu betonen und vor allem O-Ton, etwa vom Finder des Objekts „Depotfund“, einzubauen. In der Audioarbeit war die professionelle Unterstützung der Radioexperten von B 138 unerlässlich. Zur Perfektion hätte noch bei fast allen Audiotracks ein Überarbeitungsschritt gefehlt, aber die Matura war für die KursteilnehmerInnen zu nahe gerückt, die Motivation, Texte neu einzusprechen, anders zu arrangieren oder mit den Stimmen zu experimentieren, war in der Endphase des Kurses nicht mehr herstellbar. Angesichts der bestehenden Leistungen in einem Fach, das man als SchülerIn im Schnitt 50 Minuten pro Woche hat, war das allerdings mehr als akzeptabel. Doch auch in der letzten Phase gab es noch Einzelne, die sehr wohl motiviert waren.
4.5 Die Videoebene im Blog Noch war unser Projektopus blogensis einäugig. Es gab (gemeinfreie oder selbst gemachte) Bilder, aber keine Filme. Ein Schüler kam auf die Idee, die Lebenswelt unseres barocken Helden in Google-Earth-Filmchen darzustellen. Man findet sie online unter: http://podcampus.phwien.ac.at/schlossmuseum/archive/category/objekte/michael-wenzel-weissenwolff/orte (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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Damit wurde eine zusätzliche Ebene des Blogs eingerichtet. Die umfangreiche Arbeit war dokumentiert und für nachfolgende Geschichtegruppen als Beispiel oder zur weiterführenden Arbeit zugänglich.
5. Der Blog als Instrument zur Herstellung von Öffentlichkeit Der Blog(topus) war nun bereits neun Monate alt und kein Mensch außerhalb der Projektgruppe hatte etwas kommentiert. Er trieb in der museumsdidaktischen Tiefsee, von Einzelnen interessiert beäugt, aber von der Welt so unbeachtet wie seine animalischen Verwandten, die Riesenkraken. Welche Art von Öffentlichkeit hatten wir erwartet? Welche Art von Öffentlichkeit war im Internet zu erwarten? Die Erwartung, dass wir innerhalb unserer Arbeitsgruppe eine Öffentlichkeit herstellen würden, die unsere gemeinsame Arbeit erleichtern würde, hat sich erfüllt. Zwanzig MitarbeiterInnen konnten jederzeit verfolgen, wie weit man gekommen war, jeder konnte peerlesen und rückmelden. Die Erwartung, dass der Blog die Übergabe des Projekts an die nächste Generation des Wahlpflichtgegenstands erleichtern würde, hat sich erfüllt. Die zweite Generation der folgenden Schulstufe konnte mithilfe des Blogs schnell und unkompliziert in unser Aufgaben-Kommentar-System einsteigen.1 Die Erwartung, dass sich die Darstellung unseres Wettbewerbsbeitrages im Blog positiv auf die Beurteilung auswirkte, hat sich erfüllt. Der erste Preis im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten zeugt zumindest nicht vom Gegenteil. Die Erwartung, dass man beim Vorstellen des Projekts (Finanzierungshilfen, weitere Wettbewerbsteilnahmen, Aktivierung von Personen, die man einbinden möchte) einen digitalen Showroom immer mit dabeihat, ist erfüllt. Bei Präsentationen dieser Art stützt der Blog visuell nötige Erklärungen und erspart den Zielpersonen das Lesen ausführlicher Texte. Die Erwartung, dass man durch einen „long shot“ interessantes Feedback oder inhaltliche Ergänzungen erhalten würde, hat sich bislang bei I-Museion nicht erfüllt. Beim Blog http:// podcampus.phwien.ac.at/kirchdorf/ (letzter Zugriff: 15.08.2016) ergab sich allerdings nach einer E-Mail eines Lesers ein Kontakt, der einen vielversprechenden Inhalt für die nächste Projektgeneration zugänglich machte. Die Erwartung, dass man Projektergebnisse auf Jahre hin archiviert hat, wenn man sie in einen Blog einbettet, ist nicht erfüllbar. Es gibt zu viele personelle und digitale Unabwägbarkeiten, um im Netz einen sicheren Archivort zu gewährleisten, wenn man dafür nicht bezahlen möchte. Fazit: Der Blog erreicht bzw. aktiviert einen begrenzten NutzerInnenkreis. Das genügt, um die Projektziele zu erreichen. Um das Besondere zu erreichen, reicht es nicht, auf das Wunder aus dem Netz zu warten. Das Besondere erreicht man durch proaktives Handeln, Hartnäckigkeit und zielgerichtete Strategien.
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Am Ende einer Unterrichtseinheit von 100 Minuten schrieben die SchülerInnen in einem Kommentar, was sie an diesem Tag erledigt hatten. Dieses methodische Werkzeug diente vorwiegend der Einschätzung der eigenen Aktivitäten und war Bestandteil der Notenfindung.
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6. Der Blog als Reflexionsinstrument An dieser Stelle setzten wir dem Wesen einen weiteren Fangarm ein. In den ersten Wochen waren die SchülerInnen noch angehalten, am Ende jeder Stunde in einem Kommentar zur Tagesaufgabe ihre Tätigkeit zu dokumentieren. Dieses Evaluationswerkzeug wurde nun durch eine weitere Dimension ersetzt. Der Blog erhielt den bereits erwähnten Menüpunkt BEGEGNUNGEN, wo ZeitzeugInnen- und ExpertInnenbesuche, Exkursionen und Reisen aufgelistet wurden. Die SchülerInnen wurden angehalten, zu jedem dieser Projektereignisse als Kommentar die Frage zu beantworten, was sie bei dem betreffenden Ereignis oder an jenem Ort gelernt hatten. Nach den ersten dreißig Kommentaren zeigte sich: SchülerInnen ignorierten die Aufforderung, wenn die Note bereits feststand. Das ist eine Realität, die dem Wesen unserer Evaluationskultur entspringt. Viele SchülerInnen beantworteten die Frage nicht, sondern kommentierten, wie man es in Blogs oft sieht: bewertend („war toll“, „sehr interessanter Mensch“, „abwechslungsreich gemacht“ etc.) statt reflektiert. Es war klar: Wir haben in der Gruppe (noch) keine (Selbst-)Reflexionskultur. Die zu entwickeln, ist ein nächstes großes Ziel.
7. Status und Ausblick Im Herbst 2014 wird der Blog mit der Webseite der Education Group GmbH, einer oberösterreichischen Museumsplattform, unter https://www.edugroup.at/ (letzter Zugriff: 15.08.2016) verlinkt. Ab diesem Zeitpunkt sind die Inhalte von der Seite des Museums anwählbar, nicht nur von der Schulwebseite. Im Zuge der Neugestaltung der Webseite des OÖ. Landesmuseums wird überlegt, ob und wie prototypische SchülerInneninhalte wie der hier besprochene Blog integriert werden können. Es wird angedacht, dass SchülerInnen mit Projekterfahrung im I-Museion ihre Erfahrungen und Einschätzungen in einer Fokusgruppe einbringen. Aufgabe der Gruppe ist es, für das im Jahr 2016 im Museum angesetzte Themenjahr „Jugend im Museum“ Vorschläge zu erarbeiten, welche Objekte in einem jugendorientierten Museum gezeigt werden sollten. Um fundierte Vorschläge zu machen, ist ein Erfahrungshintergrund nötig, der im Projekt I-Museion geboten wird: erleben unterschiedlichster Zugänge und Erschließungswege in Museen und an Objekten. Hier ergibt sich eine breite Perspektive auch für zukünftige Projektgruppen. Mittlerweile arbeitet die dritte Kursgeneration eines zweijährigen Wahlpflichtgegenstandes an der sich ständig verändernden Kreatur des Blogs I-Museion. Trotz aller vielversprechenden Aussichten ist es ungewiss, ob das Ding weitere Tentakel und Funktionen entwickeln wird oder welche abwirft und abstößt. Niemand kann – im September 2014 – sagen, ob unser Oktopus/ Blogtopus eines Tages auf dem Kalamariteller der SchülerInnenwelt zum intellektuellen Verzehr dargeboten wird oder ob er im Marianengraben der Museumsdidaktik verschwindet wie so manch anderes monströses Methodikbaby. Im letzteren Fall haben wir immer noch den Schreibblock.
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Martin Rankl
Medienkompetenzvermittlung im Fachgegenstand Musikerziehung Praktische Beispiele und geeignete Software Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/687
Abstract Die österreichische Schule versucht, Medienbildung im Sinne der Medienpädagogik als Unterrichtsprinzip umzusetzen. Damit sollen medienbildende Inhalte in allen Fachgegenständen eingesetzt werden. Im folgenden Artikel geht Martin Rankl deshalb der Frage nach, inwieweit der Fachgegenstand Musikerziehung dieses medienpädagogische Unterrichtsprinzip abdecken kann. Der Artikel befasst sich daher mit der Integration von Medienbildung in den Musikunterricht und behandelt die Frage, inwieweit musikerzieherische Inhalte auch zur Medienbildung beitragen können. Darüber hinaus werden exemplarisch einige Programme und Online-Tools vorgestellt, die in der praktischen Arbeit im Musikunterricht verwendet werden können. Teaching Media Competence in the Subject of Music Education – Practical Examples and Suitable Software. The Austrian school system aims to implement media education as a teaching principle, meaning that media education content should be addressed in all subjects. Therefore, Martin Rankl addresses the question how the subject of Music Education can cover this media education teaching principle. The article therefore addresses the integration of media education into music lessons in school and deals with the question of the contribution of the subject of Music Education to media education. In addition, some examples of applications and online tools which can be applied in music lessons will be introduced.
1. Einleitung Der folgende Artikel versucht, nach den (ministeriellen und medienpädagogischen) Vorgaben die Medienbildung als eigenständigen Bereich und als Unterrichtsprinzip anzuerkennen. Entscheidend ist dabei, dass medienbildende Inhalte in allen einzelnen Fachgegenständen eingesetzt werden soll(t)en. Im Folgenden soll deshalb der Frage nachgegangen werden, inwieweit der konkrete Fachgegenstand Musikerziehung dieses Unterrichtsprinzip der Medienbildung abdecken kann. Anhand von praktischen Beispielen soll des Weiteren festgestellt werden, ob konkrete Lehrziele des Fachgegenstandes genannt werden können, die einerseits medienbildende Aspekte und andererseits musikerzieherische Inhalte abdecken. Weiters soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit digitale Programme für den Bildungsbereich kategorisiert werden können. Dies soll vor allem der Orientierung in einem heu-
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te bereits reichlich differenzierten Angebot dienen. Als Entscheidungshilfe soll ein Modell zur Auswahl geeigneter Software herangezogen bzw. vorgestellt werden. Schlussendlich werden auch einige kostenlose Programme genannt, die in Unterrichtsszenarien in diesem Fachgegenstand praktisch verwendet werden können und die durch ihren Werkzeugcharakter offene zeitgemäße Unterrichtsszenarien ermöglichen.
2. Medienkompetenzvermittlung und Musikerziehung Die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit Medien im schulischen Umfeld ist ein wesentlicher Bildungsauftrag und wird im ministeriellen Grundsatzerlass zur Medienerziehung zum Ausdruck gebracht. Ziel dieser medienpädagogischen Bemühungen ist die Erlangung von Medienkompetenz (vgl. bm:ukk/bmbf 2012b). Medienkompetenz kann nach Baacke über vier Dimensionen definiert werden, die wieder in mehrere Unterdimensionen gegliedert werden: • Medienkompetenz umfasst die Fähigkeit zur Medienkritik als Grundlage für alle weiteren Operationen und kann in dreifacher Weise gesehen werden: analytisch, reflexiv und als ethische Dimension. • Medienkunde bedeutet das Wissen über Medien, wobei in ihr eine informative Dimension, also das Wissen über die Medien und deren Konzeptionen und eine instrumentell-qualifikatorische Dimension, also die Fähigkeit, diese Technologien zu bedienen, unterschieden werden kann. • Der Bereich der Mediennutzung muss einerseits rezeptiv-anwendend, andererseits interaktiv-anbietend erlernt werden. • Mediengestaltung kann einerseits innovativ, andererseits kreativ ausdifferenziert werden. (vgl Baacke 1999, 1–4) Bezogen auf das schulische Umfeld und den generellen schulischen Bildungsauftrag kann folgende Zielformulierung treffend angewandt werden: „Kinder und Jugendliche sollen Kenntnisse und Einsichten, Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben, die ihnen ein sachgerechtes und selbstbestimmtes, kreatives und sozialverantwortliches Handeln in einer von Medien beeinflussten Welt ermöglichen.“ (Tulodziecki/Herzig 2010, 237) Tulodziecki und Herzig formulieren aufbauend auf der oben genannten Zielformulierung, fünf Aufgabenbereiche für medienbezogene Erziehungs- und Bildungsaufgaben: „Auswählen und Nutzen von Medienangeboten, Gestalten und Verbreiten eigener Medienbeiträge, Verstehen und Bewerten von Mediengestaltungen, Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen, Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion und -verbreitung.“ (Tulodziecki/Herzig 2010, 238–239) Handlungsorientiertheit und Situiertheit sind wesentliche Elemente eines zeitgemäßen Musikunterrichts. „Definiert man Musik als Handlungsform, also als etwas, das Menschen tun, ist der Erwerb von Handlungswissen die der Musik angemessenste Form der musikalischen Aneignung.“ (Gruhn 2003, 96) Der Lehrplan für den Fachgegenstand legt zunächst die „Bildungs- und Lehraufgabe“ fest. In den allgemeinen Zielsetzungen, die dem Musikunterricht zugewiesen werden, wird neben anderen zahlreich formulierten Zielen auch der „kreative Umgang mit neuen Medien“ eingefordert.
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In den „Didaktischen Grundsätzen“ wird explizit formuliert: „Instrumente, Materialien, Medien und aktuelle Technologien sind mit einzubeziehen“. Der Lehrplan der Allgemeinbildenden Höheren Schulen (vgl. bm:ukk/bmbf 2010b, 2–4) und der Lehrplan der Neuen Mittelschulen (vgl. bm:ukk/bmbf 2010a, 74–78) sind in diesem Bereich wortident. Bezogen auf passende Inhalte in der Musikerziehung können exemplarisch folgende Handlungsszenarien zu den vorher erwähnten medienbezogenen Erziehungs- und Bildungsaufgaben genannt werden. Ebenso werden die vier geforderten Dimensionen nach Baackes Definition der Medienkompetenz abgedeckt. Die Formulierungen zu den Lehrplanbezügen wurden aus den Lehrplänen für Musikerziehung der fünften bis achten Schulstufe der AHS bzw. NMS entnommen: • ad Auswählen und Nutzen von Medienangeboten (Dimension der Mediennutzung): Anhand eines Videos – etwa ein Konzertausschnitt – werden die in diesem Film verwendeten Instrumente beschrieben, dazu werden Online-Angebote zur Instrumentenkunde angesurft. Die Erkenntnisse und Informationen werden in einer digitalen Präsentation zusammengefasst. Möglicher Lehrplanbezug: Kennenlernen musikalischer Gattungen; optisches und akustisches Erkennen der gebräuchlichsten Instrumente und deren Spielweisen • ad Gestalten und Verbreiten eigener Medienbeiträge (Dimension der Mediengestaltung): Klangcollagen zu einem gewählten Thema werden erstellt und auf der Schul-Website präsentiert. Möglicher Lehrplanbezug: Gestaltung von Musikstücken mit gegebenen oder selbst erfundenen rhythmischen und melodischen Motiven, Texten und Bewegungsabläufen; Einbeziehung aktueller Medien • ad Verstehen und Bewerten von Mediengestaltungen (Dimension der Medienkritik): Ein Musikvideo zu einem Popsong wird untersucht. Welche Gestaltungsmittel werden verwendet? Warum gefällt dieses Video? Was ist das Besondere an diesem Clip? Wie wird der Text des Songs im Video verarbeitet? Möglicher Lehrplanbezug: kritische Auseinandersetzung mit den Wirkungen von Musik • ad Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen (Dimension der Medienkritik): Ein Werbefilm wird analysiert. Welche Musik wird in dieser Werbung verwendet? Welche Bilder werden vermittelt? Entspricht die Darstellung der Sachverhalte der Realität? Möglicher Lehrplanbezug: Erkennen von Musik als Wirtschaftsfaktor • ad Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion und -verbreitung (Dimension der Medienkunde): Das Web wird nach Online-Angeboten von bekannten Radiostationen durchsucht. Womit werden diese Radiosender finanziert? Was unterscheidet private Radiosender von öffentlich-rechtlichen Sendern? Welche Zusatzangebote gibt es auf den Websites dieser Sender? Möglicher Lehrplanbezug: Orientierung im regionalen, überregionalen und internationalen Kulturleben An diesen Beispielen wird die Kongruenz zwischen den Zielen der Medienbildung und den Inhalten der Musikerziehung plastisch. „Der Einsatz von Medientechnologien und die Thematisierung medienpädagogischer Fragestellungen können einen entscheidenden Beitrag zur Re-
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alisierung aller künstlerisch-kreativen Bildungsziele leisten bzw. ihre Umsetzung erheblich erleichtern, wenn nicht sogar erst ermöglichen.“ (Pasuchin 2005, 317)
3. Entscheidungshilfen bei der Auswahl von Software Bezogen auf das schulische Umfeld können wir verschiedene Softwarearten unterscheiden: • Lehrprogramme (für das Selbststudium mit strikter Programmführung) • Übungsprogramme (bereits Gelerntes wird geübt, die Programmführung ist strikt) • Offene Lehrsysteme (beziehen sich auf thematische Zusammenhänge, sind multimedial aufbereitet und lassen mehrere Lernwege zu) • Lernspiele (problemorientierte Situationen, die durch Vorwissen und Spielgeschick gelöst werden können) • Experimentier- und Simulationsumgebungen (Modelle werden virtualisiert, anhand derer der/die Lernende Hypothesen und Veränderungen prüft bzw. beobachtet) • Kommunikations- und Kooperationsumgebungen (zum Gedankenaustausch und zur Zusammenarbeit) • Datenbestände (Online-Inhalte oder Datenbestände auf CD-ROM) • Werkzeuge (themenneutrale Software, die es ermöglicht, Texte, Bilder, Filme oder Tonfolgen zu bearbeiten bzw. zu ordnen und zu präsentieren) (vgl. Tulodziecki/Herzig 2010, 238–239) Letztendlich gibt es für die Entscheidung, ob eine bestimmte Software in Unterrichtszenarien eingesetzt werden soll, dreierlei Annäherungsmöglichkeiten: 1. Aus der Sicht der zu erreichenden Ziele: In diesem Fall muss der Frage nachgegangen werden, ob eine bestimmte Software die Erreichung von konkreten Lernzielen ermöglicht. Also zu welchen Handlungen die Lerner befähigt werden sollen. 2. Aus der Sicht der Inhalte: Welche Inhalte können mit einer bestimmten Software abgedeckt werden? 3. Aus der Sicht der zugrunde liegenden lerntheoretischen Ansätze: Welche Lerntheorie soll als Angelpunkt dienen? Welche Lehrstrategie verfolgt die lehrende Person? Über diesen Überlegungen stehen natürlich Ausschließungsgründe. Beispielsweise können das finanzielle oder technische Einschränkungen sein, etwa weil die notwendige Hardware nicht vorhanden ist oder weil notwendige Peripheriegeräte fehlen. Baumgartner entwickelte dazu ein dreidimensionales Würfelmodell, das diese Problematik verdeutlicht. (Baumgartner 2002, 8–12) Die aufgezeigten Einteilungen von Software beziehen sich sehr umfassend auf die vorhandenen Software-Typen in ihrer Gesamtheit, unabhängig davon, inwieweit Software in einem spezifischen Fachgegenstand eingesetzt wird. Zur Einordnung und zur begrifflichen Festigung und nicht zuletzt zur Orientierung in der großen Vielfalt an Software, die angeboten wird, sind diese Kategorisierungen eine große Hilfestellung. Es ist jedoch weder sinnvoll noch notwendig, würde man versuchen, aus allen genannten Kategorien zumindest eine Software in den Unterricht zu integrieren.
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4. Open-Source-Software für den Musikunterricht In der professionellen Musikproduktion wird heute meist proprietäre Software in Form von Digital Audio Workstations (DAW) eingesetzt. Sie integrieren Sequencer-Funktionen, Audio-Recording- und -Editing-Software, wie auch Notationssoftware-Funktionen. Über sog. PlugIns können digitale Effektprozessoren oder auch virtuelle Synthesizer oder Sampler in die DAW eingebunden werden. Gerade bei der Verwendung von spezialisierter Software, die nur für einen kleinen NutzerInnenkreis ausgelegt ist, stellt sich für viele Schulen die Frage nach der Finanzierbarkeit. Auch wenn diese Software nur in einem Fachgegenstand zur Verwendung kommen kann, so muss sie doch in relativ großer Zahl, meist in Klassenstärke, angekauft werden. Umgelegt auf die SchülerInnenanzahl entstehen dann relativ hohe Kosten, wodurch der Ankauf hinsichtlich des Kostenaufwandes, teilweise gerechtfertigt, in Frage gestellt bzw. abgelehnt wird. Mittlerweile haben sich aber zahlreiche Programme aus dem Open-Source-Bereich entwickelt, die zwar vom Leistungsumfang nur teilweise mit proprietären Lösungen vergleichbar sind, jedoch genügend Funktionalitäten für die Verwendung im Musikunterricht bieten. Aufgrund der Konzeption empfiehlt sich der Einsatz von Open-Source-Software im schulischen Umfeld. Die wesentlichsten Faktoren sind: Vereinfachung der Verteilung von Software, Zurverfügungstellung der gleichen Programmversionen für alle Beteiligten auf all ihren Geräten, Kostenersparnis und die Steigerung der Popularität von Open-Source-Software-Lösungen. Bezogen auf den Einsatz von Open-Source-Software sollen hier einige Programme vorgestellt werden, die sich für den Einsatz im Musikunterricht eignen. Für die Auswahl der durchwegs auf Open-Source-Basis entwickelten Programme wurden folgende Kriterien in Betracht gezogen: • Die Programme sollen weitestgehend plattformunabhängig, zumindest auf zwei unterschiedlichen Plattformen, lauffähig sein. Dadurch soll gegebenenfalls der Wechsel von einem proprietären Betriebssystem zu einer Open-Source-Lösung offenstehen. • Die Software sollte in relativ kurzer Zeit erlernbar sein und trotzdem die notwendigsten Funktionalitäten professioneller Programme aufweisen. • Die Programme sollen im Sinne von Werkzeugen im Unterricht Verwendung finden und einen modernen, situierten bzw. handlungsorientierten Unterricht ermöglichen.
4.1. Muse Score (Notensatzprogramm) Muse Score ist ein Notensatzprogramm. Nach dem Programmstart oder beim Aufruf einer neuen Datei können die Instrumente ausgewählt werden, für die diese Notation gelten soll. Ihnen wird ein passender MIDI-Kanal und damit ein passender Klang zugeordnet, der bei der Noteneingabe erklingt. Die Notation kann dann über ein Programmmodul abgespielt werden, wobei auch das Tempo und das Phrasing verändert werden kann. Über ein virtuelles Mischpult können die Lautstärkenverhältnisse der einzelnen Instrumente und das Stereobild (panning) angepasst werden. Aus dem erstellten Notensatz können auch MIDI-Dateien erstellt werden (integrierte Sequencer-Funktion). Erstellt man Partituren, so können auch die Einzelstimmen exportiert bzw. angedruckt werden. (Vgl. https://musescore.org/de [letzter Zugriff: 15.08.2016]).
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Mögliche Einsatzszenarien im Musikunterricht: • • • •
Intervalle, Akkorde, Tonleitern und Tonarten erkennen, bestimmen Experimentieren mit musikalischen Parametern (Tempo, Lautstärke …) Experimentieren mit Tonfolgen und Akkorden Erstellen von Tonleitern und/oder Akkorden
Notator-Software kann vor allem für jene SchülerInnen, die kein Instrument erlernen, eine große Bereicherung darstellen. Die Zusammenhänge zwischen Notenbild und Klängen kann so synchron erlebt werden.
4.2. Audacity (Recording- und Editing-Software) Audacity ist eine Audio-Recording- und -Editing-Software, ist bereits seit einigen Jahren im Gebrauch und wird auch in anderen Gegenständen – etwa für die Erstellung von Podcasts – eingesetzt. Dieses Programm ist in der Lage, mehrere Klangereignissse in getrennten Spuren aufzunehmen bzw. ist es möglich, verschiedene Audiodateien in getrennte Spuren zu legen. Dadurch lassen sich verschiedenste Klangereignisse mischen bzw. können diese Audio-Dateien auch geschnitten und in ihrer Lautstärke, im Stereobild und mit diversen Effekten verändert werden. Nach erfolgter Bearbeitung kann diese mehrspurige Installation wieder in Form einer zweikanaligen, also stereofonen, Aufnahme ausgegeben werden. Audacity kann eine Vielzahl der derzeit verwendeten Audio-Dateiformate lesen und eignet sich daher auch gut zur Konvertierung von Audio-Dateien. (Vgl. http://audacityteam.org/?lang=de [letzter Zugriff: 15.08.2016]).
Mögliche Einsatzszenarien im Musikunterricht: • • • • • •
Experimentieren mit musikalischen Parametern (Tempo, Lautstärke ...) Zusammenstellungen (Ausschnitte) von Musikstücken Verfremdungen, Klangcollagen erzeugen Anwenden diverser elektronischer Effekte Anfertigen von Aufnahmen Erstellen von Podcasts (etwa zu aktuellen Themen oder zu Themen aus der Musikgeschichte)
4.3. Linux Multimedia Studio (Sequenzer) Das Linux Multimedia Studio (LMMS) ist eine einfach zu bedienende Sequencer-Software und, obwohl der Name dies nicht vermuten lässt, auf mehreren Betriebssystemplattformen lauffähig. MIDI-Dateien können importiert, weiterbearbeitet oder selbst erstellt werden. Die Eingabe der einzelnen Töne erfolgt über ein sog. Piano-Roll, eine zweidimensionale, an ein kartesisches Koordinatensystem erinnernde Oberfläche, bei der die Längsachse den zeitlichen Verlauf markiert und die vertikale Achse die Tonhöhe festlegt. Alternativ können die einzelnen Tonspuren auch über ein angeschlossenes MIDI-Keyboard zur Laufzeit eingegeben werden. Den einzelnen Spuren können verschiedene Klänge aus einer reichhaltigen, mitgelieferten Soundbibliothek zugewiesen werden. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, den einzelnen Tonspuren Effekte zuzuordnen. Der Effektanteil kann über den Effekt-Mischer geregelt werden. Die so erstellten Werke können schlussendlich als Audio-Datei
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im WAV-Format oder im OGG-Format, das Open-Source-Pendant zum weitverbreiteten MP3-Format, ausgegeben werden. Leider ist es nicht möglich, die erstellten Dateien wieder als MIDI-Dateien auszugeben. Eine Besonderheit des LMMS ist der „Beat + Bassline Editor“. Er ermöglicht das schnelle Erstellen von rhythmischen Patterns und Begleitmelodien (meist eben in Form von Basslinien), die dann als Module in den „Song-Editor“ übernommen werden können und als Basis für weitere Stimmen dienen.
Abb.1: Das Linux Multimedia Studio mit zahlreichen eingeblendeten Programmfenstern. Oben links ist der Song-Editor erkennbar, unten rechts sieht man das Piano-Roll Bild: Screenshot/Martin Rankl (Vgl. https://lmms.io/ [letzter Zugriff: 15.08.2016]).
Mögliche Einsatzszenarien im Musikunterricht: • eine Liedbegleitung erstellen • eine bereits bestehende MIDI-Datei zu einem Pop-Song verändern • Entwickeln eigener Formen einfacher Rhythmen oder Liedbegleitungen, etwa als Grundlage für einen Rap; Arbeiten mit vorgegebenen Patterns • Komponieren
4.4. Online-Angebote Im vorangegangenen Teil wurde Software beschrieben, die lokal am Rechner installiert werden muss. Mittlerweile können aber auch diese Programme mit Online-Diensten abgedeckt werden. Die Vorteile, die sich durch den Einsatz von Online-Werkzeugen und Online-Applikationen ergeben, wurden bereits ausführlich besprochen. Aufgrund des Umfanges dieses Artikels können an dieser Stelle nur zu jedem Punkt einige Beispiele genannt werden:
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Multimedia (Lexika, Lernprogramme) Als Lexika empfehlen sich, neben Wikipedia, zahlreiche Online-Nachschlagewerke wie etwa • http://austria-forum.org/ für Inhalte, die sich auf die österreichische Kulturszene und die österreichische Musikgeschichte beziehen (letzter Zugriff: 15.08.2016). Zu Übungszwecken eignen sich sog. Drill-and-Practice-Programme. Vorbildliche und kindgerechte Übungen werden beispielsweise auf den Seiten von Ralf Gerhard Ehlert angeboten: • http://www.musikwissenschaften.de/ bietet verschiedene Übungen zur Gehörbildung an (letzter Zugriff: 15.08.2016).
4.5. Virtuelle Klangerzeugung (Simulation elektronischer Hardware) Audiotool ist eine gelungene Online-Lösung, die sehr realitätsnah einzelne elektronische Instrumente und Gerätschaften zum Musikmachen zur Verfügung stellt. Diese Musikinstrumente und Geräte müssen per Drag and Drop miteinander verkabelt werden. Dadurch entsteht ein realitätsnahes Setup aus verschiedensten elektronischen Instrumenten, Effektgeräten, Mixern und Verstärkern. Eigene Samples können verwendet und in diesem virtuellen Studio bearbeitet werden. Die so entstandenen Musikstücke können, sofern man einen Benutzeraccount erstellt hat, der Community präsentiert werden. (Vgl. https://www.audiotool.com/ [letzter Zugriff: 15.08.2016]).
Mögliche Einsatzszenarien im Musikunterricht: • Entwickeln eigener Formen einfacher Rhythmen oder Liedbegleitungen (etwa als Grundlage für einen Rap) • Arbeiten mit vorgegebenen Patterns • Komponieren, Musizieren und Experimentieren mit elektronischen Instrumenten
4.6. Zubehör (fertige MIDI-Dateien, Klangdateien, Patterns) In diesem Bereich ist die Auswahl an Möglichkeiten, wie sie heute im Internet geboten wird, unüberschaubar. Jedoch ist bei der Verwendung von Audiodateien auf die Einhaltung des Urheberrechts zu achten. • Gemeinfreie Musik (ideal für das Auffinden von Werken für musikgeschichtliche Inhalte), neben Musikstücken wird auch Notenmaterial zum Download bereitgestellt: https://musopen.org. • Eine übersichtliche und auch hinsichtlich der Urheberrechte gut strukturierte Site mit einer großen Auswahl an freier Musik: http://starfrosch.ch. • Eine gut sortierte Seite mit ausschließlich freier Musik, die unter den Creative-Commons- Lizenzen verwendbar ist: http://freemusicarchive.org. • Für Geräusche unter Creative-Commons-Lizenz: http://soundbible.com. • Kostenloser Download für MIDI-Dateien: http://freemidi.org. • Sehr übersichtliche Download-Plattform für MIDI-Files: http://www.download-midi.com (letzte Zugriffe: 15.08.2016).
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5. Fazit Medienbildende Inhalte können im Musikunterricht ideal umgesetzt werden, weil sich die Forderungen an den Fachgegenstand im hohen Maß mit medienbildenden Zielen decken. Durch geeignete Softwareauswahl, die im hohen Maß als Werkzeug eingesetzt wird, können einerseits musikerzieherische Ziele erreicht und andererseits medienbildende Aspekte abgedeckt werden. Dies konnte anhand zahlreicher praxisbezogener Situationen aufgezeigt werden. Verwendet man Open-Source-Software oder Online-Ressourcen, so entstehen keinerlei Kosten. Open-Source-Software bietet darüber hinaus den Vorteil, dass sie auch auf privaten Geräten zu Hause von den SchülerInnen genutzt werden kann. Damit kann das in der Schule Erlernte mit der gleichen Software im Freizeitbereich verwendet bzw. angewendet werden. Kreative Mediennutzung kann dadurch optimal gefördert werden.
Literatur Baacke, Dieter (1999): Medienkompetenz, online unter: http://www.lpb-freiburg.de/fileadmin/templ/ pdf/Neue_Medien_im_Politikunterricht/baacke_medienkompetenz.pdf (letzter Zugriff: 15.08.2016). Baumgartner, Peter (2002): Didaktische Anforderungen an (multimediale) Lern-Software, online unter: http://peter.baumgartner.name/wp-content/uploads/2013/08/Baumgartner_2002_Didaktische-Anforderungen-an-multimedialer-Software.pdf (letzter Zugriff: 15.08.2016). bm:ukk/bmbf (2010): Lehrplan der Allgemeinbildenden Höheren Schulen. Musikerziehung, online unter: https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/lp/ahs15_790.pdf?4dzgm2 (letzter Zugriff: 15.08.2016). bm:ukk/bmbf (2012a): Lehrplan der Neuen Mittelschule, online unter: https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/lp/lp_nms.html (letzter Zugriff: 15.08.2016). bm:ukk/bmbf (2012b): Medienerziehung Grundsatzerlass, online un ter: https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/uek/medienerziehung_5796.pdf?4dzgm2 (letzter Zugriff: 15.08.2016). Gruhn, Wilfried (2003): Lernziel Musik. Perspektiven einer neuen theoretischen Grundlegung des Musikunterrichts, Hildesheim: Olms. Pasuchin, Iwan (2005): Künstlerische Medienbildung. Ansätze zu einer Didaktik der Künste und ihrer Medien, Frankfurt/M.: Europäischer Verlag der Wissenschaften. Tulodziecki, Gerhard (2010): Informations- und kommunikationstechnologische Entwicklungen als Herausforderung für die Pädagogik, in: Eickelmann, Birgit (Hg.): Bildung und Schule auf dem Weg in die Wissensgesellschaft, Münster: Waxmann, 217–231. Tulodziecki, Gerhard/Herzig, Bardo (2010): Mediendidaktik. Medien in Lehr- und Lernprozessen verwenden, München: kopaed.
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Henrike Friedrichs-Liesenkötter/Friederike von Gross/Katharina Herde/Uwe Sander
Habitusformen von Eltern im Kontext der Computerspielnutzung ihrer Kinder Beitrag online im Ressort Forschung unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/685
Abstract Dieser Artikel stellt die Sichtweisen von Eltern auf das Computerspielverhalten ihrer Kinder und ihr erzieherisches Handeln bezüglich des Computerspielens vor. Die Ergebnisse stammen aus einem Forschungsprojekt der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld mit dem Titel „Computerspielnutzung aus Elternsicht“. Die empirische Studie aus dem Jahr 2014 umfasst 28 leitfadengestützte Interviews mit Elternpaaren. Die Ergebnisse zeigen u. a., dass der mediale Habitus (Kommer/Biermann 2012) die Ausgestaltung des medienerzieherischen Habitus (Friedrichs 2013) beeinflusst; d. h. bspw., dass computerspielerfahrene Eltern ein differenzierteres Medienerziehungsverhalten im Hinblick auf Computerspiele zeigen als Eltern, die keine eigenen Computerspielerfahrungen gemacht haben. Forms of Parental Habitus in the Context of Computer Game Use of their Children. This article shows parental points of view on computer game habits of children and the educational activity of parents concerning computer games. These results are the product of the research project “Parental views on children and adolescents playing computer games” of the Faculty of Educational Science of Bielefeld University. The empirical study from 2014 includes 28 qualitative interviews with both parents. The results show among other things that the media-related habitus of parents influences their media-educational habitus. This means e.g. that parents with video game experience show a more differentiated educational behaviour concerning video games than parents without such experience.
1. Computerspiele – Nutzung und Folgen für die elterliche Erziehung Computerspiele1 sind aus dem alltäglichen Medienumgang von Kindern und Jugendlichen kaum mehr wegzudenken. Längst werden die Spiele nicht mehr allein über den Computer genutzt, in den Haushalten finden sich verschiedene Arten von Spielgeräten, über Konsolen und tragbare Geräte bis hin zu Smartphones und Tablets. 44 % der 6–13-Jährigen nutzen mindestens einmal in der Woche Computerspiele, 22 % spielen sie täglich (mpfs 2013a, 64). Von den Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren spielen 45 % täglich oder mehrmals in der Woche Computerspiele (mpfs 2013b, 45).
1
Alle Arten von digitalen/elektronischen Spielen, unabhängig vom Gerät, werden im Folgenden unter dem Begriff „Computerspiele“ zusammengefasst.
Habitusformen von Eltern im Kontext der Computerspielnutzung ihrer Kinder
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Mit zunehmender Computerspielnutzung ihrer Kinder stehen die Eltern vor der Aufgabe, sich ebenfalls mit der Thematik auseinanderzusetzen (Neuß/Schill 2012, 170 f.), obwohl Computerspiele für den größten Teil der Eltern nicht zum Spektrum der eigenen Mediennutzung zählen (Junge 2013, 20). 2011 geben laut FIM-Studie nur 15 % der Eltern an, regelmäßig Computerspiele zu spielen (mpfs 2012, 58). Im Altersvergleich spielen die jüngeren Eltern häufiger Computerspiele: 19 % der Eltern bis 34 Jahre spielen regelmäßig im Vergleich zu 12 % in der Altersgruppe der Eltern ab 45 Jahren (mpfs 2012, 59).
2. Fragestellung und Forschungsdesign In empirischen Studien im deutschsprachigen Raum wurde die Sicht der Eltern auf Computerspiele bisher nur marginal in den Blick genommen. Aktuelle Studien beschäftigen sich zum einen mit dem gesamten Mediennutzungsverhalten von Heranwachsenden, sodass Computerspiele nur einen Aspekt des untersuchten Medienensembles darstellen und die erhobenen Daten sich auf die Nutzungsdauer, die Spielsituation, die beliebtesten Spiele sowie die Miss achtung von USK-Vorgaben durch Heranwachsende begrenzen. Computerspielbezogene Einstellungen und Gewohnheiten werden nur am Rande erfasst (z. B. mpfs 2013a, 46 ff., mpfs 2013b, 45 ff.). Andere Studien, welche das elterliche medienerzieherische Handeln und die Einstellungen der Eltern erfassen (z. B. mpfs 2012; Wagner et al. 2013; Junge 2013), verknüpfen zwar die beiden Perspektiven – die elterlichen Erziehungshandlungen im Kontext der kindlichen Mediennutzung-, doch auch hier wird kein konkreter Fokus auf Computerspiele gelegt. Wiederum andere Studien befassen sich zwar explizit mit Computerspielen und Erziehung (z. B. Kammerl et al. 2012), haben jedoch vor allem einen problemzentrierten Ansatz bspw. im Hinblick auf eine exzessive Mediennutzung. Lampert et al. (2012) untersuchen gezielt die Mediensozialisation von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich Computerspielen. Sie stellen jedoch die Sichtweise der SpielerInnen und nicht die der Eltern in den Fokus. Auch international wurde die Computerspielnutzung in Familien erforscht. Kutner et al. (2008) betrachten in ihrer Untersuchung neben den Sichtweisen US-amerikanischer Eltern auf Computerspiele und Medienerziehung auch die Perspektive der Kinder in den Familien. Der Fokus liegt hierbei aber auf gewalthaltigen Spielen. Zudem werden nur Söhne im Alter von 12–14 Jahren in die Studie einbezogen. Eine Studie aus Schweden untersuchte das gemeinsame Computerspielen von Kindern, Eltern und Großeltern, um zu ergründen, welche unterschiedlichen Kenntnisse und Kompetenzen in diesem Zusammenhang vorkommen (digitale Spaltung) (Aarsand 2007). Der Bereich der Medienerziehung bleibt in dieser Studie außen vor, die Ergebnisse zeigen jedoch auf, wie wichtig Medienkompetenz im Hinblick auf Computerspiele bei der Medienerziehung durch die Eltern ist. Mittels qualitativer leitfadengestützter Interviews wurden in vierzehn Familien mit Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 17 Jahren jeweils beide Elternteile separat befragt.2 Thematisiert wurden die eigenen Erfahrungen mit sowie die Vorstellungen und normativen Einschätzungen (Beurteilungen) zu Computerspielen, die Computerspielnutzung der Kinder und das medienerzieherische Verhalten in Bezug auf Computerspiele. Es wurde mit der qualitativen Inhaltsanalyse gearbeitet – konkret handelt es sich um eine Koppelung von inhaltlich-strukturie2 Letztendlich wurden aufgrund von u. a. sprachlichen Barrieren der Eltern nur 22 Interviews in die Analyse einbezogen.
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render und evaluativer qualitativer Inhaltsanalyse, die eine hermeneutische Interpretation ermöglicht (Kuckartz 2012, 113 ff.). Mittels der qualitativen Inhaltsanalyse wurde der medienerzieherische Habitus der Eltern herausgearbeitet. Im Gegensatz zur Studie von Wagner et al. (2013) betrachtet diese Studie gezielt Medienerziehung im Hinblick auf Computerspiele und verbindet diese mit dem medialen Habitus der Eltern. Wagner et al. (2013) arbeiten mit einer metatheoretischen Rahmung hinsichtlich Mediensozialisation, u. a. im Hinblick auf soziale Benachteiligung Heranwachsender. Der Einbezug der Theorie des medialen (Kommer/Biermann 2012), erzieherischen und medienerzieherischen Habitus (Friedrichs 2013) in der vorliegenden Studie ermöglicht eine gezieltere Analyse im Hinblick auf die zu beantwortende Fragestellung. Wagner et al. (2013) ermittelten sechs Medienerziehungsmuster, die sich über Ausprägungen der Dimensionen Kindorientierung und medienerzieherisches Aktivitätsniveau differenzieren lassen. Die Kindorientierung umfasst dabei all die Teile der Medienerziehung, die sich direkt auf das Kind, seine Reaktionen und Wahrnehmungen bezüglich Computerspielen beziehen. Das medienerzieherische Aktivitätsniveau umfasst alle direkten Handlungen der Eltern bezüglich des Computerspielens ihres Kindes, wie u. a. das Aufstellen von Regeln, die Kommunikation über Computerspiele und auch die Förderung des Umgangs mit Computerspielen. Die von Wagner et al. aufgestellten Dimensionen wurden im Zuge der Auswertung erweitert und um eine dritte Dimension des medienerzieherischen Habitus – medienerzieherische Vorstellungen und Beurteilungen – ergänzt3, welche die subjektive Wichtigkeit von Medienerziehung sowie die Vorstellungen der Eltern von Medienerziehung, die Orientierungspunkte der Eltern im Hinblick auf Medienerziehung (bspw. USK) und die Einschätzung der Eltern hinsichtlich ihres eigenen Erziehungsverhaltens (immer bezogen auf Computerspiele) beinhaltet.
3. Medialer, erzieherischer und medienerzieherischer Habitus Im Folgenden wird erörtert, was unter dem medialen, erzieherischen und medienerzieherischen Habitus verstanden wird und wie diese Ausschnitte des Habitus zueinander in Verbindung stehen. Hierbei handelt es sich um Teilaspekte des Gesamt-Habitus einer Person (Krais/ Gebauer 2002, 75), sodass die definitorische Trennung aus theoretisch-analytischen Überlegungen erfolgt, um die einzelnen Aspekte des Habitus gezielter in den Blick zu nehmen. Der Habitus ist nach Bourdieu ein „System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, […] [welche] […] Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen“ (Bourdieu 1993, 98) darstellen. Der Habitus, die Haltung einer Person, wird von frühester Kindheit an erworben und wird durch die Lebensbedingungen und das zur Verfügung stehende Kapital (soziales, kulturelles, ökonomisches Kapital), die mit einer Verortung im gesellschaftlichen Klassensystem einhergehen, geprägt (Bourdieu 1983, 2012). Beim Konzept des medialen Habitus wird der Habitus-Begriff mit Medien verknüpft. In enger Anlehnung an Kommer und Biermann (2012, 90) wird der mediale Habitus verstanden als „ein System von dauerhaften medienbezogenen Dispositionen, die als Erzeugungs- und Ordnungs3
Die Medienerziehungsmuster nach Wagner et al. fanden sich in ähnlicher Form auch bei den in dieser Studie untersuchten Familien wieder. Eine direkte Zuordnung der Familien wird in diesem Rahmen jedoch aufgrund der Erweiterungen und Ergänzung der beiden Analysedimensionen nicht vorgenommen.
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grundlagen für mediale Praktiken und auf Medien und den Medienumgang bezogene Vorstellungen und Beurteilungen fungieren“ (Friedrichs 2013, 3) und welche „im Verlauf der von der Verortung im sozialen Raum und der strukturellen Koppelung an die mediale und soziale Umwelt geprägten Ontogenese erworben werden“ (Kommer/Biermann 2012, 90). Der mediale Habitus bezieht sich nicht nur auf den Bereich Computerspiele, sondern auf das gesamte Medienspektrum, auch wenn in der vorliegenden Studie explizit der Habitus der Eltern im Hinblick auf Computerspiele betrachtet wird. Der mediale Habitus erzeugt Vorstellungen hinsichtlich medialer Chancen und Risiken und subjektive Geschmacksurteile (Beurteilungen) wie z. B. die Ablehnung oder Befürwortung bestimmter Spielgenres für sich selbst und auch für Kinder (z. B. ‚Killerspiele‘, ‚Strategiespiele‘). Zudem werden auch die eigene Mediennutzung und somit das eigene Computerspielverhalten durch den medialen Habitus erzeugt. Nimmt man Computerspiele bspw. als Zeitverschwendung wahr, wird man sich kaum mit diesen auseinandersetzen wollen, und dies gilt dann eventuell auch für die Computerspielnutzung der eigenen Kinder. Der mediale Habitus der Eltern wird unter anderem durch die eigene Medienausstattung (ökonomisches Kapital), eigene computerspielbezogene Erfahrungen oder auch solche, die Eltern durch den Umgang mit dem Computerspielen ihrer Kinder gemacht haben, geprägt. Zudem dürften computerspielbezogene Kenntnisse (kulturelles Kapital), gesellschaftliche Diskurse und Diskussionen im Freundes- und Bekanntenkreis (soziales Kapital) die Einstellung und die Praktiken der Eltern zu Computerspielen beeinflussen. Auch die allgemeine erzieherische Haltung, der erzieherische Habitus, der erzieherische Praktiken und Vorstellungen (u. a. hinsichtlich Erziehungszielen) hervorbringt, wirkt sich auf medienerzieherische Praktiken, Vorstellungen und Beurteilungen aus. Er wird von Vorstellungen und Beurteilungen hinsichtlich Kindern und Kindheit geprägt (Friedrichs 2013, 3 f.). Der medienerzieherische Habitus bildet die Schnittmenge des medialen und erzieherischen Habitus, da dort Aspekte beider Habitus-Formen zusammenkommen (Friedrichs 2013, 3). (Abb. 1): Sehen Eltern bspw. die Gefahr, dass aufgrund von Computerspielen Kinder nicht ausreichend zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können (Produkt des medialen Habitus), und sehen sie es als Aufgabe ihrer Erziehung, Primär- statt medial vermittelte Erfahrungen zu fördern (Produkt des erzieherischen Habitus), dann werden sie vermutlich die Computerspielnutzung ihrer Kinder beschränken (Produkt des medienerzieherischen Habitus). Der medienerzieherische Habitus generiert damit alle Vorstellungen und Beurteilungen von medienerzieherischem Handeln und deren Umsetzung hinsichtlich aller Arten von Medien (in dieser Studie explizit mit Bezug auf Computerspiele).
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Abb. 1: Medienerzieherischer Habitus als Schnittmenge des medialen und erzieherischen Habitus Bild: die AutorInnen in Anlehnung an Friedrichs (2013, 4)
Um den medienerzieherischen Habitus herauszuarbeiten, wurde auf die Dimensionen Kindorientierung und medienerzieherisches Aktivitätsniveau nach Wagner et al. (2013, 143 f.) zurückgegriffen, gleichwohl die AutorInnen sich nicht explizit auf das Habitus-Konzept beziehen. Zudem wurde die zusätzliche Dimension medienerzieherische Vorstellungen und Beurteilungen entwickelt.
4. Ergebnisse der Studie Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie „Computerspielnutzung aus Elternsicht“ dargestellt. Zunächst werden die Geräteausstattung und die elterliche Computerspielnutzung dargestellt, darauf folgen Ausführungen zum Medienerziehungsverhalten der Eltern und zu Vorstellungen und Beurteilungen der Eltern im Hinblick auf Computerspiele und darauf bezogenes Medienerziehungsverhalten.
4.1. Elterliche Computerspielnutzung In der Auswertung der Daten zeigte sich, dass die Computerspielerfahrungen der Eltern stark variieren. Die den medialen Habitus prägenden Erfahrungen mit dem Medium Computerspiel reichen bei den Eltern von keinerlei Erfahrung mit Computerspielen bis hin zu ausgedehnten Erfahrungen in verschiedensten Spielgenres. Es gibt Elternteile, die in ihrer eigenen Kindheit oder Jugend zu spielen begannen und bis heute spielen oder aber in einem bestimmten Alter das Interesse verloren. Andere Elternteile hatten früher keinen Kontakt zu Computerspielen und wurden erst durch ihre Kinder mit dieser Thematik konfrontiert. Allgemein können jedoch weder bei der Erfahrung mit dem Medium noch bei der Einstellung
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gegenüber Computerspielen geschlechtsstereotype Differenzen gefunden werden, denn weder sind bspw. alle Väter Computerspieler noch stehen alle Mütter dem Medium kritisch gegenüber. Wie auch in der Studie FIM 2011 festgestellt wurde (mpfs 2012, 58 f.), zeigt sich die Tendenz, dass jüngere Eltern mehr Spielerfahrung besitzen als ältere Eltern. Tendenziell schätzen die Elternteile mit mehr Erfahrung Computerspiele positiver ein als andere (z. B. bzgl. der Wirkung auf ihr Kind: Computerspiele wirken sich nicht generell negativ auf das Kind aus), was vermutlich daraus resultiert, dass sie sich mit dem Medium besser auskennen und die Spielinhalte und -mechanismen aufgrund ihrer Erfahrungen besser einschätzen können.
4.2. Chancen von Computerspielen aus Elternsicht: medialer Habitus und erzieherischer Habitus Während Computerspiele bei einigen Eltern generell oder bezüglich bestimmter Aspekte negativ konnotiert sind (s. 4.3.), werden sie von anderen Eltern weitgehend positiv für ihre Kinder angesehen. Schreiben Eltern Computerspielen positive Aspekte zu, so beziehen sich diese jedoch fast ausschließlich auf bestimmte Spiele oder Spielgenres, wie z. B. das Fördern von Denkleistungen durch Strategie- und Lernspiele. Die spezifischen Spielmechanismen hinter den verschiedenen Genres sind dem Großteil der Eltern jedoch unbekannt. Ein über die streng genrespezifische Zuordnung hinausweisender positiver Aspekt ist aus der Sicht der Eltern das Erlernen des Umgangs mit dem PC durch Computerspiele. Dieser Nebeneffekt wurde von fast allen Eltern als positiv eingeschätzt, da die PC-Kenntnis aus Sicht der Befragten als wichtige und wertvolle Qualifikation für den schulischen und beruflichen Werdegang der Kinder angesehen wird. Weitere genannte positive Aspekte von Computerspielen sind der Unterhaltungswert für die Kinder, die positive Auswirkung auf Kreativität und Fantasie der Kinder sowie der gesellige Aspekt einiger Computerspiele. Ein Elternpaar zieht das Computerspiel, auch im Hinblick auf die eigene Mediennutzung, anderen Medien vor: „Also, beim Fernsehen ist es ja so ein, ja beschallt werden, unterhalten werden, und am PC habe ich immer noch irgendwie Einfluss auf das, was ich tue. Also, ich kann halt aktiv sein. Ich kann mich aber auch hinsetzen und kann passiver werden. Also, das ist so ein bisschen so diese Gestaltungsfreiheit sage ich mal.“ (Mutter 4, 33 Jahre, spielende Tochter ist 7 Jahre alt) Computerspiele fordern aus Sicht dieser Eltern von NutzerInnen mehr Aktivität als das Fernsehen. Dementsprechend verbringen die Eltern ihre Abende lieber am PC als vor dem Fernseher. Auch bezüglich der Mediennutzung ihrer Kinder sehen sie aus dem genannten Grund Computerspiele häufig als bessere Alternative. Mit Blick auf gesellschaftliche und medial vermittelte Diskurse, die mit populistischen Schlagworten hantieren – „Ein Übermaß an Medienkonsum macht dick, dumm, krank und traurig“, so Christian Pfeiffer (Der Spiegel 2005), ist der hier beschriebene mediale Habitus der befragten Eltern besonders interessant. Diese Eltern unterscheiden sehr deutlich zwischen dem eher negativ eingestuften Fernseher und dem zu präferierenden Computer.
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4.3. Risiken von Computerspielen aus Elternsicht: m-edialer und erzieherischer Habitus Neben den positiven Aspekten führen die Eltern auch ein breites Spektrum an Risiken an, die sie mit Computerspielen verbinden. Laut einem Großteil der Befragten steigern Computerspiele, besonders bei zeitintensiver Nutzung, die Aggressionsbereitschaft ihrer Kinder. Diesen Effekt haben die Eltern nicht nur bei ihren Kindern beobachtet, sondern zum Teil, sofern auch sie ComputerspielerInnen sind, bei sich selbst beobachtet. Weiter sehen die Eltern die Gefahr, dass durch das Computerspielen Primärerfahrungen bei Kindern und Jugendlichen vernachlässigt werden. Hier zeigt sich das Zusammenwirken von medialem und erzieherischem Habitus: „Das sind alles keine Praktiker mehr. Ich sage mal: so wie ich, bin Handwerker, und, und weiß mir in fast jeder Notlage in meinem Beruf zu helfen, ja. Und die Kinder, die heute groß werden – die kennen ja nur so etwas. Wenn ich da ... Ne, manche. Wenn ich auch so Praktikanten auf der Arbeit, ne, wenn wir mal so einen haben und der muss nur mal irgendwo einen Nagel in die Wand schlagen, ne, das kriegen ja viele schon gar nicht mehr hin, ne. Oder mal eine Schraube irgendwo reindrehen, oder so was, ne. Das finde ich unmöglich, ne. Die kennen sich zwar super aus, mit ihren Daddelmaschinen, ne, aber alles andere, so, nichts, null, ne. Und das finde ich ganz, ganz schlimm.“ (Vater 6, 44 Jahre, spielender Sohn ist 13 Jahre alt) Das Spielen an Computer, Konsole und Handy wird nach Ansicht der Eltern vor allem von Kindern ab dem frühen Jugendalter außerhäuslichen Aktivitäten in einem nonmedialen Kontext vorgezogen. „Ich glaube, einfach weil man, also weil ich das jetzt sehe, es kommt ja immer mehr mit diesen Computerspielen, einfach immer mehr auf den Markt, und ich sehe einfach, dass Peter viel zu Hause ist, viel davorsitzt, auch mit Freunden vielleicht da irgendwie mit spielt, aber so dieses, was ich früher gemacht habe mit dem Rausgehen, irgendwo sich treffen, dass er das gar nicht so macht. Sondern dann eher so über diese Spiele und Boxen da irgendwie kommuniziert, was mich jetzt überhaupt nicht reizen würde. Also das ist, wo ich dann immer denke: Warum gehen die denn nicht mal raus, warum treffen die sich nicht einfach irgendwo?“ (Mutter 1, 34 Jahre, spielender Sohn ist 16 Jahre alt) Weiters sehen die Eltern eine Gefahr darin, dass ihre Kinder die Virtualität des Computerspiels nicht von der Realität unterscheiden können. So könnten sie sich beispielsweise über Computerspiele und das Kommunizieren in Computerspielen Verhaltensweisen aneignen, die in der Realität negative Reaktionen nach sich zögen, welche aber im Computerspiel ausbleiben. Aus diesem Grund verbietet eine Mutter ihrem Sohn gewalthaltige Spiele: „So was, da weiß man doch gar nicht, wie man einen Menschen verletzen kann. Und ich finde, das suggeriert den Kindern ein falsches Bild, wenn man einfach auf den Knopf drückt und da explodiert was, ja, dann passiert ja eigentlich gar nichts, ne. Aber es gibt ja tatsächlich auch Menschen, die unter solchen Sachen leiden müssen auf der Welt, und da gibt es wirklich was, und das wird den Kindern ja gar nicht begreiflich, die können das ja noch gar nicht/ (…) ja, die können das noch gar nicht begreifen.“ (Mutter 12, 37 Jahre, spielender Sohn ist 11 Jahre alt) Mit dem zunehmenden Interesse ihrer Kinder für Computerspiele sehen einige der Befragten zudem eine Suchtgefahr, andere bemerken, dass das Computerspielen bei ihren Kindern Stress auslöst oder andere als ‚sinnvoller‘ betrachtete Medien, wie das Buch, verdrängt.
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4.4. Kindorientierung als Dimension des medienerzieherischen Habitus Medienerziehung im Hinblick auf Computerspiele sehen alle befragten Eltern aufgrund der gesellschaftlichen Präsenz von Computerspielen als Teil ihrer erzieherischen Aufgabe an. „Ich glaube: Heutzutage kommt man nicht mehr drum herum. Also, man muss sie ja irgendwie heranführen, weil, irgendwann kommen sie sowieso drauf zu. Und ich denke: Es ist immer so das, das Maß einfach, ne, einfach zu gucken, wie viel und was sie eben auch spielen, vor allem wenn sie klein sind. Dass man, wenn man vielleicht frühzeitig anfängt, dass sie es selber auch einschätzen können und das Ding wirklich dann auch ausmachen können und sagen: ‚Es gibt einfach auch noch etwas anderes.‘“ (Mutter 6, 44 Jahre, spielender Sohn ist 13 Jahre alt) Die Gestaltung dieser Aufgabe sieht bei den Eltern jedoch unterschiedlich aus. Die Kind orientierung, als Teil des medienerzieherischen Habitus, ist nur bei wenigen Befragten in umfangreichem Maß ausgeprägt. Meist bleiben die Bedürfnisse der Kinder bei der konkreten Ausgestaltung des medienerzieherischen Umgangs mit Computerspielen außen vor. Welchen Stellenwert Computerspiele im Alltag der Kinder einnehmen, ist den meisten Eltern hingegen klar. Aus ihrer Sicht geht mit dem Bedürfnis der Kinder, sich mit Computerspielen zu beschäftigen, vor allem ein sozialer Aspekt einher: Das Computerspielen gehört zur Lebenswelt ihrer Kinder und ist besonders in der Peergroup von großer Bedeutung: „Ja, und das Mithalten, denke ich auch, das ist, spielt ja auch eine große Rolle, einfach dazuzugehören, halt einfach wissen, was Sache ist, um mit Freunden dann halt oder in der Schule einfach, ja, mitreden können auch ein Stück weit. So solche Sachen.“ (Mutter 1, 34 Jahre, spielender Sohn ist 16 Jahre alt) Ausgehend von dieser Erkenntnis ist für die Eltern, unabhängig von ihrer persönlichen Einstellung, ein generelles Computerspielverbot keine Erziehungsoption. Weitere Gründe für die Begeisterung gegenüber Computerspielen sehen die Eltern in der Suche nach Herausforderungen, dem Finden von Bestätigung, dem Vertreiben von Langeweile und dem Entfliehen aus dem Alltag. Bei jüngeren Kindern im Grundschulalter sehen Eltern auch das Bedienen der Technik als einen großen Reiz des Computerspielens an, die Inhalte gerieten dabei teilweise eher in den Hintergrund. Im Hinblick auf das Alter der Eltern zeigt sich hier erneut eine Differenz. Je größer die Altersspanne zwischen Eltern und Kindern der Familien der Stichprobe ist, desto weniger können sich die Eltern in die Nutzungsmotive ihrer Kinder bezüglich Computerspielen hineinversetzen. Einen besonderen Fall im Panel stellt eine Familie dar, bei der beide Elternteile über 50 Jahre alt sind und deren Kind erst sieben Jahre alt ist. Der Vater kennt sich grob mit der Computerspiel-Thematik aus, ist aber selbst kein Spieler. Die Mutter hat selbst nie Computerspiele gespielt. Das Interesse des Kindes an Computerspielen ist aktuell noch sehr gering. Da die Mutter selbst wenig über Computerspiele weiß und auch das Kind eine geringe Spielerfahrung hat, wählt die Mutter die Strategie, hinsichtlich Computerspielen eine generalisierte Erziehungshaltung einzunehmen. Sie bezieht ihr medienerzieherisches Handeln bezüglich Computerspielen häufig nicht auf ihr eigenes Kind und dessen Bedürfnisse, sondern betrachtet die Thematik abstrahiert. Zur Aufstellung von Regeln geht die Mutter z. B. weniger auf das spezifische Verhalten ihrer Tochter ein, sondern bezieht sich, aus einer pädagogischen Perspektive heraus, allgemein auf Kinder in der entsprechenden Altersgruppe.
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4.5. Medienerzieherisches Aktivitätsniveau Auch das medienerzieherische Aktivitätsniveau (Wagner et al. 2013, 144 f.) ist bei vielen der befragten Eltern auf wenige Aspekte beschränkt. Sie akzeptieren das Computerspielen aus den bereits angeführten Gründen, unterstützen oder fördern es jedoch in den meisten Fällen nicht. Eine Form des medienerzieherischen Handelns im Kontext der Computerspiele, die in allen befragten Familien zu finden ist, bildet das Aufstellen von Regeln zur Einschränkung der quantitativen Computerspielnutzung (Spielzeiten) und der qualitativen Computerspielnutzung (Spielinhalte) sowie deren Kontrolle. Wie stark diese Einschränkungen ausfallen, hängt vom medialen Habitus der Eltern ab, der durch eigene Erfahrungen mit Computerspielen geprägt wird. Computerspielerfahrene Eltern schränken die quantitative Mediennutzung ihrer Kinder weniger stark ein als Befragte mit geringerer Erfahrung. Zudem werden die Spieldauer und -häufigkeit von unerfahreneren Eltern deutlich kritischer gesehen. Die Spielauswahl erfolgt nach verschiedenen Kriterien und wird in allen Familien von den Eltern vorgenommen bzw. durch Regeln festgelegt. Einige Eltern, besonders die Eltern älterer Kinder, wissen jedoch nicht, welche Computerspiele von ihrem Kind gespielt werden, was die Eltern teilweise selbst als problematisch empfinden: „Also, es gab schon mal eine Zeit lang, wo ich den Daumen draufhalten musste, da wurden ausgetauscht, die waren ab 16. Teilweise also auch so, wo ich jetzt sage: so Ballerspiele, wo natürlich die Kinder sagen: ‚Ach, es gibt noch viel Schlimmeres. Das ist harmlos.‘ Aber da habe ich dann auf diesem – das war immer auf diesem iPod – das habe ich dann wirklich auch kontrolliert. Und das musste er dann runterlöschen, das gab es dann nicht mehr, weil – finde ich – das muss nicht sein. Also, was im Moment ganz aktuell ist, ist Minecraft, aber auch online das zu spielen. Und dieses, mit diesem Bauen, das war mal eine Zeit lang. Aber da hatten wir auch nur so eine, so eine CD-ROM. Und ich glaube: Wenn man die dann irgendwann abgearbeitet hat, dann ist man ja mit diesem Spiel durch. Dann gab es mal Harry Potter – so Spiele –, weil er da so drauf stand. Und ansonsten weiß ich das gar nicht, was der so spielt – erschreckenderweise.“ (Mutter 6, 44 Jahre, spielender Sohn ist 13 Jahre alt) Sind die Eltern selbst nicht an der Thematik interessiert, setzen sie sich auch weniger mit dem Spielverhalten ihrer Kinder auseinander. Abseits des Aufstellens von Regeln ist das medienerzieherische Aktivitätsniveau in Bezug auf Computerspiele bei den meisten Eltern stark eingeschränkt. Auch wenn ihnen die Bedeutung des Computerspielens für ihre Kinder bewusst ist, fordern sie die Kommunikation darüber von sich aus nicht ein. Die Bereitschaft zur Kommunikation über Computerspiele und zum gemeinsamen Spielen mit dem Kind ist bei diesen Eltern gering, auch wenn vonseiten der Kinder durchaus der Wunsch geäußert wird z. B. Spielmechanismen zu erklären oder gemeinsam mit einem Elternteil Computerspiele zu spielen. Kommen die Eltern den Wünschen der Kinder nach, dann nur temporär und ohne lang anhaltendes Interesse: „Er hat mal einmal, genau, so ein Rennradspiel gekauft, das sollte Jens4 mal mitspielen, weil der auch gerne Rennrad fährt. Und da musste man, da irgendwie – ich meine, ich weiß nicht –, da musste man so Rennen fahren, Spieler einkaufen, und irgendwie so ganz langweilig, eigentlich. Aber da versucht er schon, einen da zu kriegen. Aber das interessiert bis jetzt noch nicht so wirklich (lachend), also, es gibt Wichtigeres.“ (Mutter 6, 44 Jahre, spielender Sohn ist 13 Jahre alt)
4 der Vater (anonym.)
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„Aber dass wir uns darüber unterhalten, habe ich auch einfach nicht die Geduld zu, glaube ich. Also mein Ding ist das einfach nicht. Ich kann mir das dann auch nicht anhören, weil mich das einfach überhaupt gar nicht interessiert, was da passiert. Ich will einfach nur, dass er, dass ich weiß, dass er nichts Verbotenes macht und dass es seinem Alter halt entsprechend ist, und dann ist mir das auch recht, wenn er dann mal was spielt, dann ist das auch in Ordnung, aber es muss halt in Maßen und Grenzen halt sein.“ (Mutter 1, 34 Jahre, spielender Sohn ist 16 Jahre alt) Elternteile, die selbst ComputerspielerInnen sind, spielen hingegen gern ab und zu auch zusammen mit ihrem Kind Computerspiele. Bei älteren Kindern spielt der Wettkampfgedanke eine Rolle, während es den Eltern jüngerer Kinder eher um das gemeinsame Spielen an sich geht: „Wir sitzen hier, spielen Fußball, schreien uns an (schmunzelt), weil er ja immer gewinnt und dann schadenfroh ist.“ (Vater 1, 34 Jahre, spielender Sohn ist 16 Jahre alt) „Wir spielen auch mit den Kindern zusammen, in Multiplayermodi, in Koop, aber eigentlich nicht gegen die Kinder, weil es halt eine gesellige Erfahrung sein soll. Klar, wenn das … wenn die das unbedingt wollen und ein Spiel gibt das her, dann misst man sich auch mal.“ (Vater 4, 37 Jahre, spielende Tochter ist 7 Jahre alt) Generell zeigt sich, dass die medienerzieherischen Aktivitäten bei zunehmendem Alter der Kinder geringer werden. Bei Jugendlichen stellen die Eltern weniger Regeln auf, sodass der Autonomiespielraum der Heranwachsenden größer wird. Einschränkungen hinsichtlich des Computerspielens ihrer Kinder finden sich nur auf der qualitativen Ebene (z. B. Verbot von gewalthaltigen Spielen) sowie beim Abfall schulischer Leistungen. Zudem umgehen die jugendlichen SpielerInnen meistens die aufgestellten Regeln. Sind Kinder durch die Platzierung der stationären Spielgeräte in Gemeinschaftsräumen beim Spielen unter Aufsicht der Eltern, ziehen sich die Jugendlichen des Samples zum Spielen in ihre Zimmer zurück und entziehen sich so der direkten Aufsicht der Eltern.
4.6. Medienerzieherische Vorstellungen und Beurteilungen In den obigen Ausführungen sind die medienerzieherischen Vorstellungen und Beurteilungen der Eltern bereits teilweise inkludiert, sodass an dieser Stelle vor allem der Fokus darauf gelegt wird, woran sich Eltern im Hinblick auf Medienerziehung orientieren. Gerade die weniger spielerfahrenen Eltern orientieren sich bei der Computerspielauswahl an den Altersvorgaben der USK. Auch erfahrene Befragte halten die USK für eine gute Richtlinie für Eltern, die sich bei bestimmten Spielen unsicher oder allgemein mit der Einschätzung von Spielen überfordert sind. Das Einhalten der Vorgaben der USK wird von einem Vater als eine Art Basis gesehen, mit der sich Medienerziehung auch ohne großen Aufwand verantwortungsvoll handhaben lässt: „Da, ich bin immer noch der Meinung, dass da mehr die Eltern gefordert sind, zu kontrollieren, was die Kinder machen. Ganz einfach. Punkt. Das ist einfach der Punkt. Es, wir haben nicht umsonst die USK in Deutschland, die vorher diese Spiele kontrolliert, und ich finde, die sind ein guter Maßstab. Gut, bei 16 wird es schon ein bisschen kompliziert, aber bis 12 sind sie ein guter Maßstab, ab 18 sowieso. Also von dem her, das ist eigentlich alles, was man als Eltern kontrollieren müsste. Man muss da nicht selbst spielen. Es reicht, wenn man auf das Siegel achtet und den Kindern das verbietet.“ (Vater 1, 34 Jahre, spielender Sohn ist 16 Jahre alt)
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Die Vorgaben der USK bleiben jedoch von den Eltern nicht generell unhinterfragt. Besonders spielaffine Eltern machen sich selbst ein Bild von den Spielen und beziehen die zu erwartenden Reaktionen ihrer Kinder auf die Spiele bei ihrer Spielauswahl mit ein. Dies setzt jedoch eine gewisse Expertise hinsichtlich der Spielgewohnheiten der Kinder und des Spielangebots (Kindorientierung) voraus. Die gesellschaftliche Akzeptanz des Spielangebots ist ein Faktor, der von Eltern ebenfalls miteinbezogen wird (Paus-Hasebrink/Kulterer 2014, 53). Vor allem Eltern, die sich mit dem Computerspielangebot für Kinder kaum auskennen, vertrauen – entsprechend ihres medialen Habitus – Webseiten ihnen bekannter bspw. öffentlich-rechtlicher Anbieter (hier die Seiten der Sendung mit der Maus des WDR) eher als anderen Webspiele-Anbietern. „Also da, wo wir, dass man bei der Sendung mit der Maus davon ausgeht, dass man sich da nicht alles einzeln angucken muss, sondern großes Vertrauen darin ist bei den Öffentlich-Rechtlichen, zumal bei der Sendung mit der Maus, gucken wir uns das nicht an. Sozusagen das ist dann das Terrain, auf dem sie sich austoben kann.“ (Vater 2, 54 Jahre, spielende Tochter ist 7 Jahre alt) Der mediale Habitus, der von gesellschaftlichen Diskursen geprägt wird, beeinflusst das medienerzieherische Handeln. Der hier zitierte Vater thematisiert explizit: Den „Öffentlich-Rechtlichen“ (Sendern) könne man vertrauen. Damit geht implizit einher, den eher kommerziell ausgerichteten privaten Angeboten könne man wohl eher nicht vertrauen. Dieses Vertrauen in die Öffentlich-Rechtlichen geht so weit, dass ein dem Elternteil selbst nicht in Gänze bekanntes Produkt (die Internetseiten zur Sendung mit der Maus) genutzt und als für Kinder geeignet eingeschätzt wird, da es zum medialen Verbund des gesellschaftlich anerkannten Klassikers Sendung mit der Maus gehört, welcher positiv besetzt ist. Auch der/die eigene PartnerIn dient unerfahrenen Elternteilen oft als Orientierung. Zum Teil übernimmt der/die erfahrenere PartnerIn komplett die Regelaufstellung bezüglich Computerspielen. Der andere Elternteil übernimmt seine/ihre Vorgaben und fragt um Rat, wenn er/sie unsicher ist (z. B. bei der Einschätzung neuer Computerspiele). „Also, solange er hier im Haus wohnt und hier unter meinem Dach (lacht), dann muss er schon das machen, was hier angesagt ist, und da muss er sich dran halten. Und deswegen schicke ich dann doch schon mal meinen Mann einfach. Was ist das für ein Spiel, ist das was, was er spielen darf? Oder was schleppen irgendwelche Freunde vielleicht sogar an, was er dann spielt, was ich dann halt nicht kenne. Also wie gesagt, ich habe wirklich einfach null Ahnung von diesen ganzen Sachen, weil ich halt mich da überhaupt nicht für interessiere.“ (Mutter 1, 34 Jahre, spielender Sohn ist 16 Jahre alt) Neben der USK und dem/der eigenen PartnerIn nehmen einige Elternteile auch die Möglichkeit wahr, sich mit anderen Eltern über Spielzeiten und Spielinhalte auszutauschen. Der/ die eigene PartnerIn und die anderen Eltern stellen im Hinblick auf medienerzieherisches Verhalten das Sozialkapital dar. Der medienerzieherische Umgang anderer Eltern mit Computerspielen trifft jedoch nicht immer auf Zustimmung. Zum Teil grenzen sich die Befragten in ihrem medienerzieherischen Handeln explizit von dem anderer Eltern ab, wenn diese ihrer Meinung nach zu nachsichtig oder zu streng sind oder zu wenig auf die Kinder eingehen. Auf einer reflexiven Ebene lehnen viele Eltern außerdem die Nutzung von Computerspielen als ‚Babysitter‘ ab. Kinder sollten ihrer Meinung nach nicht vor den Computer gesetzt werden, sobald ihnen langweilig wird. Hier wird wieder die Koppelung zwischen medialem und erzieherischem Habitus deutlich, der im medienerzieherischen Habitus als Schnittstelle mündet. In bestimmten Situationen, welche die Eltern von der normalen Langeweile der Kinder unter-
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scheiden, nutzen sie Computerspiele jedoch gezielt, um ihr Kind zu beschäftigen. Hierzu zählen Wartezeiten im Restaurant, Autofahrten oder die Zeit, in der die Eltern alltägliche Aufgaben zu erledigen haben: „[...] wenn wir auf Autofahrten sind oder so, ist das natürlich auch grandios, ne, (schmunzelt) dann kann man sagen: ‚Hier, nimm und halt die Klappe‘ (lacht).“ (Mutter 12, 37 Jahre, spielender Sohn ist 11 Jahre alt)
5. Einordnung der Ergebnisse in das Forschungsfeld Die Ergebnisse der vorliegenden Studie bestätigen Daten anderer Untersuchungen zur familiären Medienerziehung: Die gemeinsame medienerzieherische Basis der Eltern im Hinblick auf Computerspiele wird tendenziell getragen durch eine Einschränkung von Spielzeiten und -inhalten mit Fokus auf zeitliche Restriktionen (Junge 2013, 366 ff.; Lampert et al. 2012, 52 f.; Kutner et al. 2008, 84 f.). Dies zeigt sich vor allem, wenn aus der Sicht der Eltern zu wenig n onmediale Aktivitäten und Treffen mit Freunden stattfinden (Junge 2013, 366; Kutner et al. 2008, 84). Im Hinblick auf inhaltliche Beschränkungen werden vor allem gewalthaltige Spiele abgelehnt (Lampert et al. 2012, 54; Kutner et al. 2008, 86). Computerspiele sind in der familiären Kommunikation kaum ein Thema (Junge 2013, 368), und wenn darüber gesprochen wird, geht die Kommunikation eher vom Kind als von den Eltern aus (Junge 2013, 366). Zudem zeigen auch Lampert et al. (2012) auf, dass sich die medienbezogenen Erfahrungen und Kenntnisse der Eltern in der computerspielbezogenen Kommunikation mit dem Kind widerspiegeln: Wenn sich die Eltern wenig oder gar nicht mit Computerspielen auskennen, findet weniger Kommunikation mit den Kindern über Computerspiele statt (Lampert et al. 2012, 59). Die genannten Untersuchungen zeichnen ein ähnliches Bild vom erzieherischen Vorgehen der Eltern in Bezug auf Computerspiele wie in unserer Studie. Sie beachten jedoch keine habi tusspezifischen Erklärungen, welche die medienerzieherischen Vorstellungen und Beurteilungen sowie Praktiken unseres Erachtens nach besser nachvollziehbar werden lassen. Dies soll in der folgenden Konklusion mit Blick auf das Verhältnis des medialen und medienerzieherischen Habitus zusammenfassend erörtert werden.
6. Konklusion: Zum Verhältnis von medialem und medienerzieherischem Habitus Dem medialen Habitus der Eltern kommt in Bezug auf den medienerzieherischen Habitus eine Schlüsselrolle zu, da der mediale Habitus als begrenzendes Element wirkt: In Abhängigkeit davon, welche medialen Kenntnisse und Erfahrungen als auch welche Vorstellungen und Beurteilungen mit dem Medium Computerspiel verknüpft werden, wird die medienerzieherische Praxis in puncto Computerspiele ausgestaltet. Dies schlägt sich darin nieder, dass sich Eltern, deren medialer Habitus durch fehlende Computerspielerfahrungen und/oder ein Desinteresse an Computerspielen gekennzeichnet ist, in ihrem medienerzieherischen Handeln meist auf das Aufstellen von Regeln (Quantität und Qualität) beschränken und an offiziellen Empfehlungen (USK) orientieren. Zudem werden teilweise Inhalte im Internet (z. B. Internetseiten der Sendung mit der Maus), die auch gesellschaftlich als Bildungsgut anerkannt werden, präferiert. Generell sind die spielunerfahrenen Eltern des Samples in ihrem
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medienerzieherischen Handeln unsicherer und betrachten das Computerspielen ihrer Kinder deutlich kritischer als andere Eltern. Ist der mediale Habitus von Eltern hingegen stärker durch eigene Erfahrungen mit Computerspielen geprägt, ist sowohl die Sichtweise der Eltern auf Computerspiele allgemein als auch das Spielverhalten der eigenen Kinder meist weit weniger risikofokussiert, was sich in einer positiveren Einschätzung des Computerspielverhaltens der eigenen Kinder niederschlägt. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass diese Eltern Computerspiele generell als geeignet für ihre Kinder einstufen. Stattdessen zeigen diese Eltern im Vergleich zu den spielunerfahrenen Eltern eine deutlich differenziertere Spielauswahl. Diese basiert auf eigenen Spielerfahrungen und somit auch detaillierteren Genrekenntnissen und wird weniger hinsichtlich gesellschaftlich akzeptierter Spielgenres und den Empfehlungen der USK getroffen. Bspw. erlaubt eines der Elternpaare, welches selbst eine hohe Spielerfahrung hat, seinen Kindern auch Spiele, die für das Alter des jeweiligen Kindes gemäß USK nicht freigegeben sind, wenn sie diese für das spezifische Kind als unbedenklich einstufen. Trotzdem verbieten sie ihrem eher ängstlichen Sohn gewalthaltige Inhalte, während diese für jüngere und weniger sensible Geschwisterkinder tendenziell zugelassen würden. Insgesamt zeigt sich im Hinblick auf die Kindorientierung die Tendenz, dass Eltern mit einem größeren Erfahrungshorizont mehr auf die Bedürfnisse ihrer Kinder bezüglich Computerspielen eingehen und die Faszination ihrer Kinder für diese Spiele besser nachvollziehen können. Das medienerzieherische Aktivitätsniveau ist meist höher, wenn die Eltern selbst ComputerspielerInnen waren oder noch immer sind. Allgemein erscheint das medienerzieherische Handeln computererfahrener Eltern differenzierter als das unerfahrener Eltern: Chancen als auch Risiken werden stärker abgewogen, Eltern spielen häufiger mit ihren Kindern und setzen sich aktiver mit den Spielen auseinander. Auch im Hinblick auf die spielerfahrenen Eltern wirkt der mediale Habitus begrenzend, z. B. bezüglich der Spielauswahl. Die Ausführungen haben aufgezeigt, wie deutlich der mediale Habitus der Eltern den medienerzieherischen Habitus beeinflusst, sowohl im Hinblick auf die spielunerfahrenen als auch die spielerfahrenen Eltern. Das Verhältnis von medialem und medienerzieherischem Habitus ist unabhängig von der Ausprägung des medienerzieherischen Handelns der Eltern. Innerhalb der Studie wurden im Kontext des medialen und medienerzieherischen Habitus die Haltungen in Hinsicht auf Computerspiele in den Blick genommen. Wie solche Haltungen im Verhältnis zur Haltung gegenüber anderen Medien, also bspw. der Zeitung stehen, wurde nicht betrachtet. Mit der Computerspielnutzung wurde einer von mehreren Aspekten des Habitus in den Blick genommen, welcher als Erzeugungsgrundlage von medienbezogenen und -erzieherischen Vorstellungen, Beurteilungen und Praktiken verstanden wird. Auch der erzieherische Habitus wirkt sich auf die Medienerziehung der Eltern aus, wie die Forschungsergebnisse aufgezeigt haben. Anders könnte es auch kaum sein, da Medienerziehung wohl nicht getrennt von der allgemeinen Erziehung im Elternhaus erfolgt. Anzunehmen ist somit, dass sich das Erziehungs- und Medienerziehungsverhalten stark ähneln, also bspw. Eltern mit eher restriktivem allgemeinem Erziehungsverhalten auch ein restriktives Medienerziehungsverhalten zeigen. Da in den Interviews jedoch eher am Rande die allgemeine Erziehung in Form von Erziehungszielen (z. B. Relevanz von Primärerfahrungen) thematisiert wurde, kann die Studie darüber keine weiteren Aufschlüsse geben. Bisher bleibt auch in der vorliegenden Studie empirisch unbeachtet, inwieweit der medienerzieherische Habitus wiederum den medialen Habitus beeinflusst. Da Eltern oft erst durch das Interesse ihrer Kinder näher mit Computerspielen in Kontakt kommen, ist es durchaus denkbar, dass sich ihr medialer Habitus
Habitusformen von Eltern im Kontext der Computerspielnutzung ihrer Kinder
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im Hinblick auf Computerspiele über den medienerzieherischen Umgang mit diesen verändert. Weiter soll in einer Folgestudie quantitativ erfasst werden, inwiefern mit den Worten Bourdieus die Klassenzugehörigkeit (u. a. erhoben über den Bildungshintergrund) mit den Habitusformen im Kontext elterlicher Medienerziehung korrespondiert. Aufgrund der geringen Stichprobe können aus den Ergebnissen der vorliegenden Studie keine Aussagen darüber getroffen werden.
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Sabeth Buchmann
Zur Schließung der Generali Foundation Beitrag online im Ressort Kultur/Kunst unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/716
Abstract Angesichts der Übernahme der Sammlung Generali Foundation seitens des Museums der Moderne in Salzburg veranstaltete die Universität für angewandte Kunst Wien am 12. März 2014 eine Podiumsdiskussion. Bei dieser Diskussion trug die Kunsthistorikerin und Kritikerin Sabeth Buchmann folgendes Statement vor … On the Closure of Generali Foundation. In the light of the takeover of the Generali Foundation collection by the Museum der Moderne Salzburg, the Vienna University of Applied Arts organized a panel discussion on 12 March 2014. At this discussion, art historian and critic Sabeth Buchmann presented the following statement …
Ein Statement von Sabeth Buchmann Ich bin der Auffassung, dass der sog. „Coup“1 der Generali Foundation aufgrund ihres spezifischen Sammlungsschwerpunktes – konzeptuelle und institutionskritische Arbeiten, die nicht zuletzt die Vereinnahmungen der Kunst durch korporative Interessen reflektieren – sicherlich einen Sonderfall des Verhältnisses von Privatvereinen zu öffentlichen Sammlungen bildet. Insofern sich viele der in der Sammlung vertretenen Arbeiten der klassischen Werklogik verweigern, stellt sich die Frage, was es für ihre ästhetisch-politische Konzeption heißt, wenn sie genau nach den Mechanismen, die sie kritisieren, in Gestalt einer befristeten Leihgabe an ein Museum wertschöpfend für den Konzern wirken. Diese Frage möchte ich auch in den Worten des Museologen Gottfried Fliedl stellen, der in seinem Blog konstatiert, dass es sich bei der Generali Foundation „um eine Sammlung handelt, die sich kritisch mit Politik, (Kunst)Markt, Ökonomie auseinandergesetzt hat und in der mit Hans Haacke die direkte Institutionenkritik am Museum und an seinen ökonomischen und machttechnischen Rahmenbedingungen einen prominenten Platz hatte – eine Kritik an genau jenen Machtverhältnissen und -techniken, wie sie sich im gegenständlichen Fall zeigt.“2
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Anne Katrin Fessler und Stefanie Ruep hatten in ihrem Artikel „Kunstsammlung verlässt Wien“ vom 17. Jänner 2014 im Standard von einem „Deal“ gesprochen, „den man durchaus als Coup bezeichnen darf“, online unter: http://derstandard.at/1389857442423/Kunstsammlung-verlaesst-Wien (letzter Zugriff: 15.08.2016). 2 Vgl. online unter: http://museologien.blogspot.co.at/search?q=Generali (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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Generali Foundation, Foyer Bild: Generali Foundation, Bildrecht: Margherita Spiluttini
Ich möchte diese Frage in die von der Generali Foundation von Anbeginn bis heute verfolgte Programmatik stellen: eine Programmatik, die sich der kritischen Analyse der Funktionsmechanismen von Kunst und Institutionen innerhalb der zunehmend von kapitalistischen Verwertungsinteressen beherrschten Gesellschaftsordnung verschrieben hat. Gerade aufgrund der Tatsache, dass diese Programmatik von einer Sammlungspolitik in Anspruch genommen wurde und wird, die, wie immer klar war, nicht zuletzt der Imagepflege eines Konzerns dient, stellte diese Bedingung eine besondere Herausforderung für KünstlerInnen, AutorInnen und die Öffentlichkeit dar: Die Fragestellung, die sich an vielen der in der Generali Foundation vertretenen Arbeiten festmachen lässt, gilt neben ihrer künstlerischen Positionierung immer auch dem demokratiepolitischen Potenzial institutioneller Orte und Strukturen. Insofern die beiden LeiterInnen und die jeweiligen Teams der Generali Foundation diese Fragestellung stets zu einer ihrer Prioritäten erklärt haben, ist es ihnen in der Tat gelungen, im Zusammenspiel mit anderen lokalen und internationalen Institutionen und AkteurInnen einen Ort zu schaffen, an dem es stets möglich war, ästhetische und gesellschaftliche Aspekte zusammenzudenken. Es ist also nachgerade als eine Besonderheit anzuerkennen, dass entsprechende Praktiken und Diskurse von einem privaten Kunstverein, sicherlich auch unter dem Druck seiner Legitimation, auf grundlegende Weise mitbefördert wurden. Dies war und ist für mich, aus der Warte der Kunstkritik, auch insofern von Bedeutung, als Fragen der Demokratie und der Partizipation stets soziale und institutionelle Ein- und Ausschlussbedingungen mitbetreffen, die sich schließlich auch in der Kunstgeschichtsschreibung manifestieren. So gehört die Generali Foundation zu jenen Institutionen, die die Sichtbarmachung marginalisierter Positionen zu ihrer Aufgabe erklärt haben: Ein Anspruch, der dazu führte, dass der Sammlung ein besonders hoher symbolischer Wert zugeschrieben wird. Kurzum hat sich hier zunächst unter Federführung Sabine Breitwiesers und später unter der Sabine Folies eine institutions- und gesellschaftsreflexive Sammlungs- und Ausstellungsagenda etabliert, die nichts Geringeres als einen hegemoniekritischen Kanon darstellt.
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Heimo Zobernig, Ohne Titel, 1994 Bild: Generali Foundation, Bildrecht: Margherita Spiluttini
Dabei stellt sich die Generali Foundation gerade aufgrund ihres offenen Bekenntnisses zu ihren ökonomischen und symbolischen Interessen als ein paradigmatischer Austragungsort der zwischen Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft bestehenden Spannungen und Konflikte dar und genau dies wird von einer Reihe der in der Sammlung vertretenen KünstlerInnen auf komplexe Weise reflektiert. Wenn diese dabei in der Tradition der Institutionsanalyse die archimedische Position der Kritik gegen die Ambivalenz der kritischen Komplizenschaft eingetauscht haben, dann auch, weil der auf diese Weise sichtbar werdende double-bind weitaus treffendere Aussagen über unseren gesellschaftlichen Zustand bereithält als Werke, die auf wohlfeiler Autonomie bestehen. Ich erwähne hier nur beispielhaft Heimo Zobernigs Arbeit Ohne Titel aus dem Jahr 1994: Ein Baunetz mit dem Logo der Generali Foundation, das an der Fassade des zum damaligen Zeitpunkt im Umbau von einer ehemaligen Hutfabrik zum Ausstellungs- und Büroraum der Generali Foundation befindlichen Gebäudes in der Wiedner Hauptstraße befestigt war. In Ohne Titel manifestiert sich auf eindeutig zweideutige Weise eine zwischen Autonomie und Dienstleistung oszillierende künstlerische Praxis, die ihre widersprüchliche Rolle für die Herausbildung einer avancierten Corporate Identity gleichsam ausstellt: Denn bedenkt man, dass hiermit jene inzwischen als neoliberal geltenden Organisations- und Managementfunktionen gemeint sind, die auf die Bereitschaft zur kreativen Selbstorganisation zielen, so kann deutlich werden, dass Autonomiegesten gerade keine Antwort auf einen fortgeschrittenen Korporatismus darstellen können. Denn das Vorbild des Korporatismus sind, wie wir aus der neueren Soziologie wissen, ironischerweise politisch engagierte KünstlerInnen, zu deren Geschäft es gehört, für möglichst wenig Geld arbeits-, zeit- und kommunikationsintensive Projekte auf die Beine zu stellen: Projekte mit dem mehr oder weniger idealistischen Anspruch auf gesellschaftliche Wirksamkeit – sei es im Bereich der sog. common goods, d. h. des Wissens und der Bildung, sei es im Bereich der Medien und des Aktivismus. Sie sind, ob sie wollen oder nicht, Komplizen einer neoliberalen Logik, die darauf zielt, die Kosten für die Reproduktion von Arbeitskraft auf Individuen und gesellschaftliche Gruppen abzuwälzen. In dieser Hinsicht inszeniert sich das lakonische Logo Zobernigs bewusstermaßen als ein sichtbares trojanisches Pferd – auch, weil es sich der Gleichsetzung von Werk- und Wertlogik gerade durch die Betonung künstlerischer Dienstleistung an einer Konzernsammlung entzog: Das scheinbare Verweigern eines ästhetisch legitimierten Mehrwerts ist ein ‚klassisches‘ Charakteristikum institutionskritischer Arbeiten, die sich dem bruch- und reibungslosen Aufgehen im Wertesystem des Kunst-
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marktes genauso wie dem oftmals politisch-idealistischen Selbstbild vorgeblich nonkommerzieller Institutionen entziehen.
Heimo Zobernig Bild: Wikimedia Commons, online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Heimo_Zobernig (letzter Zugriff: 15.08.2016)
Für unsere Fragestellung nach den möglichen Wertschöpfungsmechanismen, auf die der Konzern dank des künftigen musealen Standortes seiner Sammlung spekulieren darf, spielt dies keine unerhebliche Rolle. So sind es gerade jene Praktiken, die die Komplexität ökonomischer Verwertung reflektieren und daher hergebrachte Werk- und Autonomiebegriffe infragestellen, die in dieser Hinsicht von besonderem Interesse sind. Bedenkt man, dass Zobernig 2011, also 17 Jahre später, im Rahmen der von Sabine Folie und Ilse Lafer kuratierten Ausstellung UnExhibit das Baunetz qua Verdopplung der freistehenden Sichtbetonwand des Ausstellungsraums durch eine Holz-Stoff-Konstruktion wieder aufgreifen sollte, so stellt Ohne Titel ein anschauliches Beispiel für die Effekte der Relativierung künstlerischer Autonomie in korporativen Zusammenhängen dar. Kann man einerseits sagen, dass das Wandstück einmal mehr das architektonisch manifestierte Selbstbild eines privatwirtschaftlichen Kunstvereins nun aus seiner Binnenperspektive buchstäblich verdoppelt, ist es auf der anderen Seite der Gestus der Transparenz, der hier im Sinne einer programmatisch selbstreflexiven Institution zurückgespiegelt wird: Hierzu zählt bekanntlich allererst der Nachweis der Fähigkeit zur Kritikproduktion, und zwar gerade in Bezug auf das eigene Feld. Genau dieser für die „institutionskritische Kunst“ charakteristische Zwiespalt ist es, den Zobernigs Wandverdopplung markiert. In diesem Licht betrachtet, könnte man die Fragilität, mit der hier das institutionelle Selbstbild dupliziert wird (qua Holz und Stoff), nicht nur als ein inzwischen kanonisches Unterlaufen normativer production values deuten, sondern auch als Kommentar auf den instabilen und prekären Zustand von Institutionen wie der Generali Foundation. Bedenkt man, dass sie – einer generellen Tendenz entsprechend – trotz zwischenzeitlicher Budgetkürzungen sowie des zwischenzeitlich angedachten und wieder ad acta gelegten Versuchs der Fusionierung mit der Bawag Foundation weiterhin ein aktiver Ort der Auseinandersetzung mit den sich wandelnden Bedingungen der Kunst- und Ausstellungsproduktion war (UnExhibit ist nur ein aktuelles Beispiel hierfür), so könnte man in der Wandverdopplung auch eine Reflexion auf eine privatwirtschaftliche Kunstinstitution erkennen, die genau das produziert, was idealiter Gegenstand ihrer Kritik sein sollte: fortwährende Verknappung der Ressourcen auf Kosten der MitarbeiterInnen und der Kunst; eine Politik, die schließlich auch auf Kosten der Öffentlichkeit geht: Sie spielt, wie wir beim sog. Coup der Generali Foundation gesehen haben, in den wirklich entscheiden-
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den Momenten keine Rolle. Um noch einmal mit dem hier beispielhaft angeführten Beispiel zu argumentieren: Konnte man Zobernigs Intervention vor nunmehr 20 Jahren als eine Metapher für die zunehmende Vernetzung von künstlerischen und unternehmerischen Interessen deuten, markiert ihre Umgestaltung zu einem mobilen Wandstück die Verletzbarkeit jener Barriere, die zwischen relativierter künstlerischer Autonomie und unternehmerischer Freiheit vermittelt. Könnte Ohne Titel also einerseits als Kommentar auf den abnehmenden Abstand zwischen künstlerischen und institutionellen Interessen im Namen von Kollaboration und Netzwerkbildung gelesen werden, erscheint genau dies andererseits als Ausdruck eines befriedeten – oder besser gesagt: eines falsch befriedeten – Konfliktverhältnisses. Es steht zu befürchten, dass das für die Generali Foundation und das Museum der Moderne, Salzburg, vorgesehene Modell der Public-private-Partnership die von Künstlern wie Zobernig stets markierte Spannung zwischen Nähe- und Konfliktverhältnis von Kunst, Öffentlichkeit, Institution bzw. Unternehmen neutralisiert und sie damit um ihre künstlerisch-politische Schärfe bringt – und zwar aufgrund der von Gottfried Fliedl herausgestellten doppelten Dynamik: So betreibe die Foundation eine (befristete) Verstaatlichung und das Land eine Form der Privatisierung, indem es den größeren Anteil der nötigen Kosten übernimmt, den Markennamen und damit auch Marketing für den Konzern. Die Weise, in der Zobernigs Arbeit einen buchstäblich geteilten, gleichwohl umstrittenen Raum gemeinsamer Angelegenheiten geschaffen hat, lässt uns also erneut über die für unser Verständnis moderner Kunst konstitutiven „feinen Unterschiede“ zwischen künstlerischen, institutionell-korporativen und öffentlichen Interessen nachdenken. Sollten die sicherlich allen hinlänglich bewussten Wertschöpfungsinteressen eines Konzerns hierbei einseitiges Oberwasser gewinnen, werden sie auf Dauer der Kunst und damit auch der Öffentlichkeit das Wasser abdrehen. Eine allzu bekannte Legitimation des korporativen Interesses an einer reibungslosen Akkumulation von Kapital ist die „Rettung eines Unternehmens“. Das bedeutet in der Regel Gesundschrumpfung und/oder Outsourcing – im Fall der Generali Foundation bedeutet es, dass ein für das institutionelle und öffentliche Gefüge einer Stadt wie Wien bedeutsamer Ort zerstört wird. Wenn wir also nicht einmal mehr nachfragen, ob die getroffene Entscheidung tatsächlich die beste aller bezeichnenderweise ungeprüften Optionen ist, würde dies auf jene Totalisierung korporativer Interessen hinauslaufen, die nicht nur von Zobernig, sondern von einem Großteil der mit der Generali Foundation assoziierten KünstlerInnen, AutorInnen und Öffentlichkeiten bislang zurückgewiesen wurde.
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Konrad Becker
Zwang und Verführung in der Kontrollgesellschaft Selbstvermessung und Wunscherfüllung im digitalen Datenraum Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/738
Abstract Konrad Becker untersucht in seinem Essay, wie Zwang und Verführung in unseren Kontrollgesellschaften funktionieren, und bezieht dieses Problemfeld u. a. auf die Debatten zu Big Data. Dabei stellt er vor allem eine Frage in den Raum: Welche Rolle spielen Informationstechnologien und Sozialstatistiken bei der Erfassung des gläsernen Menschen? Dabei thematisiert der Autor die digitale Informatisierung sozialer Räume angesichts globaler Sicherheitsarchitekturen und analysiert diese neue Kultur der Kontrolle, indem er auch im Sinne der Demokratietheorie von einer instrumentalisierten Partizipation spricht. Im Sinne einer kritischen Geschichte der Sozialwissenschaften zeigt Becker in diesem Zusammenhang auch auf, welche Rolle die Soziometrie von Jacob Morenno oder Otto Neuraths statistische Wissensvermittlung in diesem Kontrolldispositiv spielen, weil sie gegen ihre eigentliche Intention in ihr machtpolitisches Gegenteil umgekehrt wurden. Constraint and Seduction in a Society of Control – Quantified Self and Wish Fulfilment in the Digital Data Space. In his essay, Konrad Becker examines how constraint and seduction work in our societies of control and relates this problem area to the debates around Big Data, particularly raising the question of the role information technology and social statistics play in charting the transparent human. The author addresses the digital computerization of social spaces in the face of global security architectures and analyses this novel culture of control, speaking of exploited participation from the viewpoint of democracy theory. In the sense of a critical history of social science, Becker also highlights the role of Jacob Morenno’s sociometry and Otto Neurath’s statistical knowledge transfer in this control dispositive, which were turned into their power-political opposite against their original intentions.
1. Einleitung Der inzwischen etablierte Begriff der Kontrollgesellschaft wurde Anfang der 1990er Jahre von Gilles Deleuze, vor allem auch durch sein Postscript on Societies of Control bekannt gemacht. Er stammt aus dem 1970 erschienen Buch The Electronic Revolution von William S. Burroughs, in dem er über neue Methoden der Machtausübung schreibt, von „Assoziationslinien, durch die Monopole durchgesetzt werden“. Der Künstler setzt sich darin in visionärer Weise mit den weitreichenden Wirkungen von Kommunikationsformeln auseinander sowie der Poli-
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tik von Sprache, Information und Kategorisierung. Im Gegensatz zu den von Michel Foucault in den 1970er Jahren beschriebenen Disziplinargesellschaften, die Strukturen der Manipulationen von Macht und Gewalt in den Vordergrund stellen, werden die Machtverhältnisse in Kontrollgesellschaften freischwebend und kodifiziert wirksam. Von Codes organisierte flexible Systeme der Erfassung, die sich schnell und einfach neu konfigurieren lassen, regeln den Zugang zu Netzwerken. Nicht feste Eingrenzungen sind jetzt das vorrangige Ziel, sondern ein Regime der Modulation von Durchlässigkeit. Diese grundlegende Verschiebung in den Strategien der Machtausübung und Kontrolle ist eng mit der Entwicklung neuer Informationstechnologien verbunden. Selbststeuerung löst Fremdkontrolle ab und Maschinen bewerten das individuelle Streben nach Selbstoptimierung. Informationsarchitekturen lenken diese digitale Selbstvermessung und Selbstdokumentation zwischen den Polen von Angst und Wunscherfüllung. Anthropologen wie Claude Lévi-Strauss, beispielsweise in Tristes Tropiques aus dem Jahr 1955, sind der Ansicht, dass die Kulturtechnik der Schrift vor allem zur Unterdrückung und Verwaltung von Abhängigkeiten entwickelt wurde. Aus dieser Sicht sind Wissenschaft und Kunst vor allem Sekundärphänomene, die den ursprünglichen Zweck ergänzen oder verschleiern sollen. Bei neuen Informationstechnologien und Datenverarbeitungsprozessen, deren grundlegende Entwicklungen aus der akademisch-militärischen Forschung kommen, ist es naheliegend, sie auch aus dieser Perspektive zu betrachten. Schon im 19. Jahrhundert thematisierte Gabriel Tarde die gesellschaftlichen „Gesetze der Nachahmung“ in Bezug auf Anpassung und Identität. Sie sind in sogenannten sozialen Netzwerken, wo sich internalisierter Zwang zur Selbstdarstellung und Selbstvermarktung kanalisiert, gut zu beobachten. Aber bereits 1574 beschrieb Etienne de la Boetie in seinem berühmten Essay „Von der freiwilligen Knechtschaft“ seine These über die Politik des Gehorsams, dass in der Tyrannei die Unterdrückten die Unterdrückung paradoxerweise freiwillig akzeptieren. Statt Verweisen auf angebliche Sicherheit reicht vielfach schon Bequemlichkeit, Konsumbereitschaft und sozialer Gruppenzwang zur Einwilligung an der Teilnahme dubioser Regime.
2. Informatisierung sozialer Räume Die urbanisierte Umwelt wird zunehmend von Netzwerken informationeller Technologien geformt. Nicht nur Verkehrsleitsysteme, Energieversorgung, Infrastruktur und Planungsmodelle bauen immer mehr auf komplexe digitale Systeme. Auch die Arbeitswelt, soziale Räume und kulturelle Prozesse stützen sich auf ein vielschichtiges Gefüge elektronisch gesteuerter Abläufe. Städte sind nicht mehr von Mauern und Befestigungsanlagen bestimmt, sondern von einer Logik der Produktion von Raum und intelligenten Systemen für die Organisation dieses Raums. Statt aus Mauerwerk oder Wällen bestehen die neuen Architekturen der Kontrolle aus Software-Algorithmen, Satelliten und elektronischen Tracking-Systemen. Befestigungsanlagen wandeln sich in globale Assemblagen kontinuierlicher Verknüpfung von Datenbanken und Sensoren. Weltumspannende soziotechnische Sicherheitsarchitekturen im städtischen Leben ersetzen traditionelle nationalstaatliche Grenzen. Immaterielle Ordnungssysteme fragmentieren, zonieren und stratifizieren städtische Räume. Freihandelszonen, Exportzonen, Zollfreilager und Sonderwirtschaftszonen, Gated Communities, Privatisierung öffentlicher Plätze, „Sicherheitszonen“ oder Flughäfen. Überall entstehen neue städtische Grenzlinien, wo die Ströme der Stadt durch „Checkpoints“ gezwungen werden und militarisierte Überwachungsnetzwerke die Grenzen zwischen „außen“ und „innen“ organisieren.
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3. Globale Sicherheitsarchitekturen Eine informatisierte Produktion von Raum mobilisiert den Einsatz von Sensoren und Softwaresystemen, u. a. durch biometrische Pässe, globale Logistik und E-Commerce, Airline-Profiling oder Navigations-und Zielsuchsysteme. Zunehmend werden „intelligente“ Materialien in das Gefüge sozialer Räume und Infrastrukturen gewebt und elektronische Schaltkreise in das Ambiente eingebettet. Diese Steuerungsmechanismen beeinflussen Verhalten, indem sie die Regeln des Spielfelds gestalten. Einschlägige Großkonzerne vermarkten ihre diesbezüglichen digitalen Technologie- und Sicherheitskonzepte unter dem Schlagwort Smart City. In einer zunehmenden Verschmelzung von Industrie und Polizei, Eventmanagement und Grenzkontrollen sowie urbaner Sicherheit und Unterhaltung verschwindet die traditionelle Trennung zwischen militärisch und zivil, zwischen einem „Innen“ und einem „Außen“. Der globale Wanderzirkus temporärer Sicherheitszonen von G-8-Treffen, Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften wird zur Normalität. So auch Gipfelkonferenzen, Massenevents und Gladiatorenkämpfe, die durch Heerscharen von umherziehenden Spezialisten eingerichtet und überwacht werden. Die Erhaltung von Informationsdominanz, die neue Generation der asymmetrischen Konflikte und der sogenannte „Lange Krieg“ dauerhaft militarisierter Zonen stützen sich aber auch auf die psychologische Kraft von Bildern. Kulturelle Friedenssicherung bedeutet in diesem Zusammenhang Verhaltenssteuerung durch Beeinflussung der Imagination und die ständige Echtzeit-Übertragung von Videos, Bildern und Texten über TV und Netz.
4. Kultur der Kontrolle Seit den 1990er Jahren wird in sicherheitspolitischen Strategiepapieren vermehrt darauf hingewiesen, dass sich die Trennung zwischen militärischen und nicht militärischen Operationen auflöst. Dies findet sich auch in US-Konzepten eines Kriegs ohne definierten Schauplatz und „omni-direktionale“ Kampfhandlungen, die auf Informationstechnologie und unkonventioneller Kriegsführung in Low-Intensity-Konflikten basieren. Diese Konflikte sind nicht mehr dominiert von Stahl und blutigen „Schlachtfeldern“, sondern verlagern sich zunehmend in den Bereich der Infosphäre, auf die psychologische Positionierung von Ideen. In der Kulturalisierung von Konflikten wird Realität zur soziotechnologischen Ingenieursleistung einer operativen truth projection. Dominanz in der Informationssphäre bedarf einer Instrumentalisierung von Kultur, Kunst und Ideologie, um Kritik und Widerstände zu dämpfen und die Kontrolle auf die symbolische Ebene zu erweitern. Ähnlich wie Spielregeln definiert Kultur Werte und Rollenbilder, indem sie anzeigt, was anstrebenswert und was abzulehnen ist. Diese Spielregeln vermitteln nicht nur, welche Züge und Bewegungen möglich sind, sondern auch Sinn und Zielvorstellungen, das Warum, und die Erwartung an den Spieler selbst. Kultur hält nicht nur die Spieler „auf Linie“ und entlastet dadurch die Notwendigkeit zur Disziplinierung, sondern legitimiert auch die Durchsetzung von Regeln.
5. Instrumentalisierte Partizipation Obwohl neue Konzepte der Governance, wie Soziometrie und Sozialstatistik, sich aus emanzipatorischen Strömungen entwickelt haben, ist sie zu einer Grundlage der Machtausübung
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konservativer Eliten geworden. Governance mit demselben griechischen Wortstamm wie Kybernetik beruht auf technokratischen Modellen der Lenkung und bedeutet Regieren durch Kontextsteuerung. Eine sozialaufklärerische Idee wie die Soziometrie von Jacob Moreno, Grundlage der Sozialen Netzwerkanalyse, oder Otto Neuraths statistische Wissensvermittlung, die Anfang des 20. Jahrhunderts einer größeren Freiheit der Menschen verpflichtet waren, kehrt sich schon bald in ihr Gegenteil um. In einem Regime der Communitys und Selbststeuerungsumgebungen funktioniert Gruppendruck, unter freiwilliger Ausübung und Unterwerfung, sogar noch besser als individueller Druck von außen. Über den Effekt der sozialen Befriedung und Kohäsion hinaus ist Teilhabe instrumentalisiert. Partizipation wird in einer verengten Bahn von Möglichkeiten der Problemlösung sowie in reduktionistischen Vorstellungen von Effizienz formalisiert. Illusionäre Gemeinschaften, wo in der Festlegung von Verfahrensabläufen eine Fülle undurchsichtiger und informeller Regeln durchgesetzt wird, ersetzen etablierte und zumindest rechenschaftspflichtige Jurisdiktion.
6. Kontrollregime und Lenkungsprozesse Immer öfter wird daher darauf hingewiesen, dass zeitgemäße Machtausübung nicht mehr vorwiegend repressiv, sondern durch Verführung wirkt. Lenkungseffekte durch emotionelle Steuerung und kontrollierte Wunscherfüllung gewinnen als psychopolitische Herrschaftstechniken an Bedeutung, als Techniken der Beeinflussung durch die sanfte Dominanz der Kontrolle der Bezugsysteme und die Wirkungsmacht von Fiktion in der Wissenschaft menschlicher Manipulation. In der Konfiguration des Raums der Beziehungen entwickeln Oberflächenstrukturen, Interfaces und Protokolle kausale Wirkungen durch Selbstausbeutung und Selbstoptimierung statt äußerem Zwang. Menschen dazu zu bringen, sich aus innerem Antrieb einem Herrschaftszusammenhang unterzuordnen, ist eine effizientere Strategie. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die scheinbare Freiwilligkeit wird durch massive Ausgrenzungs- und Disziplinarisierungsinstrumente ergänzt. Je nach Bedarf und, wenn möglich, diskret. Der Sicherheitsexperte und langjährige Direktor von Privacy International, Steve Wright, vergleicht die globale Kontroll- und Surveillance-Assemblage mit einem Nervensystem und die damit verbundenen Drohnen und mehr oder weniger tödlichen Waffensysteme mit einem Muskel, der im Bedarfsfall eingesetzt wird. Der gute Polizist gibt freundliche Empfehlungen, aber der böse Polizist steht schon bereit. Big-Data-Überwachungstechnologie zielt zunächst nicht auf das Individuum, sondern auf statistische Korrelate zu Verhalten, Weltbild und Besitz von Bevölkerungssegmenten. Aber der frühere NSA- und CIA-Direktor Michael Hayden stellte im April 2014 am Johns Hopkins Foreign Affairs Symposium unmissverständlich fest: „Wir töten Menschen auf der Grundlage von Metadaten.“
7. Datenfluten und Horizonte des Wissens Die gesammelten Werke Shakespeares benötigen weniger als 5 MB Speicher, heute passen alle seine Werke zigtausend Male auf jedes Smartphone. Hatte ein Buch noch eine erste und eine letzte Seite, so sind in den gegenwärtigen Informationsumgebungen diese Grenzen nicht mehr deutlich definiert. Unklar wird nicht nur, wo ein Text beginnt oder aufhört, sondern auch, wie Faktizität und Narrativ auf vielfältige Art verflochten sind. Nicht nur gibt es mehr zu wissen als je zuvor, mehr als ein Mensch wissen kann, es wird immer eindrücklicher, wie klein
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der Zugriff auf Wissen bleibt. Es ist weder menschenmöglich noch glaubwürdig, wie zu Zeiten der Encyclopédie von Denis Diderot eine Übersicht über das vorhandene Wissen haben zu können. Nicht nur gibt es mehr Druckwerke, sondern zahlreiche andere Kanäle, von denen das Internet immer wichtiger wird. Daneben gibt es Milliarden von Datensätzen aus elektronischen Transaktionen, digitalen Verhaltensspuren und aus Sensoren und Kontrollsystemen. 2011 berechnete die Fachzeitschrift Science die Datenmenge der Welt im Jahr 2007 mit rund 300 Exabyte oder 300 Milliarden Gigabyte. Ende 2012 wurde ein weltweites Datenaufkommen von etwa 1,8 Zettabyte, oder 1,8 Billionen Gigabyte, geschätzt, das sich schon bald verdoppelt haben wird. Verantwortlich für die digitale Datenflut ist die zunehmende maschinelle Generierung von Daten z. B. im E-Commerce, Social Media, CRM-Systemen, Geldautomaten, Kameras etc. Google bezifferte seinen Index im Jahr 2014 mit mehr als 100 Millionen Gigabyte (100.000 Terabyte). Weil solche Datenmengen und Informationskaskaden von Menschen nicht mehr verarbeitet werden können, entwickeln sich Technologien, um durch höhere Rechenleistung und algorithmische Genauigkeit große Datenmengen zu sammeln und zu analysieren. Diese Analyse versucht Muster zu identifizieren um daraus wirtschaftliche, soziale, technische und rechtliche Ansprüche abzuleiten.
8. Digitale Wahrsager Proponenten der Big-Data-Industrie behaupten gerne dass Theoriebildung, im Sinne verallgemeinerbarer Modelle, wie die Welt funktioniert, überholt ist. Statt Kausalitäten oder modellhafter Annahmen stehen Korrelationen im Vordergrund. So präsentieren es die VertreterInnen der Big-Data-Industrie auf zahlreichen Kongressen der Branche. Bei Datenanalysen gehe es nicht mehr um die Nadel im Heuhaufen, sondern um den Heuhaufen. Chris Anderson, der Herausgeber vom Wire Magazine, sprach schon 2008 vom „Ende der Theorie“ im „PetabyteZeitalter“ der Korrelationen, wo die Zahlen für sich sprechen. (Vgl. „The End of Theory – Will the Data Deluge Make the Scientific Method Obsolete?”) Die Mythologie von Big Data korreliert mit der Überzeugung, dass große Datenmengen eine höhere Form der Intelligenz darstellen, einen Zugang zu Wissen mit einer Aura von absoluter Wahrheit, Objektivität und Genauigkeit, der völlig neue und vorher unerreichbare Erkenntnisse bieten kann. Aber Big Data ist von Objektivität oder Zuverlässigkeit weit entfernt. Zur Extraktion der entscheidungsrelevanten Information ist nicht nur das fehlerfreie Herausrechnen der Daten nötig, sondern auch die Kenntnis aller damit verbundenen systemischen Mechanismen. Die Wahrscheinlichkeit systematischer Fehler ist nicht quantifizierbar, nimmt aber mit steigender Anzahl von Variablen zu. Fehler entstehen nicht nur, wenn grundlegend qualitative Erscheinungen mit Zahlen verbunden werden oder quantitativen Phänomenen falsche Zahlen zugeordnet sind. Die Prognosen sind prinzipiell unscharf, da sie auf Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten beruhen. Abgesehen von fehlerhaften Rohdaten oder deren Aufzeichnung können Fehler in den Prognosemodellen oder falsche Klassifikationen massive negative Auswirkungen sowohl auf Einzelne als auch auf gesellschaftliche Gruppen haben.
9. Rohdaten oder gekocht? Der Begriff Rohdaten ist ein Widerspruch in sich selbst. Daten sind schon bei ihrer Erhebung einem Prozess unterworfen und Datensammlungen immer das Ergebnis von Bearbei-
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tung. Konflikte beginnen schon bei der Frage, was und in welcher Weise sinnvollerweise auf Daten reduziert werden kann oder nicht. Jede Disziplin und jedes Fachinstitut entwickelt gemäß der jeweiligen Vorstellung eigene Normen und Standards der Datenerfassung und in unterschiedlichen Domänen der Untersuchung beeinflussen sich verschieden Arten von Daten gegenseitig. Ihre Interpretation ist zwangsläufig von subjektiven Filtern beeinflusst und von der Art und Weise, wie die Daten bereinigt und normalisiert werden. Domainspezifisches Fachwissen bleibt von großer Bedeutung im Umgang mit großen Datenmengen, denn wenn die methodischen Prozesse, die der Analyse dieser Daten zugrunde liegen, nicht berücksichtigt werden, ergeben sich Verzerrungen. Auch wenn Computerlogik an Syllogismen perfekt angepasst ist, kann die Außenwelt nicht ganz so leicht auf eindeutige Aussagen reduziert werden, die sich dann problemlos kombinieren lassen. Am besten funktioniert Big-Data-Technologie bei der Analyse von sehr weit verbreiteten Erscheinungen, versagt aber umso kläglicher bei Dingen, die weniger verbreitet sind. So können zwar einerseits verlässliche Daten über Zusammenhänge im Sprachgebrauch gewonnen werden, weil sie im großen Umfang zugreifbar sind, aber gleichzeitig kann der Datenkörper niemals ausreichen, um der ständigen Veränderung von Sprache und ihren anhaltenden Erneuerungen zu entsprechen.
10. Scheinkorrelation und Mustererkennung Je größer die Menge an Daten, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich Korrelationen zeigen; Zeitreihen, die sich ähneln, und doch wenig miteinander zu tun haben. Je mehr Variablen, umso mehr potenziell signifikante Verbindungen ergeben sich und Apophänie setzt ein. Der Begriff Apophänie wurde ursprünglich von dem Psychiater Klaus Conrad in Bezug auf Wahrnehmungsverzerrungen bei Psychosen geprägt. Er bezeichnet die Erfahrung, Muster und Beziehungen, in zufälligen, bedeutungslosen Einzelheiten der Umwelt wahrzunehmen. Eine zwanghafte Rationalisierungslogik schlägt in ihr Gegenteil um. Die Webseite Spurious Correlations (http://tylervigen.com [letzter Zugriff: 15.08.2016]) sammelt Beispiele, um zu demonstrieren, wie unsinnig es sein kann, solche Korrelationen als kausale Zusammenhänge zu interpretieren. Etwa die beeindruckende Korrelation zwischen der Scheidungsrate in Maine und dem Pro-Kopf-Verbrauch von Margarine oder der Pro-Kopf-Verbrauch von Käse mit der Zahl von Menschen, die daran gestorben sind, dass sie sich in ihrem Bettlaken verheddert haben. Big-Data-Technologie eignet sich zur Erkennung von Korrelationen, vor allem bei Zusammenhängen, die kleinere Datensätze gar nicht sichtbar machen könnten. Aber sie kann keine Aussage treffen, welche Zusammenhänge sinnvoll sind. „Lügen mit Zahlen“ und der manipulative Einsatz statistischer Darstellungen haben eine lange Tradition, nun aber eröffnet sich ein Bereich, wo die unübersichtlichen Zahlenmengen eine Verifizierung immer weiter erschweren. Maschinelle Datenauswertung verlockt zu wissenschaftlich klingenden Lösungen für völlig ungenaue Fragestellungen. Aber die Magie der Nummern wird durch große Zahlen noch eindrucksvoller.
11. Technologien als Herrschaftswissen Big-Data-Technologien entwickeln einen Einfluss auf die Fragestellungen von Forschung und die sozialen Theorien, die damit verbunden sind; nicht nur durch die Analysewerkzeuge
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selbst, sondern auch durch den asymmetrischen Zugang zu den großen Datensilos privater Firmen. Allein schon die Koordination solcher globalen Wissensströme schafft ein Ungleichgewicht zugunsten von Einzelinteressen durch ein neues, der Öffentlichkeit entzogenes Herrschaftswissen. Trotz dezentralisierter Überwachungsassemblagen produzieren digital beschleunigte Netzwerke immer stärkere Marktkonzentrationen zentralisierter Kontrolle. Daraus ergeben sich gefährliche Asymmetrien und eine Kluft zwischen öffentlichem Interesse und privaten Profitinteressen. Data-Mining und die neuen Technologien der Informationsmanipulation im Rahmen kostspieliger Software-Suiten bleiben weitgehend außerhalb der Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Organisationen, unabhängiger Forscher oder kritischer Initiativen. Das Herrschaftswissen einer Welt von Big Data bleibt in den Händen undurchsichtiger Akteure. Wissen wird dabei umdefiniert und setzt sich anders zusammen, sowohl die Bestandteile des Wissens als auch seine Auswertung und Konfiguration ändern sich. Wissen wird von unten nach oben umverteilt.
12. Maschinelle Bedeutungsproduktion Menschliche Beziehungen verändern sich in mediatisierten Umgebungen, wo Entscheidungen von digitalen Befehlsketten getroffen werden. Statistische Auffälligkeiten und deviantes Verhalten werden von dafür programmierter „lernfähiger“ Software identifiziert. „Intelligente“ Überwachungs- und Kamerasysteme schlagen selbständig Alarm, wenn eine Person verdächtiges Verhalten zeigt. Die Bewertung von Relevanz wird zunehmend Maschinen übertragen. Das ist allein schon ein Grund, nicht auffallen zu wollen und sich möglichst normiert zu gebärden. Dieser zunehmende Entscheidungstransfer vom Menschen zur Maschinenlogik ist eine Verarmung und jedes Anderssein wird zum Sicherheitsrisiko. Von Menschen geschaffene Automatisierungssysteme können einen offenen oder versteckten Einfluss ausüben. Es stellt sich aber auch die Frage, inwieweit die inhärenten „Eigeninteressen“ einer maschinellen Logik im Kompetenztransfer von Mensch zu Entscheidungsmaschinen zum Wirken kommen. Durch eine mehr oder weniger freiwillige Partizipation in informationellen Netzwerken werden Menschen nicht nur in den eisernen Käfig der Maschinenlogik eingesperrt, sondern vielfach durch ihre Datendoppelgänger ersetzt, ein Datenkörper, der durch die elektronischen Spuren des Individuums gebildet wird. Soziale Beziehungen basieren immer mehr auf Kategorisierung von sogenannten Tags und symbolischen Indikatoren des Datenkörpers – nicht auf menschlichem Austausch. Persönliche Strategien, um die steigende Anzahl solcher Interaktionen zu bewältigen, führen zur Entwicklung von Reaktionsroutinen und einer verinnerlichten Maschinenlogik des Umgangs mit anderen. Die Individualisierung des Risikomanagements in der ökonomischen Auswertung von persönlichen Lebensdaten als maschinelle Kennzahlen führt zu einer immer weitergehenden Fragmentierung gesellschaftlicher Gruppen und steht im Gegensatz zu solidarischer und sozialer Verbundenheit.
13. Unsichtbare Kontrolle Kognitive Werkzeuge sind immer politisch und Klassifikationssysteme sind auch Träger einer Weltsicht. Technologien der Wahrnehmung maskiert als neutrale Codes sind nicht zuletzt Ausdruck politischer Philosophie. Informationsstrukturen in großen bürokratischen Organisationssystemen kodieren Intentionalität über das Individuum hinaus. In alltägliche Routine ein-
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gebettet, weben auch kleine Dienstprogramme kognitive Fäden in das Gewebe der Wirklichkeit, färben und formen auf subtile Weise die Wahrnehmung. Klassifizierung ist nicht nur Informationswerkzeug, sondern auch grundlegender Bestandteil der laufenden Konstruktion eines Arbeitskontexts und damit verbundener Prozesse und dynamischer Mechanismen. Klassifikationssysteme wiegen dabei schwerer als Fakten und schaffen Realitäten, die alles, was nicht in den Raster passt, ausschließen. Als unterstützende Strukturen des alltäglichen Lebens sind Klassifikationen sowohl konzeptionell als auch materiell und nicht nur eine Ressource für die Organisation von Abstraktionen, sondern eingeschrieben in die materielle Beschaffenheit physischer Objekte. Wenn technologische Systeme und kognitive Kategorisierungsmuster konvergieren, werden etablierte und weiträumig codierte Charakterisierungen schließlich als gegeben betrachtet. So wie in der neuronalen Adaption, dem Rückgang der Reaktion des sensorischen Systems auf einen konstanten Stimulus, werden Informationsstrukturen unsichtbar. Kategorien verwandeln sich in Gewohnheit und verschwinden unter gemeinsamen Annahmen. Je umfassender diese Formeln sind, umso schwerer sind sie zu erkennen. Eingewoben in Routinen des Alltags verblassen sie zu gespensterhafter Durchsichtigkeit.
14. Objektivierbare Rationalisierung Es ist eine der großen Kränkungen der modernen Menschheit, erfahren zu müssen, wie leicht berechenbar sie sein kann. Der Anstieg der statistischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert wird von Darwins Cousin Francis Galton verkörpert, der auch den Begriff der Eugenik prägte. Unter Nervenzusammenbrüchen leidend und vom obsessiven Zwang besessen, ständig Messungen vorzunehmen zu müssen, entdeckte der viktorianische Royal Society Fellow nicht nur mathematische Lösungen. Er war auch ein Pionier der forensischen Fingerabdrücke und der Biometrie zur Erfassung der dunkelhäutigen Untergebenen in den britischen Kolonien. Um in Märkten zu navigieren, werden statistische Kennzahlen verwendet und die operative Funktion der Märkte wurde zu einem bestimmenden Instrument der sozialen Kontrolle. Eine daraus genährte Obsession der Objektivierbarkeit verbindet sich mit einer Maschinenlogik von algorithmischen Prozessen, in der vor allem der irrationale Glaube an vermeintlich signifikante Zahlen zum Ausdruck kommt. Auch Soziologie und Geisteswissenschaften stehen unter dem Druck, sich als quantitative Wissenschaft zu objektivieren, selbst wenn dies mit ihrem Anspruch in Widerspruch steht, nicht quantifizierbares Wissen im sozialen Bereich zu untersuchen.
15. Symbolischer Klassifizierungskampf Eine sozialdarwinistisch enthemmte Ideologie westlicher Eliten postuliert Fortschritt vielfach als Resultat der Konkurrenz unter Individuen. Wirtschaftsideologien werden über wissenschaftliche Theorien und Technologien wieder auf die Gesellschaft zurückgespiegelt und verschaffen ihr damit ein scheinbar naturgesetzliches Fundament sowie den Anschein einer gleichsam natürlichen Wirtschaftsordnung. So wie die ökonomische Analyse des Manchester-Kapitalismus auf dem malthusianischen „Kampf ums Dasein“ aufbaut, wird „natürliche“ Auslese im Dienst politischer Ideologie zur universellen Entwicklungstheorie. Selektion und Konkurrenz werden als Grundlage gesellschaftlichen Fortschritts definiert. Allerdings wird in biologischen Systemen inzwischen weitgehend Kooperation als bestimmendes Prinzip erkannt. Nicht
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destruktiver Wettbewerb, sondern konstruktive Einschränkung von Konkurrenz ist charakteristisch für Evolution, und zwar auf allen Entwicklungsstufen. So sieht die Systemtheorie nicht Organismen als Individuen, die miteinander konkurrierend – wie auch immer – „ausgewählt“ würden, sondern Populationen und Arten als systemische Einheiten. Nicht zuletzt, weil die theoretischen Grundlagen klassischer Marktwirtschaftsideologie deutlich unter Druck gerieten, wurde das Credo von „Markt und Wettbewerb“ teilweise reformiert. Autonomie und Konsens wurden als neueste operative Herrschaftsstrategien instrumentalisiert und in das Arsenal der Macht aufgenommen.
16. Selbstbestimmte Kommunikation in offenen Systemen Das Vorangegangene zeigt die Notwendigkeit einer kritischen Betrachtung der Wechselwirkungen von Technologie und Gesellschaft. Es zeigt nicht nur die Bedeutung einer interdisziplinären Technikfolgenabschätzung, sondern auch den Bedarf an breiter Förderung von Medienkompetenz und der Befähigung zur kritischen Dekonstruktion mediatisierter Wirklichkeiten. Dies erscheint am wirkungsvollsten durch die Stärkung unabhängiger zivilgesellschaftlicher Initiativen; vor allem auch durch Rahmenbedingungen für offene Kooperationsformen und eine selbstbestimmte kulturelle Praxis außerhalb ökonomischer Zwänge. Nicht nur die Sichtbarkeit gesellschaftlicher Gruppen ist ein bestimmender Faktor von Urbanität. Freie Wahlen sind geheim, und zu Recht wird davon ausgegangen, dass Anonymität einen unverzichtbaren Schutz bietet. Abseits des „bösen Blicks“ von Überwachungs- und Kontrollregimen müssen Räume als Orte sozialer Praxis auch Unsichtbarkeit gewährleisten können.
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Paul Winkler
Kinematografische Propaganda und Zensur in Österreich-Ungarn von 1914–1918 als gescheitertes kybernetisches Modell Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/742
Abstract Paul Winkler untersucht in seiner historischen Abhandlung die Funktionsweisen der zivilen und militärischen Zensur in der Kriegspropaganda der K.-u.-k.-Monarchie … ging es in diesem Zusammenhang schon um eine Proto-Kybernetik? Winkler beantwortet diese Frage mit einem deutlichen „Ja“ und arbeitet heraus, dass der Erste Weltkrieg nicht die erste und nicht die letzte Phase militärischer Auseinandersetzungen gewesen ist, in welcher der Medienverbund von systematischer Propaganda und Zensur dazu missbraucht wurde, den Takt für einen verhängnisvollen Marsch vorzugeben. Cinematographic Propaganda and Censorship in Austria-Hungary 1914–1918 as a Failed Cybernetic Model. In his historical exposé, Paul Winkler examines the functions of civil and military censorship in the war propaganda of the Habsburg monarchy … Are we looking at a proto-cybernetics in this context? Winkler clearly affirms this and shows that World War I was not the first, or the last, phase of armed conflict in which the media system was exploited by systematic propaganda and censorship to beat the rhythm to a disastrous march.
1. Vorwort (Medien-)Pädagogik, verstanden als Medienverbund zur programmierten „Unterrichtung“ einer breiten Masse, wurde bereits vor 1914 erfahren. Zweifelsohne kam es jedoch während des Ersten Weltkriegs zu einer intensiven Orchestrierung der zur Verfügung stehenden Medien. Die angestrebte Volkserziehung kann dabei als kybernetisches Regelkreismodell betrachtet werden. Als ganz spezielles systemimmanentes Instrument stellte sich dabei das Kino heraus. Anfangs etwas zögerlich, verstand man es mit Verlauf des Krieges auch in der Donaumonarchie, die Möglichkeiten der bewegten Bilder immer umfassender auszunützen. Das Kino sollte als Regler dem Publikum Führungsgrößen vor Augen führen und das einzelne Individuum gleichzeitig zu einer Art Selbstregulation auffordern. Vorstellungs- und Wertewelten der Menschen sollten homogenisiert werden und das System in dieser Weise stabilisieren. Offenes Feedback war unerwünscht; Grundstimmungen und Diskurse innerhalb der Bevölkerung blieben jedoch nicht unbemerkt und wurden auf der Leinwand bearbeitet, wobei begründete Befürchtungen, Zweifel und Ängste zu entkräften versucht wurden. Mit fortschreitender Kriegsdauer taten sich Zensur und Propaganda immer schwerer, ein geschöntes Bild der Situation glaubhaft darzu-
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stellen. Schließlich vermochte das Flimmern der Leinwände, die Botschaften des Systems nicht mehr zu vermitteln. Das kybernetische Modell der Volkserziehung über Kamera und Leinwand, welches die Gesellschaft militärisch überprägte, Überlegenheit predigte, Gewalt normalisierte und das kriegsbedingte Sterben humanisierte, musste letztlich scheitern. Der vorliegende Artikel soll einen kurzen Einblick in den Aufbau dieses – letztlich gescheiterten – regulativen Werkes der kinematografischen Propaganda und Zensur in Österreich-Ungarn geben, wobei der Fokus auf der dokumentarischen Berichterstattung vom Krieg liegt, die eine vermeintliche Realität repräsentieren sollte.
2. Dokumentarische Propaganda „Mit Geschmack gewählte Naturaufnahmen, die eines gewissen aktuellen Anstriches nicht entbehren sollen, gewisse Films patriotischer Tendenz, wie Manöver, Übungen und das Leben unserer oder verbündeter Truppen – die der gegenwärtigen Stimmung Rechnung tragen und durch Strammheit und Haltung das Vertrauen zu unseren Armeen kräftigen, werden gewiß Beifall finden“ (Kinematographische Rundschau 1914, 336, 2). Mit der Aufgabe, derartige Aufnahmen zu tätigen, sind am 11. August 1914 zehn Kinoexposituren betraut worden. Auf Wunsch des k. u. k. Kriegsministeriums wurde das k. u. k. Armeeoberkommando beziehungsweise das k. u. k. Kriegspressequartier angehalten, die Exposituren zu kreieren. Die praktische Durchführung sollten die Sascha-Filmfabrik, die Wiener Kunstfilm und die Österreichisch-Ungarische Kinoindustrie bewerkstelligen. Die Aufstellung der Teams in militärischer Hinsicht oblag dem k. u. k. Kriegsarchiv (Der Filmbote 1918, 2, 8). Im September 1914 brachte die Wiener Kunstfilm die erste Kriegswochenschau heraus. (Fritz 1997, 69) Es waren bereits 8 Folgen des KRIEGS-JOURNALS (Ö-U 1914) der Wiener Kunstfilm erschienen, als die Sascha-Filmfabrik mit den Firmen Philipp und Pressburger und Österreichisch-Ungarische Kinoindustrie Gesellschaft die Serie Österreichischer Kino-Wochenbericht vom nördlichen und südlichen Kriegsschauplatz (Ö-U 1914–1916) veröffentlichte (Fritz 1997: 69). So kam es auch in Österreich-Ungarn „zu einer intensiven Nutzung des bestehenden bzw. eines noch zu installierenden Medienverbundes“ und eine intermediale, informationsbezogene Propagandakriegsführung wurde forciert (Ballhausen/Krenn 2003a, 145). Gerade jenes Genre, das sich als nonfiktional ausgab, konnte vorerst sehr gut für die Propaganda funktionalisiert werden (Jung 2009, 23). Der epochenspezifische Glaube an die technische Gerätschaft und ihre vermeintliche Fähigkeit, die Realität wahrheitsgetreu wiederzugeben, sowie das Verlangen des Publikums nach Authentizität machte gerade Kriegsbilder zu einem geeigneten Werkzeug der Propaganda: „Es ist wohl einleuchtend, daß die häufige Darstellung militärischer Szenen der eigenen Armee und Flotte, wenn geschickt in Angriff genommen und in möglichst großem Rahmen durchgeführt, durch die bekannte suggestive Massenwirkung der Kinos unendlich viel dazu beitragen würde, unsere Wehrmacht und ihre Einrichtungen in den breiten Schichten der Bevölkerung, also gerade in jenen, die uns bisher verhältnismäßig kühl gegenübergestanden sind, zu popularisieren“ (Kinematographische Rundschau 1914, 329, 8–9). 1914 wurden zuerst zwei Kinoexposituren vom Kriegspressequartier aufgestellt; fünf weitere sollten vom Kriegsarchiv geschaffen werden. Hauptmann Zitterhofer oblag dabei die Leitung von Zensur und Propaganda innerhalb des Kriegsarchivs. Weil jedoch die anfängliche Nachfrage nach Kriegsbildern schnell wieder einbrach, baten die drei Firmen mit Hinweis auf die schwere finanzielle Last um die Lösung ihrer Verträge. Der Vertrag wurde bis zum 6. August
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1915 aufgelöst und es wurde eine autonome Stelle mit dem Titel Kriegsfilmpropaganda unter Regie des Kriegsarchivs gebildet. Zum technischen Leiter wurde Sascha Kolowrat bestellt. Die Wiener Kunstfilm schied aus den weiteren militärischen Produktionen gänzlich aus, dagegen erlangte die Sascha-Filmfabrik schnell eine führende Rolle innerhalb der Kriegsfilmpropagandastelle. Nur sie war in der Lage, die Produktion entsprechend anzukurbeln (Mayer 1963, 83–86/ Schwarz 1992, 36/Wickenhauser 1967, 73–74). 1916 handelte Kolowrat eine Partnerschaft mit dem deutschen Film-Tycoon Oskar Messter aus, die zu einer weiteren Marktdominanz führte. (Krenn 1999, 42/Dassanowsky 2005, 21/ Bono 1999, 60) Die Zusammenarbeit zeigte sich in der Ausgabe der gemeinsamen Kriegswochenschau, Sascha-Messter-Woche (Ö-U /D, 1916/1917) (Bono 1999, 60). Mit Gründung der UFA 1917 in Berlin war die Zusammenarbeit zwischen Messter und Kolowrat jedoch beendet und der Rest von Kolowrats Firma wurde in die Sascha Filmindustrie AG Wien umgewandelt. (Fritz 1997, 70) 1917 ist die Kriegsfilmpropagandastelle auf Betreiben von Oberst Eisner-Bubna direkt dem Kriegspressequartier unterstellt worden und die direkte Leitung der Filmstelle ging gleichzeitig von Oberleutnant Sascha Kolowrat auf Hauptmann Otto Löwenstein über (Schwarz 1992, 36/ Mayer 1963, 88). „Die Filmpropaganda diente dem KPQ [=Kriegspressequartier] zur Propagierung des Krieges und sollte die Schwierigkeiten zeigen, unter denen die Truppen kämpften, weiters die hervorragende Wirkung der Verwaltung in den von der österreichisch-ungarischen Armee besetzten Gebieten, die Behandlung der Kriegsgefangenen, den kulturellen Zustand der Monarchie, die Volksernährung, die Kriegsbetriebe und die landschaftlichen Schönheiten der Monarchie. Endlich sollte sie auch der dynastischen Propaganda dienen.“ (Mayer 1963, 83) Das Interesse an diesen Bildern bestand jedoch nur so lange, als das Dargestellte und die aktuelle Situation nicht zu sehr auseinanderklafften. Dieser Zustand sollte bald eintreten (Baumeister 2003, 249). Ballhausen schreibt dazu: „Die unvorhergesehene Dauer der Ereignisse, das wechselnde Kriegsglück und wohl auch der Gewöhnungsfaktor lassen das Interesse allmählich sinken.“ (Ballhausen/Krenn 2003, Volksbildung, 25–26) Der Euphorie folgte eine schnell eintretende Ernüchterung und die dokumentarischen Bilder ließen sich nur mehr zu sehr billigen Preisen an die Kinos vergeben (Schwarz 1992, 37). Dazu ein Bericht von Major Zitterhofer, vormaliger Abteilungschef der Sascha-Filmindustrie und Leiter der Kriegsfilmpropaganda: „Mit der Zeit aber erlahmte das Interesse für den Kriegsfilm und man bekam die ewigen ‚Etappenbilder‘ herzlich satt. Dazumal konnte man unseren Kriegsfilm nur dadurch zur Vorführung bringen, daß man ihn zwischen das Drama und das Lustspiel einschob und das Publikum dadurch gewissermaßen zwang, diesen militärischen Film geneigtest zur Kenntnis zu nehmen“ (Ballhausen/Krenn 2003b, 26). Von den Kriegsschauplätzen wurden die privaten Filmfirmen ab 1917 wieder verdrängt, da das Kriegspressequartier die Propagandaaufnahmen selbst gestalten wollte. Zum Ausgleich sollten die privaten Firmen nun vermehrt Natur- und Industriebilder, als Beiprogramm zu den Kriegsberichten, herstellen (Kieninger/Thaller/Wostry 2009, 11). Die Not, die überall herrschte, konnte zu Kriegsende kaum noch beschönigt beziehungsweise mit Kriegsbildern gerechtfertigt werden. Vielmehr trat der Umstand, dass das Unterhaltungssystem Kino Kriegsalltag und soziale Not etwas erträglicher machen konnten, in den späten Kriegsjahren immer deutlicher hervor. So wurden auch für die Front eigene Vorführstätten eingerichtet. 87 dieser Frontkinos waren im Jahr 1917 für das Kriegsministerium aktiv (Österreichischer Komet 1917, 351, 4–5).
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Das Kino entwickelte sich, besonders in den letzten Jahren des Krieges, zu einem wertvollen sozialen Ventil und Stabilisator der Massen. Dieser Ort der Unterhaltung, an dem die Leiden und die Sorgen des Lebens sowie der schreckliche Hunger zumindest eine kurze Zeit vergessen werden konnten, war nicht einzusparen (Schwarz 1992, 35–38). Auch deshalb gestaltete sich das letzte halbe Jahr der Donaumonarchie, „trotz Hungers- und Kohlennot, der Spanischen Grippe und des Zusammenbruchs der politischen und gesellschaftlichen Ordnung“, zu einem der produktivsten der österreichischen Filmgeschichte (Kieninger/Thaller/Wostry 2009, 12).
3. Funktion der Zensur Zivile und militärische Zensur hatten im Allgemeinen die Aufgabe, darauf achtzugeben, dass moralische, religiöse, politische und nationale Sittenvorstellungen nicht verletzt wurden. Daneben sollte die Zensur für den Weiterbestand von Ordnung und Sicherheit sowie den Schutz der Jugend sorgen. Nicht nur ausländische Filme, sondern auch Produktionen aus dem Deutschen Reich und der Donaumonarchie wurden verboten oder zensuriert, wenn die Bilder beispielsweise zu „krasse Abschiedsszenen von ins Feld ziehenden Soldaten von ihren Angehörigen“ zeigten. Auch wurden Szenen entfernt, in denen die Grausamkeit des Krieges zu drastisch dargestellt wurde (Wickenhauser 1967, 96–102). Generell gab es die Weisung des Armeeoberkommandos, dass nichts gezeigt werden sollte, was „der rauhen Wirklichkeit allzunahe kam und geneigt war, herabzustimmen“ (Mayer 1963, 90). In der Folge wurden Bilder des Filmpersonals von der Front mit gestellten Szenen vermischt und dramaturgische Handlungen erarbeitet, die bei Frontsoldaten aber eher verspottet wurden, da es den Anschein hatte, als würde das Filmpersonal den eigentlichen Feuerbereich meiden (Mayer 1963, 90/Wickenhauser 1967, 104). Deshalb setzte sich Oberst Wilhelm Eisner-Bubna dafür ein, die Kriegswochen überhaupt nicht mehr zu zeigen beziehungsweise zumindest die Etappenbilder daraus entfernen zu lassen. Die militärische Zensur versuchte zudem, die militärische Geheimhaltung zu wahren. Keine Aufnahmen von Landschaften, die von taktischem Interesse sein konnten, durften gemacht werden. Moderne Kriegstechnik musste verschleiert werden und Stellungen durften nur gezeigt werden, wenn der gefilmte Bereich nicht mehr umkämpft war. (Ebd.)
4. Zivile Zensur ab 1914 Wie bisher wurde die Zensur von Filmen von der Polizeidirektion Wien durchgeführt, wobei die Ergebnisse lediglich eine Empfehlung für die übrigen Landesstellen darstellten (Ballhausen/Caneppele 2005, 12–13). Eine erste überregionale Maßnahme der zivilen Zensur, also der k. u. k. Polizeidirektion Wien, mit Ausbruch des Krieges war das Einfuhrverbot ausländischer Filme. Dieser Stimulationsversuch der heimischen Filmindustrie begann jedoch sehr zögerlich zu wirken, weshalb das Verbot in besonderen Fällen aufgehoben werden konnte, falls die Filme etwa der Propaganda Österreich-Ungarns dienten (Kinematographische Rundschau 1914, 338, 3–10). Um die KinoinhaberInnen nicht weiterzuschädigen, musste das Vorführverbot für bereits importierte Filme wieder aufgehoben werden. Bei den ausländischen Filmen mussten vor der Projektion alle Hinweise auf das Produktionsland entfernt werden (Kinematographische Rundschau 1914, 346: 2–3). Eine Veränderung der Vorgehensweise wurde im Juli 1916 durchgesetzt. Innerhalb der k. u. k. Polizeidirektion wurde die Zensur nun nicht mehr vom Administrativbüro, sondern vom
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Pressebüro unter Regierungsrat Dr. Arnold Habison durchgeführt. In diesem Jahr fielen etwa 250 Filme der Zensur zum Opfer (Kinematographische Rundschau 1916, 460: 16–91). Auch während des Krieges machte den Kinoindustriellen die Dezentralisierung der Zensur in der Donaumonarchie zu schaffen. Nachdem am 30. Juni 1916 in Innsbruck die Nachzensur aller Filme angeordnet worden war, verfasste der Bund der Kinoindustriellen eine Denkschrift über die Filmzensur in Österreich-Ungarn, die sich auf die Sonderregelungen in Tirol und Schlesien bezog. Ziel war wie schon vor dem Krieg eine Zentralisation der Zensurentscheidungen in Wien (Österreichischer Komet 1916, 326, 1–4/Wickenhauser 1967, 87). Ein weiteres zentrales Thema der Zensur in den Kriegsjahren war der Jugendschutz. Filmverbote konnten in den einzelnen Ländern separat von den Landesschulbehörden ausgesprochen werden (Ebd., 89). Während des Krieges machten die diversen Stellen rigorosen Gebrauch davon (Ebd., 89–94). So regte in Prag ein Zensurbeirat 1916 ein vollständiges Verbot von Vorstellungen für Jugendliche an (Ebd., 89). Durch den Vorschlag, den das Ministerium für Inneres guthieß, wurde in Mähren und Schlesien Druck auf die KinematografenbesitzerInnen ausgeübt, welche sich zum freiwilligen Verbot gezwungen sahen (Kinematographische Rundschau 1916, 440, 8). Zumindest in Schlesien wurde dieses Verbot jedoch für propagandistische Filme aufgehoben (Wickenhauser 1967, 91). Auch in Niederösterreich wurden die für Jugendliche freigegebenen Filme einer neuerlichen Zensur zugeführt und bis dahin verboten, wobei im Zensurkataster nun nur mehr die erlaubten Filme geführt wurden (Kinematographische Rundschau 1916, 460, 16–91). Interessanterweise erließ das Heeresgruppenkommando der Südwestfront eine Anordnung zum Schutz der Jugend, die an die Landesstellen von Tirol, Salzburg, Steiermark, Kärnten und Krain gerichtet war (Wickenhauser 1967, 91). Zusätzlich zu diesen Regionen kam es auch noch in Dalmatien und Oberösterreich zwischen 1916 und 1917 zu Regelungen, die Vorführungen für Jugendliche erst ab dem 17. Lebensjahr erlaubten, wobei speziell freigegebene Filme ausgenommen waren. Lediglich Triest strebte solch ein Verbot nur bis zum 12. Lebensjahr an und verwies bereits auf die stabilisierende Wirkung des Kinos, insbesondere in der Kriegszeit (ebd., 92–93). Das Ministerium für Kultus und Unterricht regte auch im Innenministerium eine ähnliche Regelung an, welche die Länderzensur verstärkend unterstützen sollte. Der – schließlich nicht umgesetzte – Entwurf einer Ministerialverordnung sollte den Besuch von Kinovorführungen von Jugendlichen bis zum 16. Lebensjahr verbieten, wobei Lehrfilme ausgenommen waren (ebd., 93–94). In einem Polizeidirektionsrunderlass aus Wien, hieß es: „[Es sollen] nur solche Filme zugelassen werden, die infolge ihres belehrenden oder harmlos-humoristischen Inhalts zur Vorfuehrung fuer die Jugend vollkommen geeignet sind. Unbedingt auszuschließen sind Films, die wertlose, nur nervenerregende Erzählungen aus dem Weltkriege oder Abenteuerund Detektivgeschichten, sowie Darstellungen verbrecherischer Szenen oder von Liebesszenen in den sogenannten Kinodramen zum Gegenstande haben“ (Ballhausen/Caneppele 2005, 15). Auf die dezentralen Jugendschutzgesetze folgte wiederum Kritik vonseiten der Kinoindustrie. Die Filmindustrie forderte die Einrichtung einer Berufungsinstanz gegen Verordnungen, die sich gegen die Filmindustrie richten. Erneut wurde die Vereinheitlichung und Zentralisierung der Zensur gefordert. Abermals stieß diese Kritik jedoch auf taube Ohren bei den zuständigen Behörden (ebd.). Das Ministerium für Kultus und Unterricht setzte sich dagegen für eine dezentrale Länderzensur ein, wovon es sich wohl erhoffte, dass es zu strengeren Zensurauflagen komme (Wickenhauser 1967, 93). Dem nicht genug, machte dieses Ministerium 1917 den Vorschlag, die Filmerzeugung, die Verwertung und die Vorführung zu monopolisieren und zu
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verstaatlichen. Auch dieser Vorschlag, der sich möglicherweise aus dem Modell der UFA nährte, wurde nicht umgesetzt (Ebd.). Trotz des 1916 ausgesprochenen Kinobesuchsverbots für unter 16-Jährige lässt sich jedoch mit Ausbruch des Krieges feststellen, dass die Kritik an der Institution Kino insgesamt, etwa vonseiten der Schule oder der Kirche, leiser wurde. Auch hierbei machte sich ein Effekt des Burgfriedens bemerkbar: „Von seiten der Kinobesitzer erwartete man sich zu Recht, daß [sic] die allzu eifrigen Reformer die ‚patriotische‛ und nationale Bedeutung des Kinos erkennen und schätzen lernen würden. […] Die Stimmen nach einer Reform des Kinos verstummten dann auch während des Krieges und hoben erst wieder am Beginn der Republik an“ (Schwarz 1992: 34).
5. Militärzensur Mit Einverständnis der zivilen Zensurstelle wurde nach Beginn des Krieges ein weiteres Zensuramt im k. u. k. Kriegsarchiv eingerichtet (Wickenhauser 1967, 73). Dessen Aufgabe war es, zunächst jene Filme zu zensurieren, welche die zehn Kinoexposituren produzierten, die durch das Kriegsarchiv aufgestellt worden waren (Der Filmbote 1918, 2, 8–22). Dass neben der Produktion von Filmmaterial von Kriegsschauplätzen auch die Zensur dem Kriegsarchiv übergeben wurde, hatte Generalmajor Maximilian Ritter von Hoen entschieden (ebd.). Innerhalb des Kriegsarchivs oblag die Zensur Hauptmann Karl Zitterhofer, der damit gleichzeitig die Kriegsfilmpropaganda leitete (Mayer 1963, 83). Für die bearbeiteten Filme wurden Zensurkarten ausgestellt, die seit 1915 mit einem Stempel des Kriegsarchivs gekennzeichnet wurden (Wickenhauser 1967, 74). Als die selbstständige Zentralstelle Kriegsfilmpropaganda ins Leben gerufen wurde, mussten Aufzeichnungen dieser Stelle an die Zensurstelle des Kriegsarchivs gesandt werden (ebd.). Die zensurierten Negative wurden dann an die Sascha-Filmfabrik und die Österreichisch-Ungarische Kinoindustrie zurückgesandt. Diese Firmen waren für die praktische Arbeit innerhalb der Kinoexposituren zuständig und konnten das zensurierte Material danach geschäftlich verwerten. Material, das verboten wurde, wurde im Kriegsarchiv gelagert und erlaubte Filme wurden auch an das Pressebüro des Kriegsministeriums weitergeleitet (ebd., 75). Ende Dezember 1915 kam es zu einem neuerlichen Umbau der Strukturen innerhalb des Kriegsministeriums. Generalmajor Maximilian Ritter von Hoen wurde zum Leiter des Kriegsarchivs ernannt (Der Filmbote 1918, 2, 8–22). Dem Kriegspressequartier stand von nun an Oberst Wilhelm Eisner-Bubna vor (ebd.), der beim Armeeoberkommando durchsetzte, dass Kriegsfilmpropaganda- und Zensurstelle an das Kriegspressequartier übergingen (Mayer 1963, 87–88). Am 25. September 1917 wurde die Kriegsfilmpropaganda Feldmarschallleutnant Teisinger unterstellt. Kolowrat verzichtete auf eine Beteiligung, da ihm Eisner-Bubna rein geschäftliche Interessen am Amt vorgeworfen hatte (Wickenhauser 1967, 76). Vorstand der eingerichteten Filmstelle, welche die eigentlichen Aufnahmen tätigte, wurde Hauptmann Otto Löwenstein (ebd.). Bis 1917 wurden militärische Aufnahmen auch noch durch die zivile Zensurstelle der Polizeidirektion zensuriert, wobei hierfür eine/ein VertreterIn des Kriegspressequartiers anwesend war. Erst im Verlauf des Jahres 1917 wurden militärische Filme ausschließlich von der Filmstelle des Kriegspressequartiers auf ihre militärische Zulässigkeit hin zensuriert. Trotzdem wurden sie danach mit einer Bescheinigung der zivilen Behörde zugesandt, die dann noch die Zensur in Bezug auf moralische, religiöse, politische Sittlichkeit und im Sinne des Jugendschutzes durchführte. Dabei machte sich jedoch wieder die durchgreifende Propaganda der Kriegszeit
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und die Burgfrieden-Politik der Kontrollorgane bemerkbar, denn wurde auch der Jugendschutz während des Krieges zum Leidwesen der Kinoindustrie verschärft, so wurden militärische Aufnahmen, welche authentischen Inhalt versprachen, allesamt als belehrende und jugendbildende Filme für Jugendvorstellungen zugelassen (ebd., 77). Am 9. und 10. Juli 1917 machte Oberst Eisner-Bubna bei einer Besprechung über die Kriegsfilmpropaganda (ebd.) einen neuerlichen Vorstoß dahingehend, dass die Filme der Filmstelle nun tatsächlich nur mehr der militärischen Zensur zugeführt werden sollten (ebd., 77–78), wobei auf alle Bereiche der Zensur Rücksicht genommen werden sollte und hierfür ein Vertreter des Ministeriums des Inneren der Zensur beiwohnen sollte (ebd., 78). Er schlug außerdem vor, eine Zensur von militärischem Material in den Landesstellen zu unterbinden (Wickenhauser 1967, 78). Schließlich sollte die gesamte Filmzensur im Kriegspressequartier vereinigt werden (ebd.). Eisner-Bubna beabsichtigte, die zivile Zensur gänzlich aufzuheben und eine einzige, zentrale Zensur von zivilen und militärischen Filmen der Donaumonarchie innerhalb des Kriegspressequartiers zu schaffen (ebd.). Das Innenministerium verhinderte eine Durchsetzung dieses Vorstoßes, kam Eisner-Bubna jedoch insofern entgegen, als es die zivile Zensurtätigkeit von militärischem Material verstärkt unter Einbeziehung des Kriegspressequartiers durchführen ließ und die daraus resultierenden Zensurentscheide auch in den Landesstellen anerkannt werden sollten (ebd., 78–80). Schließlich einigten sich das Armeeoberkommando und das Innenministerium darauf, eine Zensurkommission in der Polizeidirektion Wien zu etablieren, in der das Kriegspressequartier ständig vertreten war. Diese Kommission sollte alle militärisch relevanten Filme zensurieren und Zensurkarten erstellen, die für das gesamte Gebiet der Monarchie gelten sollten (ebd., 81). Eine eigenständige Zensurtätigkeit von militärischem Material in den Landesstellen sollte unterbunden werden. Das Kriegsende verhinderte jedoch eine Durchführung dieser neuen Regelungen (Wickenhauser 1967, 73–81).
6. Resümee Was Gertraude Bub über die Situation im deutschen Reich schrieb, kann in eben dieser Form auch für die kinematografischen Propaganda- und Zensurbestrebungen in der Habsburgermonarchie übernommen werden: „Dass die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz dieser ‚vaterländischen Märchen‘ beim Publikum eng mit den patriotischen Hochgefühlen und der anfänglichen Siegesgewissheit zusammenhingen, zeigte sich spätestens Mitte 1915. Die Offensivstrategien der kriegführenden Parteien waren gescheitert, der Blitzkrieg im verlustreichen Stellungskrieg erstarrt und die Bevölkerung bevorzugte wieder die üblichen Possen, Schwänke, Gesellschaftsdramen etc. ohne militärische oder vaterländische Zutaten“ (Bub 1938, 109). Die kinematografische Propaganda und Zensur begannen somit bereits während des Krieges, ihre Glaubwürdigkeit und damit ihre Wirksamkeit zu verlieren. Dem schlussendlichen Scheitern dieses kybernetischen Regelkreismodelles sollte der innere wie äußere Kollaps der Donau monarchie bald folgen. Der Erste Weltkrieg war nicht die erste und nicht die letzte Phase militärischer Auseinandersetzungen, in dem der Medienverbund von systematischer Propaganda und Zensur dazu missbraucht wurde, den Takt für einen verhängnisvollen Marsch, vorzugeben. Einen Todesmarsch, der nicht bloß als unausweichlich dargestellt wurde, sondern gar als reinigendes Stahlgewitter beschrieben wurde und in dem der Blutzoll der/des Einzelnen heilige Pflicht an den Konstruktionen von Nation, Volk oder Religion bedeutete.
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In diesem Sinn geht auch Norman Paech auf die Phrase „Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst“ ein und prangert die absurden Rechtfertigungen von Kriegsverbrechen an. Gleiwitz 1939, Tonkin 1964, Kuwait 1990, Jugoslawien 1999, Irak 2003 oder Syrien 2013 sind dabei nur einige Beispiele, in denen dem Publikum die Notwendigkeit vom Krieg über mediale Kanäle weisgemacht wurde (Paech 2013, 1–8). Der Medienverbund besitzt – so viel steht fest – Erstschlagkapazität. Bewusste Aufnahme von und Misstrauen gegenüber medialem Input sowie Reflexion der vermeintlich allgemeingültigen Wahrheiten sind notwendiger Schutz der RezipientInnen. Denn, um Carl von Clausewitz zu paraphrasieren: Die (Fehl-)Information ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.
Literatur Publizistische Quellen
Der Filmbote – Zeitschrift für alle Zweige der Kinematographie beziehungsweise Offizielles Organ des Bundes der Kinoindustriellen in Österreich (Bestand FAA für das Jahr 1918). Kinematographische Rundschau – Organ für die gesamte Kinematographen-, Phonographen-, Grammophon-Industrie und deren Schaustellung; Offizielles Organ des Reichsverbandes der Kinematographen-Besitzer beziehungsweise Offizielles Organ des Vereins reisender Schausteller und Berufsgenossen ‚Die Schwalbe‘ mit dem Beiblatt „Der Chronograph“ (Bestand FAA für die Jahre 1914 bis 1918). Österreichischer Komet – Fachblatt für Kinematographie, Phonographie und verwandte Branchen beziehungsweise Zentralorgan für Schausteller aller Art (Bestand FAA für die Jahre 1914 bis 1918).
Primärliteratur
Ballhausen, Thomas/Caneppele, Paolo (2005): Die Filmzensur in der österreichischen Presse bis 1938: Eine Auswahl historischer Quellentexte, Wien: Turia + Kant.
Sekundärliteratur
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Onlinequellen
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Katharina Stöger
Beobachten Sie mich! Über die Möglichkeiten von Videoüberwachung in Jörg Kalts Crash Test Dummies Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/743
Abstract Katharina Stöger macht sich auf die Suche nach den Dispositiven der Beobachtung und Überwachung in Jörg Kalts Crash Test Dummies aus dem Jahr 2008 … Werden wir beobachtet? Beobachten wir? Wer beobachtet wen? Werden Beobachter von Beobachtern beobachtet? Jörg Kalt erzeugte ganz im Sinne derartiger Fragen in seinen Filmen stets eine eigene Wirklichkeit mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die Videoüberwachung, die in seinem letzten Film Crash Test Dummies zum Einsatz kommt, ihrem eigentlichen Zweck der Kontrolle enthoben und als reziprokes Kommunikationsinstrument eingesetzt wird. Seine Figuren lässt Kalt wie Testpersonen aufeinanderprallen und zeigt die Versuche einer zwischenmenschlichen Interaktion, wenn direkte soziale Kontakte und sprachliche Kommunikation scheitern. Mit Bezug auf Kalts Biografie soll deutlich gemacht werden, wie autoritäre Systeme „gecrasht“ werden können und wie der Regisseur selbst seinen Film „hackt“, ein Film, der sinnbildlich für einen Abschnitt der österreichischen Filmgeschichte steht. Watch Me! – On the Possibilities of Video Surveillance in Jörg Kalt’s Crash Test Dummies. Katharina Stöger traces the dispositives of observation and surveillance in Jörg Kalt’s 2008 Crash Test Dummies … Are we being watched? Are we watching? Who is watching whom? Do observers observe observers? In his films, Jörg Kalt always creates a separate reality with its own laws. Therefore, it is not surprising that the video surveillance in his last film Crash Test Dummies is divested of its original purpose of control and used as a reciprocal instrument of communication. Kalt has his characters collide with each other like experimental subjects and shows attempts at interpersonal interaction when direct social contact and verbal communication fail. A reference to Kalt’s biography aims to highlight how authoritarian systems can be “crashed”, and how the director “hacks” his own film, which is symbolic of a period of Austrian film history.
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Crash Test Dummies, Jörg Kalt (2008), Quelle: Amazon.
1. Crash Test Dummies Als Dummies werden betriebsunfähige Überwachungskameras bezeichnet, die allein durch ihre Präsenz der Verbrechensprävention dienen sollen (Vgl. Kammerer 2008, 10). In Jörg Kalts Crash Test Dummies (2005) sind zwar alle Kameras die Bildproduktion betreffend voll funktionsfähig, werden jedoch ihrem eigentlichen Zweck enthoben. Der letzte Film des 2007 verstorbenen schweizerisch-österreichischen Filmemachers bespricht in seinen schönsten Momenten eines der Kernanliegen des bis heute nahezu unbekannten Regisseurs – des Widersetzens gegen autoritäre Instanzen – und wirft einen ganz eigenen Blick auf die Möglichkeiten von Videoüberwachung. Jörg Kalt wird 1967 in Suresnes bei Paris geboren, wächst in München und Zürich auf und erfährt früh eine literarische Gesinnung im Kreise von Schweizer „Pataphysikern“. 1992 beginnt er literarische Kolumnen in der Sparte Kino für das Schweizer Kulturmagazin du zu schreiben, nahezu zeitgleich startet seine filmische Laufbahn in Prag 1991 an der Filmschule FAMU, wo er ein einjähriges Ausländerprogramm besucht und seinen ersten Film Eternity starts here (1993) verwirklicht, dessen Titel sehr treffend sein weiteres künstlerisches Schaffen voraussagt. 1994 zieht er nach Wien und besucht dort die Filmakademie. Im Umfeld des aufkeimenden sozialrealistischen New Austrian Cinema rund um Barbara Albert, Kathrin Resetarits und Jessica Hausner schaffen Kalts vom tschechischen Surrealismus, der „Pataphysik“ und dem literarischen Umfeld Dürrenmatts und seinen amerikanischen Helden Kurt Vonnegut, Hunter S. Thompson oder Charles Bukowski geprägten Filme den Durchbruch nicht. Jörg Kalt ist bis heute ein Unbekannter der österreichischen Filmszene geblieben. Kalt passt nicht in das neue naturalistische Kino, er entwirft seine eigenen Wirklichkeiten, die ihre eigene Logik und Gesetzmäßigkeiten besitzen. Am deutlichsten geschieht das in seinem Diplomfilm Richtung Zukunft durch die Nacht (2002), die Liebesgeschichte eines arbeitslosen Vorspeisenkochs und einer asynchronen Filmstudentin, in der sich an ihrem Ende die Zeit umdreht und den Film rückwärtslaufen lässt. In die Rolle des Außenseiters gedrängt, aber durchaus auch selbst hineingewählt, widersetzt sich Kalt allen Gesetzmäßigkeiten und autoritären Instanzen. Von der Prager Filmschule fühlt er sich ausgebeutet und widmet ihr daher seinen ersten Film, lässt einen Mann aus den endlosen U-Bahn-Schächten nicht mehr entkommen, er wird in die Ewigkeit geführt – die Toilette des Café Slavia, das sich unter den Räumlichkeiten
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der Filmschule befindet – und trifft dort auf eine Gottesgestalt, die in ihrem Aussehen einem FAMU-Professor gleicht. Der Mann wird aufgefordert, sich selbst eine sinnlose Tätigkeit zu wählen, die er in alle Ewigkeit ausführen soll. Auch in Wien stellt er sich quer, berüchtigt sind seine Kämpfe mit Professoren, Filmkritikern und Filmszene, die er mitunter auch medial durch seine sehr autobiografischen du-Kolumnen ausfechtet. Namenlos als „skurriles Buberlkino“ bezeichnet, antwortet Kalt beispielsweise mit der Kolumne „Die Leiche lebt“: „Ich sa[ß] jeden Abend im Foyer des Festivalkinos, nagte an den Hälsen von Bierflaschen und schwor öffentliche Rache. Dann kam der Abend an dem wir gewannen. […] Die Nase stob an uns vorbei. Ich folgte ihr. In der Toilette kamen wir zum Stehen. Ich fragte die Nase, was sie morgen schreiben würde. Sie murmelte ‚Mimose‛ und begann sich zu entleeren, stellte sich neben einen anderen stadtbekannten Filmkritiker und füllte Porzellan. […] Niki parkte den Wagen neben dem Lokal, in dem das Abschlussfest gefeiert wurde. Das leise Eiern des Motors lie[ß] uns fast einschlafen. Dann öffnete sich die Tür, eine Gestalt taumelte ins Gegenlicht der aufgehenden Sonne. Ein schnobernder Nasenschatten legte sich auf die Kühlerhaube. Niki fuhr los. Wir erwischten ihn in der Kniekehle, die Nase sank zu Boden. Niki öffnete den Kofferraum, Eva und ich schulterten den Journalisten und legten ihn hinein. ,Mimose‛ murmelte ich und schloss den Deckel.“ (Kalt 1999) In der Vermischung von Fiktion und einer sich tatsächlich zugetragenen Episode, die noch heute als Anekdote in der Filmszene herumgeistert, veröffentlicht Kalt medial und auf einem Umweg über die Schweiz ebenso persönliche Erlebnisse wie Meinungen über die österreichische Filmpolitik und verschafft sich über die literarische Kolumne ein Sprachrohr, das in der österreichischen medialen Öffentlichkeit leider kein Gehör findet und hackt somit still ein System, das filmische Arbeiten jenseits des New Austrian Cinema auszuschließen schien (vgl. Stöger 2014). Ähnlich verfährt er mit seinen zahlreichen Filmideen, die aus Zeit- und vor allem Geldmangel nicht filmisch realisiert werden konnten. Als „mögliche Filme“ bzw. „noch nicht gedrehte Filme“ veröffentlicht er im du einen kleinen, aber sehr schönen Protest, der den Filmen doch noch zu ihrer Veröffentlichung verholfen hat und sie in der Imagination der LeserInnen verhaftet. In diesem Stadium steckt bis heute sein letzter Film Tiere, während der Vorbereitungen des Films begeht Jörg Kalt 2007 Suizid und lässt das unverfilmte Drehbuch zurück. Posthum erschien 2008 eine Sammlung von ausgewählten Kolumnen, die sowohl den ersten Entwurf von Tiere enthält, als auch einen guten Überblick über sein literarisches Schaffen gibt (Kalt 2008). Jörg Kalts letzter realisierter Film ist Crash Test Dummies, ein Episodenfilm, der sich aufgrund seiner Entstehungsgeschichte stärker dem New Austrian Cinema anzunähern und somit am weitesten von seinen anderen Arbeiten entfernt scheint. Von Antonin Svoboda stammt die ursprüngliche Idee, gemeinsam mit Kalt entwickelt er das Drehbuch für das Projekt hundertjahrekino. Der Film wird nicht verwirklicht, bleibt zehn Jahre liegen, bis Kalt das Drehbuch umschreibt und nun aktiv am neuen österreichischen Kino mitpartizipiert, ohne jedoch seine Handschrift zu verlieren. Auch inhaltlich geschieht scheinbar eine Annäherung zum New Austrian Cinema. In dem episodisch erzählten Film stehen sich zwei Paare gegenüber. Die Rumänen Ana und Nicolae und die Österreicher Martha und Jan. Nach Episoden aufgeschlüsselt, sind drei Handlungsstränge bestimmend, einer folgt dem rumänischen Pärchen Ana und Nicolae nach Wien, um von dort ein geklautes Auto abzuholen und zurück nach Bukarest zu führen. In Österreich angekommen, erfahren sie, dass das Auto noch nicht gestohlen ist und sie die Zeit hier totschlagen müssen. Vor dem Hintergrund der EU-Erweiterung um zehn Mit-
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gliedsstaaten im Jahr 2004 trifft Crash Test Dummies den damaligen Nerv, hier wird deshalb auch der Schwerpunkt des Films gesehen und eine enge Verbindung zu Barbara Alberts Nordrand (1999) hergestellt, der als Ausgangspunkt des New Austrian Cinema gehandelt wird. Außer Acht gelassen und darum umso spannender wird dabei ein Kernthema, das sich auf den Erzählstrang des österreichischen Paares konzentriert. Die Titel gebende Episode der Crash Test Dummies folgt Martha und Sky, die sich als ebensolche ihr Geld verdienen. Martha, die nebenbei auch noch als Medikamententesterin beschäftigt ist, hat als einzige Verbindungen zu allen Figuren und führt am Ende den Film an seine Ausgangsposition zurück. Ihr Mitbewohner Jan, ein Toupet tragender, eben seinen Führerschein verloren, angehender Kaufhausdetektiv, hängt immer noch seiner Exfreundin Rita nach, die die Wohnung nebenan bewohnt. Seine Episode behandelt die Rolle der Überwachung und stellt Autorität infrage. Im Folgenden soll die Konzentration auf dem bisher unbeachteten Aspekt der Überwachung in Crash Test Dummies liegen. Nach der Frage, wie Videoüberwachung in Kalts Film dargestellt wird, werden die Möglichkeiten einer anderen Nutzung von Überwachungskameras untersucht, die vor allem über den Austausch von Blicken und Sehverhältnissen funktioniert. Ein abschließendes Resümee zeigt, wie Sprache und Schrift in Crash Test Dummies zum Einsatz kommen und Kalt sich selbst in seinen Film einschreibt.
2. Bilder der Überwachung „Leben und Arbeit in einer Kontrollgesellschaft gleicht dem Fahren auf einer Autobahn: scheinbare Freiheit bei vollständig kontrollierter Bewegung.“ (Kammerer 2008, 132) Dietmar Kammerer, der sich in seinem Buch mit „Bildern der Überwachung“ auseinandersetzt, beschreibt hier mit Bezug auf Deleuze den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft. Anstatt durch Begrenzung zu disziplinieren, wird das scheinbare Sich-frei-bewegen-Können reguliert. Auch in Jörg Kalts Crash Test Dummies sind die sich frei und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Richtungen im Raum bewegenden Figuren ständiger Kontrolle unterzogen. Schon die Titelsequenz des Films deutet die Verbindung zwischen Beweglichkeit und Regulation an. Eine am Dach des Busses, der die Rumänen Ana und Nicolae nach Wien bringt, befestigte Kamera gibt zu „Woman driving, man sleeping“ von The Eels den Blick auf Wien frei, fernab von idyllischen Touristenattraktionen. Diese transistorische Sequenz zeigt Bilder der Freiheit, des Vorankommens, kündigt zu Beginn des Films einen Anfang an; die Mitwirkenden des Films, die sich in Form von Schriftzeichen auf das Busdach setzen, fahren gemeinsam mit den Protagonisten in den Film ein. Kurz zuvor jedoch wurde das rumänische Pärchen an der Grenze kontrolliert, über ihren Familienstand und Aufenthaltsgrund ausgefragt und einer Leibesvisitation unterzogen. Am nächsten Morgen werden Sie, weil sie aufgrund des ungeplanten Aufenthalts ihre Nacht im Park verbringen am nächsten Morgen uncharmant von einem Parkwächter geweckt, der Blätter auf sie wirft und mit einem Lächeln beobachtet. Einfach so herumliegen, das geht nicht. Auch als Nicolae, der von völliger Freiheit und Reisen träumt, ein bisschen Geld mit Straßenmusik zu verdienen versucht, tauchen schnell zwei Beamte auf, die nach einer Genehmigung verlangen. Nachdem Nicolae, der die deutsche Sprache nicht versteht, den Wachmann in seiner Muttersprache beschimpft, bekommt er von dem eins auf die Nase, denn aufgrund seines familiären Hintergrundes versteht der Polizist sehr wohl Rumänisch. Davon abgesehen,
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wird das Geschehen in Crash Test Dummies, das sich großteils am (ehemaligen) Bahnhof Wien Mitte abspielt, ständig von Überwachungskameras kontrolliert. Der Detektiv Jan ist nicht nur als Beobachter Teil dieser Kontrollgesellschaft, sondern wird auch selbst von dieser reguliert. Seine Freizeit verbringt er zum Beispiel vor dem Fernseher und unterhält sich lethargisch mit Tele-Shopping und Tele-Gym-Dauersendungen, die ebenfalls durch die Etablierung einer Kontrollgesellschaft entstanden sind. „Alles kann nun von überall aus und rund um die Uhr erledigt werden. […] So dehnen sich die Institutionen ins Grenzenlose aus.“ (Kammerer 2008, 132) Auch Jans Mitbewohnerin Martha, die sich einerseits scheinbar völlig frei in ihrer Welt bewegt und sich um keine Verpflichtungen wie Miete oder Hundebetreuung kümmert, ist andererseits durch ihre Arbeit als Testperson ständigen Kontrollen ausgesetzt, die vom Mouthcheck des Arztes bis zur Überwachung der Crashtests reichen. Diese ständige Diskrepanz zwischen Bewegung und Stillstand, Freiheit und Kontrolle hat auch Jörg Kalt selbst als das Kernthema seines Films beschrieben. „Bei Crash-Tests, in denen Menschen statt Dummies eingesetzt werden, geht es weniger um Geschwindigkeit als um Beschleunigung. Die Testpersonen werden mit der vierfachen Erdanziehungskraft, also vier G, auf nur zehn Stundenkilometer beschleunigt. Auch in Crash Test Dummies geht es um hohe Beschleunigung und niedrige Geschwindigkeit. Die Rumänen Ana und Nicolae erreichen Wien mit einer hohen Bewegungsenergie, werden hier abrupt abgestoppt und geben diese Energie weiter, bewegen andere Menschen, auf die sie stoßen. Wie lebt man sein Leben und wo lebt man sein Leben, tut man etwas und steht auf oder bleibt man sitzen? Beobachtet man oder greift man ein, bewegt man oder wird man bewegt?“ (Berlinale 2005) Um sich mit den Möglichkeiten von Videoüberwachung beschäftigen zu können, scheint es mir sinnvoll, zuerst einen Blick auf die Darstellung von Überwachung zu werfen. Wie funktioniert Videoüberwachung in Jörg Kalts Crash Test Dummies? Jan Keller übernimmt für zwei Wochen die Kurvertretung für den Kaufhausdetektiv Schlaginhauf am Bahnhof Wien Mitte. Der erste Blick, den Jörg Kalt im Überwachungsraum freigibt, fällt auf die Monitorwand, die aus sechs Bildschirmen besteht. Schlaginhauf: „3 Etagen, 16 Kameras. Die Monitore sind strahlungsarm. Zu nahe dran würde ich trotzdem nicht gehen. Schlecht für die Augen, verstehen Sie?“ Jan: „Ja, versteh ich.“ Schlaginhauf: „Die Kameras regulieren sich automatisch nach den Lichtverhältnissen. Trotzdem, manchmal hilft nachstellen. Hell, dunkel, Kontrast.“ Auf einem Monitor werden Ana und Nicolae sichtbar, die sich in einem Gang des Supermarktes befinden. Es erfolgt ein Schnitt vom Überwachungsbild auf das Filmbild. Nicolae fragt Ana, ob sie Pilze möchte, und öffnet ein Glas, um daran zu riechen und es angewidert wieder ins Regal zurückzustellen. Zurück im Monitorraum werden sie dabei von Jan und Schlaginhauf beobachtet. Schlaginhauf: „Ich bin seit 30 Jahren in diesem Geschäft, ich weiß, wenn einer was stehlen will, sogar bevor er es selber weiß. Haben Sie das gesehen?“ Jan: „Nein.“ Schlaginhauf: „Bei uns wird immer alles sofort angezeigt. Beobachten Sie mich!“ Doch anstatt dem Detektiv aufmerksam bei der Arbeit zuzusehen, hört Jan inzwischen lieber seinen Anrufbeantworter ab. Während auf dem Überwachungsbild Schlaginhauf Ana und Nicolae an der Kasse zur Rede stellt und sie zum Kauf des Pilzglases zwingt, hört Jan seiner
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Ex-Freundin Rita zu, die die Verabredung zum Kino absagt, ihn aber um das Füttern ihrer Katze bittet. Jan kann gerade noch verärgert den Hörer auflegen, bevor Schlaginhauf in den Überwachungsraum zurückkehrt. „Gesehen?“ Folgt man Dietmar Kammerers Untersuchungen, so entspricht Jörg Kalts Monitorraum nur teilweise den typischen Ausstattungsmerkmalen einer Überwachungszentrale (Vgl. Kammerer 2008, 145 f.). Am markantesten ist die Monitorwand. Jedoch anders als im reellen Alltag der Videoüberwachung fehlt in Crash Test Dummies der sogenannte Ereignismonitor oder spot monitor, der es dem Überwachungspersonal erlaubt, eine detaillierte Sicht auf ein Ereignis zu nehmen, das sie, anders als die Bilder der Monitorwände, selbstständig verfolgen, heranzoomen und steuern können. Die Monitorwand, die durch selektive Bilder einen groben Überblick verschafft, wird in der Praxis kaum in Anspruch genommen, in Kalts Film stellt sie jedoch die einzige Bildquelle dar. Der Ereignismonitor scheint sich allerdings in Jan zu personifizieren, der sich, wie sich noch zeigen wird, ganz eigenmächtig auf persönliche Interessen konzentriert und seinen beobachtenden Blick stark selektiert und auf bestimmte Details richtet. „Der monitor bezeichnet sowohl den visuellen oder akustischen Empfangsapparat als auch die Person, die vor diesem Apparat sitzt und zuhört oder zusieht. Ein monitor ist keine Leinwand, sondern ein Filter von Informationen“ (Kammerer 2008, 156). Beobachtet Jan etwas, das sein Interesse weckt, so nutzt er keinen Kamerazoom, um das Gesehene näher zu erfassen, sondern er bewegt sich physisch näher an den Bildschirm, geht mit dem Gesicht ganz dicht an den Monitor, um scheinbar genauer hinsehen zu können. Im Gegensatz zu Jan nimmt der Detektiv Schlaginhauf seine Rolle als Überwachungsorgan sehr ernst und identifiziert sich anscheinend stark mit dem Meisterdetektiv Nick Knatterton, dem Helden einer Comicserie der 1950er Jahre, zumindest lassen die Comichefte im Monitorraum und sein äußerliches Erscheinungsbild, das sich u. a. mit Karojacket an einer dicklichen Version des gezeichneten Ermittlers versucht, darauf schließen. Ähnlich wie sein Vorbild Nick Knatterton, der stets mit den Worten „Kombiniere …“ der Lösung eines Kriminalfalls auf der Spur gewesen ist, behauptet auch Schlaginhauf, bereits vor dem Täter die Straftat zu bemerken, und schreitet mit dem ähnlich formelhaften Ausspruch „Beobachten Sie mich!“ zur Überführung der Ladendiebe. Hans Schifferle ist einer der wenigen, die auf die Thematik der Überwachung in Crash Test Dummies hinweisen, und schreibt in seiner Kritik: „Er [Jan, Anm. K. S.] ist mehr ein müder Voyeur eines trostlosen Konsumverhaltens als ein Nick Knatterton der Postmoderne, der er so gern wäre“ (Schifferle 2007, 49). Wenn die Bezeichnung als „müder Voyeur“ oder passiver Beobachter durchaus treffend gewählt ist, ist es dennoch nicht korrekt, dass sich Jan als Meisterdetektiv identifiziert, im Gegenteil, er empfindet seine Rolle als autoritäre Instanz weniger erfüllend. Wenn er privat seiner Ex-Freundin Rita, die die Wohnung nebenan bewohnt, nachspioniert, ist er beruflich lieber nachsichtig als vorsichtig. Jan, der eben seinen Führerschein verloren hat, verhält sich privat nämlich nicht ganz regelkonform, weshalb er eine gewisse Sympathie für die Ladendiebe im Supermarkt empfindet. Um seinen Führerschein wiederzubekommen, muss Jan mit anderen Verkehrssündern einen Kurs wiederholen. Als der Kursleiter bei der Alkoholkontrolle eines anderen Teilnehmers eine zu hohe Promilleanzahl feststellt und den Vorfall melden will, was den endgültigen Verlust des Führerscheins für den Berufsfahrer bedeuten würde, bemerkt Jan, dass die Entscheidung des Kursleiters völlig lächerlich sei. Als ihn dieser daraufhin fragt, ob er ein Problem mit Autoritäten hätte, erwidert Jan: „Mit Autoritäten schon, aber mit Ihnen nicht.“ Jan ist also völlig ungeeignet für den Beruf als Kaufhausdetektiv und nutzt dadurch seine zweiwöchige Zeit als Kurvertretung dazu, die Über-
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wachungstechnik ihrer eigentlichen Funktion zu entheben und sie für seine Interessen ihrem Zweck zu entfremden. Bevor darauf näher eingegangen wird, erscheint mir ein weiteres Merkmal eines Monitorraums erwähnenswert, das bei Jörg Kalt einen besonderen Einsatz erfährt. Dietmar Kammerer weist auf die strenge Lichtökonomie eines Überwachungsraumes hin, der genügend Licht für administrative Tätigkeiten bieten muss, aber auch nicht die Sicht auf die Monitore behindern darf (vgl. Kammerer 2008, 147f.). Im Monitorraum in Jörg Kalts Crash Test Dummies herrscht hingegen nahezu völlige Dunkelheit, lediglich die Monitore und eine indirekte Beleuchtung hinter der Monitorwand geben Licht. Durch das Dunkel des Raumes ist auch eine besondere Inszenierung von Licht möglich. Als Jan eine Ladendiebin überführt und sie in den Monitorraum bringt, spendet eine über dem Tisch angebrachte Hängelampe etwas Licht. Der Lichtkegel beleuchtet nur den Tisch mit dem Diebesgut und die Täterin und lässt dadurch den Eindruck einer typischen Verhörsituation entstehen. Als Jan die Frau laufen lassen möchte, kommt Schlaginhauf nochmals überraschend zurück, weil er seinen Mantel vergessen hat. Jan muss nun die Ladendiebin anzeigen und ruft die Polizei. Während die Frau noch die Anzeige abzuwehren versucht und immer wieder wiederholt, dass das doch nicht nötig sei, steht Schlaginhauf neben ihr in völliger Dunkelheit, nur seine Hand wird im Lichtkegel sichtbar, die mit beschwichtigender Bewegung die Frau dazu veranlasst, zu schweigen. Der dunkle, fensterlose Raum, der nur durch eine Bildschirmwand beleuchtet wird, erinnert an einen Kinosaal. Die Verbindung zwischen Voyeur und Kinozuschauer ist längst in unseren Köpfen verankert, auch die Begrenzung des Kamerabildes stellt eine Analogie zwischen Überwachungsbild und Filmbild her. Noch mehr wird dieser Eindruck durch den tatsächlichen Einsatz von Überwachungsbildern als Filmbilder verstärkt. Oft sind die Ränder der Monitore noch sichtbar, doch manchmal zeigt Jörg Kalt die Bilder der Überwachungskameras auch bildfüllend und macht sie nur durch ihre Körnigkeit und ihre graublaue Farbgebung vom Filmbild unterscheidbar. Dadurch erfahren die Bilder eine Ästhetisierung, die besonders in den Überwachungsbildern der Crashtests deutlich wird. Kontrolle geschieht in Crash Test Dummies nämlich nicht ausschließlich durch Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen, sondern auch im Umfeld von Testdurchläufen und Versuchsanordnungen. Jans Mitbewohnerin Martha arbeitet als Medikamententesterin und lebender CrashtestDummy. Die Aufnahmen der Crashtests zeigt Kalt oft in Zeitlupe, entschleunigt die Bilder der Beschleunigung und konzentriert sich auf den Ausdruck von Martha, die sich ohnehin langsamer als andere durch den Raum bewegt. Anders als die Passanten am Bahnhof weiß Martha um ihre Überwachung. Sie ist ständig überwacht, und das auch im ursprünglichen Sinne der Bedeutung. Überwacht sein bedeutete vor dem 19. Jahrhundert über-wach sein, schlaflos sein. Dieser Schlafentzug kann Krankheit und Halluzinationen hervorrufen (vgl. Kammerer 2008, 11). Auch Martha schläft nie, sondern wandert, dauerbeeinträchtig von Medikamenten mit Nebenwirkungen, umher, muss sich manchmal übergeben und halluziniert am Ende sogar Kühe auf der Autobahn. Trotzdem oder gerade deshalb findet sie sich am besten im System der ständigen Überwachung zurecht. Nachdem Jan Schlaginhauf dabei (nicht) beobachtet hat, wie dieser Ana und Nicolae des Pilzdiebstahls überführt hat, erscheint Martha auf einem der Monitore. Sie blickt direkt in die Kamera, winkt und macht sich gerade dadurch verdächtig (vgl. Kammerer 2008, 165). Die Detektive werden auch auf Martha aufmerksam, die, immer noch in die Kamera starrend, zurücktorkelt und in einen Dosenberg fällt. Schlaginhauf will daraufhin erneut zur Tat schreiten, wird jedoch von Jan, der seine Mitbewohnerin erkennt, zurückgehalten.
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„Lassen Sie nur Herr, Schlaginhauf, ich mach das. Beobachten Sie mich!“ Die scheinbar geistig abwesende und hilflose Martha weiß als Einzige um die Präsenz der Überwachungskameras und dass sich Jan dahinter verbirgt. Durch ihre Erfahrung weiß sie gekonnt die Kontrollmechanismen außer Kraft zu setzen und die Überwachungskameras als Kommunikationsmittel zu missbrauchen, um mit Jan in Kontakt zu treten. Nebenbei stiehlt sie ganz unbemerkt eine Dose. Obwohl sie scheinbar auf die Hilfe ihres Mitbewohners angewiesen ist, ist es letztendlich Jan, der von Martha lernt, das Überwachungssystem für seine Zwecke zu gebrauchen.
3. Blickverhältnisse Wie bereits deutlich geworden ist, ist es vor allem das Beobachten, das Sehen, der Blick, der die Machtstrukturen der Videoüberwachung bestimmt. Schlaginhauf, dem seine Aufgabe als Beobachter so wichtig ist, dass er sogar beim Beobachten beobachtet werden möchte, glaubt und scheint auch in einer überlegenen, machtvollen Position zu sein. Gerade das nichtreziproke Sehen ruft eine Unsicherheit gegenüber Videoüberwachung hervor, da die Angst vor dem beobachtenden Blick, den man nicht bemerkt und den man nicht erwidern kann, die Sorge vor einem fremdbestimmten und unfreien Leben hervorbringt. Werner Rammert, der sich soziotechnischen Überlegungen zur Videoüberwachung widmet, betont die negative Konnotation, die der Begriff „Beobachtung“ mit sich bringt, wohingegen das „Sehen“ eine Ambivalenz aufweist, die sowohl das Ausspähen als auch das auf jemanden Aufpassen einschließt (Vgl. Rammert 2005, 346). In der Soziologie geht man, so Rammert weiter, von einer Wechselseitigkeit des Sehens aus. Weist diese Asymmetrien auf, etwa durch Dunkelheit, Blindheit, aber auch durch zu langes Angestarrtwerden, fühlt sich das Gegenüber bedroht (Vgl. Rammert 2005, 348 f.). Wenn diese Ambivalenzen bereits bei sozialer Interaktion auftreten können, was geschieht, wenn die Technik der Videoüberwachung als Gegenüber auftritt? Entstehen dadurch, wie oft vermutet, automatisch Asymmetrien, die die Zweiseitigkeit des Sehens wieder in eine Einbahnstraße verwandeln? Ich habe bereits eine Analogie zwischen dem Kinosaal und Jörg Kalts Monitorraum angedeutet. Eine Gemeinsamkeit scheint jedoch auch im Blick zu liegen. „Das Verhältnis von Filmfigur und Betrachter ist ebenfalls nicht-reziprok, es beruht ebenfalls auf dem nicht-erwiderten Blick. Mehr noch, oberste Regel für den Schauspieler ist es, nicht in die Kamera zu blicken, die Kamera und damit den Betrachter tunlich zu ignorieren. Er muss uns gegenüber blind sein, damit wir eine Beziehung zu ihm aufbauen können.“ (Ripplinger 2008, 50). Natürlich kommt es immer wieder zu Ausnahmen dieser Regel, dennoch sind es gerade diese Momente im Kino, in denen uns eine Filmfigur direkt anblickt, die unsere besondere Aufmerksamkeit einfordern, sei es, weil sie einen humorvollen Effekt erzielen, eine Verschwörung mit dem Zuschauer eingehen oder ihn aus der Filmhandlung reißen, weil sie ihm seine Position als Beobachter bewusst machen. Auch in der Videoüberwachung ziehen jene Personen besondere Aufmerksamkeit auf sich, die, so wie Martha, direkt in die Kamera blicken. Anders als im Kino, wo es die BeobachterInnen mit einer Aufzeichnung, einem Apparat und einem bloßen Abbild eines Geschehens zu tun haben, kann das Überwachungspersonal aktiv in das Geschehen am Monitor eingreifen. Wie von Dietmar Kammerer bereits zitiert wurde, ist der Monitor keine Leinwand, sondern ein Filter von Informationen: „Die Kamera ist ein Apparat, aber der Mensch ist keiner. Eine Überwachungskamera z. B. funktioniert ohne Zutun, aber selbst ihre Bilder müssen gedeutet werden“ (Ripplinger 2008, 18). Kammerer spricht sich sogar gegen die
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Vorstellung des privilegierten Blicks des Beobachters durch die Kamera aus, der durch die Distanz zum Geschehen eher einen Nachteil erfährt, wenn es darum geht, das Beobachtete richtig einzuordnen, und braucht dadurch Unterstützung durch das Bodenpersonal (vgl. Kammerer 2008, 160). Auch Werner Rammert lehnt eine automatische Asymmetrie im Sehen durch den Einsatz von Überwachungstechnik ab und betont stattdessen die Interaktivität zwischen Menschen und technischen Objekten. „Von Subjekten und Objekten zu sprechen oder Technisches auf funktionierende Mechanismen und Soziales auf symbolische Interaktionen zu beziehen und strikt zu trennen ist für solche gemischten Beobachtungskomplexe nicht mehr angemessen.“ (Rammert 2005, 357) Auch Jörg Kalt erkennt dieses Potenzial von Videoüberwachung, weshalb sie bei ihm keine bedrohliche Funktion einnimmt, sondern die Figuren bei ihren sozialen Interaktionen unterstützt. Ana möchte ihre Mutter und ihre kranke Tochter zu Hause in Rumänien informieren, dass sie und Nicolae nun länger in Österreich bleiben müssen. In der Telefonzelle am Bahnhof droht ihr, das Geld auszugehen und die Verbindung abzubrechen, ehe Ana mit ihrer Tochter sprechen konnte. In letzter Sekunde erscheint Jan neben Ana und wirft noch rechtzeitig eine Münze ins Telefon. Auf Anas verwunderten Blick deutet er auf die Überwachungskamera, die der Telefonzelle gegenüber angebracht ist und durch die er Ana beobachtet hat. Ana bedankt sich mit einem Lächeln. Jan enthebt damit die Überwachungskamera ihrer eigentlichen Funktion, denn indem er sie fortan als Kommunikationsmittel missbraucht, verwirkt er nach Dietmar Kammerer, der sich auf Foucaults Panoptikum bezieht, den „Effekt des Überwachtwerdens“. „Die ,apparent omnipresence‛ ist notwendig an ihre Nicht-Erfüllung gebunden. Sie darf keinesfalls in Richtung der ,real presence‛ überschritten werden. Denn sie kollabiert genau dann, wenn der Aufseher sich an einem der Fenster des Turmes in personam zeigt.“ (Kammerer 2008, 120) Indem Ana, die kurz zuvor noch von der Überwachungstechnik eines angeblichen Pilzdiebstahls überführt wurde und in der Gewissheit gelassen wurde, ständig unter Kontrolle zu stehen, hinter den Kameras nun den freundlichen Jan weiß, hat die Anwesenheit der Kamera, die auch als bloßer Dummy ständige Kontrolle suggerieren soll, ihre Abschreckung verloren. Darum wird sie später, als das Auto endlich gestohlen ist und sie, da mittlerweile von Nicolae getrennt, dieses alleine nach Bukarest fahren muss und durch mangelnde Fahrkünste daran scheitert, wieder genau diese Überwachungskamera aufsuchen und in sie hineinstarren, um zu Jan Kontakt aufzunehmen. Der erscheint dann auch prompt neben ihr, denn er hat auf sie gewartet. Auf der Suche nach Ana weiß Jan als einzigen Rat nur den Gang in den Monitorraum. Er schaltet alle Bildschirme aus, nur ein Monitor, der Bilder „ihrer“ gemeinsamen Kamera zeigt, bleibt an. Durch das selektive Sehen, auch Monitoring genannt, erzeugt Jan die Möglichkeit eines wechselseitigen Sehens mithilfe der Überwachungskamera, das Ana erwidern kann. Jörg Kalt lässt seine Figuren die Überwachungstechnik aber nicht nur als reziproken Kommunikationskanal nutzen, sondern lässt ihnen durch den Einsatz von Technik eine Nähe erfahrbar werden, die im direkten zwischenmenschlichen Kontakt nicht funktionieren will. So überführt Jan zum Beispiel seine eigene Mutter des Ladendiebstahls, die nun endlich die Aufmerksamkeit ihres Sohnes hat und ihm im Monitorraum unter Tränen und mit einem blauen Auge gesteht, dass sie sich von ihrem Mann scheiden lassen will, der sie offenbar misshandelt. Jan, der häufig die Zahnarztpraxis seines Vaters aufsucht, in der auch seine Mutter arbeitet, hatte zuvor auf ihr Bitten „Komm doch mal wieder vorbei“ nicht reagiert, ein Austausch zwischen Mutter und Sohn ist erst mithilfe des Kommunikationskanals Überwachung möglich, die hier nicht mehr zur
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Verbrechensprävention zu gebrauchen ist, sondern durch die Möglichkeit der Kontaktaufnahme sogar zum Ladendiebstahl anstiftet. Jan erlebt das Sehen und die sich ihm dadurch bietende Intimität zu dem Gesehenen als so stark, dass ihm der Blick durch die Kamera eine Nähe suggeriert, die im sozialen Kontakt so gar nicht vorhanden ist. Nachdem er Ana an der Telefonzelle weitergeholfen hat, stößt der unaufmerksame Jan mit einer Verkäuferin zusammen, die ihn in den Aufenthaltsraum auf einen Kaffee einlädt, damit er auch das andere Personal kennenlernen kann. Jan lehnt mit der Begründung ab: „Ich kenn eh schon alle vom Monitor.“ Als Jan dann eine Frau beim Ladendiebstahl sieht, versucht er, sie durch den Monitor zu beschwören und vom Diebstahl abzuhalten. Dabei entsteht eine amüsante Bildkomposition. Auf dem Monitor ist die Frau zu sehen, die gerade dabei ist, Sachen in ihre Tasche zu räumen. Neben ihr schiebt sich der Kopf von Jan ins Bild, der, neben dem Frauenkörper riesengroß wirkend, auf sie einredet. „Na, bitte nicht. Lass es. Na geh.“ Doch Jans Handlungen bleiben nicht ohne Konsequenzen. Bevor er mit Ana nach Rumänien aufbrechen will, kehrt er noch mal in den Monitorraum zurück und wird dort von Schlaginhauf überrascht, der frühzeitig von seiner Kur zurückbeordert wurde. „Operators sind immer beides, machtvolle Instanzen und eingebunden in streng regulierte, technisch-organisatorische Zusammenhänge. Auch die Überwacher werden überwacht, der Kontrollraum kontrolliert auch sein Innen.“ (Kammerer 2008, 144) Schlaginhauf konfrontiert Jan mit den zahlreichen Diebstählen, die Jan entweder nicht zur Anzeige gebracht oder gar nicht erst bemerkt hat. Dabei beleuchtet er Jan mit einer Taschenlampe, die er dann auf eine Überwachungskamera lenkt, die in einer Ecke des Monitorraums angebracht ist. „Sie glauben wohl, Sie sind der Einzige, der beobachtet!“ Dann geht zum ersten Mal das Licht im Überwachungsraum an und in einer Zimmerecke steht der Geschäftsführer, Herr Lebtag; wie lange dieser Jan schon beobachtet hat, bleibt durch die Dunkelheit des Raumes ein Rätsel. Das Licht macht auch eine Vielzahl von Hinweis- und Verbotsschildern sichtbar, die überall im Raum angebracht sind. Zuvor war nur ein an den Monitoren angebrachtes Schild mit der Aufschrift „Achtung! Die Monitore nicht berühren!“ sichtbar. Jan hatte unwissend selbst in einer vollständig kontrollierten und geregelten Umgebung gearbeitet. Im realen Überwachungsalltag wissen die Beamten sehr wohl um ihre eigene Überwachung und besitzen ein hohes Maß an Medienreflexivität und ein Bewusstsein dafür, dass ihre Handlungen zumindest gut aussehen müssen (vgl. Kammerer 2008, 153). Jan besitzt, im Gegensatz zu Martha, diese Medienreflexivität nicht und wusste deshalb auch nichts von seiner Überwachung. Noch bevor der Geschäftsführer etwas sagen kann, kündigt Jan seinen Job. „So geht das aber ned. Ich wollte ja Sie grad raushauen!“ Jan weiß nun besser über die Mechanismen des Überwachungssystems Bescheid und führt den beiden Kontrollorganen zum Abschied ihre Schwächen vor. Er bewegt sich im Supermarkt hin und her: „Jetzt bin ich drinnen, jetzt bin ich draußen.“ Im Monitorraum beobachten Schlaginhauf und der Mann, wie Jan einmal drinnen im Bild ist und dann wieder aus dem Überwachungsbild verschwindet. Mit der markanten Ankündigung „Beobachten Sie mich!“ macht sich Schlaginhauf erneut auf, Jan zu stellen, doch als dieser im Supermarkt und auf dem Monitorbild erscheint, kann er nur verwundert in die Kamera blicken, denn Jan ist schon verschwunden. Dabei hat er unbemerkt eine Heizdecke für Ana gestohlen. Damit führt Jan den beiden Inspektoren vor, dass ihr Glaube von der allmächtigen Kontrolle durch Videoüberwachung so nicht funktioniert, denn allein durch die technischen Gegebenheiten entstehen sogenannte „blinde Flecken“, die nicht eingesehen
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werden können und die den panoptischen Gedanken von Videoüberwachung und einer Überlegenheit des „Wächters“ gegenüber den PassantInnen verwerfen (vgl. Kammerer 2008, 129). Jan, der ohnehin für autoritäre Instanzen nichts übrighat, missbraucht die Überwachungskameras für seine privaten Zwecke. Wenn man über Missbrauch von Videoüberwachung nachdenkt, so kommt einem meist ihr voyeuristisches Moment in den Sinn. Bevor Schlaginhauf zur Kur fährt, bittet er Jan, ihm spezielle Aufzeichnungen der Überwachungskamera aufzubewahren. Schlaginhauf: „Manchmal, selten, nach Ladenschluss, in der Tiefgarage Kamera 12, da gibt es Pärchen, na ja, Sie wissen schon, die lassen den natürlichen Trieben freien Lauf.“ Jan: „So?“ Schlaginhauf: „Jaja. Und ich kenn da jemanden, der sich für die Bänder interessiert.“ Jan: „Ich leg’s Ihnen zur Seite.“ Schlaginhauf hat sich so sehr dem Beobachten verschrieben, dass er selbst seine Freizeit damit verbringt und im Ausspähen der Pärchen einen Lustgewinn erfährt. „Der voyeuristische Einsatz von Videoüberwachung ist ebenfalls empirisch nachweisbar,“ (Kammerer 2008, 166) Auch Jan nimmt sich die Bänder mit nach Hause, schläft jedoch dabei ein. Martha, die in die Wohnung kommt und auf dem Fernsehbildschirm lediglich ein ruckelndes Auto zu sehen bekommt, entfleucht ein beinah schockiertes „Porno“. Spannend ist hierbei allerdings, dass die Überwachungsbilder zu Fernsehbildern und Bildern der Unterhaltung werden. In Crash Test Dummies funktioniert Kommunikation nur durch den Blick gut. Aufgrund der Sprachbarrieren kommt es im zwischenmenschlichen Kontakt häufig zu Missverständnissen. Dem Einsatz von Schrift kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Wie Jörg Kalt das Medium nutzt, um seinen eigenen Film zu „hacken“, soll abschließend gezeigt werden.
4. Vögel sind zu Besuch In Crash Test Dummies ist Sprache ein wichtiges Gut. Ana und Nicolae erwerben gleich zu Beginn ihres Aufenthaltes eine sprechende Uhr, die in deutscher Sprache die Zeit ansagt. Gemeinsam mit einer sprechenden Stoffkuh, ein Geschenk für ihre Tochter, gelingt dem rumänischen Paar durch die sprechenden Dinge schnell ein Anknüpfungspunkt an die fremde, neue Umgebung, die sie sonst eher abstößt. Auch wenn sie die Sprache nicht verstehen, hat das gesprochene Wort eine beruhigende und aufmunternde Wirkung auf die beiden. Auch als Ana allein durch die nächtlichen Straßen wandert, spendet ihr die Stimme eines kleinen Mädchens Trost, die durch die Sprechanlage eines Wohnhauses auf der Straße zu hören ist. Nachdem das Kind ein Gedicht aufgesagt hat, fragt es: „Ist jemand da? Kann mich wer hören?“ Durch die Stimme hat Ana für kurze Zeit Gesellschaft. Das Auftauchen von Schrift hingegen führt bloß zu Missverständnissen. Ein Wörterbuch, das Ana im Supermarkt erwirbt, sorgt auch zwischen ihr und Nicolae für Verwirrungen und dafür, dass sie sich voneinander entfernen. Das Paar spielt zunächst ein Spiel, indem Ana Nicolae einen Satz auf Deutsch vorliest, für den er die richtige Übersetzung erraten muss. Das funktioniert zunächst erstaunlich gut, doch dann übersetzt Nicolae die Frage: „Haben Sie fleischlose Küche?“ mit „Sind Sie schwanger?“ Ana reagiert darauf verstimmt, später schreit Nicolae im Streit Ana auf Deutsch an: „Haben Sie fleischlose Küche?!“ Ana nickt, eine Lüge, wie sich später herausstellen wird, sie ist nicht schwanger, bemerkt aber, dass Nicolae nicht so schnell nach Hause ins Familienleben zurückkehren möchte. Die beiden trennen sich, Ana wird von Jans Taxi angefahren und ins Spital ge-
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bracht, am nächsten Morgen bekommt Nicolae von der Rezeptionistin des Hotels einen Zettel zugesteckt, den er nicht lesen kann; die geschriebene Notiz ist für ihn völlig unbrauchbar. Die folgende Übersetzung durch die Empfangsdame ist zwar sehr amüsant, macht aber eine Verständigung zwischen den beiden möglich. Sie erklärt Nicolae, dass Ana einen Unfall hatte. Als er fragt, wo Ana jetzt sei, antwortet sie: „Im Spital“, spricht Spital aber englisch aus. Nicolae versteht kurioserweise die falsche Übersetzung bzw. den einfachen Transfer des österreichischen Wortes für Krankenhaus in die englische Sprache und fragt weiter: „Where is the Spital?“ Darauf die Rezeptionistin: „There is a telephone number. Waitens.“ Trotz dieser eigentümlichen Übersetzungen verstehen sich die beiden auf Anhieb, was nur durch den mündlichen Austausch möglich ist. Schrift spielt in der direkten Kommunikation keine große Rolle, sie erhält aber eine sexuelle Konnotation, als die Reisebüroangestellte Dana, die mit Nicolae eine kurze Affäre beginnt, ihre Telefonnummer auf seinen Arm kritzelt. Hier bekommt der Akt des Schreibens eine sinnliche, körperliche Komponente. Schrift kann die Figuren aber auch anleiten. Jan fährt in der U-Bahn, ihm gegenüber sitzt ein schlafender Mann, dessen T-Shirt den Aufdruck „Freedom“ trägt. Als Jan, der offensichtlich über diese Aufforderung nachdenkt, erneut zu dem Mann blickt, sitzt dieser hellwach da und starrt Jan an. Die Schrift scheint Jan die „Augen geöffnet“ zu haben, kurz darauf trifft er mit dem Taxi buchstäblich auf Ana und fasst bald darauf den Entschluss, sein altes Leben hinter sich zu lassen und mit ihr nach Rumänien zu fahren. Es kommt jedoch noch zu einem besonderen Einsatz von Schrift, es sind Graffitis, die, mit Baudrillard gedacht, gerade durch ihre Bedeutungslosigkeit den urbanen Raum voller bedeutender Zeichen stürmen (vgl. Baudrillard 1978). In Jörg Kalts Film sind die Schriftzeichen sehr wohl mit Bedeutung aufgeladen, die sich allerdings nur dem wissenden Zuschauer erschließt. Zum einen die Worte „Vögel sind zu Besuch“, die mit einem Marker an eine kahle Wand in Jans Wohnung geschrieben sind und die ihn offensichtlich verwundern, darauf weiter eingegangen wird allerdings nicht. Zum anderen ist es das Wort „Tiere“, das mit roter Sprühfarbe an eine Mauer gesprayt wurde und in einer Szene neben Nicolae zu sehen ist. Auch wenn die Schrift diegetisch ist, verweist sie auf ein Außerhalb der filmischen Handlung, mehr noch, durch das Wissen um ihre Bedeutung erweckt sie den Anschein eines Eingriffs von außen in den Film. „Vögel sind zu Besuch“ ist der Titel des 2007 erschienenen Buches von Kathrin Resetarits, die die Rolle der Martha spielt und – wie die meisten Darsteller – eine enge persönliche Beziehung zu Jörg Kalt hatte (Resetarits 2007). Was zunächst den Anschein eines wirren Gedankenspiels der Filmfigur Martha hatte, erscheint nun als Referenz auf die Person hinter der Filmrolle und verweist auf eine äußere Realität neben dem Film. Das Wort „Tiere“ ist, wir wissen es bereits, der Titel von Jörg Kalts nachfolgendem Projekt, das er nicht fertigstellen konnte. Eine posthume Sichtung des Films gibt den Schriftzeichen eine noch größere Ausdruckskraft, hier wird der Regisseur sichtbar, der sich in die Filmhandlung einschreibt und sie von außen hackt. In seinem letzten Film lässt Jörg Kalt nicht nur über die Möglichkeiten von Videoüberwachung nachdenken. Durch Kalts persönlichen Einbruch in den Film mithilfe der Schrift und der suggerierten Nähe zum New Austrian Cinema, das Crash Test Dummies zu verkörpern scheint, „crasht“ Kalt nicht nur die filmische Handlung, sondern auch den abgeschlossenen Bereich „neues österreichisches Kino“, in dem er nie sichtbar wurde. Jörg Kalt wollte immer als Filmemacher wahrgenommen werden, mit seinem letzten Film scheint er einen Wunsch zu äußern, der viel zu spät Gehör gefunden hat: „Beobachten Sie mich!“
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Literatur Baudrillard, Jean (1978): Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin: Merve. Berlinale (2005): Online unter: www.berlinale.de/external/de/filmarchiv/doku_pdf/20051724.pdf (letzter Zugriff: 15.08.2016). Kalt, Jörg (2008): Mögliche Filme, Wien: Czernin. Kalt, Jörg (1999): Die Leiche lebt, in: du – Die Zeitschrift der Kultur, 1999, 697, XIX. Kammerer, Dietmar (2008): Bilder der Überwachung, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Rammert, Werner (2005): Gestörte Blickwechsel durch Videoüberwachung? Ambivalenzen und Asymmetrien soziotechnischer Beobachtungsordnungen, in: Hempel, Leon/Metelmann, Jörg (Hg.): Bild – Raum – Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 342–359. Resetarits, Kathrin (2007): Vögel sind zu Besuch, Wien: Czernin. Ripplinger, Stefan (2008): I can see now. Blindheit im Kino, Berlin: Verbrecher. Schifferle, Hans (2007): Crash Test Dummies. Verlorene Menschen in Wien-Mitte, in: epd Film, 2007, 5, 49. Stöger, Katharina (2014): Richtung Zukunft durchs Archiv. Zur historischen Rezeption und gegenwärtigen Wiederentdeckung Jörg Kalts, in: Ballhausen, Thomas/Strunz, Valerie/Krenn, Günther (Hg.): geschichte erzählen. Medienarchive zwischen Historiographie und Fiktion, Wien/Berlin: Lit.
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Stefan Iske/Dan Verständig
Medienpädagogik und die digitale Gesellschaft im Spannungsfeld von Regulierung und Teilhabe Beitrag online im Ressort Forschung unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/751
Abstract Stefan Iske und Dan Verständig fragen angesichts des 25-jährigen Bestehens des WWW in ihrem Beitrag zur Grundlegung der Medienpädagogik nach den Problemfeldern der Regulierung des Internets und seinen demokratiepolitischen Möglichkeiten zur Teilhabe. Dabei wird deutlich, dass (pädagogische) Systeme der Regulierung und Kontrolle in einem engen Zusammenhang mit Prozessen der Bildung, der Identitätsentwicklung und des selbstbestimmten Lernens stehen. Medienpädagogik als Disziplin ist also von den digitalen Veränderungen unserer Wissens- und Informationsgesellschaft im Kern betroffen. Media Education and Digital Society Between Regulation and Participation. On the occasion of the 25th anniversary of the World Wide Web, Stefan Iske and Dan Verständig contribute thoughts on the issue of the foundation of media education and address the problem of regulating the Internet and its democracy-political offers of participation. This highlights that (pedagogical) systems of regulation and control are closely connected to processes of education, of identity formation and independent learning. Media education as a discipline is thus affected in its very core by the digital transformations of our knowledge and information society.
1. Einleitung Vor 25 Jahren stellte Tim Berners-Lee sein Konzept eines World Wide Web (WWW) vor und legte damit einen der bedeutendsten Grundsteine der digitalen Vernetzung. Was ursprünglich zum Austausch von Informationen und Daten unter Forschenden entworfen wurde, hat sich zu einem umfassenden Kultur- und Bildungsraum entwickelt und ist ein universaler und zentraler Dienst des Internets geworden. Dieser gegenwärtige Status des Internets und des World Wide Web ist der vorläufige Zwischenstand einer historischen Entwicklung, der sowohl Transformationen und Veränderungen als auch Konstanten zugrunde liegen. Nicht erst zum diesjährigen Geburtstag des World Wide Web wird deutlich, dass durch digitale und vernetzte Technologien zentrale Kategorien wie Bildung, Erziehung und Sozialisation berührt werden. Beispielhaft kann auf die aktuellen Debatten über Regulierungsmechanismen im Internet wie auch auf die Enthüllungen Edward Snowdens hingewiesen werden. Aus dem Vorangehenden lassen sich medienpädagogische Fragestellungen ableiten, die zum Beispiel die Handlungsautonomie von Subjekten sowie Möglichkeitsräume der Mitgestaltung von und Teilhabe an Gesellschaft (Winter 2012, Swertz 2014) thematisieren. Zudem sind es Fragen der Mediensozi-
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alisation und der Konstruktion von Identität in digital vernetzten Räumen (Jörissen/Marotzki 2008), die sowohl bei der Theoriebildung als auch im Rahmen medienpädagogischer Praxis eine hohe Relevanz besitzen. Im Mittelpunkt des folgenden Artikels steht die Frage, wie Medienpädagogik unter der Perspektive gesellschaftlicher Teilhabe und vor dem Hintergrund der komplexen Transformationen des Internets zu konzipieren ist. Welche Anforderungen und Herausforderungen ergeben sich aus technologisch-strukturellen Veränderungen für medienpädagogische Theoriebildung, Forschung und Praxis? Aus unserer Sicht ist es notwendig, die grundlegenden strukturellen Eigenschaften des Internets sowie dessen gegenwärtige Veränderungen genauer zu analysieren, um ein vertieftes Verständnis aktueller und zukünftiger medienpädagogischer Aufgabenfelder zu entwickeln. Schließlich sind es gerade auch technologisch-infrastrukturelle Veränderungen, mit denen die hohe Dynamik der Entwicklung des Internets verbunden ist. Hand in Hand mit diesen strukturellen Veränderungen gehen inhaltliche Veränderungen, die zugleich auch das Soziale maßgeblich prägen. Für die Diskussion der pädagogischen Kategorien Erziehung, Bildung und Sozialisation ergeben sich aufgrund der Transformationen des Internets vielfältige Konsequenzen, da nicht zuletzt Handlungsräume sowie deren Grenzen bereits auf der strukturalen Ebene des Software-Codes mitbestimmt werden (vgl. Lessig 1999). Diese strukturale Ebene des Software-Codes bezieht sich dabei sowohl auf die Architektur von Programmen und Apps, die über das Internet zur Verfügung gestellt werden, als auch auf die Architektur des Internets selbst. Einen zentralen medienpädagogischen Referenzpunkt bildet in dieser Hinsicht die Frage nach Auswirkungen der Transformationen des Internets auf Bildungschancen und Bildungsungleichheiten.
2. Transformation, Technologie und soziale Interaktion Ein grundlegendes Kennzeichen des Internets ist dessen kontinuierliche und dynamische Transformation, in der technologische mit sozialen Handlungsweisen auf vielfältige und komplexe Weise miteinander verwoben sind. In dieser Hinsicht kann vom Internet als einem sozio-technischen System gesprochen werden (Sesink 2004). Neben diesem wechselseitigen Verhältnis von Mensch und Technik lassen sich Transformationen auch vom Phänomen des Internets selbst herleiten: Das Internet hat heute in modernen westlichen Gesellschaften einen Grad der quantitativen und qualitativen Verbreitung erreicht, der vor 25 Jahren nicht absehbar war. Es erstreckt sich über alle lebensweltlichen Bereiche, sodass die Netzwerkmetapher hier eine neue Tragkraft entfaltet. Doch angesichts der Komplexität dieser Netzwerkstrukturen greift es zu kurz, das World Wide Web synonym zum Internet zu verstehen, vielmehr ist eine Differenzierung von Internet als Trägerinfrastruktur und den darauf aufbauenden Internetdiensten wie dem WWW notwendig. Der Verweis auf diese Differenz könnte anachronistisch erscheinen angesichts von Prozessen der Medienkonvergenz und dem Umstand, dass das World Wide Web einen zentralen Kern im heutigen Angebot der Internetdienste darstellt. Angesichts aktueller sozialer und technologischer Dynamiken ist diese Differenzierung für analytische Zwecke jedoch unabdingbar. So sind aus pädagogischer und bildungstheoretischer Perspektive aktuelle Transformationsprozesse des Internets sowie des World Wide Web zu analysieren und mit Blick auf Fragen der Bildung und der gesellschaftlichen Teilhabe zu diskutieren.
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Ohne an dieser Stelle einen vollständigen Überblick geben zu können, lassen sich gegenwärtige Transformationen des Internets im Kontext übergreifender gesellschaftlicher Meta-Prozesse verorten (Globalisierung, Individualisierung, Kommerzialisierung, Mediatisierung u. a.). Transformationen des Internets werden gegenwärtig dominant anhand der folgenden Begriffe diskutiert: Social Web und Web 2.0, Mobile Web, Walled Garden, Web of Things, Priorisierung und Regulierung sowie Kontrolle und Überwachung. Im Folgenden werden einige dieser Transformationen aufgegriffen und skizziert, um darauf aufbauend deren Bedeutung für medienpädagogische Theorie und Praxis darzustellen: Fragt man nach Transformation des World Wide Web, lässt sich als grundlegender Wandel auf das Phänomen des Web 2.0 verweisen. Den Ausgangspunkt dieses Diskurses bildet die Web 2.0 Conference 2004 in San Francisco (heute Web 2.0 Summit), auf der Tim O’Reilly (2005) den Begriff einführte und dabei verschiedene Merkmale herausstellte, die für die Entwicklung des World Wide Web hin zum Web 2.0 zentral sind. Einige Merkmale und Entwicklungslinien werden im Folgenden kurz zur Verdeutlichung aufgegriffen:1 Einen Schwerpunkt bildet die Entwicklung zum Internet als Plattform (the web as platform): So lassen sich über Webbrowser eine stetig steigende Zahl von Anwendungen nutzen, die nicht eigens auf der lokalen Festplatte installiert werden müssen. Die Herausbildung kollaborativer Werkzeuge, wie Wikis, Foto- oder Videoplattformen, und auch die Entstehung digitaler sozialer Netzwerke stellen nur einen Ausschnitt des Spektrums an verfügbaren Anwendungen dar (vgl. Ebersbach/Glaser/Heigl 2011).2 Auch die Mechanismen der Entwicklung und Distribution von Software haben sich grundlegend gewandelt. Dabei impliziert die Versionsnummer von Anwendungen im Web 2.0 eine klare Differenz zu einer Vorgängerversion, die im konkreten Fall oftmals jedoch nur wenig trennscharf bestimmt werden kann. Zwar versucht O’Reilly in einer Präzisierung des Begriffs diese Differenzen herauszuarbeiten, gleichsam wird jedoch deutlich, dass es sich beim Web 2.0 nicht um ein bruchartige Neuentwicklung, sondern um eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Software-Technologien handelt. Schließlich wird der Software-Lebenszyklus von Produkten und sozialen Diensten grundlegend verändert: Anwendungen werden kontinuierlich weiterentwickelt und nicht als neu versionierte Produkte ausgeliefert. Dies bedeutet auch, dass sich die Betriebsabläufe für Unternehmen grundlegend verändern und neue Entwicklungs- und Wertschöpfungsstrategien an Bedeutung gewinnen. Am Beispiel des Mobile Web und der Aufsplittung von Apps in spezialisierte Nutzungskontexte lässt sich diese Entwicklungslinie weiter verdeutlichen. So bietet z. B. Facebook neben der eigentlichen App mit den Kernfunktionen eine zusätzliche App speziell für den Chat an. Diese spezifischen Ausdifferenzierungen bilden ein übergreifendes und durchgängiges Muster und damit auch eine strategische Positionierung (kommerzieller wie nichtkommerzieller) Anbieter auf dem Markt. Für Unternehmen bedeutet dies zudem, dass an kleineren Entwicklungszweigen gearbeitet wird, die man im Falle des Ausbleibens eines kommerziellen Erfolgs auch leichter wieder einstellen kann.
1 Eine ausführliche Abhandlung der Geschichte(n) des Web 2.0 findet sich bei Schmidt (2011, 13 ff). 2 Schmidt (2011) bemerkt hierzu treffend, dass eine klare Abtrennung und Klassifikation einzelner Dienste in Genres oder Gattungen nur schwer möglich sei, da häufig Überschneidungen in den einzelnen Merkmalen der jeweiligen Dienste vorliegen (vgl. ebd., 25).
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An dieser Stelle zeigt sich eine weitere zentrale Entwicklungslinie: Das Mobile Web und die damit einhergehende Verwendung von Apps stehen für neue Nutzungsmöglichkeiten und -kontexte. Neben Veränderungen aufseiten der Dienstanbieter und Unternehmen (z. B. im Sinne des walled garden als getrennte Ökosysteme wie iOS oder Android) werden weitreichende Transformationsprozesse aufseiten der Nutzenden deutlich (z. B. Selfie-Kultur). So haben sich nutzergenerierte Inhalte (user-generated content) im Kontext partizipativer Medienkulturen zu Trägern übergreifender Nutzungspraxen entwickelt (vgl. hierzu Biermann/ Fromme/Verständig 2014). Nutzergenerierte Inhalte bilden eine zentrale Grundlage für soziale Aushandlungsprozesse sowie für kollaborative Projekte und erfordern gleichermaßen neuartige Kompetenzen, um Projekte und Ziele im und über das Internet zu realisieren (Jenkins et al. 2006, Bruns 2008). Unabhängig davon, ob eine Bearbeitung eines Wikipedia-Artikels, das Verfassen einer Fangeschichte, eines Blogposts, das Hochladen und Taggen eines Fotos oder die Rezension eines Produkts gemeint ist, user generated content stellt eine fundamentale Grundlage für heutige Web-Anwendungen und Dienste dar. Die Verbreitung und Nutzung sozialer Dienste hat zur Folge, dass sich Lebens- und Sozialräume der Nutzenden von einem selbstverständlichen Leben mit (Massen-)Medien hin zu einem Leben in medialen Räumen entwickeln (vgl. Reißmann 2013, 89). So haben sich beispielsweise Praktiken wie das Social Sharing (vgl. Ellison/boyd 2013, 156 f.) herausgebildet, an denen hochkomplexe (sub-)kulturelle Phänomene deutlich werden und die einen zentralen Stellenwert bei Sozialisationsprozessen einnehmen. Dabei spielt neben dem Austausch von medialen Artefakten vor allem auch eine Vielzahl an Möglichkeiten zur (Selbst-)Repräsentation eine große Rolle. Zudem finden öffentliche Äußerungen, Statements oder Diskussionen nicht selten vor einem unbestimmten Publikum statt. Schließlich bleibt festzuhalten, dass die Verortungen innerhalb digital vernetzter Medien kein Resultat zufälliger Präferenzen darstellen, sondern das Ergebnis komplexer, relativer Positionierungen im sozialen Raum, die mit vielfältigen On- und Offline-Ressourcen zusammenhängen (vgl. Iske/Klein/Kutscher 2005, Kutscher/Otto 2013). Da das Soziale ein integraler Bestandteil der skizzierten Entwicklungen ist, können diese Internet-Dienste als Soziale Medien (Social Media) charakterisiert werden. Dennoch ist der Einwand von Münker (2009) legitim, dass im Grunde alle Medien schon immer sozial seien. Das spezifisch Soziale der Anwendungen und Dienste lässt sich hierbei jedoch am Raum der Interaktions- und Partizipationsmöglichkeiten festmachen. In dieser Hinsicht ist der Begriff Social Web (vgl. Schmidt 2011, 24) dem des Web 2.0 vorzuziehen. Wenngleich es sich hierbei eher um eine theoretische Begriffsbestimmung handelt, lassen sich daran zugleich auch transformative Prozesse in der digitalen Kommunikation und die Veränderung des Sozialen ablesen. Beispielhaft hierfür stehen Transformationen des Internets im Bereich von Priorisierungssystemen im Sinne von Filtermechanismen und Empfehlungssystemen (Pariser 2011) und die Diskussion um „filter bubbles“. Der unverkennbare Trend zur Personalisierung der Nutzung des digitalen Raums sowie die notwendige Reduktion von Komplexität auf technologischer, aber auch sozialer Ebene erzeugen ambivalente Spannungsverhältnisse, die sich zwischen den Polen Freiheit und Kontrolle befinden. Eine kritische Betrachtung aktueller Entwicklungslinien findet sich auch bei Berners-Lee. Anlässlich des Geburtstags des WWW zieht Berners-Lee eine durchaus positive Bilanz der ersten 25 Jahre. Zugleich sieht er aber die Herausforderung, das WWW als eine offene und neu trale Infrastruktur sicherzustellen angesichts anhaltender Einflussnahme von staatlicher und
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wirtschaftlicher Seite. Dies nimmt er zum Ausgangspunkt der Web-we-want-Kampagne3, in der die zukünftige Struktur des WWW für die kommenden 25 Jahre diskutiert wird. Doch was sind die grundlegenden konzeptionellen und strukturellen Eigenschaften, die das Konzept des WWW auszeichnen? Unter dem Titel “The World Wide Web and the ‘Web of Life’” beschreibt Berners-Lee 1999 verschiedene Grundprinzipien, von denen an dieser Stelle auf zwei Prinzipien näher eingegangen wird: 1. Prinzip der Trennung von Medium und Inhalt: Die paketbasierte Datenübertragung des WWW ist als grundlegend neutral gegenüber den vermittelten Informationen konzipiert (vgl. ebd.,192). Der Datenübermittlung im Internet liegt das Best-Effort-Prinzip zugrunde. Die Datenpakete werden dabei nach bestem Bemühen ausgeliefert, gegebenenfalls gestückelt und über den effizientesten Weg weitergeleitet. Dem Best-Effort-Prinzip stehen beispielsweise Verfahren wie die Quality of Service (QoS) oder Deep Packet Inspection (DPI) entgegen, auf deren Grundlage definierte Datenpakete inspiziert und gegebenenfalls bevorzugt weitergeleitet werden. Die kontroverse Auseinandersetzung um Best-Effort-Prinzip und Quality of Service wird gegenwärtig besonders in der Debatte zur Netzneutralität deutlich. 2. Prinzip der Universalität: Das WWW wurde von Berners-Lee als ein universeller Informationsraum bzw. als ein universelles Medium konzipiert. Einen zentralen Stellenwert erhalten dabei Schnittstellen zu anderen Internetdiensten wie beispielsweise E-Mail oder FTP, um sie im WWW abzubilden und über das WWW zugänglich zu machen. Diese Universalität versteht Berners-Lee als Grundlage für eine blühende Vielschichtigkeit und Verschiedenheit der Angebote (Berners-Lee 1999, 194). Dabei sieht Berners-Lee ganz deutlich, dass für die Verbreitung und den Erfolg des WWW eine Mischung aus kostenlosen und kommerziellen Angeboten unabdingbar ist (ebd., 159), sie ist fester Bestandteil der bisherigen Entwicklung: „Ein universelles Informationssystem darf zwischen diesen Motivationen nicht unterscheiden. Das Web muss alles, von kostenlosen bis sehr teuren Informationen, enthalten. Es muß den verschiedenen Interessensgruppen die unterschiedlichsten Kosten- und Zugriffsstrukturen erlauben […]“ (ebd., 239). Dieses Prinzip der Universalität steht insbesondere mit dem Konzept der Apps bzw. des Mobile Web und dem Konzept des walled garden in Konflikt. Kritisch diskutiert wird darüber hinaus das gegenwärtige Mischungsverhältnis von kostenlosen und kommerziellen Angeboten mit Blick auf Entwicklungen der Kommerzialisierung und Monopolisierung sowie hinsichtlich der Marktpositionierungen einiger Global Player wie Apple, Google, Facebook und Amazon (Kaumanns/Siegenheim 2012).
3. Transformationsprozesse und Teilhabe Die bislang skizzierten Transformationsprozesse stehen insofern in einem Zusammenhang mit Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe, als dass sich die Produktionsabläufe ebenso wie die Organisation von Wissensbeständen oder auch die Möglichkeiten zur Kollaboration, Kooperation und Artikulation verändert haben. Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass dabei die Prinzipien der Universalität sowie der Trennung von Medium und Inhalt stärker und unter neuen Gesichtspunkten diskutiert werden. Aus erziehungswissenschaftlicher und medienpädagogischer Perspektive ist dabei insbesondere auf die Diskussion um Netzneutralität zu verweisen, 3
Online unter: https://webwewant.org/ (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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die in Deutschland durch Pläne der Telekom im April 2013 zur Novellierung der Festnetz-Tarifverträge erneut an Intensität gewonnen hat.
3.1 Netzneutralität und die Trennung von Inhalt und Medium Netzneutralität bedeutet auf technischer Ebene die ungehinderte und diskriminierungsfreie Übermittlung der Datenpakete von einem Ausgangs- zu einem Zielknoten. Bei dieser Idee der Datenübertragung spielt es keine Rolle, an welches Ziel die Pakete übermittelt werden, woher sie kommen, um welchen Inhalt oder um welche Art des Dienstes es sich handelt (vgl. Wu 2013). Die unterschiedlichen Auffassungen von „Netzneutralität“ und die unterschiedlichen Interpretationen der Rahmenbedingungen machen deutlich, dass diese Diskussion in sehr unterschiedlichen Kontexten geführt wird und auf verschiedenartige sowie kontroverse Interessen der Beteiligten zurückgeführt werden kann. So beschreiben Hahn und Wallsten (2006) einen weiteren wichtigen Aspekt, den es im Zuge der Diskussion um neutrale Netze zu beachten gilt: “[Net Neutrality] usually means that broadband service providers charge consumers only once for Internet access, don’t favor one content provider over another, and don’t charge content providers for sending information over broadband lines to end users.” (ebd., 1) Folgt man der Argumentation von Berners-Lee bezüglich der Prinzipien zur Universalität sowie der Trennung von Medium und Inhalt, so ergeben sich bei der Verletzung von Netzneutralität auch direkte Auswirkungen auf die soziale Interaktion, schließlich werden Zugangsvoraussetzungen für die Teilnahme im digitalen Raum vorab klassifiziert. Mit den Eingriffen in die Weitervermittlung von Datenpaketen nach vorheriger festgelegter Priorität wird das Best-Effort-Prinzip ausgehebelt. In einigen Ländern ist diese Form der Priorisierung gesetzlich verboten, in anderen wird noch heftig darum gestritten. Das Best-Effort-Prinzip, wie es auch als eines der Grundprinzipien des WWW von Berners-Lee erfasst wird, steht somit der Quality-of-Service-Differenzierung gegenüber. An dieser Stelle würde es zu weit führen, alle Positionen und Perspektiven des Netzneutralitätsdiskurses dazustellen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die neu entstehenden Verflechtungen von Inhalten und Netzen sowie Inhalteanbietern und Internetdienstanbietern neue Herausforderungen für die gegenwärtigen Strukturen des Internets sowie deren Nutzende darstellen. Im folgenden Abschnitt werden daher Fragen der Netzneutralität ganz allgemein vor dem Hintergrund von Teilhabe- und Bildungschancen diskutiert.
3.2 Digitale Ungleichheit: first-, second- und zero-level divide Die skizzierten Transformationen des Internets stellen für medienpädagogische Theorie und Praxis vielfältige Herausforderungen dar, die gegenwärtig mit unterschiedlichen Schwerpunkten im medienpädagogischen Diskurs bearbeitet werden. Im Folgenden wird mit dem Phänomen der „Regulierung“ ein spezifischer Aspekt dieser Transformationen aufgegriffen, der zwar auf gesellschaftspolitischer Ebene stark diskutiert, im medienpädagogischen Kontext jedoch erst in Ansätzen reflektiert wird. Medienpädagogische Herausforderungen der „Regulierung“ werden dabei im Kontext der Diskussion um digitale Spaltung (digital divide) und digitale Ungleichheit (digital inequality) verortet. Vor dem Hintergrund der infrastrukturellen Transformationsprozesse gewinnen diese Diskurse an besonde-
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rer Brisanz, da sich Fragen des Zugangs erneut stellen – jedoch in komplexerer und differenzierterer Form. In kritischer Weiterentwicklung einer dichotomen Unterscheidung von On- und Offlinern bezüglich des Vorhandenseins eines Zugangs zum Internet (first-level divide) entwickelte Hargittai (2002) das Konzept des second-level digital divide: Der Fokus liegt dabei nicht auf der Analyse von Unterschieden zwischen Onlinern und Offlinern, sondern auf einer differenzierten Betrachtung von unterschiedlichen Nutzungsweisen innerhalb der Gruppe der Onliner. Diese unterschiedlichen Nutzungsweisen werden von Hargittai auf unterschiedlich ausgeprägte „online skills“ zurückgeführt. In gleicher Perspektive betont Warschauer (2003, 46) die zentrale Bedeutung unterschiedlicher Nutzungsweisen im Vergleich zu Fragen des Zugangs: “The key issue is not unequal access to computers but rather the unequal ways that computers are used.” So zieht van Dijk (2005, 2012) das Fazit, die digitale Spaltung habe sich von Ungleichheiten hinsichtlich der Motivation und des physischen sowie materiellen Zugangs zu Ungleichheiten hinsichtlich Fähigkeiten (skills) und Nutzung (usage) verlagert. Die Vielfalt an Nutzungsmöglichkeiten rückt also neue und komplexere Fragestellungen in den Vordergrund, die über die Frage des Zugangs hinausgehen (vgl. hierzu auch Zillien/Hargittai 2009). Hierbei differenziert van Dijk (2005) neben dem zeitlichen Umfang und der Häufigkeit, der Anzahl und Diversität benutzter Anwendungen und den Grad eines aktiven und kreativen Umgangs sowohl im „Breitband-“ als auch im „Schmalband-Netz“ als Grundlage individueller Nutzungsprozesse. Mit Bezugnahme auf Warschauer und van Dijk könnte also die These formuliert werden, dass Fragen des Zugangs gegenwärtig lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. Doch angesichts der beschriebenen Transformationsprozesse der Regulierung – z. B. im Bereich der mobilen Internetnutzung – gewinnen eben jene Zugangsfragen erneut an Aktualität. Dabei gilt es in einem ersten Schritt, ein angemessenes und differenziertes Verständnis von „Zugang“ zu entwickeln. So bieten die Konzepte des „Breitband-“ und des „Schmalband-Zugangs“ lediglich eine grobe Orientierung, die durch ein Spektrum von Konnektivität zu erweitern ist: mobiler/WI-FI- und stationärer/LAN-Zugang; unterschiedliche Geschwindigkeiten, Volumen und Qualitäten der Datenübertragung unterschiedlicher Angebote sowie verschiedenartige Geräte und Displayformate. Da sich Breitband und Kabelnetze immer stärker annähern, ergeben sich auch neue Herausforderungen für ein Verständnis von Zugang im grundlegenden Sinne. Es handelt sich um Fragen des Zugangs auf einer neuen, grundlegenden Ebene: Ausgangspunkt ist eine technologisch-infrastrukturelle Spaltung sowie Ungleichheiten auf der Ebene der grundlegenden Netzstruktur, wie sie beispielsweise im Kontext von Regulierungsund Priorisierungssystemen, Netzneutralität und Datentarifen thematisiert werden. Diese Ungleichheiten können als zero-level divide bezeichnet werden und sind dem first- und second-level divide vorgelagert. Im Diskurs um Internetzugang und Internetnutzung wird im Rahmen der medienpädagogischen Forschung – analog zu den Thesen Warschauers und van Dijks – von Zugang als einer notwendigen Voraussetzung ausgegangen: Aufbauend auf einem vorhandenen Zugang, können potenziell eine Vielzahl und Vielfalt von Nutzungsweisen entfaltet werden. Der Möglichkeitsraum des Internets ist dabei nach dem erfolgreichen „Zugang“ für alle der gleiche; er wird jedoch unterschiedlich wahrgenommen und unterschiedlich genutzt. Gegenwärtig wird deutlich, dass sich aufgrund der skizzierten Transformationsprozesse hinsichtlich der Netzneutralität klare Unterschiede und Ungleichheiten bereits auf einer infrastrukturellen Ebene reproduzieren. Nutzungsweisen stehen im Zusammenhang mit Zugangsweisen; die Nutzungen des
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mobile Web unterscheiden sich beispielsweise hinsichtlich der zugrunde liegenden Datentarife und Datenvolumen. Aus medienpädagogischer Perspektive stellt dieser zero-level divide eine besondere Herausforderung dar: Unter der Bedingung des Quality of Service wird die Art des Zugangs direkter und unmittelbarer an ökonomische Voraussetzungen gebunden. Zusätzlich ist das Abweichen vom Best-Effort-Prinzip für Nutzende häufig nicht direkt sichtbar und erfahrbar und damit nur schwer in alltäglicher Praxis reflektierbar. Diesen Widerspruch zum Prinzip der inhaltsneutralen Datenübermittlung kritisierte Berners-Lee bereits (1999: 194) eindringlich – damals allerdings noch im Konjunktiv: „Noch hinterhältiger ist, daß mein Internetdienstanbieter auch die Möglichkeit hätte, mir eine bessere und schnellere Verbindung zu Sites zu bieten, die dafür bezahlt haben, und ich würde das niemals in Erfahrung bringen: Ich würde einfach annehmen, daß einige Onlineshops ziemlich langsame Server haben.“ Dabei werden künstlich und aus kommerziellen Interessen geschaffene infrastrukturelle Engpässe erkennbar, die als Mittel einer strategischen Positionierung einzelner Unternehmen am Markt eingesetzt werden. Die Folgen der Priorisierung einzelner Angebote sind dabei sehr vielfältig und erfordern weitergehende Analysen. Offensichtlich ist jedoch, dass durch solche Eingriffe Strukturen des Internets berührt werden, die bislang zu den wenigen Konstanten zählten und die sich auf die Entstehung und Nutzung öffentlicher (Diskurs-)Räume auswirken. Angesichts einer verstärkten Problematisierung des Zugangs – die nach van Dijk bereits als weitgehend überwunden gekennzeichnet wurden – liegt die Vermutung nahe, dass sich auf dieser Grundlage sparsame und enthaltsame Nutzungsweisen als spezifische Formen einer Selbstbeschränkung aufseiten der Nutzenden des Internets sowie des Mobile Web entwickeln werden. Dies gilt besonders für die von van Dijk beschriebenen Merkmale der Anzahl und Diversität benutzter Anwendungen im Bereich des Mobile Web. Von kostenpflichtigen sowie datenintensiven Angeboten werden Nutzende mit geringeren ökonomischen Möglichkeiten bereits auf infrastruktureller Ebene weitgehend ausgeschlossen. Dies wird zu einer infrastrukturell bedingten Verschärfung bestehender Ungleichheiten führen, was im Widerspruch zum Selbstverständnis einer demokratischen und politischen Willensbildung aller BürgerInnen steht.
4. Medienpädagogische Implikationen und Schlussfolgerungen Wegen der Komplexität der skizzierten Transformationen kann an dieser Stelle keine vollständige Darstellung ausgearbeiteter medienpädagogischer Konzepte und Antworten gegeben werden – hier muss vielmehr auf einen zukünftigen medienpädagogischen Diskurs verwiesen werden. Vielmehr werden einige Eckpunkte entlang der folgenden Fragestellungen ausgeführt: Welche Ansätze und Projekte ermöglichen Anknüpfungspunkte für die medienpädagogische Auseinandersetzung mit den genannten Transformationen? Auf welche bestehenden Ansätze kann zurückgegriffen werden? Diese aufgeworfenen Fragen und die damit verbundenen neuen Herausforderungen treffen Medienpädagogik als Disziplin nicht gänzlich unvorbereitet. So finden sich in der Geschichte der Medienpädagogik Ansätze und Konzepte, die zum Ausgangspunkt einer medienpädagogischen Auseinandersetzung gemacht werden können. Ziel ist es hierbei, unter Rückgriff auf Dis-
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kussionen und bereits vorliegende medienpädagogische Konzepte, Ansätze und Diskurse, neue Antworten zu entwickeln. Bezieht man sich auf die Konzeption einer Medienkompetenz nach Baacke (1997), können die oben dargestellten Transformationen entlang der Dimensionen der Mediengestaltung, Mediennutzung, Medienkunde und insbesondere der Medienkritik diskutiert und zum Gegenstand handlungsorientierter und projektorientierter Auseinandersetzung gemacht werden. Problematische Entwicklungen im Bereich der Medien – schon Baacke (1997) verweist als Beispiel auf ökonomische Konzentrationsprozesse – können so ausgehend von den oben dargestellten Transformationen problematisiert und hinsichtlich ihrer individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung im Rahmen der Medienkritik mit ihrer analytischen, reflexiven und ethischen Bestimmung diskutiert werden. Baacke (1997) spricht von einem Bedeutungswandel des Begriffs „Medienkompetenz“ als einer Engführung auf den pragmatischen Aspekt der qualifikatorisch-instrumentellen Nutzung innerhalb der Dimension der Medienkunde. Weniger stark berücksichtigt wird im Rahmen dieses Bedeutungswandels dessen gesellschaftliche Dimension und Zielrichtung. Angesichts der skizzierten Transformationen des Internets zeigt sich deutlich, dass den Herausforderungen nicht auf einer rein individuellen, qualifikatorisch-instrumentellen Ebene begegnet werden kann. So wird es nicht ausreichen, den Herausforderungen der Regulierung und Kontrolle durch die private Verwendung von Anonymisierungs- oder Verschlüsselungstechnologie zu begegnen. Vielmehr werden gesellschaftspolitische Aktivitäten und Kooperationen4 der Medienpädagogik erforderlich, „denn Datenschutz bedeutet immer eine Beziehung zwischen vielen Menschen, nicht nur eine Transaktion zwischen zwei Parteien“, Datenschutz ist damit eben gerade keine „bilaterale Verhandlungssache“ (Moglen 2014). In kritischer Reflexion des von Baacke benannten Bedeutungswandels sollte Medienpädagogik gegenwärtig wieder stärker die gesellschaftlichen Aspekte des Konzepts „Medienkompetenz“ berücksichtigen, um eine rein auf das Individuum bezogene Entführung aufzuheben.5 Dieser Aspekt ist im Konzept von Baacke explizit enthalten, wenn er z. B. auf die ideologiekritische Pädagogik als einen Bezugspunkt des Konzeptes der Medienkompetenz hinweist. Diese versteht sich als kritische Gesellschaftsanalyse, die Ideologien als falsche Erklärung objektiver Momente analysiert (vgl. Baacke 1997, 113). Medientheorien sind in dieser Perspektive gleichzeitig Gesellschaftstheorien, „denn Medien sind nichts als eine Besonderheit kapitalistischer Produktion“ (ebd., 113). Während Baacke darauf hinweist, dass diese Debatten – im Jahr 1996 – „historisch anmuten“, stellt er gleichzeitig fest, dass sie „keineswegs in allen Punkten überholt“ seien, und weist ausdrücklich auf damit einhergehende Zielkriterien der „Emanzipation des Individuums“, der „Förderung von Selbstbestimmung“, der „Förderung von Partizipationschancen“ unter den Bedingungen der Kapitalisierung von Kommunikation hin. Der letztgenannte Aspekt gewinnt gegenwärtig im medienpädagogischen Diskurs zunehmend Bedeutung unter der Perspektive der Ökonomisierung medialer Lebenswelten (vgl. Reißmann 2014). 4 Vgl. Lobo, Sascha (2014): Rede zur Lage der Nation, re:publica 14, Berlin, online unter: https://www. youtube.com/watch?v=3hbEWOTI5MI (letzter Zugriff: 15.08.2016). 5 Eine solch individuelle Entführung ist z. B. in Aussagen von Politkern erkennbar, die als „Lösung“ der von Edward Snowden aufgeworfenen Fragen der Totalüberwachung des Internets die private Nutzung von Verschlüsselungstechnologie vorschlagen und einen gesellschaftspolitischen Diskurs zur Überwachung als beendet erklären.
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In Hinblick auf die skizzierten Transformationsprozesse und insbesondere auf die aktuellen Debatten um Regulierungsfragen und Netzneutralität verschieben sich auch die Koordinaten für ein Verständnis von Öffentlichkeit auf strukturaler Ebene. Von diesen Verschiebungen sind insbesondere Orientierungsleistungen sowie die Handlungsautonomie des Subjekts betroffen. Wenn man Jörissen/Marotzki (2013, 328) folgend Bildungsprozesse auch als Teilhabeprozesse an deliberativen Öffentlichkeiten versteht, gerät die Frage in den Fokus, wie digitale Öffentlichkeiten im Spannungsverhältnis von Bildung und Regulierung zu verstehen sind und wie sich die Transformationen auf eine faktische Deliberation innerhalb sozialer Medien auswirken. Offensichtlich ist, dass eine Trennung von digitalen Strukturen und realweltlichen Bezügen gegenwärtig nicht mehr ausreichen, um eine umfassende und kritische medienpädagogische Perspektive zu entwickeln. Für Nutzende entstehen z. B. durch eine verstärkte Kommerzialisierung von Dienstangeboten vorstrukturierte Angebote, die einen Komplexitätszuwachs hervorbringen. Der Umgang mit der vielfältigen, komplexen Angebotslandschaft steht dabei einerseits im Spannungsverhältnis zur partizipativen Gestaltung eigener Angebote und Infrastrukturen und erfordert andererseits ein hohes Maß an Flexibilität von Nutzenden. Ein Verhältnis zu aktuellen technologischen Transformationen zu entwickeln, bedeutet für das Subjekt nicht selten auch ein Ausbrechen aus Routinen und ein Handeln angesichts von Unsicherheiten. Bildungsprozesse lassen sich dann verorten, wenn Unbestimmtheitsdimensionen zur Geltung gebracht werden (vgl. Marotzki 1990, 153). Es lässt sich vermuten, dass durch die dynamischen Transformationsprozesse des Internets gerade auch die Herstellung von Bestimmtheit – und nach Marotzki die Ermöglichung von Unbestimmtheit (ebd.: 152) – beeinflusst wird. Daher gilt es, aktuelle Transformationen und Rahmenbedingungen analytisch erfassbar zu machen. Einen möglichen Zugang bietet hierbei das von Jörissen und Marotzki (2009) entworfene Konzept der strukturalen Medienbildung, denn Bildung kann unter den Bedingungen der gegenwärtigen digitalen Gesellschaft nicht als Aneignung eines allgemeingültigen, festgelegten und verbindlichen Kanons verstanden werden, sondern vielmehr als komplexe Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen. Darüber hinaus lassen sich weitere Ansätze und Strömungen der Medienpädagogik zur Betrachtung aktueller Entwicklungen heranziehen. Einen kritischen Ausgangspunkt stellen dabei die medienpädagogischen Diskussionen funktional-systemorientierter Ansätze unter der Prämisse der Förderung eines mündigen Umgangs mit Medien, verbunden mit dem Ziel der Förderung von Demokratie und Kultur dar sowie kritisch-materialistische Ansätze unter der Prämisse der kritischen Analyse der gesellschaftlichen Bedingtheit von Medien und Medienprodukten. Die medienpädagogische Auseinandersetzung mit den genannten Transformationen kann so als Konfiguration konzipiert werden, die sich auf unterschiedliche Ansätze und Theorietraditionen bezieht. Betrachtet man Medienpädagogik auf der Reflexionsebene (Theorie und Forschung), so bedeutet eine Berücksichtigung strukturaler Eigenschaften des Internets eine Erweiterung des Komplexitätsgrades mit Wechselwirkungen auf die Handlungsebene (Praxis). Daraus ergibt sich, dass Medienpädagogik Phänomene über ihre sichtbare Oberfläche von Nutzung und visuell wahrnehmbarer Struktur hinaus vor dem Hintergrund struktureller Aspekte sowie vor dem Hintergrund von Medialität beobachten und reflektieren muss. Anhand der dargestellten Transformationsprozesse und einer zunehmenden Durchdringung digitaler Technologien in alltägliche Handlungsweisen und Entscheidungsprozesse wird deutlich, dass eine medienpädagogische Berücksichtigung von Code-Strukturen erforderlich
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wird, um nicht direkt sichtbare Prozesse zu entschlüsseln und somit Handlungsfähigkeit in der medienpädagogischen Praxis zu ermöglichen. Mit Bezug auf Lessig (1999, 2006) verstehen wir unter „Code“ technisch-infrastrukturelle Aspekte des Internets als Architektur sowohl der Computer-Hardware wie auch der Architektur von Software. Zwischen diesen Architekturen bestehen vielfältige Relationen: So reguliert und beeinflusst Code Nutzungsmuster und Nutzungserfahrungen und wird selbst rechtlich, politisch und wirtschaftlich reguliert. Auf Grundlage dieses Verständnisses von „Code“ werden vor allem Projekte wichtig, die eine reflexive Haltung und somit Orientierungsleistungen auf der Ebene des Software-Codes in Verbindung mit Prozessen der gesellschaftlichen Partizipation fördern. In dieser Perspektive schlussfolgern Büching/Walter-Herrmann/Schelhowe (2014, 130): „Digitale Medien haben eine eigene, aus dem programmierten Artefakt erwachsende Handlungsmacht, mittels derer sie nicht nur die Interaktion mit ihnen, sondern darauf aufbauend auch die Partizipation mitgestalten.“6 Gegenwärtig berücksichtigt Medienpädagogik solche Kompetenzen und solches Wissen um die Gestaltung digitaler Strukturen im Sinne eines „Blicks unter die Motorhaube“ erst in Ansätzen:7. Es muss also ganz grundlegend gefragt werden, welche Auswirkungen der Software-Code, durch den alle Dienste und Werkzeuge im digitalen Raum abgebildet werden, auf alltägliche Entscheidungsprozesse hat und wie Orientierungsleistungen im Kontext der sozialen Medien umgesetzt werden können. Da Code-Strukturen überwiegend unsichtbar in unser alltägliches Handeln integriert sind, muss eine Ebene für die Reflexion dieser Prozesse geschaffen werden. In dieser Hinsicht wird die Förderung einer Code Literacy im Zuge der Medienkompetenzförderung diskutiert (Dreyer/Heise/Johnsen 2013). Mit dem Ziel des mündigen und kompetenten Nutzers und Bürgers in einer mediatisierten, demokratischen Gesellschaft wird Medienpädagogik so auch explizit politisch, da die Regulierungen und Eingriffe von Wirtschaft und Politik grundlegende Rechte und Möglichkeiten auf Entfaltung der Persönlichkeit und Meinungsfreiheit betreffen. Beispielhaft für diese gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Medienpädagogik stehen die Initiativen Keine Bildung ohne Medien (Deutschland) und Medienbildung JETZT! (Österreich). Durch ein stärker gesellschaftspolitisches Engagement der Medienpädagogik könnte verhindert werden, dass medienpädagogisches Handeln außerhalb des fachwissenschaftlichen Diskurses oftmals auf die Funktion eines „Reparaturbetriebs“ und auf eine bloße Reaktion auf Mangelsituationen reduziert wird. Die Aufgabe der Medienpädagogik darf sich dabei nicht darauf beschränken, auf gegebene und teils emergente Phänomene zu reagieren. Es müssen vielmehr auch die zugrunde liegenden Strukturen erfasst und die jeweiligen Muster und Dynamiken abstrahiert werden. Dies bildet das Fundament für einen aktiven Einfluss auf die Gestaltung der infrastrukturellen Rahmenbedingungen von Teilhabeprozessen. Ausgehend davon ist dann die medienpädagogische Diskussion um die Förderung von Kompetenzen und die Bereitstellung von nachhaltigen Angeboten zu verorten. 6 Die These der „Handlungsmacht digitaler Medien“ kann an dieser Stelle nicht vertiefend diskutiert werden. Mit der Gleichsetzung von „digitalen Medien“ und „Handlung“ brechen Büching/Walter-Herrmann/Schelhowe mit Positionen, die „Handlungsmacht“ ausschließlich intentional-handelnden Subjekten vorbehalten. 7 Als „Blick unter die Motorhaube“ kann auch der Hinweis Moglens (2014) verstanden werden, die Protokolldateien von Webservern zum Gegenstand medienpädagogischer Auseinandersetzung zu machen, um Prozesse der Aufzeichnung und Kontrolle direkt erfahrbar und reflektierbar zu machen.
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5. Fazit und Ausblick Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage, wie die Entwicklung des Internets und speziell der Regulierung im Kontext medienpädagogischer Fragestellungen zu verorten ist. Die dargestellten Entwicklungen beziehen sich dabei grundlegend auf Transformationen sowie Konstanten; wobei gegenwärtig insbesondere frühere Konstanten zum Gegenstand der Transformation werden (z. B. Netzneutralität). Grundlegend kann festgehalten werden, dass die Komplexität medienpädagogischer Theorie, Forschung und Praxis durch die aufgezeigten Perspektiven anhand einzelner Transformationsprozesse und folglich auch Teilhabefragen drastisch zunimmt und sich darüber hinaus auch grundlegend neuartige Herausforderungen ergeben. An den erläuterten Beispielen lässt sich der ambivalente Charakter der Transformationsprozesse des Internets deutlich festhalten: Einerseits bilden eine Vielzahl an Zugangsmöglichkeiten in Verbindung mit niederschwelligen Dienstangeboten eine zentrale strukturelle Voraussetzung für hochgradig ausdifferenzierte Nutzungsweisen. Aus medienpädagogischer Perspektive sind hierbei vor allem die vielfältigen partizipativen Medienkulturen von Bedeutung. Innerhalb der sozialen Arenen entstehen gleichsam neue Möglichkeits- und Bildungsräume, die es aus medienpädagogischer Perspektive detailliert zu analysieren und zu reflektieren gilt. Andererseits stehen diese partizipativen Medienkulturen und neuen Bildungsräume unter den Bedingungen der Regulierung und der Überwachung. So spielen beispielsweise die Veröffentlichungen des Whistleblowers Edward Snowden hinsichtlich der Totalüberwachung des Internets durch verschiedene Geheimdienstorganisationen (NSA, GHCQ etc.) eine zentrale Rolle in der Diskussion von Kontroll- und Regulierungsfragen. Während die ökonomische Überwachung schon seit längerer Zeit diskutiert wird, tritt das Ausmaß und die Tragweite der politischen Überwachung erst seit den Veröffentlichungen Snowdens ins öffentliche Bewusstsein. Dabei entwickeln Filter- und Empfehlungssysteme vor dem Hintergrund sozialer Interaktion eine neue Dimension der (Selbst-)Überwachung und fordern eine implizite und explizite Reflexion des eigenen Handelns heraus. Neben den kommerziellen sind daher gerade auch die politischen Entwicklungslinien des Internets kritisch zu hinterfragen. Anhand der Diskussion um Netzneutralität kann eine solche medienpädagogische Diskussion beispielhaft erfolgen, denn schließlich sind es vor allem auch die einzelnen Interessen der Unternehmen und ihrer Positionierungen am Markt, die im Zuge der Verschmelzung der Netze für neue Dynamiken sorgen. Die medienpädagogische Kooperation mit weiteren gesellschaftlichen Akteuren und Organisationen zur Gestaltung der Strukturen des Internets wird zu einer zentralen und dauerhaften Aufgabe der Medienpädagogik, so wie es im Rahmen der Initiative Keine Bildung ohne Medien bereits initiiert worden ist. Andernfalls werden vor allem wirtschaftliche und politische Akteure die grundlegenden Infrastrukturen schaffen, auf die Medienpädagogik dann im Sinne eines „Reparaturbetriebs“ lediglich reagieren kann. Diese beschriebenen Entwicklungen konfrontieren alle gesellschaftlichen Felder mit veränderten Ausgangsbedingungen. Während diese Diskussion vor allem Politik und Wirtschaft erreicht hat, befindet sich die (medien-)pädagogische Auseinandersetzung erst am Anfang. Dabei wird schnell deutlich, dass Systeme der Regulierung und Kontrolle in einem engen Zusam-
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menhang mit Prozessen der Bildung, der Identitätsentwicklung und des selbstbestimmten Lernens stehen. Medienpädagogik als Disziplin ist also von diesen Veränderungen im Kern betroffen.
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Medienpädagogik und die digitale Gesellschaft
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Fabian Faltin
Rezension: nanopolitics handbook von the nanopolitics group: Paulo Plotegher, Manuela Zechner, Bue Rübner Hansen (Hg.) Beitrag online im Ressort Neue Medien unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/734
Abstract Die aus den Londoner Studentenprotesten hervorgegangene nanopolitics group dokumentiert in ihrer kollektiv verfassten Anthologie nicht nur die eigenwilligen Erfahrungswelten des linksautonomen Aktivismus, sondern zeigt auch auf, wie mikropolitische Körpererfahrungen zum Handwerk des Politischen gehören. Dabei zeigen die jungen Revolutionäre, wie auf der mikrologischen Ebene der Nanopolitik Widerstand gegen den Kapitalismus des 21. Jahrhundert konstituiert werden kann. Review: nonopolitics handbook – by the nanopolitics group: Paulo Plotegher, Manuela Zechner, Bue Rübner Hansen (eds.) The nanopolitics group, which emerged from the London student protest, not only documents the idiosyncratic experiences of left-wing autonomous activism, but also shows how micro-political body experiences are part of the tools of trade of politics. These young revolutionaries show how resistance against the capitalism of the 21st century can be achieved on the micro level of nanopolitics. Verlag: Minor Compositions Erscheinungsort: Wivenhoe/New York/Port Watson Erscheinungsjahr: 2013 ISBN: 978-1-57027-268-4
Cover: nanopolitics group: nanopolitics handbook Quelle: Amazon
Rezension: nanopolitics handbook
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Wenn sich ein Buch als Handbook ankündigt, als Anleitungs-, Nachschlage-, oder Selbsthilfebuch, so darf das als Appell an den in uns allen schlummernden Heim- und Handwerker verstanden werden. Saubere Info-Boxen und Schritt-für-Schritt-Anleitungen verheißen uns goldene Glücksmomente: Wir sollen nicht nur lesen und fantasieren, sondern endlich auch Kochrezepte ausprobieren, Yoga-Posen einstudieren, Fahrrad reparieren, Partner massieren! Und sollte es doch nie so weit kommen und wir am Sofa sitzen bleiben, so lässt sich doch eine gewisse innerliche Veränderung verzeichnen: als sei auch schon der bloße Akt des Lesens über Schüßler-Salze und selbst gestrickte Handschuhe eine furchtbar praxisnahe Tätigkeit. Das nanopolitics handbook hat sich diesen paradoxen Schwebezustand zwischen Theorie, Praxis und Performance spielerisch angeeignet und auf ganz eigene Weise politisiert. Es handelt sich um eine kollektiv verfasste Anthologie der losen nanopolitics group, die 2010 im aktivistischen Umfeld der Londoner Studentenproteste zusammenfand. In rund 20 kritischen Reflexionen, Workshop-Protokollen, Erfahrungsberichten und praktischen Anstiftungen wird hier ein sehr persönliches Territorium skizziert, das sich zwischen Straßentheater und Critical-Theory-Dickicht, internationalistischem Kommunenkochbuch und situationistischem London-Stadtführer, Body-Mind-Centering und feministischen Diskursen zur Politik der Sorge – “Politics of Care” – bewegt. Dabei werden Texte, Theorie, Kochrezepte und Schritt-für-SchrittArbeitsblätter (zu Themen wie der effektiven Durchführung von Meetings, kolumbianischer Gruppenhypnose oder dem Anbau von Tomaten) in einem intelligenten Low-Budget-Layout verbunden, das der New Yorker Autonom-Verlag Minor Compositions auch als kostenloses PDF anbietet. Dazwischen schwirren Zeichnungen, Icons, Links und Fußnoten aller Art umher und verbreiten den Geist der nano-molekularen Anarchie. Was genau es mit dieser auf sich hat, entzieht sich konsequent einer festen Definition: “We call it nanopolitics. You can call it something else – whatever you call it.” Als begriffliche Klammer der verschiedenen Beiträge steht „nano“ zum einen für sinnlich erfahrbare Dynamiken und körperenergetische Flüsse im zwischenmenschlichen Bereich: den Atem eines Gesprächs, die Gerüche eines Abendessens, den Schweiß einer Demonstration, den Zusammenhalt einer widerständigen Gruppe, ob im urbanen oder virtuellen Raum. Zum anderen ist „nano“ aber auch eine Chiffre für die molekulare Verstofflichung und körperlich-physikalische Erfahrbarkeit jeglicher Theorie, Information, Kommunikation: “Thinking is not a disembodied process, nor does it have its telos in language: it’s a process of inventing new ways to move.” Sinngemäß fordert uns das Handbook auf, vor dem Eintritt in die Nanosphäre erst mal gründlich am Papier zu riechen, das Cover abzuschlecken oder das PDF am Bildschirm rauf und runter zu scrollen, mit dem Handbook Geräusche auf dem Tisch zu machen, es „vielleicht auch [zu] parfümieren“. Vom spürbaren Widerstand der gedruckten Materie geht es dann nahtlos weiter zur Materie des Widerstandes. Man möchte motivieren zu einer ebenso heiter-materialistischen wie anti kapitalistischen Lebenspraxis, steht dabei aber allzu konkreten gesellschaftlichen Projekten sehr reserviert gegenüber. Auf nano-ätherischer Flughöhe von „Projekten“ zu reden, heißt eher, das Telos von zuchtmeisterischen Zukunftsprojektionen kritisch zu hinterfragen und auch die diversen Formen der Selbst- und Fremdausbeutung zu thematisieren, die projektbasiertes Arbeiten mit sich bringt. Man kennt solche Bedenken spätestens seit Boltanski & Chiapellos Nouvel Esprit du Capitalism (2000) zwar zur Genüge, man kennt auch die inflationären kapitalistischen Selbsthilfebücher und als Forschungs- und Kunstprojekte auftretenden Burnout-Klagelieder des post-universitären Präkariats – von den AutorInnen des Handbooks, die vielfach
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auch bekennende Burnout-PatientInnen sind, erfährt man aber immerhin, dass “exhaustion, burnout, depression, fatigue, hyperstimulation, nervousness, racing hearts, insomnia, tinnitus, allergies” längst und gerade auch aktivistische Kreise und Bemühungen um alternative Lebensformen empfindlich erfasst haben. Während uns Mainstream-Medien Occupy Wallstreet, den Arabischen Frühling, Gezi Park und neuerdings auch Hongkong als eine dynamische Bildstrecke ewig jugendlichen Aufruhrs präsentieren, blickt man durch das Handbook auf teils deprimierende Weise hinter die Kulissen, wo das „Projekt“ der gesellschaftlichen Veränderung längst an seine körperlichen Grenzen gestoßen und sprichwörtlich erkrankt ist. Besonders nachvollziehbar sind die Berichte von jahrelangen Kämpfen im neoliberalen Großstadtmoloch London, wo “City” nur noch “Real Estate” und „Schauplatz für Finanztransaktionen“ bedeutet, wo horrende Mieten und Transportkosten jegliche kollektive Praxis de facto verunmöglichen und brutaler Karrieredruck sowie inner- und intra-universitärer Wettbewerb beständig das Vorurteil nähren, “that one cannot possibly do politics over 30, except as a job.” Dem halten die individuellen und kollektiven Nano-Körper praktisch entgegen, was sie – noch – können: spüren, füreinander sorgen, diskutieren und sich gelegentlich auch auf den Kopf stellen, um in der britischen Spar-und-Security-Gesellschaft doch noch das eine oder andere Schlupfloch auszumachen. “I really yield into someone else’s body with my own”, heißt es da zum Beispiel über ein nanopolitisches Body-Mind-Centering-Experiment, zu dem man sich als Gruppe trotz aller Widrigkeiten zusammengefunden hat. “I percieve the other body alive, moving, palpitating. Then I don’t percieve it anymore, I forget that my hand is pressing someone else’s shoulder, I forget someone’s hand touching my leg. My body becomes limitless in all directions: its shape changes not only outwards but also inwards, it is made of moving fractals.” Auf theoretischer Ebene lässt sich das spielerisch spürende „Nano“-Paradigma, wenn es denn eines ist, gerne von Foucault, Deleuze & Guattari und situationistisch-anarchistischem Gedankengut inspirieren: an die Stelle von Machtausübung, Disziplinierungsprozessen und permanenter Reproduktion der Krise sollen Lust, Körper, Sorge und geteilter Affekt treten. Dabei punktet das Handbook mit einer eigenwilligen Kreativität und rhetorischen Lockerheit, die sich in Bue Rübner Hansens zwar etwas phrasenhaften, aber überaus mitreißendem Plädoyer für „Entproletarisierung“ ebenso äußert wie in einer von der AktivistInnen-Gruppe „esquizo-barcelona“ verfassten Dekonstruktion des Begriffs „Las Cuentas“ (monetäre Buchhaltung): sind „Cuentas“ nicht immer auch eine Frage des Zählens und Erzählens („contar“), ebenso wie der „Credito“ eng an Fragen erzählischer „Credibilidad“ und kollektiver Schuld und Rechenschaft geknüpft ist? Es darf weiters nicht verwundern, wenn am Ende des unorthodoxen Handbooks, nebst vielen weiterführenden und wenig bekannten anarchistischen Lektüren, Weblinks und Biografien, erst recht wieder ein in zahllosen nanopolitics-Sitzungen verfeinertes Nano-Rezept für “polenta nano-cupcakes for friends and comrades” steht. Es verspricht uns durch “molecular transformation via cupcake intake” nicht nur mittelbare Teilhabe am trans-individuellen AktivistInnen-Leib der nanopolitics group und eine Stärkung des anarchistischen Durchhaltevermögens, sondern bringt mit schmackhafter Ironie genau auf den Punkt, warum uns eine eklektische und erfahrungsgesättigte Nano-Politik gerade heute so viel zu sagen hat: Wo Theorie zwar unendliche Klugheit, aber keine lebensverändernde Relevanz mehr besitzt, der tatenfrohe, aber allzu konsequente Aktivismus oft an sich selbst scheitert und die institutionelle Politik weitgehend zu elitärem Sozial- und Kapitalmanagement verkommt, dort tut wie einst schon in der
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Antike ein pragmatisch geerdetes „Handwerk des Politischen“ Not, das unser aller Köpfe und Körper durch kulinarisch-molekulare Alltagspraxis wieder zusammenzubringen vermag. Das nanopolitics handbook ist als kostenloser PDF-Download erhältlich unter: http://www. scribd.com/doc/165714607/nanopolitics-handbook (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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Medienpädagogik und E-Learning
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Thomas Damberger
Mittel zum Zweck Zum Verhältnis von E-Learning und Medienpädagogik Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/780
Abstract Wir leben in einer Mixed Reality, einer Welt, in der Realität und Virtualität bereits ineinander übergegangen sind. In dieser Mixed Reality ist Lernen zu Augmented Learning geworden. Es erscheint als Mittel zum Zweck und der Zweck ist das Menschliche am Menschen. Zugleich ist der Mensch in der Mixed Reality von einer Entfremdung bedroht, der die Medienpädagogik entgegenzuwirken hat. Means to an End – On the Relation of e-Learning and Media Education. We live in a mixed reality world, where reality and virtuality have merged into each other. Learning has turned into augmented learning in this mixed reality. Learning appears as a means to an end and the end is the human in the human being. At the same time humans are threatened by alienation in the mixed reality. Media Education has to work against these tendencies.
1. E-Learning Der Begriff E-Learning kann in zweifacher Weise verstanden werden. Die eine Weise besteht darin, E-Learning als einen Prozess zu begreifen. Es handelt sich dann um einen Lernprozess, in dessen Rahmen auf Anwendungen zurückgriffen wird, die auf Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK-Technologien) basieren (vgl. de Witt 2005, 1). Solche Anwendungen können unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen. Eine Smartphone-Applikation, mit deren Hilfe Vokabeln gelernt werden können, ist eine solche Erscheinungsform, ebenso die mittlerweile fast schon antiquierte CD-ROM mit dem Mathematikprogramm oder die virtuelle Lernplattform mit den Dateien zur Pflanzenphysiologie. E-Learning – als Prozess verstanden – nutzt die Multimedialität und Interaktivität von PC, Handy oder Internet, um mehr Möglichkeiten beim Lernen zu gewinnen (vgl. Pfeffer-Hoffmann 2007, 28). Auf der anderen Seite wird E-Learning aber auch als ein Synonym für Lernsoftware verstanden (vgl. Unger 2009, 179). Damit bezieht sich E-Learning weniger auf einen Prozess, sondern vielmehr auf eine konkrete Sache. Die Lernsoftware kann wiederum als ein Programm interpretiert werden, das einen bestimmten Content beinhaltet. Mit Content ist eben das gemeint, was von Lehrenden für Lernende aufbereitet und zur Verfügung gestellt wird (vgl. Bernhardt & Kirchner 2007, 21). E-Learning als Sache bezieht sich also sowohl auf die Software als auch auf das, was mithilfe der Software an die lernende Person herangetragen wird.
Mittel zum Zweck
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Als Sache verstanden erweist sich E-Learning als ein Angebot an den Lernenden, und dieses Angebot kann in vielfältiger Weise präsentiert werden. Dazu gehört das Online-Learning. Hier werden Angebote im Intra- und Internet zu Lernzwecken bereitgestellt. Eine Form des Online-Learning ist das Web Based Training (WBT). Im Rahmen des WBT wird der Content beispielsweise auf einem Server zur Verfügung gestellt. Die Offline-Variante stellt das sogenannte Computer Based Training (CBT) dar. Ungefähr seit dem Jahr 2000 ist verstärkt vom mobilen Lernen (Mobile Learning) die Rede. Im Rahmen des Mobile Learning kann beispielsweise mit Tablet-PCs, Smartphones, Laptops etc. unterwegs, im Idealfall an jedem beliebigen Ort, gelernt werden. Mobiles Lernen ist eine Form des Blended Learning bzw. hybriden Lernens. Damit ist eine Verknüpfung von virtuellem Lernen auf Basis von IuK-Technologien einerseits und traditionellem Lernen andererseits gemeint. Dabei kann die Grenze zwischen dem virtuellen und dem traditionellen Lernbereich, zwischen E-Learning und Learning, fließend sein, was z. B. möglich wird, indem „neue [...] Medien in die Lernsituation als eigene Module integriert“ (Pfeffer-Hoffmann 2007, 29) werden oder indem sie als „ein Lernangebot in einer vielfältig gestalteten Lernumgebung“ (ebd.) auftauchen. In Abgrenzung zu Michael Kerres, der E-Learning als „Oberbegriff für alle Varianten internetbasierter Lehr- und Lernangebote“ (Kerres 2001, 14; Hervorh. v. T. D.) versteht, was nicht falsch, aber eben doch verkürzt ist, können wir unter E-Learning sowohl den Prozess des Lernens mithilfe auf IuK-Technologie basierender Anwendungen als auch die Lernprogramme und -inhalte als solche subsummieren. Damit ist E-Learning mehr als nur eine andere, technisierte Weise des Lernens, sondern ein um den technischen bzw. virtuellen Aspekt erweitertes Lernen. E-Learning ist daher eine Form des Augmented Learning. Wenn traditionelles Lernen gerade im Zusammenhang mit Blended Learning eine Ausdehnung in den virtuellen Bereich erfährt, lohnt sich die Beschäftigung mit einem Phänomen, das unter dem Namen Augmented Reality zunehmend populärer wird. Mit Augmented Reality ist es möglich, die Grenze zwischen realer und virtueller Welt (und damit potenziell auch zwischen klassischem Lernen und E-Learning) sukzessive aufzulösen.
2. Augmented Reality Unter dem Begriff Augmented Reality versteht man eine in das Virtuelle hinein erweiterte Realität. Smartphone-Applikationen wie Wikitude ermöglichen es beispielsweise, mithilfe der integrierten Kamera nicht nur das virtuelle Abbild einer Sehenswürdigkeit auf das Display zu projizieren, sondern zugleich zusätzliche Informationen aus der Wikipedia angezeigt zu bekommen. Mit Google Glass werden Inhalte aus dem World Wide Web mit einem Befehl oder einer kurzen Berührung abrufbar und direkt auf dem Display der Brille angezeigt. Zugleich kann das, was mithilfe der Brille gesehen wird, auf Social-Media-Plattformen mit anderen geteilt werden. Die Ursprünge der Augmented Reality liegen in den 1960er Jahren. 1965 veröffentlichte der US-amerikanische Computerspezialist Ivan Sutherland einen Aufsatz mit dem Titel „The Ultimate Display“. Er beschreibt darin einen Raum, in dem virtuelle Gegenstände erzeugt werden, die derart real erscheinen, dass der Betrachter nicht mehr in der Lage ist, zwischen Realität und Virtualität zu unterscheiden. Die menschlichen Sinne könnten also in einer Weise getäuscht werden, dass eine virtuelle Pistolenkugel in der Lage wäre, einen Menschen zu töten (vgl. Sutherland 1965, 506). Drei Jahre nach „The Ultimate Display“ präsentierte Sutherland das,
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was man als den Urahnen der Google-Brille bezeichnen könnte: das erste Head Mounted Display (HMD), eine Vorrichtung, die so schwer war, dass sie an der Decke fixiert werden musste. Mithilfe des HMD war es möglich, eine virtuelle Grafik im Raum zu sehen. Der Betrachter konnte sich im realen Raum bewegen, verschiedene Perspektiven einnehmen und sich die Grafik vom jeweils eingenommen Standpunkt aus ansehen. Die Sinne des Betrachters wurden hier insofern getäuscht, als ihm etwas präsentiert wurde, was es real gar nicht gab. Das Team um Paul Milgram und Fumio Kishino stellte 1994 eine Möglichkeit vor, den Begriff Augmented Reality differenzierter zu fassen. In „A Class of Displays on the Reality-Virtuality Continuum“ deuten die Autoren auf einen Raum (ein Kontinuum) hin, der sich zwischen der realen Umwelt (Real Environment) und der virtuellen Umwelt (Virtual Environment) entfaltet. Sie bezeichnen diesen Raum als Mixed Reality. Wird nun die virtuelle Umwelt um reale Momente ergänzt, haben wir es aus Sicht von Milgram et al. mit einer Virtual Reality zu tun. Ebenso ist es umgekehrt möglich, die reale Umwelt (z. B. mithilfe der Google-Brille) zu erweitern – das wäre dann eine Augmented Reality (vgl. Milgram et al. 1994, 283). Christian Pfeffer-Hoffmann verweist in seinem Aufsatz „Digitales Lernen. Wie E-Learning die Bildung verändert“ auf einen Trend, der weg vom reinen E-Learning hin zum Blended Learning führt: „E-Learning verschwindet allmählich als eigene, abgegrenzte Lernform, als etwas Besonderes. Es verbindet sich mit anderen Lernformen und Medien zum sogenannten Blended Learning, es wird zum Teil des Lernalltags, ohne noch groß aufzufallen.“ (Pfeffer-Hoffmann 2007, 29) Dieser Trend korrespondiert mit der Auflösung der Trennung zwischen realer Welt einerseits und virtueller Welt andererseits. Augmented Reality bzw. Mixed Reality, sowie entsprechende Applikationen und technische Geräte, sind Symptome dieser Grenzauflösung. Ebenso wie das Leben nicht mehr in erster Linie in der realen Welt stattfindet und man ab und an mal „ins Netz geht“, sondern das Netz die reale Welt durchzieht, wir also längst schon in einer Mixed Reality leben, findet auch das Lernen in einer zunehmend entgrenzten Weise statt. Lässt die Medienpädagogik das Phänomen der Entgrenzung aus dem Blick, dann hat sie, wie Claudia de Witt zu Recht feststellt, ihre „Entscheidungen für E-Learning-Anwendungen [...] [lediglich] in Abhängigkeit davon [zu treffen], ob von behavioristischen, kognitivistischen oder konstruktivistischen Annahmen über den Ablauf menschlicher Lernprozesse ausgegangen wird“ (de Witt 2005, 3). Solche Entscheidungen müssen PädagogInnen jedoch auch völlig unabhängig davon treffen, ob sie sich für den Einsatz von E-Learning entscheiden oder doch lieber traditionelle Lernarrangements bevorzugen. Aus meiner Sicht besteht die Entscheidung, die angesichts der besagten Entgrenzung zu treffen ist, darin, wie Bildungsprozesse in einer Mixed Reality ermöglicht und befördert werden können. Dazu bedarf es, dies ist meine These, der Medienkompetenz aufseiten der Pädagogin bzw. des Pädagogen, die ich, wie ich zeigen werde, als wesentliches Moment der Medienpädagogik verstehe. Ich verweise also E-Learning auf den Rang eines Mittels, Bildung hingegen auf den des Zwecks. Mir geht es nicht darum, Lerntheorien (Behaviorismus, Kognitivismus, Konstruktivismus etc.) zu reflektieren, um mich für eine zu entscheiden und im nächsten Schritt ein Lernarrangement zu schaffen und E-Learning-Anwendungen dementsprechend auszuwählen und einzusetzen. Vielmehr unterstelle ich, dass Bildung das oberste Ziel ist und alles Weitere sich aus dieser Zielbestimmung ableiten muss. Bildung als oberstes Ziel zu formulieren, ist wahrlich nichts Neues. In Zeiten der Mixed Reality und des Augmented Learning, in Zeiten der Entgrenzung also, erscheint es mir allerdings umso wichtiger, dass insbesondere die Medienpädagogik sich (erneut) ins Bewusstsein ruft, worum es wesentlich bei Bildungsprozessen geht bzw. gehen sollte.
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3. Bildung Bildung verstehe ich als Menschenbildung, denn der Mensch ist das einzige Wesen, das gebildet werden kann und muss. Wilhelm von Humboldt vertritt in seinem Fragment zur „Theorie der Bildung des Menschen“ – zumindest der Tendenz nach – eine entelechiale Vorstellung von Bildung. In Anlehnung an Aristoteles wird mit Entelechie die sich im Stoff verwirklichende Form angesprochen. Humboldt beschreibt den Menschen als eine Kraft, die danach strebt, sich zu erhöhen und sich selbst Wert und Dauer zu verleihen (vgl. Humboldt [1793] 2012, 94). Dazu braucht die Kraft einen Stoff, und dieser Stoff ist die Welt. An der Gegenständlichkeit und Widerständigkeit der Welt, an ihrer Stofflichkeit und ihren Anforderungen erfährt die Kraft nicht nur die Welt, sondern zugleich sich selbst. Diese reflexive Figur offenbart eine doppelte Fremdbestimmung, einerseits die der Welt und andererseits die Fremdheit der Kraft, die der Mensch selbst darstellt. Der Mensch hat jene Kraft und damit das, was er ist, nicht selbst verschuldet, er kann sich lediglich in Erfahrung bringen. Allein in der (Selbst-)Erfahrung kann der Mensch jedoch nicht verbleiben, sondern muss leben, muss sich entscheiden, muss handeln oder sich der Handlung verweigern. Der Akt der Entscheidung, ganz gleich wie banal oder fatal er auch sein mag, ist Ausdruck sich selbst bestimmenden Tuns. Im sich-bewussten Handeln hebt der Mensch die doppelte Fremdbestimmung in einer dialektischen Bewegung auf (vgl. Damberger 2013, 539). Nun soll die Entscheidung, die der Mensch trifft, nicht irgendeine x-beliebige sein. Im Gegenteil formuliert Humboldt mehrere aus seiner Sicht wesentliche Kriterien. Zum einen soll der Mensch seinen Zweck verwirklichen. In seinen „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ wird Humboldt konkret: „Der wahre Zwek des Menschen [...] ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (Humboldt [1792] 2002, 64). Der Mensch ist damit nicht nur eine Kraft, sondern die Kraft ist Ausdruck für etwas, das strebt, das aus der bloßen Potenzialität hinaus wirklich werden will. Der Mensch ist Wille, und dieser Wille will wirken, sich in seinen Wirkungen selbst erfahren und als ein Sich-selbst-bewusst-Gewordener ausdrücken. Im Sich-selbst-bewusst-Werden erfährt der Mensch zunehmend seine Kräfte, die es zu verwirklichen gilt, dies aber in einer Weise, dass die Kräfte sich nicht gegenseitig behindern, sondern verhältnismäßig, sich gegenseitig ergänzend und stärkend erhöhen. Am Ende steht der Mensch als Ganzes, als Ausdruck der wirklich gewordenen Kraft, als Form, die sich in den Stoff hinein- und darin ausgebildet hat. Das zu erreichen, würde zugleich das Ende des Menschen bedeuten, denn er wäre die Kraft, die nicht mehr zu wirken braucht, weil sie bereits vollends wirklich geworden ist; es wäre der Wille, der nicht mehr will. Wir müssen daher – aus meiner Sicht – Humboldts „wahre[n] Zwek des Menschen“ (ebd.) als regulative Idee deuten (vgl. Damberger 2012, 188 f.). Die Entscheidung, die der Mensch trifft, soll also dem wahren Zweck des Menschen entsprechen. Sie soll aber darüber hinaus auch „dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“ (Humboldt [1793] 2012, 94). Der Begriff der Menschheit meint dabei das, als was der Mensch das Menschsein begreift, was für ihn Menschsein ausmacht, wie der Mensch also sein soll. Es ist das (Ideal-)Bild des Menschen, jene Idee vom Menschen, die im Handeln Ausdruck gewinnen muss – und zwar so intensiv und so andauernd wie möglich. Damit spricht Humboldt an, dass der Mensch mehr werden soll, als er ist.
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Als geborenes Wesen ist er vom ersten Tag an der Vergänglichkeit preisgegeben. Er ist ein Geschöpf in Raum und Zeit und damit den Grenzen von Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Kausalität unterworfen. Aber zugleich hat der Mensch grundsätzlich die Fähigkeit, über sich hinaus zu weisen, seine Vergänglichkeit und seine Gebundenheit zu überwinden. Was der Mensch denkt, kann er zu Papier bringen, in den Köpfen anderer Menschen weiterleben lassen. Er kann sich ein Stück weit in die Dinge, die er baut und die ihn selbst überdauern werden, einfließen lassen. Heute ist dies in einem weitaus größeren Umfang möglich. Räumliche und zeitliche Grenzen werden dadurch, dass der Mensch etwas im Netz veröffentlicht, überwunden. Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter können in Fotos und Videoaufnahmen festgehalten werden. Schon heute ist es möglich, Tote in Hologrammen wieder erscheinen zu lassen. Der Mensch wirkt über sich hinaus, fraglich bleibt (und muss bleiben), ob damit dem „Begriff der Menschheit [...] [ein] so grosse[r| Inhalt, als möglich“ (ebd.) verschafft wird.
4. Selbstbestimmung Wenn wir nun E-Learning als Augmented Learning verstehen, das gerade im Zusammenhang mit einem zunehmend entgrenzten Blended Learning in einer Mixed Reality stattfindet, und wenn die Bildung des Menschen das Ziel dieses Augmented Learning darstellt, ist die Frage, wie dieses Ziel mithilfe von E-Learning bzw. Augmented Learning erreicht werden kann. In Humboldts Bildungstheorie rückt der sich bildende Mensch ins Zentrum; es geht dabei weniger um die PädagogInnen und um die Rolle, die die PädagogInnen einnehmen. Ganz anders verhält es sich bei Immanuel Kant. In seiner 1803 publizierten Pädagogik-Vorlesung arbeitet Kant im Gegensatz zu Humboldt mit einem eher schwammigen Bildungsbegriff: „Der Mensch braucht Wartung und Bildung. Bildung begreift unter sich Zucht und Unterweisung“ (Kant [1803] 1984, 29). Erziehung hat für Kant zur moralischen Bildung bzw. zur Befähigung zum moralischen Handeln zu führen. Der moralisch handelnde Mensch ist derjenige, der nach Maximen handelt, die jederzeit allgemeines Gesetz werden könnten. Bis dahin ist es nicht nur ein langer Weg, viel wichtiger ist, dass der Mensch tatsächlich nur mithilfe von anderen, bereits erzogenen Menschen zur Moralität gelangen und nur so sein eigentliches Menschsein verwirklichen kann (vgl. ebd.). Es braucht also zur Bildung befähigte PädagogInnen, um zu ermöglichen, dass andere Menschen zur Bildung gelangen können. Mit Blick auf eine Medienpädagogik, die Lernen und damit auch E-Learning als Mittel zum Zweck (nämlich den, Menschen zur Bildung zu führen) versteht, bedarf es einer besonderen Form von Medienkompetenz aufseiten der PädagogInnen. Werner Sesink versteht Medienkompetenz als die Fähigkeit, an einer Kultur aktiv teilnehmen zu können, die durch IuK-Technologien geprägt ist (vgl. Sesink 2004, 14). Medienkompetenz scheint damit eine Kulturtechnik zu sein, vergleichbar mit Lesen, Schreiben oder Rechnen. Ohne diese Techniken wäre eine aktive Teilnahme an einer Kultur, die durch eben diese Techniken geprägt ist, kaum bzw. gar nicht möglich. Jürgen Hüther und Bernd Schorb sprechen in einem ähnlichen Zusammenhang zwar nicht von Medienkompetenz, wohl aber von der Emanzipation als einer von mehreren Zielkategorien der Medienpädagogik. Sie verstehen darunter u. a. die Befähigung des Menschen, z. B. am Kommunikationsprozess in und mit (Neuen) Medien zu partizipieren. Anders formuliert: Der Mensch soll sich in der medial vermittelten Welt, beispielsweise in Social Networks, ausdrücken, hineinbilden und damit aktiv teilnehmen können (vgl. Hüther/Schorb 2005, 76).
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Das erinnert nicht nur an Humboldt, sondern auch an Kants Erziehungskonzept. Kant formuliert im Anschluss an die Stufe der Disziplinierung die der Kultivierung. Bei der Kultivierung geht es darum, dem Menschen die für die jeweilige Gesellschaft relevanten Kulturtechniken zu vermitteln. Dabei sollen die vermittelten Techniken nicht an bestimmte Zwecke gebunden sein, sondern erst einmal um ihrer selbst willen gelehrt werden: „Sie [die Unterweisung; Anm. v. T.D.] bestimmt also gar keine Zwecke, sondern überlässt das nachher den Umständen.“ (Kant [1803] 1984, 36) Die Zwecke werden bei Kant im Rahmen der nächsten Erziehungsstufe, der Zivilisierung, konkretisiert. Hier geht es darum, die Regeln, Normen und Gesetze der Gesellschaft kennenzulernen und die eigenen Interessen unter Berücksichtigung derselben in die Tat umzusetzen (vgl. ebd.). Es handelt sich dabei durchaus um egoistische Zwecke. Das Verfolgen solcher Zwecke würde vermutlich zur Zerstörung einer Gesellschaft führen, wenn nicht Regeln, Normen und Gesetze einen Rahmen bieten würden. Und so gehört es zur Zivilisierung, die eigenen Zwecke in Anerkennung des gesetzten Rahmens zu verfolgen. Kants pädagogisches Konzept zielt aber auf den freien Menschen ab. Frei ist der Mensch dann, wenn er sich nicht nur fremden Gesetzen unterwirft, sondern seine eigenen erschafft und diese befolgt. Die eigenen Gesetze sollen der Humanität verpflichtet und in diesem Sinne moralisch sein. Damit sind Gesetze gemeint, die nicht nur von Menschen gemacht sind, sondern zugleich das Menschliche am Menschen achten und dieses Achten als oberstes Ziel begreifen: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant [1786] 2000, 79). Kant nennt diese letzte Stufe der Erziehung, die noch nicht erreicht ist, die es aber zu erreichen gilt, Moralisierung. Problematisch an der Moralisierung ist, dass ein die Menschheit achtendes Handeln ein Bewusstsein voraussetzt, was denn die Menschheit, die es zu achten gilt, eigentlich ist. Nun erscheint Menschheit bzw. Menschsein als etwas, das nicht begriffen werden kann, denn jeder Begriff vom Menschen verweist auf das Begriffslose, das zwar das Begreifen verschuldet, selbst aber wiederum unbegreifbar ist. Der Mensch ist eben (auch) dieses unbegreifliche Wesen, das sich immer wieder neu zu entdecken und zu bestimmen hat und zugleich niemals mit der Bestimmung, mit dem Begriff, identisch werden kann. Das macht es umso schwerer, dem „Begriff der Menschheit [...] einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“ (Humboldt [1793] 2012, 94). Mit Bildung ist also die Aufgabe der Selbstbestimmung untrennbar verwoben.
5. Conclusio: Mittel und Zweck Wenn nun Lernen Mittel zum Zweck und der Zweck Bildung – und damit in dem genannten Sinne Selbstbestimmung – ist, dann kommt in Zeiten einer Mixed Reality, in der Lernen zu einem Augmented Learning wird, gerade den MedienpädagogInnen eine besonders anspruchsvolle Rolle zu. Die Entgrenzung bzw. das Ineinanderfließen von Realität und Virtualität und damit verbunden von traditionellem Lernen und E-Learning stellt die Frage nach dem Menschsein. Es ist die Frage nach dem, was es sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft immer wieder neu zu bestimmen gilt. Und diese Frage ist eine zutiefst existenzielle. Existenziell deshalb, weil die mit der IuK-Technologie einhergehenden Möglichkeiten es zulassen, dass der Ausdruck des Menschen, die Spuren seines lebendigen Wirkens, selbst zunehmend den Charakter des Lebendigen annehmen. Das Schaffen von künstlicher Intelligenz ist Ausdruck einer bildenden und weltgestaltenden Tätigkeit und diese wiederum ist Ausdruck
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e ines Selbstverständnisses. Die Vorstellung, über das eigene Leben hinaus fortbestehen zu können, was zu Humboldts Zeiten bestenfalls sinnbildlichen Charakter hatte, rückt nun – so scheint es – näher in den Bereich des Möglichen. So wird beispielsweise im Rahmen des Human Brain Project mittels Computer versucht, das menschliche Gehirn nachzubauen, und von dort ist es möglicherweise nicht mehr weit, die eigene Persönlichkeit, die eigene Identität, das eigene Menschsein in eine computersimulierte Welt zu transferieren. Auf diese Weise würde der Mensch identisch werden mit dem Ausdruck seiner Macht. Er wäre eins mit der Spur des lebendigen Wirkens und wäre weit über sich hinaus, wäre transhuman. Dass solche Vorstellungen tatsächlich diskutiert werden, verweist darauf, dass der Mensch sich in den Dingen, die er schafft, nicht nur spiegelt und sich mithilfe dieser Dinge reflexiv einholt, sondern darauf, dass er sich in dem, was er schafft, verliert. Humboldt warnte vor der Gefahr der Entfremdung: „So dringt ihn doch seine Natur beständig von sich aus zu den Gegenständen außer ihm überzugehen, und von hier kommt es nun darauf an, dass er in dieser Entfremdung nicht sich selber verliere“ (Humboldt [1793] 2012, 96, vgl. auch Bachmair 2009, 163). Und diese Gefahr ist gerade dort am größten, wo ein mangelndes Verständnis über die der IuK-Technologie zugrunde liegende Logik herrscht. Diese Techno-Logik ist eine destruktive. Die Welt wird hier in ihre kleinsten Bestandteile, in Bits, zerlegt und neu gestaltet. Dabei ist sowohl das Zerstören als auch das Konstruieren vom Menschen verschuldet, womit er aber nur das auslebt und ausdrückt, was in jedem einzelnen Menschen ständig im Zuge der Bildung geschieht. Bildung ist nämlich in ihrer basalen Form Ausdruck von Einbildungskraft, und Einbildung meint, wie Werner Sesink am Beispiel von Hegels „Jenaer Systementwürfen“ herausarbeitet, die Zerstörung dessen, was der Geist sich einbildet (vgl. Sesink 2008, 80 ff.). Das eingebildete Ding wird aus dem Kontext gerissen, dem es ursprünglich zugehörte, es wird im Geist zerlegt, mit Bildern, die der Geist hervorbringt, verbunden, kurzum: Es wird in der Einbildung etwas Neues geschaffen. Das, was sowohl der Zerstörung als auch dem Neu-Erschaffen zugrunde liegt, ist die Einbildungskraft, die der Mensch ist, die er aber – wie bereits mit Blick auf Humboldt gezeigt wurde – nicht verschuldet hat. Der Ursprung der Einbildungskraft ist das ewig Andere, das grundsätzlich Uneinholbare. Das heißt aber auch, dass dieses Uneinholbare nicht formalisiert und daher nicht von IuK-Technologien ergriffen, gestaltet, verändert, kopiert usw. werden kann. Das Andere im Menschen, welches, neben der Macht, über die der Mensch zweifellos verfügt, seine Menschlichkeit bezeichnet, bleibt dem Menschen und den von ihm hervorgebrachten Technologien entzogen. Dieses Andere nicht im Bewusstsein haben, ist bereits Ausdruck der Entfremdung. Der Mensch droht sich in den Dingen zu verlieren, mehr noch: Er will sich selbst zum Ding machen und sieht darin die anzustrebende Überwindung seiner Menschlichkeit, ohne allerdings eine Ahnung von dem zu haben, was Menschsein (auch) bedeutet. Bildung müsste hier ansetzen, denn die Entfremdung ist paradoxerweise zugleich das Rettende. Wenn die Entfremdung ins Bewusstsein gerät und auf ihre Ursache, auf ihren Ursprung hin befragt wird, ist sie der Weg, der zum Menschsein führt. Genau an dieser Stelle ist die Medienkompetenz der PädagogInnen gefragt. Es reicht nicht aus, dass PädagogInnen mit Neuen Medien umgehen, dass sie diese anwenden und sinnvoll in pädagogische Zusammenhänge integrieren können. Vielmehr ist es erforderlich, über die reine Anwendungskompetenz hinaus ein theoretisches Verständnis (auch) von der IuK-Technologie zugrundeliegenden Technik zu haben (vgl. Sesink 2004, 20 f.). Dies ist zum einen nötig, um das Entwicklungspotenzial dieser Technologie und den Technikbedarf zur Gestaltung von Bildungsprozessen einschätzen zu können. Zum anderen ermöglicht es gerade das theoretische
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Verständnis, die Formalisierbarkeit und die Grenzen der Formalisierbarkeit pädagogischen Handelns zu begreifen (vgl. ebd.). Diese Grenzen können technischer Natur sein, aber auch normativen Charakter haben. Gerade bei Fragen der normativen Grenzsetzung geht es eben nicht mehr nur darum, auf welche E-Learning-Prozesse oder -inhalte zurückgegriffen werden soll, um dieses oder jenes Lernen zu fördern, sondern darum, wie Bildung in einer Mixed Reality, einer erweiterten und zugleich entgrenzten Welt, medienpädagogisch so gestaltet werden kann, dass der Mensch nicht von sich weg, sondern in der Begegnung mit der Welt reicher zu sich zurück gelangen kann. Und genau das ist dann die Voraussetzung, um gemeinsam (mit der Technik) lernend in einer Mixed Reality eine der Humanität verpflichtete Welt zu schaffen.
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Christian Filk/Axel Grimm
Digitale arbeitsprozessorientierte Kompetenzentwicklung in der höheren beruflichen Bildung Ein situiert-partizipativ-adaptiver Forschungsansatz am Beispiel von Fachschulen für Technik Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/781
Abstract Christian Filk und Axel Grimm diskutieren die arbeitsprozessorientierte Kompetenzentwicklung in der höheren beruflichen Bildung und gehen dabei von der Tatsache aus, dass Learning-Management-Systeme erweitert eingesetzt werden sollten. Dabei stellen sie den Ansatz einer digitalen arbeitsprozessorientierten Kompetenzentwicklung in höheren beruflichen Fachschulen unter den Bedingungen des dualen Ausbildungssystems in Deutschland vor. So soll ein medienpädagogischer Prozess interner Schulentwicklung angestoßen und getragen werden. Dabei stellt sich die Frage, ob es zu einer Technisierung der Pädagogik oder einer Pädagogisierung der Technik kommen muss. Erst in jüngerer Zeit wurde, so die Autoren, klar, dass der PC Teil eines Lehr-Lern-Arrangements im Sinne der „computerunterstützten Lernumgebung“ ist. Neue Lernumgebungen sollen daher ein aktives, eigenständiges und selbst gesteuertes sowie kooperatives Lernen unterstützen. Work-Process Oriented Digital Competence Development in Higher Vocational Training – A Situated-Participative-Adaptive Research Strategy Using the Example of Technological Colleges. Christian Filk and Axel Grimm discuss work-process oriented competence development in secondary vocational training starting from the fact that learning management systems should be used more broadly. In so doing, they introduce the approach of a digital work-process oriented competence development in secondary vocational colleges under the conditions of the dual education system of Germany. It aims to initiate and sustain a media education process of internal school development. This raises the question whether its result will be a ‘technologization’ of pedagogics or a ‘pedagogization’ of technology. According to the authors, it only recently became apparent that the personal computer is part of a teaching and learning arrangement in the sense of the “computer-supported learning environment”. New learning environments should therefore support active, independent and self-governed as well as cooperative learning.
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1. Einführung „Da […] die berufliche Handlungskompetenz zukünftiger Mitarbeiter erheblich von der Fähigkeit abhängen wird, sich in digitalen Informationssystemen zurecht zu finden, muss dieser Kompetenzerwerb als eigenes Lernziel für beruflichen Unterricht definiert werden.“ Ralf Tenberg (2001, 305) Digitale Lernplattformen an berufsbildenden Schulen haben sich in der Breite noch nicht etabliert. Wenn berufliche Schulen ein solches Angebot vorweisen, ist es in der Regel von einzelnen motivierten Lehrkräften gestaltet und implementiert worden (vgl. Petersen 2014). Der Wille, mit digitalen Medien Lernprozesse zu verändern, zu innovieren und zu verbessern, scheitert aber oftmals an den nicht vorhandenen Ressourcen für ein, bezüglich der Schulform passgenaues, Learning-Management-System (LMS). So sind medienpädagogische und -didaktische Initiativen an berufsbildenden Schulen zumeist auf die Kompetenz einzelner Engagierter angewiesen. Eine breite Umsetzung innerhalb einer Schulform gelingt daher selten. Mithin entwickeln LehrerInnen dann Abwehrhaltungen, wenn sie an der Implementation nicht beteiligt wurden und keine Fortbildungen und Hilfestellungen erhalten. Im vorliegenden Beitrag stellen wir den Ansatz einer digitalen arbeitsprozessorientierten Kompetenzentwicklung in höheren beruflichen Fachschulen unter den Bedingungen des dualen Ausbildungssystems in der Bundesrepublik Deutschland vor. Mittels eines dezidiert situierten, partizipativen und adaptiven Forschungsansatzes (vgl. Filk 2015) soll bei zwei divergenten Projektpartnern – einer privaten und einer öffentlichen Bildungseinrichtung – ein medienpädagogisches und berufsdidaktisches Konzept für ein digitales Lernen in der Schulform der Fachschule (höhere berufliche Bildung/EQR-Niveau 6) ins Werk gesetzt werden. Das spezifische Moment besteht darin, dass die Konzeptualisierung und Implementierung gemeinsam mit den späteren Anwendern und den betrieblichen Praxispartnern entworfen, gestaltet, eingesetzt und ausgewertet werden. Gemeinsam mit der Interessenvertretung der Fachschulen für Technik (BAK FST) ist ein Wissenstransfer für eine breite und nachhaltige Anwendung vorgesehen. Nicht zuletzt durch gewandelte Lehr-Lern-Settings, didaktische und curriculare Veränderungen und mit den Möglichkeiten des individualisierten Lernens, die mit der Nutzung der Lernplattform einhergehen, wird ein Prozess der internen Schulentwicklung angestoßen und getragen.
2. Medien und Berufsschulbildung in Deutschland In den 1960er Jahren wurde das deutsche Bildungssystem als tradiert und veraltet eingeschätzt. Das Bildungsniveau sollte durch die Computernutzung angehoben werden: „Computer sollten als Medium des Lehrers und Lerners die Versäumnisse der vorangegangenen Bildungspolitik ausgleichen und das vielerorts ramponierte Image des öffentlichen Schulwesens aufhellen.“ (Euler 1992, 16) In dieser Einführungsphase, die mitunter auch als „Boomzeit“ bezeichnet wird, wurde der Bildungssoftware-Markt schnell überschwemmt mit inhaltlich langweiligen, methodisch gleichartigen und pädagogisch unbrauchbaren Programmen. Das lag
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zum einen an dem Entstehungsprozess von Software, da unter den ProgrammiererInnen in aller Regel keine DidaktikerInnen vertreten waren, und zum anderen an den nur selten gut ausgebildeten Lehrpersonen in diesem Bereich, die selbst noch Berührungsängste in Bezug auf die neue Technik hatten (und zum Teil heute noch haben). Noch Anfang der 1990er Jahre fragte Dieter Euler (1992, 18): „Bedeutet die Auferstehung des computerunterstützten Lernens eine Technisierung der Pädagogik, oder kommt es umgekehrt zu einer Pädagogisierung der Technik?“ Die ersten Personalcomputer-Arbeitsplätze (PC) waren im Wesentlichen in der Art eines Sprachlabors eingerichtet – Frontalunterrichtsanordnung. Erst in neuerer Zeit ist erkannt worden, dass der PC Teil eines Lehr-Lern-Arrangements ist (vgl. Kerres 2001). Gängig ist die Bezeichnung „computerunterstützte Lernumgebung“, dabei handelt es sich um eine neue unterrichtswissenschaftliche Sichtweise, die konkret Lernumgebungen in den Mittelpunkt des Lernens rückt. Die konstruierten Lernumgebungen dienen dazu, das Lernen anzuregen und somit die Lernprozesse zu fördern. Ziel ist es, das Lehren zugunsten des Lernens in den Hintergrund zu rücken. Neue Lernumgebungen sollen deshalb ein möglichst aktives, eigenständiges und selbst gesteuertes sowie kooperierendes Lernen unterstützen und zugleich die Konstruktion von Verknüpfungs- und Verstehensprozessen fördern: „Vor allem die wissenschaftlichen Erkenntnisse über kognitive Verstehensprozesse, Lernstrategien, Selbststeuerungsprozesse und Motivation haben neue Möglichkeiten vom Lernen möglich gemacht.“ (Weber 1998, 60) Computerunterstütztes Lernen kann nicht mehr als ein passiver, rezeptiver Vorgang – etwa in Form einer Lehrgangssoftware – angesehen werden, sondern als ein aktiver, konstruktiver und selbst gesteuerter Prozess, bei dem die eingesetzte Software nur einen Teil einer Lernumgebung darstellt (vgl. Grimm 2010). Computerunterstütztes Lehren und Lernen erfolgt in vielfältigen Zusammenhängen: Multimedia, E-Learning, Blended Learning, Tele-Teaching, virtuelles Lernen, netzbasiertes Lernen (vgl. Euler 1992; Tenberg 2001; Dick 2000). Auch der heute überkommene Begriff der „Neuen Medien“ wurde in diesem Kontext gern verwendet. Dabei interessieren Medien als Mittel zur Erreichung von fachlichen Lehrzielen und zur Entwicklung von gewünschten Kompetenzen. Ein einfaches Ursache-Wirkung-Modell in Bezug auf elektronische und digitale Medien wird von Michael Kerres (2003) zurückgewiesen. Die Potenziale sogenannter „Neuer Medien“ können nur durch eine didaktische Konzeption herausgearbeitet werden. „Die Entfaltung von Medienwirkungen ist danach eine Gestaltungsaufgabe und kein Effekt der Medientechnik“ (ebd., 9). Die Aktivitäten der Lernenden sind bei dieser Sichtweise allerdings vernachlässigt. Lernerfolg stellt sich nicht nur durch eine optimal gestaltete Lehr- und Lernumgebung ein, sondern auch durch die „richtigen“ Aktivitäten und Reaktionen der Lernenden (vgl. Grimm 2012).
3. Medienbildung und situiert-adaptive Mediennutzung Hatten sich in Herstellung und Fertigung über viele Jahre weithin lineare, hierarchisch strukturierte Arbeitsabläufe mit genau definierten Kompetenzen und klar voneinander abgegrenzten Aufgabengebieten bewährt, so fordert die Dynamik der sich rasant beschleunigenden Entwicklung konvergierender digitaler Medien zyklische, interdisziplinär vernetzte, offen partizipatorische Arbeitsorganisationen und Workflows ein. Doch ungeachtet dessen scheinen Gesellschaft und Wirtschaft nach wie vor auf die tradierte Logik und Logistik ihrer überkommenen Betriebsabläufe und Branchen-Netzwerke zu setzen.
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Längst ist die Durchdringung individueller und kollektiver Lebenswelten mit allgegenwärtigen Informations- und Kommunikationstechnologien Legion. Getrieben durch den technischen Wandel, wachsen Medien heute zusammen. Mithin wird von technischer Konvergenz gesprochen. Nach wie vor werden Audio-, Bild- und Textinhalte produziert. Sie lassen sich aber einfacher kombinieren, es entstehen neue Mischformen und sie werden auch zunehmend nicht mehr alleine über klassische sequenzielle und monodirektionale Kanäle verbreitet. Die vielgestaltigen Inhalte können, mittels der Netztechnologie(n), auch in gemischter Form, bidirektional und interaktiv über verschiedene netzwerkfähige Endgeräte, wie etwa Fernsehgeräte und Smartphones, distribuiert werden (vgl. Filk 2012; Filk/Müller-Beyeler 2011). Just hier haben Medienbildung und berufs- und fachdidaktische Konzepte anzusetzen. Die gestaltungsorientierte Mediendidaktik nach Kerres (2001, 2003) versteht unter einer multimedialen Lernumgebung nicht allein die Bereitstellung von Hard- und Software, sondern die Einbettung dieser in einen soziotechnischen Zusammenhang, der personale Service- und Dienstleistungen und didaktisch erarbeitete Unterrichtsarrangements anbieten muss. Sowohl im beruflichen und schulischen als auch im privaten Bereich stellen Computer ein wesentliches Arbeitsmittel dar. Mit den Entwicklungen, die zusammengefasst oftmals als „Web 2.0“ oder mittlerweile „Web 3.0“ bezeichnet werden, hat eine neue Art der Nutzung und Vernetzung stattgefunden, primär durch eine veränderte Nutzung und Wahrnehmung des Internets. Heute bietet es sich an, von situiert-adaptiver Mediennutzung zu sprechen (vgl. Filk/Gundelsweiler 2014, 2014a). NutzerInnen erstellen, bearbeiten und verteilen Inhalte in quantitativ und qualitativ entscheidendem Maße selbst, unterstützt von interaktiven Anwendungen. Die Inhalte werden nicht mehr nur zentralisiert erstellt und über das Internet verbreitet, sondern von einer Vielzahl von NutzerInnen, die sich mithilfe sozialer Software vernetzt haben. Diese Potenziale können in berufliches Lernen mit einfließen.
4. Medienunterstütztes Lehren und Lernen an berufsbildenden Schulen Um medienunterstütztes Lehren und Lernen in beruflichen Schulen etablieren zu können, ist neben einer effizienten und effektiven technischen Infrastruktur eine Lernplattform hilfreich. Diese haben sich aber bislang nicht wirklich an berufsbildenden Schulen etablieren können (vgl. Petersen 2014). Der Anspruch, der an Lernplattformen dabei gestellt wird, ist enorm. Die Kosten sollen gering und die Anwenderfreundlichkeit hoch sein. Eine sorgfältige und strukturierte Auswahl eines geeigneten Produktes ist unabdingbar. Aufgaben von Lernplattformen sind insbesondere die Verwaltung von Bildungsangeboten, Kursen, Lehr-/Lernmaterialien und Personendaten (als Gruppen oder Einzelpersonen), Kommunikationskomponenten, Möglichkeiten des Kompetenzmanagements und Evaluationsmöglichkeiten sowie die Begleitung berufsbiografischer Wege in Form von E-Portfolios (vgl. Münte-Goussar 2015). Über medienunterstützte Lehr-/Lernplattformen respektive Learning-Management-Systeme sollen Lernende nicht nur gemeinsam lernen, sondern auch nachhaltig miteinander kommunizieren und damit auch informelle Lernprozesse anstoßen. Die Evaluation der integrierten Elemente und insbesondere der sogenannten Web-2.0- oder Web-3.0-Technologien ist hier von zentraler Bedeutung, da auf dieser Basis eine stetige Weiterentwicklung (vor allem im Hinblick auf Einfachheit der Benutzung, Zuverlässigkeit und Akzeptanz) der vorgeschlagenen Lehr- und Lernformen erreicht werden kann.
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Die Hoffnungen, die mit der Einführung von Lernplattformen in der beruflichen Bildung verbunden sind, lassen sich – vereinfacht – mit einer Steigerung der Attraktivität beruflicher Bildung beschreiben. Die Motivation für berufliches Lernen soll erhöht werden. Es sollen neue Zugänge und Lernformen geschaffen werden. Der Anteil des bisher üblichen formellen Lernens kann zugunsten von selbst organisiertem und selbst gesteuertem Lernen reduziert werden (vgl. Grimm/Winkler 2010; Grimm/Herres 2012). Gegenstand moderner Lehr-/Lernplattformen ist nicht mehr nur die Organisation und Bereitstellung von technischen Infrastrukturen für das fokussierte gemeinsame, mithin kooperativ-partizipative Lernen (vgl. Filk 2003), sondern auch die nachhaltige Schaffung einer sozialen Netzwerkstruktur für gemeinsames Lernen. So sollen auch informelle Lernprozesse angestoßen werden. Lernortübergreifende Aspekte lassen sich über eine Lernplattform organisieren und die Akteure virtuell zusammenbringen. Berufsschulen, Ausbildungsbetrieben und überbetrieblichen Ausbildungsstätten wird somit ein Forum ermöglicht, welches für die zeitliche und inhaltliche Absprache von gemeinsamen und/ oder aufeinander aufbauenden Lerneinheiten dringend benötigt wird und dadurch auch als ein Garant für eine Steigerung der Ausbildungsqualität einzuschätzen ist. Nicht zuletzt erleben wir durch den skizzierten Wandel und durch die damit verbundenen neuen Potenziale der Kommunikation eine soziokulturelle Veränderung. Diese ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass in sozialen Netzwerken Medienproduzierende und -konsumierende nicht mehr trennscharf zu unterscheiden sind, sondern in der Tendenz nur noch situativ beschrieben werden können. Demnach kommt es auf eine Förderung des Dialogs synästhetischer Informationsverarbeitung, dezentraler Vernetzungsstrukturen sowie multimedialer und modularer Wissensdarstellungen (vgl. Giesecke 2002, 2007) an. Mithin konturieren sich damit Ansätze, Anforderungskriterien und Gelingensbedingungen für situiertes, partizipatives und adaptives medienunterstütztes Lehren und Lernen an berufsbildenden Schulen.
5. Kooperatives Lehren und Lernen mit digitalen Medien Der fachübergreifende Diskurs der computer- respektive netzbasierten Wissenskommunikation in Gruppen einerseits und des computerunterstützten kooperativen Arbeitens (Computer Supported Cooperative Work, CSCW [Schwabe/Streitz/Unland 2001]) beziehungsweise Lernens (Computer Supported Cooperative Learning, CSCL [vgl. Koschmann 1996; Koschmann/Hall/Miyake 2002]) andererseits bietet wichtige Aufschlüsse für die Diskussion zum medienunterstützten Lehren und Lernen sowohl im sekundären als auch im tertiären Bildungssektor. Das Zusammenführen beider Domänen erstreckt sich von der Theorie und Methode über Pilotierung und Implementation bis hin zu didaktischen und curricularen Empfehlungen. Ein verständlicher Transfer wesentlicher Probleme, Positionen und Perspektiven aus der anwendungsorientierten Forschung und Entwicklung für die relevanten Zielgruppen in der (außer-)betrieblichen und (außer-)schulischen Aus- und Weiterbildung nimmt sich als vordringlich aus (vgl. Filk 2003). Dies gilt umso mehr, weil diese Klientel Gefahr läuft, strukturell von der hohen soziotechnischen Eigendynamik des kooperativen Wissensmanagements abgekoppelt zu werden – mit zum Teil dramatischen Konsequenzen für die viel beschworene wissensbasierte (Dienstleistungs-)Gesellschaft, die von der Schaffung und Teilung des (wissenschaftlichen) Wissens abhängig ist (vgl. Weingart 2001). Zweifelsohne muss mittlerweile als Binsenweisheit gelten, dass Leben, Bildung und Arbeit in der näheren Zukunft – mehr als schon in unserer Gegenwart – im wachsenden Maße mittels
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medien- und/oder computerunterstützter Arrangements organisiert und strukturiert werden (vgl. Giesecke 2002, 2007). Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK-Techniken) ermöglichen neue Szenarien der produktiven und flexiblen Wissensvermittlung, -verbreitung und -aneignung. Mittels intelligenter kooperativer medien- und/oder computerunterstützter Konzepte (vgl. Schwabe/Streitz/Unland 2001) lassen sich innovative Arbeits- und Sozialprozesse beziehungsweise instruktive Lehr- und Lernprozesse unabhängig von räumlichen und zeitlichen Restriktionen mit sowohl vereinten als auch mit verteilten Handelnden und Gruppen gestalten – auch und gerade in berufsbildenden Schulen.
6. Situiertes Wissen und mediengestütztes Lehren und Lernen Unbeschadet des erfreulichen Umstandes, dass in den letzten rund 20 Jahren richtungweisende Forschungs-, Entwicklungs- und Anwendungsprojekte auf dem Gebiet des computerbasierten respektive netzbasierten Lehrens und Lernens in Gruppen initiiert und realisiert wurden, dürfen die widrigen Voraussetzungen einer breiteren Antizipation des kollaborativ-partizipativen Settings im Lehr-/Lernkontext nicht unterschätzt werden (vgl. Filk 2006). Wir sind traditionell, kulturell und sozialisatorisch mit individuumfixierten Konstrukten und Techniken des Lehrens und Lernens konfrontiert und prädeterminiert, die wesentlich durch subjektphilosophische und individualpsychologische Diskursformationen bedingt sind. Die Einsicht in die vielschichtige Komplexität, medien- und/oder computerunterstützter Lehr- und Lern umgebungen holistisch und integrativ zu gestalten, stößt vielerorts immer noch auf Unverständnis, Achselzucken oder gar Ablehnung. Schlechterdings wird man nicht umhinkommen, eine konzeptuelle Abstimmung technischer, organisatorischer, soziokultureller, gruppenspezifischer, (medien-)didaktischer und curricularer Parameter vorzunehmen (vgl. Filk 2003). Wichtige Anhaltspunkte liefern dazu einschlägige Konzepte und Modelle des Lehrens und Lernens. Kognitive Theorien können sich in besonderer Weise auf die Umgebung der Wissens teilung fokussieren. Ein bedeutsamer Ansatz ist das „situierte Lernen“ beziehungsweise die „situierte Kognition“ (Situated Learning, Situated Cognition) (vgl. Lave 1988; Lave/Wenger 1991). Situiertes Lernen meint das individuelle Arbeiten in authentischen oder realistischen Lernumgebungen respektive das Lernen mit authentischen oder realistischen Aufgaben und Problemen, welche die „wirkliche Welt“ reflektieren. Denn wenn Wissen dekontextualisiert wird, läuft es Gefahr, ineffektiv zu werden. Situierte Kognition schließt (angewandte) Wissensund Denkübungen ein, um einmalige oder ungewöhnliche Probleme zu lösen (vgl. McLellan 1996). Von situierter Kognition wird gesprochen, wenn das Wissen kontextuell verortet ist und grundlegend beeinflusst wird von Aktivitäten, Kontexten und Kulturen (vgl. McLellan 1996). Zu den Hauptkomponenten des situierten Lernens gehören daher: Begreifen, Kooperation, Reflexion, Coaching, vielfältige Übungen, Artikulation von Aufgaben, realistische Eindrücke und Technologie (vgl. McLellan 1996; Strittmatter/Niegemann 2000). Als konzeptuelles Gegenstück zur situierten Kognition lässt sich die „verteilte Kognition“ und das „verteilte Lernen“ (Distributed Cognition, Distributed Learning) begreifen (vgl. Salomon 1993). Verteilte Kognition überschreitet die traditionelle Sichtweise auf Kognition, die in der Regel Wissen als lokalisiertes Phänomen ansieht und in Begriffen der Informationsverarbeitung auf individueller Ebene erklärt wird (vgl. Hutchins 1995). Der Ansatz der verteilten Kognition akzentuiert das verteilte Arrangement von kognitiven Phänomenen über Individu-
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en, Artefakte und Medien hinweg und expliziert interne und externe Repräsentationen in Begriffen einer gemeinsamen Sprache „repräsentationaler Zustände“ und „Medien“. Ein weiteres wichtiges Konzept ist der in besonderer Weise mit Lem S. Vygotsky assoziierte „soziale Konstruktivismus“ (Social Constructivism): Sein Modell des kognitiven Lernens besagt, dass Kultur die erste dominierende Determinante für die individuelle Entwicklung ist. Mithin findet der Aufbau von Wissen im kulturellen Kontext statt. Kultur leistet vor allem zweierlei: erstens, durch Kultur vertiefen Lernende den Inhalt ihres Denkens, ihr Wissen; zweitens, durch ihre Umgebung verinnerlichen sie im Prozess der Bedeutungszuweisung ihr Denken. Dies nennen Vygotskyaner „tools of intellectual adaptation“ (Vygotsky 1962; Vygotsky 1978). Der kognitiven, sozialen und organisatorischen Komplexität Tribut zollend, müssen kooperative Wissensprozesse strukturiert werden (vgl. Filk 2003, 2009).
7. Ziele, Funktionen, Methoden und Prozesse mediengestützter Kollaboration Die Strukturierung muss durch geeignete Prozesse und Medien operationalisiert werden. Tendenziell sollen Lehrende oder Experten zugunsten von Lernenden oder Laien aus dem Mittelpunkt heraustreten; sie sollen zu Moderatoren werden. Hierzu bedarf es einer geeigneten Moderationsunterstützung (vgl. Salmon 2000). Im Idealfall soll Wissensteilung reziprok und alternierend zwischen Lehrenden und Lernenden stattfinden. Das Teilnehmen an Kleingruppenaktivitäten entwickelt Denkvermögen auf hohem Niveau. Es fördert die Fähigkeiten der Individuen, Wissen zu teilen und anzuwenden, Verantwortung für Lernerfolge als Individuum, aber auch als Gruppenmitglied zu übernehmen. Eigene Ideen in einer Gruppe verbalisieren zu müssen, trainiert das Reflexionsvermögen und die Kritikfähigkeit gleichsam aktiv wie passiv. Die Ausbildung sozialer, kommunikativer und medialer Kompetenzen sowie Teamfähigkeit durch Geben und Nehmen im Aushandeln von Konsenslösungen ist eine Grundmaxime liberaler, emanzipatorischer Erziehung und Bildung. Die sogenannten Soft Skills sind bei der kooperativen Wissenskommunikation hoch zu priorisieren. Im Unterschied zu vielen hergebrachten Vorstellungen der Wissensvermittlung und Wissensaneignung beziehungsweise des Lehrens und Lernens sind die Ziele der kooperativen Wissenskommunikation und -teilung kreativ-produktiv begründet und ausgerichtet. Die Aktivitäten dienen, auch wenn die Gruppe gemeinsam Resultate erarbeitet, in letzter Konsequenz dem Lernen und Wissen des Individuums. Das gemeinsam erzeugte Produkt ist Mittel zum Zweck des Lernens und Wissens. Gerade die mediengestützte Wissenskommunikation in Gruppen soll darüber hinaus dazu beitragen, dass AkteurInnen prosoziale, (meta-)kommunikative und soziotechnische Kompetenzen und Qualifikationen erwerben und einüben. Bei der kooperativen Wissenskommunikation wird (auch) arbeitsteilig gearbeitet. Vor allem medienunterstützte kooperative Wissensprozesse können (auch) modular und komponentenartig modelliert sein. Aber der Prozess muss – von der Konzeption her – so strukturiert sein, dass jedes Mitglied der Gruppe die Gelegenheit erhält, sich das gemeinsam erarbeitete Wissen individuell anzueignen. Das Prinzip der Arbeitsteilung stellt sicher, dass das Gros des Inhalts von allen Gruppenmitgliedern aktiv geteilt wird, das heißt: an ihm gearbeitet und zugleich dabei gelernt wird. Da es sich bei der medienunterstützten kooperativen Wissenskommunikation um hochkomplexe Prozesse handelt, ist eine zentrale Steuereinheit vonnöten. Grundsätzlich
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wird dabei zwischen Technik (für technische Prozesse) einerseits und Kommunikation (für soziale Prozesse) andererseits unterschieden (vgl. Filk/Schweizer 2003). Gemäß der Media-Synchronicity-Theorie (vgl. Dennis/Valacich 1998, 1999) sind zwei Kommunikationsprozesse voneinander zu unterscheiden: konvergente Prozesse (Convergence) und divergente Prozesse (Conveyance). Im Rahmen konvergenter Vorgänge werden Informationen verdichtet, im Rahmen divergenter Vorgänge werden Informationen erzeugt und verteilt. Im Sinne einer rationalen Problemlösung sorgen divergente Phasen dafür, dass Entscheidungen oder Problemlösungen möglichst umfassend fundiert und Unsicherheiten reduziert werden. Konvergente Phasen machen Gruppen handlungsfähig, indem sie dafür Sorge tragen, dass die Gruppe nicht in Informationen untergeht und zu einer gemeinsamen Interpretation gelangt. Dabei handelt es sich um eine Eingrenzung von Mehrdeutigkeit. Verschiedene Kommunikationsprozesse machen den Einsatz von Medien mit unterschiedlichen Eigenschaften erforderlich (vgl. Dennis/Valacich 1998, 1999; Filk 2003, 2009). So bietet es sich an, für konvergente Prozesse Medien mit hoher Synchronizität und für divergente Prozesse Medien mit geringer Synchronizität zu verwenden. Allgemein lässt bei divergenten Prozessen die Nutzung von Medien mit einer höheren Überarbeitbarkeit bessere Lernerfolge prognostizieren. Bei konvergenten Prozessen lässt der Einsatz von Medien mit einer höheren Wiederverwendbarkeit bessere Lernerfolge erwarten. Lerngruppen, die sich schon länger kennen, bedürfen weniger Synchronizität als Gruppen, die erst seit kurzer Zeit bestehen. Ferner sind drei weitere Einflussgrößen bei der Wahl der Medien, insbesondere mit Blick auf das Gruppenverhalten, zu beachten: Herstellung eines gemeinsamen Ergebnisses, Unterstützung der Mitglieder sowie Wohlbefinden in der Gruppe. Ausgehend von den vorstehenden Begrifflichkeiten und Anwendungen, bedarf es einer integralen Konzeption, Programmatik und Didaktik konvergenter Kompetenzprofilierungen in der multimedialen Produktion mit Folgen und Konsequenzen in und für Aus- und Weiterbildung, Forschung und Entwicklung, Wissens- und Techniktransfer. Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, Lernenden und Lehrenden das kompetente Interagieren in konvergierenden Medienumgebungen möglich zu machen. Dies erfolgt durch ein integrales sowohl wissenschaftlich als auch praktisch fundiertes Konzept mit aufeinander abgestimmten individualisierbaren Kompetenzprofilen und flexibilisierten Produktions-Workflows. Die Basis für das Strukturmodell integraler Medienkompetenzprofilierung (vgl. Abbildung) beruht auf einer ausgeprägten Netzkompetenz. Das digitale Netz – wie immer es jetzt oder künftig genannt wird (Internet, Web 3.0 u. a.) – ist die technische Voraussetzung aller modernen Kommunikationsformen (vgl. Ceruzzi 1998). Lernende und Lehrende sollten verstehen, wie ein digitales Netz funktioniert. Sie müssen in der Lage sein, Medienprodukte in bestehende, netzbasierte Plattformen einzupflegen und auszuspielen. Lernende und Lehrende sollen aber auch selbst bis zu einem gewissen Grad konvergente Plattformen konzipieren, programmieren oder managen können. Mit der Option, die Informatikkenntnisse zu vertiefen, erhalten sie die Möglichkeit, sich in die relevanten Technologien weiter einzuarbeiten. Damit lernen sie, interaktive Web-Applikationen zu modellieren, zu adaptieren und zu administrieren.
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Abbildung: (Filk/Müller-Beyeler 2011; Filk 2012, 2015)
Netz-, Narrations- und Produktionskompetenz funktionieren letztendlich nur im Zusammenwirken mit Marktkompetenz. Lernende und Lehrende sind darauf vorzubereiten, multimedial kommunizieren zu können und diese Kommunikation zu reflektieren und kritisch zu betrachten. Damit sie berufsfähig werden, müssen sie die Märkte kennen, in denen sie arbeiten werden. In der Technikerausbildung sind berufliche Praxisphasen eng verzahnt mit arbeitsorientierten und berufsbezogenen Lerninhalten. Somit gestalten sich arbeits- und geschäftsprozessorientierte Lerneinheiten, die zeitlich unabhängig und außerhalb schulischer Raumdimensionen individualisiert organisiert und betreut werden müssen. Die beruflichen Praxisphasen sind im Sinne einer Lernortkooperation mitzudenken, damit die Zusammenarbeit von beruflichen Schulen und Betrieben unterstützt und verbessert wird.
8. Implementierung einer mediengestützten höheren beruflichen Bildung Im Einzelnen soll auf der Grundlage einer situierten Erhebung des Bedarfs der beiden Projektpartner ein individuelles schulformspezifisches Anforderungsprofil für eine Lernplattform entwickelt werden. Das forschungs- und gestaltungsleitende Augenmerk richtet sich dabei auf curriculare Anpassungen, Wandlungen institutioneller Lehr-/Lernprozesse, Weiterentwicklung der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, praktische und reflexive Medienkompetenzen von FachschülerInnen sowie infrastrukturelle Standardisierungen. Auf die Aspekte Inklusion arbeitsorientierter Praxisanteile aus den Projektarbeiten und Berücksichtigung der individuellen Kompetenzentwicklung der FachschülerInnen auf der Grundlage der eigenen Berufsbiografie, vornehmlich durch einen integrierten Portfolioansatz, wird gesteigerter Wert gelegt. Durch die Einbindung aller am Lernprozess beteiligten AkteurInnen – Schulleitung, Lehrkräfte, FachschülerInnen, Partnerbetriebe – werden partizipativ Parameter rekonstruiert, die für das berufliche Lernen mit einer digitalen Lernplattform von Bedeutung sind. Damit avanciert Medienbildung als Innovationsvektor sowohl der Schul- als auch der Unterrichtentwicklung (vgl. Filk 2015). Gegen die in der (außer-)schulischen Praxis verantwortlich Tätigen können keine medienbildungsbezogenen und -didaktischen Vorhaben geplant, geschweige denn umgesetzt werden.
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Umso vordringlicher ist es, die konkret Handelnden und Betroffenen situiert und partizipativ in Form von Workshops und Experteninterviews sowie nach einer adaptierten Methode angelehnt an das „Visual Roadmapping“ (vgl. Kind/Hartmann/Bovenschulte 2011) miteinzubeziehen. Die individuelle Kompetenzentwicklung und die auf eine spätere berufliche Handlungsfähigkeit ausgerichtete Zielperspektive findet besondere Beachtung. Die Implementierung der Lernplattform erfolgt in enger Abstimmung im Verbund. Die Partnerfachschulen werden medienpädagogisch und berufsdidaktisch auf die Einführung und Nutzung der Lernplattform vorbereitet und begleitet. Nach einer Erprobungsphase geschieht eine erste Evaluation der Lernplattform durch die FachschülerInnen, Lehrkräfte und weiteren AkteurInnen. Veränderungen können vorgenommen werden. Ein Referenzprodukt wird erarbeitet und implementiert. Die Adaption der „Best Practice“ aus den Partnerschulen geschieht über den BAK Fachschulen für Technik. In der Transferphase wird die Möglichkeit eröffnet, an weiteren Standorten die Einführung der Lernplattform zu unterstützen und zu begleiten. Eine Multiplikatoren-Gruppe wird fortgebildet und das Ergebnisprodukt der individuell anpassbaren Lernplattform wird für eine breite Anwendung freigegeben. Dokumentationen und Handbücher komplettieren das Angebot an die öffentlichen und privaten Fachschulen. Eine Perspektive für die Einbindung aller Schulformen an berufsbildenden Schulen wird konzipiert und im Falle einer weiteren Fördermöglichkeit implementiert. Die Einbindung von Expertise ethischer, rechtlicher und sozialer Art (ELSI) wird Bestandteil der Untersuchung sein, da die Profile der NutzerInnen und die weiteren im System aufgenommenen Daten geschützt werden müssen. Die Systeme verfügen auch über sensible Informationen mit arbeits- und prozessbezogenen Inhalten der betrieblichen Partner. Daher müssen gesonderte ELSI-Aspekte berücksichtigt werden. Die Autoren sind zutiefst davon überzeugt, dass die skizzierte Zielsetzung des Projektes sich am besten erreichen lässt, wenn alle beteiligten Anspruchs- und ExperteInnengruppen – allen voran die Handelnden und Betroffenen in den Schulen – situiert, partizipativ und kooperativ den schulbezogenen Entwicklungs- und Forschungsablauf mitbestimmen. Eingedenk dessen zielt der Ansatz des Projektes in einer längerfristigen Perspektive darauf, an der jeweiligen Fachschule einen tief greifenden und nachhaltigen Schulentwicklungsprozess einzuleiten. Die Erforschung, Gestaltung und Erprobung einer neuen Medienbildungspraxis in den Fachschulen wird dabei zum Ausgangspunkt und Vehikel, Lehr-/Lernszenarien und organisatorische Strukturen innerhalb der Schule grundsätzlich zu befragen. Auf dem Weg zum lebenslangen Lernen und zu einer Individualisierung des Lernens geraten dabei zunächst vornehmlich Unterricht, didaktisches Vorgehen und die eingesetzten Lernmittel in den Fokus. Ebenso werden aber auch curriculare, fachbezogene, zeitstrukturelle und räumliche Gegebenheiten sowie Personalstruktur, Weiterbildung, technische Ausstattung und finanzielle Gestaltungsmöglichkeiten kritisch betrachtet. Letztlich wird die gesamte Schule als Organisationseinheit auf die Probe gestellt. Obwohl die technische Umsetzung sehr von den zu erhebenden Anforderungen der Projektpartner abhängen wird, sollen an dieser Stelle erste Vorüberlegungen vorgestellt werden. Arbeits- und geschäftsprozessorientierte Lernsituationen bilden die Grundlage für berufliches Lernen. Diese auch als Lehr-Lerninhalte (LLI) zu bezeichnenden Prozessinitiativen müssen kontextualisiert aufbereitet werden, um sie in einer Datenbank ablegen zu können und mit einem Lernstandsniveau analog zu den Durchlaufzyklen von Inhalten in einem Spiralcurriculum markieren zu können. Lehr-Lerninhalte und Themen können weiterhin mit Perspektivinfor-
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mationen in Bezug auf berufliche Handlungen versehen werden. So können für unterschiedliche Schwerpunktausbildungen zum Beispiel Technikerin und Techniker für Mechatronik und Technikerin und Techniker für Gebäudesystemtechnik die gleichen Lerninhalte in unterschiedlicher Anwendungsdomäne und unterschiedlichem Lernniveau dargestellt werden. Anstatt mit festen qualifikatorischen Perspektiven zu operieren, ließe sich auch eine direkte BenutzerInnensteuerung oder eine selbst durchgeführte Kompetenzeinstufung vornehmen, um eine individuelle Reduktionsstufe bearbeiten zu können. Das BenutzerInnenmanagement, die Übersicht über Lehr-Lerninhalte und die Erstellung von Lehr-/Lerninhalten können in einem Content-Management-System (CMS) wie beispielsweise Moodle abgebildet werden. Es basiert auf PHP und MySQL und nutzt für die clientseitige Programmierung das JavaScript-Framework YUI. Die Datenbankerweiterungen und die Erweiterungen des Back-End können als Plugin entwickelt und eingesetzt werden. In Moodle stehen bereits verschiedene Interaktionsmöglichkeiten in Form von Aktivitäten bereit (Nachrichtenforen, Chats, WebRTC-Plugin). Für Moodle sprechen sicherlich der bereits breite Bekanntheitsgrad und der relativ geringe Verwaltungs- und Installationsaufwand. Alternativ ließe sich ein Content Management Framework, CMF, („Baukasten für CMS-Systeme“) wie etwa MODX Revolution nutzen. Der Entwicklungsaufwand wäre hierbei höher, die Individualisierung allerdings besser abzubilden. Die Entscheidungen der technischen Umsetzung werden aber maßgeblich durch die Akteure selbst beeinflusst. Daher sind keine Vorentscheidungen hierfür bereits gefallen. Die Erhebungen bei den Fachschulen (situiert, partizipativ und kooperativ) sowie die Auswertung und Rekonstruktion handlungsleitender Parameter bilden die Grundlage für die Implementierung der Lernplattform. Es folgt eine Phase der Einführung der Lernplattformen, bei der sowohl ein technischer Support geleistet wird als auch ein individuelles Fortbildungskonzept gestaltet und durchgeführt wird. Wesentlich ist, dass alle an der Idee und dem Vorhaben beteiligten Handlungs- und Anspruchsgruppen gemeinsam über Stand, Verlauf, Ergebnis und Erfolg entscheiden (kommunikative Validierung). Bereits während des Prozesses wird es zu dieser Form der Validierung kommen, die durch eine quantitative und qualitative Evaluation erweitert wird, um dadurch das digitale Produkt anzupassen und zu verändern und weitere Hilfestellungen für einen breiten Einsatz zu entwerfen. Lehrerfortbildungen und Multiplikatorenschulungen sind dabei integraler Bestandteil des Nachhaltigkeitskonzeptes. Nach Abschluss dieser Phase sind die Schulen in der Lage, individuelle Anpassungen eigenständig durchführen zu können und das Lehrerkollegium intern in Bezug auf die Lernplattform weiterzubilden. Auch hier wird eine kommunikative Validierung verbunden mit einer formalen Evaluation erfolgen.
9. Zusammenfassung und Ausblick Der situierte, partizipative und adaptive Ansatz dieses Projektes schafft aus Sicht der Autoren eine hohe Akzeptanz bei den beteiligten AkteurInnen. Der „IT-Schwellenangst“ von Lehrkräften, die noch immer den Haupthinderungsgrund für den Einsatz Neuer Medien im Unterricht darstellt, wird ein angeleitetes Konzept entgegengestellt, das alle am Lernprozess Beteiligten durch „Train the classroom“–Workshops mitnimmt und darüber hinaus spezielle Multiplikatoren-Veranstaltungen durchführt. Ziel ist es, eine offene Form der Nutzung zu ermöglichen, bei der Lernende und Lehrende gemeinsam zielführend Eingriffe vornehmen können. Das
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Produkt der Lernplattform selbst wird kommunikativ validiert und formal evaluiert, um eine Idealplattform im Sinne von „Best Practice“ dem breiten Feld der Fachschulen vorstellen und anbieten zu können. Durch die bestehenden Netzwerke wird das Produkt den berufsbildenden Schulen angeboten. Eine breite Akzeptanz wird sich dann einstellen, wenn die Anpassungsleistungen durch eigene Kapazitäten geleistet werden können und der technische Aufwand der Einführung überschaubar ist. Neben der Dokumentation und einem Handbuch wird es daher eine soziale Kommunikationsebene innerhalb der Plattform geben, die es erlauben wird, (fach-) schulübergreifend auf kollegialer Ebene und mit Verantwortung einen Austausch zu ermög lichen. Ausgehend von der theoretischen Kontextualisierung werden im Sinne der Nachhaltigkeit vielfältige schulinterne Entwicklungsmöglichkeiten durch den Einsatz der Lernplattform angestoßen. Die Einbindung einer Lernplattform hat kulturelle Auswirkungen auf die Schulentwicklung: Teamentwicklung, Veränderungen der Organisationsform von Unterricht oder im Curriculum etwa durch virtuell gestützte und begleitete Praxisphasen in Betrieben. Die Einbindung einer Lernplattform wird als prozessuale Komponente Veränderungen des Schulalltages ermöglichen und gestaltbar machen. Die Kommunikation beziehungsweise die Vernetzung der AkteurInnen untereinander – Lernende und Lehrende, Lernende und Lernende, Lehrende und Lehrende unter Einbezug der betrieblichen Praxiskomponenten und deren BetreuerInnen respektive AusbilderInnen – und das medial gestützte Lernen unter Einbezug arbeitsnaher Problemstellungen eröffnet Gestaltungsräume. Auf der einen Seite wird eine neue Art der Lernortkooperation und auf der anderen Seite werden die bereits im Vorfeld extrahierten und dargestellten Kompetenzbereiche entwickelt und gefördert, die auf ein lebenslanges Lernen und eine erweiterte Berufsbefähigung zielen.
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Abstract Es wird gezeigt, dass Computertechnologie zur pädagogischen Aufgabe wird, weil es sich um eine Kulturtechnik handelt. Ausgehend vom Begriff der Bildung als Ausbildung eines Verhältnisses zu mir selbst, zu anderen und zur Welt, wird Computertechnologie als Problemlösungsautomat, Sprachentwicklungsmaschine, Simulationsmaschine, Kommunikationsmaschine, Bildschirmgestaltungsmaschine, Schlüsselloch und Superzeichenmaschine analysiert. Die Analyse zeigt, dass Computertechnologie ein neues Bildungsideal erforderlich macht: Den Sprachspieler. Der Sprachspieler kennt sein doppelt reflexives Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Welt und beherrscht so das Spiel mit der Sprache zur Ausübung von Macht und Gewalt in der Informationsgesellschaft. Der Text geht in folgenden Schritten vor: Zunächst werden mit den Begriffen „Kulturtechnik“ und „Bildung“ die Prinzipien der Analyse bestimmt. Anschließend wird eine Sachanalyse der Computertechnologie durchgeführt und die gefundenen Eigenschaften jeweils in Relation zum Kulturtechnik- und Bildungsbegriff gesetzt. New Technologies and Education/Bildung. Computer technology turns into a challenge for education when it is understood as a cultural technology. Starting with the term “Bildung” as the formation of relations to oneself, to others and the world, computer technology is analysed as a problem-solving machine, a language development machine, a simulation machine, a communication machine, a screen design machine, a keyhole, and a super sign machine. It is shown that computer technology requires a new ideal of “Bildung”: the language player. The language player is aware of his dual reflexive relation to his self, to others and the world and thus rules the game by means of language, which, in information society, serves to exercise power and violence. The text proceeds along the following steps: At first it defines the principles of the analysis in the concepts of cultural technology and “Bildung”. Subsequently, computer technology is analysed. The identified qualities are finally related to the concepts of cultural technology and “Bildung”. Vorbemerkung der Redaktion Bei dem folgenden Artikel handelt es sich um eine unveränderte Wiederveröffentlichung des Beitrags, der 1998 in Borelli, Michele/Ruhloff, Jörg (Hg.): Deutsche Gegenwartspädagogik, Band III. Hohengehren: Schneider, 26–40 erschienen ist. Da der Band vergriffen ist, hat die Redaktion dem Autor eine Wiederveröffentlichung dieses Schlüsseltextes vorgeschlagen. Erfreulicherweise hat der Autor der Wiederveröffentlichung zugestimmt. Die Redaktion dankt dem Autor für die Möglichkeit, diesen Grundlagentext hier erneut zugänglich zu machen.
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1. Neue Technologien oder neue Kulturtechnik Wenn Neue Technologien nur bedeuten, dass neue Verfahren im Umgang mit der Natur (neue Technik) auf der Basis neuer Logik (Technologie) statthaben, dann ist dies im reduziertesten Fall nur ein Problem der Ausbildung in den betroffenen Berufsfeldern bzw. ein Problem der Fort- und Weiterbildung. Da das Neue nur bestimmte Tätigkeits- und Berufsfelder betrifft, haben sich auch nur die betroffenen Berufsverbände damit auseinanderzusetzen. Das betrifft zwar auch Erziehung und Bildung im Allgemeinen, aber doch vorwiegend die Erziehung zu einem bestimmten Berufsethos oder die Bildung im Sinne der beruflichen Bildung. Wenn Neue Technologien aber zugleich neue Kulturtechniken darstellen, dann sind davon Erziehung und Bildung zentral betroffen. Und genau dies vermeinen wir im Allgemeinen, wenn wir heute von Neuen Technologien sprechen. Dabei verstehe ich unter Neuen Technologien all jene Technologien, die sich zentral der Logik und Technik der Digitalisierung bedienen, das heißt konkret: computergestützt realisiert werden. Wenn man diese Hypothese von einer neuen Kulturtechnik macht, dann stellt sich sofort die Frage, was es denn ist, was einer Innovation den Rang kulturtechnischer Erneuerung oder auch nur kulturtechnischer Veränderung verleiht. Eine Technologie kann dann als Kulturtechnik gelten, wenn sie das ganze gesellschaftliche Leben auf allen Ebenen menschlicher Aktivitäten durchdringt und wenn sie zugleich ein gesellschaftliches Problem betrifft, dessen Lösung als ein Wert an sich angesehen wird. Mit der letzteren Formulierung ist noch nicht ausgemacht, ob die in Frage stehende Technologie das Problem auch tatsächlich löst. Es erscheint uns ungünstig, eine empirisch kontingente Angelegenheit, die darüber hinaus auch nur langfristig bewährt werden kann (wenn überhaupt), zum Definiens eines Begriffs zu machen. Deshalb gilt es, sich auf die Wert-Bezogenheit – anstelle der Wert-Bestimmtheit – zu beschränken. Dass das Medium des Computers bzw. die Technologie der Digitalisierung alle Bereiche unseres Lebens durchdringen, kann nach nunmehr 50 Jahren der zunehmenden Implementierung als allgemeiner Konsens ausgemacht werden – und das, obwohl der Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Die Verschmelzung der Radio-, Fernseh- und Unterhaltungstechnologie mit der Computer-Technologie steht beispielsweise vor der Tür. Das Zutreffen des zweiten Kriteriums für eine Kulturtechnik ist vergleichsweise schwieriger zu identifizieren. Welche Probleme sollen versuchsweise mit der Digitalisierungstechnologie gelöst werden? Gilt eine antizipierte Lösung als wertvoll – derart, dass es gesellschaftlich sinnvoll erscheint, schon die mögliche Lösung zu tradieren? Denn nur Kulturgüter machen das Curriculum der Tradierung von einer Generation auf die übernächste vermittels der nächsten aus (Hönigswald 1927: 99, auch: 31, 62). Kulturgüter sind Objektivationen des menschlichen Geistes oder besser Objektivationen menschlicher Tätigkeiten, die für wertvoll erachtet werden. Ihre Tradierung geschieht im Namen der Bewährung. Bewährung aber ist – in der Tradition der Moderne westlicher Kulturen – nur möglich im Versuch der Falsifizierung (Lyotard 1982: 51). Und das heißt, dass Tradierung nur im Modus des Widerstreites um Geltung möglich ist. Damit ist jeglichem Konservatismus eine Absage erteilt. Geht es um wahrhaft kritische Bewährung, dann muss das Proponierte sich im Scheitern der Falsifikation, des Opponierens, bewähren oder es wird fallen. Deshalb ist das Opponieren im Widerstreit das entscheidende Moment.
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Auch wenn man in skeptischer Einstellung bezweifelt, ob ein solcher Widerstreit jemals zu lösen ist, dann bleibt dennoch der Widerstreit die einzige Möglichkeit, unser Leben durchzuhalten und situationsabhängige Entscheidungen auf der Basis vorläufiger Geltung zu fällen. In diesem Sinne wende ich mich nun der Frage nach der Wert-Bezogenheit bzw. nach dem Bildungswert der Computertechnologie zu.
2. Das Medium Computer aus der Sicht der Bildung Das Medium Computer zeichnet sich neben vielen anderen Details durch einige wesentliche Grundzüge aus. Dies sind der Grundzug der Problemlösung (1), der Grundzug der Konstruktion künstlicher Sprachen (2), der Grundzug der Simulation (3), der Grundzug der Kommunikation (4), der Grundzug der Bildschirmgestaltung (5), der Grundzug des Schlüssellochcharakters (6) und schließlich der Grundzug der Superzeichentechnologie (7). Diese sieben Grundzüge erlauben es, die Frage, ob mit der Computertechnologie eine neue Kulturtechnik vorliegt oder nicht, zu entscheiden.
2.1 Der Problemlösungsautomat Der Computer ist erstens ein universeller, abstrakter Problemlösungsautomat1. Er ist als eine Maschine erfunden worden, die dem Menschen helfen soll, Probleme zu lösen. Das Ganze begann mit mathematischen bzw. rechnerischen Problemen – vornehmlich im Bereich des Militärischen und ging schnell über zu sprachlichen Problemen, wie beispielsweise, als TURING im Zweiten Weltkrieg computergestützt den Geheimcode der deutschen Luftwaffe decodierte und damit England vor einer Zerstörung aus der Luft bewahrte. Niemand wird bestreiten, dass wir als Nebenwirkung des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine Komplexität erzeugt haben, die wir ohne Hilfsmittel nicht mehr kontrollieren können. Komplexität indiziert stets auch ‚Problem‘. Wenn der Mensch also mit der selbst geschaffenen Komplexität progressiv fertigwerden will, dann benötigt er ein Werkzeug, um Probleme darzustellen, zu identifizieren und versuchsweise zu lösen. Genau dieses Werkzeug ist der Computer. Als rohe Hardware – genauer noch: als mathematisches Automatenkonzept, wie es von TURING entwickelt wurde – ist der Computer eine Lösungsmaschine ohne Problem, aber damit auch eine Lösungsmaschine für jedes Problem. Das heißt: er kann ebenso für die Steuerung komplexer Maschinen wie für die Berechnung von – in menschlicher Arbeit kaum lösbaren – Differentialgleichungen, ebenso für die Ordnung großer Datenmengen wie für die schnelle Analyse komplexer Strukturen und Abhängigkeiten eingesetzt werden. Es könnten noch viele Beispiele angeführt werden. 1
Ein Automat ist ein System, das aus seiner Umgebung Informationen aufnimmt, speichert, verarbeitet und Informationen, als Resultat der Verarbeitung, an die Umgebung abgibt. Damit ist ein Automat ein System, das aufgrund besonderer Information aus der Umgebung gewisse Zustände annimmt, bzw. den eigenen Zustand verändert und diese Veränderung als Information an die Umgebung anzeigt. Diese Definition charakterisiert den Automaten unabhängig von seiner physikalisch-technischen Realisierung. Insofern handelt es sich letztlich beim Automaten um einen mathematischen Begriff. Dagegen handelt es sich beim Begriff der Maschine auch um die technische Realisierung. In unserem Zusammenhang heißt eine Maschine das physikalisch-technische Gerät, das einen Automaten realisiert.
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Der Grad der Abstraktheit des Computers ist durchaus vergleichbar mit dem Buchdruckkonzept, das ja auch noch keinen Inhalt hat – gleichsam ein Blindband mit möglichen Zeichenmengen ist – und erst durch ‚Programmierung‘, d. h. hier durch schriftstellerische Tätigkeit zum Roman oder zur wissenschaftlichen Abhandlung wird. Genau dieser Umstand kann die notwendige Abstraktheit eines Mediums für die Darstellung der Auseinandersetzung mit Welt genannt werden. Damit sind beide Kriterien für eine Kulturtechnik genannt. Die Relevanz für Lösung von Problemen sogar auf eine reflexive Weise. Sofern es richtig ist, dass wir unsere gemeinsame Welt zu einer Welt von Problemen gemacht haben, dann ist eine abstrakte Lösungsmaschine die angemessene Reaktion auf eine solche ‚Meta-Problemlage‘. Ihre Abstraktheit erfüllt das andere der beiden Kriterien für eine Kulturtechnik: den gesellschaftlichen Durchdringungsgrad. Da überall in unserer gemeinsamen Welt sich Probleme als Nebenwirkungen unseres neuzeitlich modernen Fortschrittes eingestellt haben, wird eine abstrakte Lösungsmaschine auch überall gebraucht. Ob in diesen Gebrauch alle Mitglieder der Gesellschaft einbezogen sind, ist eine Frage, die ebenso schwierig zu beantworten ist, wie die Frage, ob alle Mitglieder der Gesellschaft in die Mathematisierung unserer Welt einbezogen sind. Wenn man die anstehende Frage mit ja beantwortet, dann übergeht man die unterschiedlichen Grade der Involviertheit sowie die Grade der Explizität beantwortet man sie jedoch mit nein, dann hält man es für bildungstheoretisch irrelevant, dass ein jeder die Welt so versteht, wie sie ist: beispielsweise mathematisiert, ob ihn dies lebensweltlich tangiert oder nicht. Wenn man in einer vergleichsweise schlichten und bloß strukturellen Weise den Bildungsprozess definiert als die Herstellung eines individuellen Verhältnisses zur Welt, zur Gesellschaft und zu sich selbst und wenn man zugleich im Einklang mit den Klassikern unter den Bildungstheoretikern annimmt, dass dies nur in einem Darstellungs- und Kommunikationsmedium möglich ist, dann liegt der Bildungswert des Buches ebenso wie der Bildungswert des Computers darin, dass beide auf ihre je spezifische Weise es erlauben, diese drei Verhältnisse in Bezug auf Problemlagen der gegenwärtigen Welt und Gesellschaft herauszubilden. Wenn also unsere Welt nur noch als eine Welt der Probleme wahrnehmbar ist, dann ist die Computertechnologie eine dominante Weise, ein Verhältnis zur Welt und zu der Gesellschaft zu bilden. Unter diesem Gesichtspunkt ist sie zumindest bildungsbezogen. Es muss aber angenommen werden, dass sie als Medium der Auseinandersetzung mit Welt einen tradierbaren Bildungswert darstellt. Denn es gilt, die Technologie, die eine Chance bietet, die Probleme der Komplexität zu lösen, an die folgenden Generationen zu vermitteln. Aus der Sicht des Sich-Bildenden gestaltet die kritische Auseinandersetzung mit den Lösungsvorschlägen für die Probleme der überliefert gegebenen Welt jenes oben genannte dreifache Verhältnis, das ich Bildung als Resultat nenne.
2.2 Die Sprachentwicklungsmaschine Der Computer ist zweitens eine Sprachentwicklungsmaschine. Als Problemlösungsautomat für mathematisch-rechnerische Probleme ist er von Anfang an eine symbolische Maschine (Krämer 1988) gewesen, die in der künstlichen, formalen Sprache der Mathematik operierte. Aber diese Sprache ist schon programmierte Sprache, so dass ihr die Sprache der Programmierung vorausgeht. Der Programmiersprache geht die Sprache des Betriebssystems voraus, dieser wiederum die Maschinensprache und der Maschinensprache geht die digitale Sprache mit ih-
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rem 0-1-Alphabet voraus. Diese Sprachenkette zeigt, dass der Computer eine Sprachentwicklungsmaschine ist und dass in diesem Medium Sprachen entwickelt werden, die geeignet sind, gewisse Probleme abzubilden und dann zu lösen. Über die je konkrete Sprachkonstruktion im Computer wird aus dem abstrakten Problemlösungsautomaten ein konkreter spezieller Problemlösungsautomat. Der Computer macht damit das deutlich, was ohnehin schon seit der Neuzeit gesellschaftliche Praxis ist. Wir konstruieren angesichts verschiedener Probleme ebenso verschiedene künstliche Sprachen, um in ihnen diese Probleme darstellen, identifizieren und lösen zu können. Die Fachsprachen der Einzelwissenschaften sind Beispiele dafür. Damit korreliert, dass auch die Fachsprachen bzw. die Fächer und Wissenschaftsbereiche je spezifische Computeranwendungen haben. Durchdenkt man diesen Zusammenhang konsequent, dann zeigt sich die Computertechnologie zum einen als ein Spiegelbild unserer sprachlich-kommunikativen Praxis, zum anderen als deren vermittelte Reflexion, denn sie macht uns diese Praxis in all ihrer Vielfalt und Kompliziertheit deutlich, und zum Dritten als Aufgabe der Präzisierung unserer formalen und künstlichen Sprachen. Weil jede Reflexion bildungsbezogen ist, denn sie bedenkt unser Verhältnis zur gesellschaftlichen Welt und zu uns selbst, ist damit auch die Computertechnologie bildungsbezogen. Ihr Bildungswert beruht darauf, dass hier insbesondere unser Verhältnis zur Sprache infrage steht. Sofern die mehr oder minder natürliche Sprache schon immer unser Verhältnis zu Welt, Gesellschaft und uns selbst wiedergibt, ist damit dieses Verhältnis in sich selbst reflektiert. Dies ist der einzige rational ausmachbare Sinn des Motives von der reflexiven Moderne, alles andere bleibt bloße Intuition. Indem jene Verhältnisse, die ich oben als strukturelles Definiens von Bildung eingeführt habe, selbst reflexiv werden, wird in und anlässlich der Computertechnologie Bildung an sich selbst und damit doppelt reflexiv. Man muss sich dies klarmachen: im Kontext von Bildung geht es damit nicht mehr nur einfach darum, ein geeignetes Verhältnis zu Welt, Gesellschaft und mir selbst zu bilden, sondern es geht jetzt darum, die Konstruktionsprinzipien eben dieses Verhältnisses mit zu reflektieren, d. h. es kommt ein viertes Verhältnis hinzu, in dem ich Position zu beziehen habe und das Verhältnis zur Konstruktion jenes vordergründigen dreifachen Bildungsverhältnisses für mich klären muss. Man sieht sofort, dass dies es schwerer macht, gebildet zu sein. Ich will es nochmals unter dem Aspekt der Sprache formulieren. Wenn bisher das dreifache Verhältnis im Begriff der Bildung in aller Selbstverständlichkeit als sprachliches Verhältnis verstanden wurde, dann gilt es nun auch noch zu dieser Sprachlichkeit ein Verhältnis auszubilden, weil diese angesichts auftretender Vielfalt und Alternativen fragwürdig geworden ist. Ich möchte dies in der These radikalisieren, dass mit der Computertechnologie zum ersten Mal Bildung selbst zu einem Bildungsproblem wird – sie muss sprachlich konstruiert und legitimiert werden.
2.3 Die Simulationsmaschine Aus dem ersten und dem zweiten Grundzug des Mediums Computer resultiert, dass mit dem Computer im Allgemeinen Probleme nicht direkt gelöst werden, sondern nur indirekt über den Weg der Sprache. Wenn ein Problem ein sprachliches ist, dann mag es auch direkt in der Sprache gelöst werden. Daraus folgt des Weiteren, dass der Computer drittens eine Simulationsmaschine ist. Denn alle Probleme werden zuerst in dafür geschaffene, geeignete Sprachen abgebildet und dann in ihnen gelöst. Damit Letzteres möglich ist, müssen die eigens
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dafür geschaffenen Sprachen natürlich auch die Hilfsmittel zur Lösung, d. h. den Lösungsraum als Sprachraum besitzen. Dass sie dies auch tun, macht sie zu operativen und nicht nur zu ästhetischen Sprachen, und dies macht es auch aus, dass in ihnen gehandelt werden kann wie in der originalen Welt. Nichts anderes ist Simulation – struktur- und handlungsgetreue Abbildung. Dass das Handeln in der Simulation wesentlich Sprachhandeln ist, macht den Computer zu einem Kulturraum des Probehandelns. Denn in der Sprache denken wir uns vorab etwas aus, was wir dann in der Realität senso-motorisch ausführen. In der Sprache erproben wir Wirkungen, die wir auch wieder zurücknehmen können, was im Bereich des Senso-Motorischen nicht möglich ist. In der Sprache agieren wir von daher virtuell, d. h. im Modus der Möglichkeit. Der Entwicklungspsychologe PIAGET hat unter anderem über den Begriff des Probehandelns, über diesen Modus der Möglichkeit, die höchste Stufe der Intelligenz, die formal operative Intelligenz, in der Entwicklung des Menschen gekennzeichnet. Dabei fallen hypothetisches Denken und sprachliches Probehandeln als zwei Seiten derselben Sache zusammen. Dieser kognitive Strukturzusammenhang gilt spätestens seit der Moderne als ein Bildungswert. Das Besondere der Computertechnologie besteht nun darin, dass jenes gedankliche Probehandeln in konkreter sinnlicher Form eingeübt werden kann, d. h. es wird in seinen einzelnen Schritten, Teilresultaten und dem Gesamtresultat am Bildschirm oder einem anderen Ausgabegerät des Computers sinnlich wahrnehmbar. Damit wird die kognitive Leistung von der Imagination, d. i. von der Ebene des inneren Bildes, auf die äußere sinnliche Wahrnehmung, d. i. auf die Ebene des äußeren Bildes, verlagert. Nach Piaget wird damit die formale operative Intelligenz durch konkrete Operationen, die in der darunterliegenden Intelligenzstufe verankert sind, gestützt und entlastet. Dieser Umstand führt dazu, dass mehr Komplexität verarbeitet werden kann. Dieses quantitative ‚Mehr‘ schlägt in ein qualitatives ‚Mehr‘ um, indem es einerseits ein höheres kognitives Potenzial schafft und andererseits ein differenzierteres und reflektierteres Verhältnis zur Welt erlaubt. Dieser Umstand macht den Computer zu einem zentralen Medium, in dem Bildung prozessualisiert werden kann – zu einem Lern- und Bildungsmedium, in dem Welterfahrung virtuell und auf Probe gemacht werden kann. Probehandeln oder – wie man heute sagt – virtuelles Handeln ist grundsätzlich bildungsrelevant, weil es Zeit schafft und zwischen das Denken und Handeln diese geschaffene Zeit einschiebt. Damit wird das Verhältnis zwischen Planung und Tätigkeit erkennbar, und mit ihm das Verhältnis zu Welt, Gesellschaft und mir selbst. Das dreifache Bildungsverhältnis wird damit auf einfache Weise experimentell, reflektierbar und zugänglich für alternative Wahlen. Gegen die These, dass dies medienspezifisch neuartig ist, könnte eingewandt werden, dass all dies schon das planende antizipierende Denken leistet. Prinzipiell ist das richtig, de facto aber liegt die Leistung dieses Mediums darin, dass computergestützt das Probehandeln einfacher, sinnlich unterstützt (anschaulich), konkret operativ und damit differenzierter größere Komplexe systemisch-vernetzter Zusammenhänge verarbeiten kann. Dies verändert unser Verhältnis zu Welt, Gesellschaft und uns selbst, d. h. unserer Bildung. Mit welchem Effekt kann heute noch nicht abschließend ausgemacht werden. Eines aber scheint mir schon allein aus der Sachanalyse der Simulation klar: Unser Verhältnis zur gesellschaftlichen Welt wird erweitert durch eine spielerische Dimension, nicht weniger ernsthaft, sondern hochgradig virtuell. Dies wirkt zurück auf unser Verhältnis zu uns selbst, in dem wir uns zunehmend mehr als Sprachspieler, denn als autonomes Subjekt verstehen werden.
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2.4 Die Kommunikationsmaschine Der Grundzug des Simulativen führt uns direkt zum nächsten Grundzug, dem der Kommunikation. Der Computer kann also viertens als eine Kommunikationsmaschine betrachtet werden und dies auf doppelte Weise. Auf der einen Seite ‚kommuniziert‘ er mit dem Anwender und dies grundsätzlich im Rahmen von Simulationen. Ob die Simulation nun SimCity oder WordPerfekt 6.0 heißt, ist gleichgültig, denn auch die Letztere simuliert nur den Bleisatz des Buchund Vorlagensetzers aus früheren Zeiten. Auf der anderen Seite ist er Simulationsmaschine für jede Art von organisierter Kommunikation zwischen verschiedenen Anwendern. Das wird vielen vielleicht erst heute mit dem Internet-Boom klar. Ein Internet-Forum ist beispielsweise eine simulierte Konferenz oder – wie man heute gerne sagt – eine virtuelle Konferenz. Wenn man, wie üblich, virtuell als Gegensatz zu real versteht, dann ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass nicht die Kommunikation virtuell ist, sondern nur das Arrangement der Konferenz. Kommunikation im engeren Sinne kann gar nicht virtuell sein, sie ist immer real – auch im Mensch-Maschinen-Dialog innerhalb einer Simulation. Sonst wäre beispielsweise ein Unterrichtsgespräch über geografische Themen, die anhand von Landkarten erörtert werden, virtuell. Mir scheint, dass Kommunikation nur in der Form virtuell sein kann, in der ich mir in Gedanken einen möglichen Dialog mit einem mir mehr oder minder bekannten Menschen vorstelle. Das Klassenzimmer mag virtuell sein, aber wenn in ihm kommunizierend gelernt wird, dann ist dies stets real. Seit den Anfängen des modernen Bildungsgedankens wird Bildung als ein kommunikativer Prozess bzw. als ein Resultat von Kommunikation verstanden. Dies hängt damit zusammen, dass man einerseits jenes dreifache Verhältnis nur in sprachlichen Repräsentationen ausbilden kann. Es hängt aber auch damit zusammen, dass es sich um ein dreifaches Verhältnis handelt, in dem die drei einzelnen Verhältnisse nicht unabhängig voneinander gebildet werden können. Gebildet ist also insbesondere derjenige, der auch noch die drei Verhältnisse zueinander ins Verhältnis setzt. Wie immer dieses übergeordnete Verhältnis auch gestaltet ist, es kann nicht anders ausfallen als so, dass sich die drei grundlegenden Momente, Welt, Gesellschaft und Selbst, irgendwie wechselseitig durchdringen. Das Verhältnis zur Gesellschaft korreliert mit dem Verhältnis zum Selbst und wird kommunikativ prozessualisiert über das Verhältnis zur Welt. Das Verhältnis zur Welt korreliert mit dem Verhältnis zum Selbst und wird kommunikativ prozessualisiert über das Verhältnis zur Gesellschaft. Das Verhältnis zur Welt korreliert mit dem Verhältnis zur Gesellschaft und wird kommunikativ prozessualisiert über das Verhältnis zum Selbst. Weil in allen Konstellationen das Verhältnis zur Gesellschaft eine Rolle spielt, kommt der performante Prozess der Bildung nicht ohne Kommunikation aus. Insofern nun die Computertechnologie das Ausmaß, die Reichweite und die Schnelligkeit der Kommunikation erhöht, beeinflusst sie unser dreifaches Bildungsverhältnis und erweist sich so als bildungsbezogen. Sofern sie darüber hinaus die Kommunikation qualitativ steigert bzw. das dreifache Verhältnis qualitativ verbessert, was zwar strukturell möglich, aber noch nicht ausgemacht ist, dann stellt sie einen Bildungswert dar. Ihr Charakter als Kulturtechnik liegt in der Lösungsmöglichkeit des Problems einer globalen Kommunikation, die sowohl aus politischen als auch aus ökologischen Gründen gefordert erscheint.
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2.5 Die Bildschirmgestaltungsmaschine Der Computer ist fünftens eine Bildschirmgestaltungsmaschine, d. h. er ist auf der Oberfläche im allgemeinen ein Bildschirmmedium, im Allgemeinen deshalb, weil es natürlich auch andere Ausgabemedien wie beispielsweise Drucker, Zeilenleser usw. gibt. Der dominante Bildschirm-Charakter hat Konsequenzen. Die Sinneinheit einer Information hat Bildschirm-Größe, d. h. die Informationsmenge, die auf einen Bildschirm passt, ist äußerst begrenzt. Da die Informationsmenge eines Bildes höher ist als bspw. die eines Textes, eignet sich die Sinneinheit Bildschirm auch besser für Bilder als für Texte. Das klingt trivial, da der Bildschirm ja auch für bewegte Bilder (Fernsehen) entwickelt worden ist, muss aber dennoch im Zusammenhang mit dem Computer bewusst gemacht werden. Immerhin transportieren die Bildschirmarbeiter die Lustbetontheit des Mediums, wie man sie beim Fernsehen über Jahre gelernt hat, in diesen Kontext, was möglicherweise auch das Bedürfnis nach Infotainment und Edutainment erst herausgebildet hat. Bildschirm als Fernsehen ist Entertainment, Bildschirm mit Information bzw. Lernsoftware ist Informieren bzw. Education, das Medium Bildschirm ist aber stets das gleiche, weswegen die Assoziation beides zu Infotainment bzw. Edutainment verschmelzen kann. Unser Verhältnis zur gesellschaftlichen Welt wird über diesen Umstand möglicherweise zu einem dreifach multimedialen Bildungsverhältnis. Das heißt, dass die Sprache der Vermittlung die Bildung prozessualisiert und Bildung als Ergebnis generiert erweitert wird und aus dem rein Verbalsprachlichen in die Sprache des Multimedialen übergeht. Wir kennen diese Sprache des Multimedialen noch nicht, wir ahnen nur ihr Darstellungs-, ihr Verständigungs- und ihr Dokumentationspotenzial auf der Basis der Kenntnis der einzelnen isolierten Medien, wie Film, Videoclip, Bild, Grafik, Musik, Geräusch und anderem mehr. Was dabei allerdings herauskommt, wenn sich diese medialen Sprachen vermischen, wenn beispielsweise der semiotische Zeichenvorrat eines Bildes mit der Semantik eines Musikstückes oder eines Textes verknüpft wird, wissen wir noch nicht. Wir wissen um Ansätze über traditionelle Konzepte des Medienverbundes. Aber dort sind die Entsprechungen, die Analogien und die metaphorischen Interpretationen mit ihren Verweisungen umständlich und wenig flexibel. Jetzt aber werden die Verknüpfungen auf der Basis des physikalischen Mediums Computer und der zugrunde liegenden, wenn auch unsichtbaren Universalsprache des Digitalen zu einem instantiösen Spiel, zu einer Kulturtechnik, die es erlaubt, die Welt, die Gesellschaft und das Selbst neu zu definieren und in dem dreifachen Bildungsverhältnis neu zu positionieren. Dass diese neue Positionierung eine weltweite weltgesellschaftliche Lösungsmöglichkeit ist, kann an der Krise moderner Leitbilder und Orientierungen leicht abgelesen werden. Das zeigen insbesondere auch die vielen unbeabsichtigten und ungewollten Nebenwirkungen, die wir – angeleitet von unserem Bildungskonzept der Moderne – generiert haben und die uns nun zu einem dominanten Problem geworden sind. Angesichts des Umstandes, derartige Probleme lösen zu müssen, erscheint der Computer als Kulturtechnik.
2.6 Das Schlüsselloch Es kommt ein weiteres Kennzeichen des Bildschirms als Medium hinzu. Der Computer als Bildschirmmedium ist sechstens ein Schlüsselloch. Schlüssellöcher haben die Eigenart, mehr zu verbergen, als zu offenbaren. Aber das wenige, was sie offenbaren, zeigen sie genau, und das,
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was sie verbergen, verbergen sie ganz. Während alle Bilder in unserem natürlichen Sehfeld eine Umgebung haben, deren bildhafter Inhalt zu den Rändern unseres Sehfeldes zunehmend unscharf wird, aber erst jenseits der Seh-Grenze verschwindet, hat der Bildschirm keinen abschattierten Horizont. Er schneidet die Bilder aus ihrem Hintergrund aus. Während die im Blickstrahl unseres natürlichen Sehfelds liegenden Bilder zusätzliche, für die Interpretation wichtige Informationen aus dem Hintergrund erhalten, stehen die Bildschirmbilder ohne Hintergrund isoliert und abstrakt da – gleichsam kontextfrei – wie das Bild im Schlüsselloch. Wie hier, so auch dort, ergänzen wir den Hintergrund in unserer Fantasie zu einem vollständigen, inneren Bild. Das mag noch beim Blick durchs Schlüsselloch ins Hotelzimmer eines Liebespaares einfach sein, wird aber bei einer Software-Oberfläche schnell zum Problem. Es gilt nämlich, ein inneres Bild der Schlüsselloch-Umgebung zu erzeugen, obwohl für diese Umgebung kein äußeres Bild vorliegt. Der Akteur vor dem Bildschirm muss deshalb bei der Lösung dieses Problems unterstützt werden. Die Form der Unterstützung, die sich durchgesetzt hat, besteht darin, die nicht sichtbare Umgebung des Bildschirms als Icon (Sinnbild) in den Bildschirm selbst hineinzunehmen. Das klingt paradox, aber es geht und schafft neuartige kognitive Verhältnisse. Das Fernsehen bzw. das Medium Video tut sich bei der Unterstützung des Betrachters hinsichtlich der Bildschirm-Umgebungen leichter als ein Computer-Bildschirm. Denn in der Bewegtheit des Bildes kann man die bleibenden Bildteile im Verhältnis zu den sich ändernden wohldosieren und den Aufbau des inneren Bildes für den Hintergrund, sowie den Wechsel des Hintergrundes in der Zeit, kontinuierlich unterstützen. Bei Software-Oberflächen wird die Umgebung durch Sinnbilder (Icons) in den Bildschirm hineingenommen. Diese Sinnbilder sind hochverdichtete Zeichen, die meist stellvertretend für eine viel größere Zeichenmenge und für einen viel komplexeren Zeichenzusammenhang stehen. Man nennt sie deshalb seit NORBERT WIENER Superzeichen. Die Sicht auf die Welt durch das Schlüsselloch kann und – ich vermute – hat und wird noch unser Verhältnis zur gesellschaftlichen Welt verändern/-t. Ein Beispiel mag die Entgrenzung des Privaten und Öffentlichen im Bildschirmmedium ‚Fernsehen‘ sein: Wenn ein Politiker in Großaufnahme bei einer Debatte gequält und schwitzend gezeigt und gesehen wird, dann ist der sinnliche Schutz des Privaten und Intimen, wie er durch räumliche Distanz bei unmittelbarer präsenzieller Wahrnehmung gegeben ist, aufgehoben. Da man dies mittlerweile weiß, versucht man den Schutz und die Mittelbarkeit durch Schminke und distanzierende Performanz kompensatorisch zu erzeugen. Das klingt nicht besonders dramatisch, man kann sich aber schnell die Reichweite der medialen Veränderung im Hinblick auf unser Verhältnis zur gesellschaftlichen Welt klarmachen, wenn man die Erfolgsstrategien in Wahlkämpfen in den Blick nimmt. Es sind nicht mehr (allein) die Inhalte, die überzeugen, sondern das Arrangement der medialen Darstellung, d. i. die Performanz der Inhalte und Personen. Führt man diesen Gedanken weiter und überträgt man ihn analog vom Medium ‚Fernsehen‘ auf das Medium Computerbildschirm, dann kommt es dort nicht mehr nur (allein) auf den Inhalt des Wissens an, das in diesem Medium dominant transportiert wird, sondern auf dessen Performanz2. Dieser Umstand ästhetisiert unser Verhältnis zur Welt, das in diesem Wis2 Unter Performanz versteht man die sinnlich wahrnehmbare Artikulation einer Befindlichkeit, die man in der heutigen Terminologie auch gerne Kompetenz nennt. Performanz ist das Ausdrücklich-Machen, der Ausdruck, eines Latenten.
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sen erstellt wird. Ob dabei unser Verhältnis zur Welt eher durch das Moment des Entertainments bestimmt wird oder sich dadurch verändert, dass die Vielfalt der Darstellungsformen und -performanzen zu einer Segmentierung führen, kann derzeit noch nicht ausgemacht werden. Sicher scheint allerdings, dass hier mediale Veränderungen stattfinden, was schon allein dadurch belegt erscheint, dass Microsoft seine Weltsichten (Softwarelösungen) deshalb besser durchsetzt, weil sie ästhetisch und nicht in erster Linie qualitativ besser sind. Wenn im modernen, traditionellen Bildungsbegriff das Moment vom Einklang, der Harmonie, des menschlich individuellen Selbst mit Welt und Gesellschaft als Norm mitgedacht wurde, dann ändert sich diese Norm in der postmodernen Informationsgesellschaft in Richtung auf die Harmonie, den Einklang, des Selbst mit seiner Darstellung von Welt und Gesellschaft. Damit rückt die Selbstdarstellung als Performanz eines möglichen und damit kontingenten Entwurfes in den Mittelpunkt des Bildungsgedankens. Der Begriff der Bildung wird damit strukturgleich zum Begriff des Kunstwerkes. Ihm lastet wie diesem das Kriterium des zwar kontingenten, aber dennoch in sich abgeschlossenen Ansatzes und Versuches an, in konkreter individueller Gestaltung dennoch das Ganze des Problems anzuzeigen und gerade deshalb geltungsbezogen zu sein (Meder 1997).3
2.7 Die Superzeichensemantik Aus dem Schlüssellochcharakter des Mediums ergibt sich siebtens, dass der Computer eine Superzeichenmaschine ist. Für Computer-Oberflächen bedeutet dies, dass sie, um sich selbst eine Umgebung zu schaffen, zwei Sorten von Zeichen enthalten: zum einen solche, die ihre Bedeutung unmittelbar tragen, und zum anderen solche, die ihre Bedeutung verbergen, nur andeuten und somit versteckt enthalten. Letztere sind auch die sogenannten interaktiven Zeichen. Sie stellen Werkzeuge in der Sprache dar, Werkzeuge zur Lösung des Problems von ‚Zeichen und Bedeutung‘ unter der Bedingung von ‚Platznot‘. Die gesamte Computertechnologie lebt von dieser Spannung zwischen den beiden Zeichensorten. Man muss als Akteur vor dem Computer-Bildschirm herausfinden, welche Zeichen oder Bildteile sensitiv sind bzw. welche Bildteile man interaktiv manipulieren kann. Für den Lernzusammenhang in einer Software verhält es sich ähnlich; man spielt mit der Bedeutung der Zeichen, bewegt sich ständig auf zwei Zeichen ebenen, der Abkürzung und der Nicht-Abkürzung, und entwickelt eine Kultur des Deepenings (engl.: der Vertiefung), wie dies in der Spiralmethode des Lernens schon lange entwickelt ist. Es ist damit sofort klar, dass die Differenzierung in zwei Arten von Zeichen auch unser Verhältnis zur Sprache verändert, weil es eben die Sprachpraxis verändert. Der Umgang mit der Sprache wird differenzierter. Wenn Bildung an die Vermittlungsfunktion von Sprache gebunden ist, dann ist damit auch unser dreifaches Bildungsverhältnis betroffen. Das heißt, dass in diesem Verhältnis die Technologie des Verdeckens und des Entdeckens einen bewussteren, sensibleren Stellenwert erhält. Das bringt mit Sicherheit auch eine erhöhte Kultur der Selektivität mit sich und damit wird auch das Bewusstsein der Perspektivität auf Welt und Gesellschaft geschärft. Unser Verhältnis zur Welt wird auf dieser Basis noch stärker im Sinne wechselnder Perspektiven partikularisiert.
3 In dem zitierten Beitrag wird dieser Zusammenhang im Kontext einer Meta-Ethik entwickelt und moralisches Reden und Handeln in der Struktur des Wissens im Modus des Ästhetischen erläutert.
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Und da diese Partikularisierung auf der Perspektivität der sprachlichen Darstellung beruht, geht es im Vollzug der Bildung nunmehr um die beste mögliche Darstellung von Welt, nicht mehr, wie dies die Erzählung von Neuzeit und Moderne nahelegt, um die Darstellung der besten aller möglichen Welten, die dann auch deshalb die wahre Welt ist, weil keine andere Welt dem Bildungsgedanken einer absoluten Subjektivität – gleichgültig ob sie göttlich oder mundan gedacht wird – entsprechen kann. Interessanterweise kommt auch auf der Basis dieses Technologiemerkmals ein ästhetischer Grundzug in die Zielbestimmung von Bildung. Wenn es nur noch oder wenn es zuvorderst um die beste mögliche Darstellung von Welt geht, dann sind die Prinzipien der Darstellung, die sich auch an den Prinzipien der Rezeption orientieren, dominant. Und solche Prinzipien regeln die aisthesis, d. h. die Wahrnehmung, und heißen deshalb ästhetische Prinzipien. Ästhetische Prinzipien als Prinzipien der Wahrnehmung gehen – insbesondere bei der Zielbestimmung der besten möglichen Darstellung unserer gemeinsamen Welt – auf die Sensibilisierung der feinen Unterschiede. Denn die Kultur der aisthesis (Wahrnehmung) ist die der Verfeinerung, und alle Verfeinerung geht auf immer feinere Unterschiede (Lyotard 1982: 111). Wenn dieser Umstand unser Verhältnis zur Welt prägt und in einer Gesellschaft neuer Informationstechnologien prägen wird, dann wird es im Bildungsgedanken nicht mehr in erster Linie um Einheit gehen, sondern um die feine Differenz, d. h. um den kleinen Unterschied. In diesem Motiv könnte sich jener alte und traditionelle Ansatz einer radikal kritischen Instanz im Bildungsbegriff erneuern, der von jeher gegen alle technokratische und systemische Vereinnahmung des Menschen stand, denn im feinen Unterschied verwahrt sich der Gebildete gegen die Unterordnung unter das Allgemeine. Wenn also der moderne Bildungsgedanke das Allgemeine des Menschlichen – in der historischen Situation der Moderne zu Recht – als kritisches Potenzial zum Ausdruck brachte, so ist es jetzt – angesichts einer globalen systemischen Verallgemeinerung – der Gedanke der Besonderung, der dieses kritische Potenzial im Bildungskonzept tradiert. Das, was wir bisher stets das Selbst genannt haben, dürfen wir auch als den konkreten Menschen bezeichnen, der sich als Gegenpol des Gesellschaftlichen einerseits jeder Relation zur Gesellschaft entzieht und gerade deshalb anderseits sein Verhältnis zu Welt und Gesellschaft autonom bestimmen muss. Ich habe an anderer Stelle vorgeschlagen, er möge dies so tun, dass er sich als Sprachspieler definiert (Meder 1987). Denn als Sprachspieler knüpft er das Band zu Welt und Gesellschaft über das Motiv einer ihm immer und allemal vorausgehenden Sprache, die ihren Ursprung in der Gemeinschaft hat. Als Spieler bewahrt er sich jenen nicht zu vergesellschaftenden Rest, von dem schon SIMMEL (1908) in seiner transzendentalen Deduktion der Gesellschaft spricht.4 4 „Das Wesentliche aber und der Sinn des besonderen soziologischen Apriori, das sich hierin gründet, ist dies, daß das Innerhalb und das Außerhalb zwischen Individuum und Gesellschaft nicht zwei nebeneinander bestehende Bestimmungen sind – obgleich sie sich gelegentlich auch so, und bis zur gegenseitigen Feindseligkeit entwickeln können – sondern daß sie die ganz einheitliche Position des sozial lebenden Menschen bezeichnen. Seine Existenz ist nicht nur, in Aufteilung ihrer Inhalte, partiell sozial und partiell individuell; sondern sie steht unter der fundamentalen, gestaltenden, nicht weiter reduzierbaren Kategorie einer Einheit, die wir nicht anders ausdrücken können als durch die Synthese oder die Gleichzeitigkeit der beiden logisch einander entgegengesetzten Bestimmungen der Gliedstellung und des Fürsichseins, des Produziert- und Befaßtseins durch die Gesellschaft und des Lebens aus dem eignen Zentrum heraus und um des eignen Zentrums willen“ (Simmel 1908: 40 f., vgl. auch 35).
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Es gibt einen weiteren Gesichtspunkt von Bedeutung, der sich an den Grundzug der Superzeichensemantik anschließt. Der gleichzeitige Umgang mit zwei Arten von Zeichen macht die Sprache in sich selbst reflexiv. In traditionellen Termini gesprochen gibt es nämlich nun Zeichen in der ,intentio recta‘ (intentio prima), die direkt auf ihre Bedeutung verweisen, und Zeichen in der ‚intentio obliqua‘ (intentio secunda), die auf andere Zeichen verweisen. Somit gibt es in einer solchen Sprache eine doppelte Referenz. Sprache verweist auf Welt normalerweise in der prima intentio, Sprache verweist darüber hinaus in der secunda intentio auf einen Text, der seinerseits auf Welt verweist, d. h. in aller Kürze: Sprache verweist auf Sprache in ihrer Darstellungsfunktion von Welt. Das Reflexiv werden der Sprache ist der eigentlich neue Bildungsgedanke der Informationstechnologie und damit auch der Informationsgesellschaft. Dies ist der geheime Lehrplan, den das Medium Computer aufschreibt und der sich verdeckt von vielen anderen Details durch alle Grundzüge des Mediums ausprägt. Die Problemlösung (1) schärft den Blick für die sprachlichen Mittel als Mittel; in der Konstruktion künstlicher Sprachen (2) vermittels vorhandener Sprachen fungiert Reflexion als stummer, nicht explizit werdender Operant der Gestaltung; in der Simulation (3) wird eben dieser Operant ästhetisch; die Kommunikation in den neuen Technologien (4) bedient sich der Simulation zur Schaffung virtueller Räume der Verständigung und reflektiert damit implizit Sprache im Hinblick auf ihren Kontext; in der Bildschirmgestaltung (5) wird dieser Kontext explizit gestaltet und damit die Reflexion auf Sprache konstruktiv, was über den Schlüssellochcharakter des Mediums (6) aufgeheizt (McLuhan 1968) wird; und schließlich ist es der Grundzug der Superzeichentechnologie (7), der die Reflexivität von Sprache zum Konstruktionsprinzip der besten möglichen Darstellung von Welt macht. Die sieben im Ansatz gebrachten Grundzüge neuer digitaler Technologie tragen demnach das gemeinsame Kainsmal einer Sprache, die ihre Unschuld verloren hat. Diese schuldig gewordene Sprache ist das Medium postmoderner Bildung, sie ist das Medium, in dem sich jenes dreifache Verhältnis, das ich Bildung genannt habe, in der Computertechnologie reflektiert und in dieser Reflexion eine neue Kulturtechnik bildet. In Computerspielen beispielsweise sozialisieren wir zum Umgang mit virtuellen Welten. Spielen ist zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte ein kulturelles Phänomen gewesen. Computer- oder allgemeiner: Bildschirmspiele stellen das Probehandeln in einer Welt dar, in der wir unser Verhältnis zur Welt im Modus reflektierter Sprache definieren. Computer Based Training, Telelernen, Online-Tutoring und Lernen in Simulationen, Problemlösungsversuche, Wissensrepräsentation von im Medium ‚Computer‘ dargestellter Welten und über das Werkzeug ‚Computer‘ manipulierbarer Welten ändern zwar nichts an der grundsätzlichen Vermitteltheit des institutionellen Lernens, aber heizen (McLuhan 1968) diese Vermitteltheit auf. In all diesen Kontexten stellen die Neuen Technologien Werkzeuge und Medien in erzieherischen Aufgabenbereichen dar und prägen im heimlichen Lehrplan ihrer strukturellen Charakteristik unseren Denkstil und die Art und Weise, wie wir mit Welt und Gesellschaft umgehen.
3. Neue Technologien – Neue Bildung Ich habe oben den Bildungsbegriff strukturell bestimmt, indem ich Bildung als ein individuell zu konstruierendes Verhältnis von drei zweistelligen Relationen bestimmt habe. Es geht mir dabei darum, jeglichen normativen Gehalt vom Bildungsbegriff deshalb fernzuhalten, weil er nur so als kritisch deskriptiver Begriff zur Analyse von Unterschieden in seiner inhaltlichen
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Ausprägung Verwendung finden kann. Die Sensibilisierung für Unterschiede aber ist die dominante Aufgabe in einer Zeit, in der sowohl die theoretische Grundlage für als auch der Glaube an einheitliche Lebenskonzepte, an einheitliche Wertesysteme und damit auch an einheitliche Ausprägungen von Bildung verloren gegangen sind. Bildung als Prozess muss vor diesem Hintergrund als gesellschaftliches Problem formuliert werden – nicht als normativ aufgeladene erzieherische Aufgabe. Das Problem, um das es geht, ist der Konflikt zwischen den Neuen und den Alteingesessenen um die Geltung einer möglichen gemeinsamen Welt (Arendt 1958, 15 ff.). In diesem Widerstreit reflektiert die Gesellschaft auf sich selbst in ihrem Verhältnis zur Welt. Der Ausgang dieses Widerstreites ist kontingent. Fasst man also den Bildungsprozess als die Lösung dieses gesellschaftlichen Problems, dann rückt die Frage nach der Art und Weise der Lösung an die zweite Stelle. Bewertungen werden zu einem sekundären Problem bzw. erhalten eine abgetrennte Domäne. Diese Konzeption, die Beschreibung und Bewertung trennt, ermöglicht es auf der Ebene der Deskription, unterschiedliche Lösungen erst einmal gleichwertig nebeneinanderzustellen. So kann das pure Aushalten des Konfliktes ebenso als Lösung des Problems gelten wie die gelungene Tradierung der alten Welt oder die Etablierung einer neuen Welt. Die Frage der Bewertung der jeweiligen Lösung kann man dann anschließen oder auch sein lassen. In jedem Falle gehört sie nicht in den Bereich systematischer Pädagogik, sondern in den Bereich der Pädagogik als Dogmatik. Diese Abtrennung des Normativen und der Wertorientierung bedeutet dabei nicht, dass nicht auch Werte und Normen Gegenstand des Widerstreites zwischen Neuen und Alteingesessenen sind, denn sie gehören untrennbar zur umstrittenen gemeinsamen Welt, die ja nicht naturhaft gegebene Umwelt, sondern kulturell vermittelte Welt ist. Für die Systematische Pädagogik kommt das Normative demnach nur als empirisches Phänomen in den Blick. Nun könnte man zu dem falschen Schluss kommen, dass man nach dieser konzeptionellen Unterscheidung und Trennung unter systematisch-pädagogischem Aspekt zu keiner Spezifizierung dessen gelangt, was Bildung in der Informationsgesellschaft heißen kann. Dem ist aber nicht so. Fasst man die Reflexionen auf die sieben Grundzüge der Neuen Technologien zusammen, dann kann der Gebildete in der Informationsgesellschaft nur ein Sprachspieler sein, denn jenes komplexe Verhältnis, das ich Bildung genannt habe, lässt sich nur noch in einer in sich selbst gebrochenen, in sich selbst gedoppelten und reflexiv gewordenen Sprache ausbilden. Dies gilt natürlich nur, sofern man die Neuen Technologien als die entscheidende Kulturtechnik unserer Gesellschaft annimmt, was ich in Abschnitt 2 versucht habe, argumentativ zu begründen. Sprachspieler muss der Gebildete deshalb genannt werden, weil jener Bruch in der Sprache, der durch die Reflexion des Sprachlichen auf sich selbst hervorgebracht wird, durch kein geregeltes Verfahren einheitlich gekittet werden kann. Er eröffnet vielmehr einen unbestimmten Raum für spielerische Lösungen. So weit und nicht weiter kann eine deskriptive systematische Pädagogik gehen. Alles, was darüber hinaus den Sprachspieler als ein bestimmtes Bildungsideal beschreibt, fällt in den Bereich einer pädagogischen Dogmatik. Dies ist keine pejorative Ausgrenzung – schließlich habe ich dies an vielen Stellen meiner Überlegungen zur Bildung in der Informationsgesellschaft getan (Meder 1995, 1996) –, sondern nur eine klare disziplinäre Unterscheidung. Nunmehr dogmatisch gesprochen: Der Sprachspieler als Bildungsideal der Informationsgesellschaft weiß, dass Macht und Gewalt in der Informationsgesellschaft auf der Herrschaft über die Sprache beruhen. Gewalt äußert sich in der vermittelten Zuweisung der Bedeutung zu Zei-
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chen (siehe oben 2.7) oder in der Eliminierung von Bedeutung aus ihrem Zusammenhang mit Zeichen. Der Sprachspieler durchschaut kritisch diese Gewaltmechanismen und setzt die Wucht der Sprache und den semantischen Schnitt an die Stelle von Hammer und Sichel auf seine Fahne.
Literatur Arendt, Hannah (1958): Die Krise in der Erziehung, Bremen: Angelsachsen. Hönigswald, Richard (1927): Über die Grundlagen der Pädagogik, 2. Aufl., München: Reinhardt. Krämer, Sybille (1988): Symbolische Maschinen, Darmstadt: Wisenschaftliche Buchgesellschaft. Lyotard, Jean-Francois (1982): Das postmoderne Wissen, Bremen: Theatro Machinarum. McLuhan, Marshall (1968): Die magischen Kanäle. Düsseldorf/Wien: Econ. Meder, Norbert (1987): Der Sprachspieler. Köln: Janus-Presse. Meder, Norbert (1995): Technik und Bildung, technische Bildung, in: Vjschr. f. wiss. Päd. (4) 1995, 345– 357. Meder, Norbert (1996): Der Sprachspieler. Ein Bildungskonzept für die Informationsgesellschaft, in: Vjschr. f. wiss. Päd. (2) 1996, 145–162. Meder, Norbert (1997): (Ethik und Aesthetik sind Eins), in: Fromme, Johannes/Freericks, Renate (Hg.): Freizeit zwischen Ethik und Ästhetik. Neuwied (u. a.): Luchterhand 15–39. Simmel, Georg (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig: Duncker & Humblot.
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Ideologiekritik des E-Learning Welchen Nutzen hat die Einführung von E-Learning? Beitrag online im Ressort Bildung/Politik unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/773
Abstract Vor etwa acht Jahren hat das damalige Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (bm:ukk), das seit 2014 Bundesministerium für Bildung und Frauen (BMBF) und seit 2016 Bundesministerium für Bildung (BMB) genannt wird, verschiedene Maßnahmen im Blick auf Neue Medien – insbesondere im Blick auf das E-Learning – gesetzt, um einen Beitrag zur Vorbereitung der Lernenden auf eine Informations- und Wissensgesellschaft zu leisten. E-Learning wurde als Erfolgsfaktor für die Zukunft gesehen und mit der Begründung, es fördere das individuelle und selbst gesteuerte Lernen, gefördert. Die zentrale Frage ist dabei: Welchen Nutzen hat die Einführung von E-Learning? In diesem Artikel – der auszugsweise Teile einer 2012 entstandenen Diplomarbeit enthält – wird einerseits der Begriff „E-Learning“ erläutert und andererseits auf die mit ihm verbundenen Mythologisierungen eingegangen. Zudem wird aufgezeigt, dass E-Learning nicht wegen pädagogischen Bedarfs, sondern durch ministeriell gesetzte Maßnahmen eingeführt wurde und dadurch – wenn auch nicht bewusst und schon gar nicht als solche kommuniziert – neoliberale Strukturen durchgesetzt wurden. Die Einführung von E-Learning hat somit für deren Akzeptanz gesorgt. A Critique of the Ideology of e-Learning – What is the Use of Introducing e-Learning? About eight years ago, the then Federal Ministry of Education, Art and Culture (bm:ukk), since 2014 the Federal Ministry of Education and Women (BMBF), and since 2016 the Federal Ministry of Education (BMB), has taken several measures regarding new media – in particular in view of e-learning – in order to help prepare learners for an information and knowledge society. E-learning was seen as a criterion for a successful future, and promoted with the argument that it stimulated individual and self-governed learning. The key question remains: What is the use of introducing e-learning? This essay – which partly consists of excerpts of a master thesis submitted in 2012 – first explains the concept of “e-learning”, but also addresses the myths that have risen around it. It also shows that e-learning was not introduced because of a pedagogical need but through ministry measures, and that it has served – though unconsciously, and least of all openly communicated – to enforce neoliberal structures. The introduction of e-learning has thus paved the way for the acceptance of these structures.
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1. Einleitung Neue Medien sind seit ihrem Aufkommen „im Trend“. Sie geben ein Versprechen für die Zukunft. Interessant ist allerdings, dass sie nicht nur im Trend liegen, sondern zugleich den Trend machen (vgl. Swertz 2006, 199). In einer vom Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (in Folge bm:ukk) initiierten und 2008 veröffentlichten Broschüre für Lehrkörper mit dem Titel „e-learning bringts“ ist zu lesen, dass „e-learning in Österreich längst dem Pilotstadium entwachsen ist“ (bm:ukk 2008a, 3). Lehrkörper werden aufgefordert, E-Learning mit dem Internet, insbesondere mit dem Web 2.0, als Teil der heutigen Unterrichtsgestaltung anzusehen und diese neuen Lehr- und Lernformen verstärkt im Unterricht einzusetzen. Mit dieser Aussage bekundete das Unterrichtsministerium sein Interesse an der Nutzung von E-Learning im Unterricht und forderte Lehrkräfte auf, ihren Unterricht anders zu gestalten sowie den Einsatz von E-Learning zu forcieren. Demnach wurde und wird E-Learning politisch gefordert und gefördert. In diesem Beitrag werden die ministeriellen Maßnahmen, die zur Einführung von E-Learning in Österreichs Schulen zu diesem Zeitpunkt gesetzt wurden, analysiert. Es wird gezeigt, wie die geforderte und geförderte Änderung der Unterrichtsmittel vor allem wirtschaftlichen Interessen folgte. Dazu wird die These aufgestellt, dass die Einführung von E-Learning in Österreichs Schulen vor allem marktwirtschaftlichen Zwecken diente und darüber hinaus – mittels der Technik – für die Etablierung und Akzeptanz neoliberaler Denkstrukturen in Schulen sorgte. Der zunächst offensichtliche Tatbestand, dass Unterrichtsmittel nicht aus pädagogischen, sondern aus wirtschaftlichen bzw. neoliberalen Interessen in Schulen etabliert wurden, wirft nicht zuletzt die Frage auf, wie MedienpädagogInnen mit diesen mittlerweile implementierten „Kontroll- und Steuerungsmechanismen“ umgehen. Nehmen wir diese Tatsachen hin oder wollen wir diese im Unterricht thematisieren? Aus meiner Sicht sollten wir MedienpädagogInnen dies nicht außer Acht lassen, denn dem klassischen Bildungsgedanken und Norbert Meder folgend, heißt Medienbildung: „Sich in ein Verhältnis setzen – zu sich selbst, zu anderen und der Welt“ und dies ist weit weg vom blinden (Markt-)Gehorsam bzw. einer ohnmächtigen Unterwerfung. Zudem ist es bemerkenswert, dass bei der aktuellen Recherche zu den ministeriellen Maßnahmen mehrere Projekte, die noch vor drei Jahren als „die wichtigsten“ propagiert wurden, ihre Internetpräsenz „verloren“ haben.
2. E-Learning Das Unterrichtsministerium proklamierte E-Learning als Erfolgsfaktor, denn es biete die Chance, das individuelle und selbst gesteuerte Lernen zu fördern, da mittels Neuer Medien die Lernenden auf die Zukunft vorbereitet werden können. Solch forcierte Strategien finden auch ihre Kritiker. Denn wenn das Individuum als Unternehmer seiner selbst (vgl. Bröckling 2007) angesehen werden muss, dann können wir nicht früh genug damit anfangen, selbständig zu agieren und eigenständig zu lernen. Dies soll unseren Kindern in der Schule ermöglicht werden. Denn: Wer zukünftig erfolgreich sein will, hat das (lebenslängliche) Lernen zu lernen, und das möglichst selbstständig.
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Daraus folgt, dass der Einzelne in der Verantwortung steht, sich eigenständig – durch LLL – das nötige Wissen anzueignen, um in weiterer Folge einen Arbeitsplatz zu bekommen und zu erhalten. Demnach wird die Verantwortung für Bildung, Ausbildung und/oder Weiterbildung auf die Individuen selbst übertragen, die eigenständig und selbstverantwortlich ihre Entscheidungen treffen müssen und damit selbst das Risiko tragen, das „Richtige“ zu lernen. Fakt ist, wer weiterkommen will, hat selbstständig und eigenverantwortlich in den Wettbewerb zu treten.
2.1. E-Learning als Steuerungsinstrument Für Thomas Nárosy und Verena Riedler – die eine Broschüre „E-Learning in der Schule“ für Lehrkräfte zusammengestellt haben – kann E-Learning als Instrument zur Unterrichtsgestaltung angesehen werden. Wie der Unterricht auch didaktisch geplant und welcher Bildungstheorie auch gefolgt wird: E-Learning bietet Hilfe zur Inszenierung, es ist Teil des Werkzeugkastens für Lehrende (vgl. Nárosy/Riedler 2002, 230 f ). Die beiden AutorInnen wollen deshalb Lehrkräften einen Überblick zum Thema E-Learning im schulischen Kontext geben, zeigen Möglichkeiten auf, wie E-Learning in den Unterricht eingebunden werden kann, und geben neben Hinweisen auch Quellen zur weiteren Vertiefung an. Für MedienpädagogInnen nicht unrelevant sind die von den beiden AutorInnen vorgestellten Lerntheorien: der Behaviorismus, der Kognitivismus und der Konstruktivismus. Diese drei vorgestellten wissenschaftlichen Lerntheorien sind psychologische und keine pädagogischen. Der Unterschied zwischen psychologischen und pädagogischen Lerntheorien liegt darin, dass der Blick auf die Qualität der Beziehung zwischen Mensch und Welt und auf Möglichkeiten einer Verbesserung dieser Beziehung im Interesse beiderseitiger Weiterentwicklung in den psychologischen Lerntheorien nicht berücksichtigt wird und eine pädagogische Lerntheorie eben auf diese Zusammenhänge abzielt (vgl. Göhlich/Wulf/Zirfass 2007, 8).
2.2. E-Learning und der Einzug in die (Hoch)Schule Christian Kreidl und Ullrich Dittler suchten bereits 2009 nach Motiven, die zur Einführung von E-Learning an Österreichs Hochschulen geführt haben. Nach einer qualitativen Befragung der Beteiligten haben sie vier Motive konstatiert. Die beiden Hauptmotive, die zur Einführung von E-Learning geführt haben, waren zum einen die Ortsunabhängigkeit beim Lernen (anytime, anywhere) und zum anderen der didaktisch-konstruktivistische Ansatz, dass Lernende in einer geeigneten Umgebung ihr Wissen selbst konstruieren können (vgl. Kreidl/ Dittler 2009, 263). Bei dieser Studie werden ebenso psychologische Lerntheorien herangezogen, die durch E-Learning verstärkt zum Einsatz kommen können, da sie das Versprechen, selbstständige Wissensaneignung durch eigenständiges Lernen zu fördern, in sich bergen. Das dritte Motiv, das mittlerweile zu einer gewissen Ernüchterung führte, war die Hoffnung auf Kosteneinsparung, die mit Einführung von E-Learning hätte stattfinden sollen. Das vierte und nicht unwesentliche Motiv war der Wunsch nach Partizipation an den in Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgeschriebenen Förderprogrammen (ebd.). Aus dieser Studie kann herausgelesen werden, dass Förderprogramme – unabhängig davon, ob von Bund oder Land initiiert – entscheidend zur raschen Implementierung von E-Learning beigetragen haben. Die Frage, ob sich E-Learning auch ohne Förderprogramme so rasch an (Hoch-)Schulen hätte etablieren können, bleibt offen.
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2.3. E-Learning und die Mythen Der Kanadier Norm Friesen nähert sich dem Thema E-Learning aus einer anderen Perspektive. Friesen zieht exemplarisch drei gängige Mythen, die mit dem Begriff E-Learning in Verbindung gebracht werden (Unabhängigkeit von Zeit und Ort, Leben in einer Wissensgesellschaft sowie das Gesetz der Veränderung durch den technischen Fortschritt) heran, um die „offensichtlichen und weitverbreiteten Wahrheiten“ zu entmystifizieren (vgl. Friesen 2008). Die ideologiekritische Methode ermöglicht ihm eine Gegenüberstellung der tatsächlichen sozialen Bedingungen mit den propagierten Wahrheiten, die oft unhinterfragt übernommen und verbreitet werden. Friesen stellt deutlich heraus, dass in der heutigen Konzeption des Wissens der Zweck nicht mehr in einer emanzipatorischen Geisteshaltung liegt, sondern durch die Verwendbarkeit am Markt bestimmt wird (vgl. ebd.). Anhand von unterschiedlichen Studien macht er deutlich, dass gerade mit dem Einsatz von Internet und E-Learning die Einkommensschere – die propagierterweise verkleinert hätte werden sollen – noch weiter vergrößert wurde (vgl. Friesen 2012).1 Er bezieht sich bei seiner Argumentationsführung auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, deren zentrale Aussage nicht zuletzt darin besteht, dass Wissen nie „unschuldig“ oder – anders gesagt – „wertfrei“ ist. Es kann auch als Ideologie verstanden und muss immer in historischen und/oder politischen Zusammenhängen gesehen werden, gerade dann, wenn es als unpolitisch, neutral und/oder sachlich präsentiert wird.
3. Methode In diesem Beitrag werden die ministeriellen Maßnahmen aufgegriffen, um die Einführung von E-Learning an Österreichs Schulen ideologiekritisch zu betrachten und um deren Nutzen freizulegen. Wie schon zuvor bei Friesen hervorgehoben, dient die ideologiekritische Methode dazu, die propagierten Wahrheiten, die oft unhinterfragt übernommen und verbreitet werden, den sozialen Bedingungen gegenüberzustellen. Zudem haben die Denker der Frankfurter Schule deutlich gemacht, dass Wissen und Information – gerade wenn sie als unpolitisch und zweckrational dargestellt werden – nicht zwangsläufig neutral sind. Für sie scheint es mittels der Technik möglich zu sein, für eine Durchsetzung von marktorientierten, neoliberalen Strukturen zu sorgen (vgl. Kaiser-Müller 2012, 25). Um nun die Frage nach dem Nutzen der Einführung von E-Learning an Österreichs Schulen beantworten zu können, ist es erforderlich, die vom Unterrichtsministerium durchgesetzten Maßnahmen aufzufinden und zu interpretieren. Was wurde propagiert und was blieb unerwähnt? Welche Machtverhältnisse kommen mithin im Umfeld von E-Learning zum Vorschein und wodurch werden diesbezügliche Instrumentalisierungen sichtbar? Die ideologiekritische Vorgehensweise dient dazu, herauszufiltern, welche Formen von (politischem) Selbstverständnis unhinterfragt und unkritisch hingenommen werden. So kann die Aufdeckung einer freiwilligen Einordnung und aktiven Zustimmung zu eingeschränkten Handlungsbedingungen erst durch eine konkrete Analyse erfolgen.
1
Dieser Umstand kann auch in einem Bericht der britischen Wohlfahrtsorganisation Oxfam, der im Februar 2015 veröffentlicht wurde, nachgelesen werden. ORF Online (2015): Kluft wird immer größer, online unter: http://orf.at/stories/2261749/2261748/ (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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Im Besonderen soll auf die Veränderungen bei der Auffindung von Argumentationen und Beweisführungen hingewiesen werden, denn innerhalb von drei Jahren scheinen Maßnahmen – die einst als wichtig hervorgehoben wurden – nicht mehr auf. Andernorts können heute verschiedene Dokumente – aufgrund fehlerhafter Verlinkung – nicht mehr aufgefunden werden. So soll auch diesem Verschwinden Aufmerksamkeit geschenkt werden.
4. Ministerielle Maßnahmen Das Ministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (bm:ukk, dann BMBF, heute BMB) hat in den vergangenen Jahren unterschiedliche Projekte zu den Themen Information – Technologie – Kommunikation (IKT) und E-Learning durchgeführt. Dieser Abschnitt widmet sich den auf der Webseite des damaligen bm:ukk/BMBF vorgestellten E-Learning-Projekten und deren Begründungen. Auf der Website des BMB ist bis heute eine Plattform für IT-Projekte zu finden. Hier werden IT-Projekte aufgelistet, die an Schulen durchgeführt wurden (BMBF 2014). Lehrkräfte werden aufgefordert, detaillierte Angaben über die durchgeführten Projekte in einer IT-Projektdatenbank einzutragen. Diese Eintragungen dienen einerseits der Projektdokumentation und andererseits der Bekanntgabe der daraus gewonnenen Erkenntnisse. Geht es nach dem Bildungsministerium, sollen mithilfe dieser Veröffentlichungen auch Synergien zwischen den einzelnen Projekten ermöglicht werden. Derzeit sind über hundert Projekte in der Datenbank eingetragen und können im Detail nachgelesen werden. Im Folgenden werden jene Projekte diskutiert, die auf der Website des Bildungsministeriums – als die wichtigsten – vorgestellt wurden bzw. werden. Das Ministerium führt „Die wichtigsten e-Learning/IKT-Projekte des Allgemeinbildenden Schulwesens“ (vgl. BMBF 2014) an. Interessant ist, dass, je nachdem zu welchem Zeitprunkt die Seite des Ministeriums aufgesucht wird, unterschiedliche Projekte als die wichtigsten angeführt werden. Im Jahre 2012 waren es drei Projekte, jedoch nicht die gleichen. TEVALO und eLSA sind die beiden Projekte, die auch schon vor mehreren Jahren auffindbar waren und es bis heute sind. Das Projekt E-Learning und IKT: Rechtsfragen wurde 2012 noch nicht angeführt, stattdessen wurde ein Projekt mit dem Namen Web2.0 als wichtig erachtet. Bei den damals und heute angeführten Projekten – eLSA, TEVALO und E-Learning, IKT: Rechtsfragen und Web2.0 – werden die Begründungen in der Projektbeschreibung in den Blick genommen und die Interessen, die zur Einführung der jeweiligen Projekte geführt haben, herausgearbeitet. Dabei wird insbesondere auf deren propagierten Nutzen geachtet.
4.1. eLSA Das vom bm:bwk begonnene eLSA-Pilotprojekt, das vom bm:ukk, vom BMBF und vom BMB weitergeführt wurde, war das erste großflächige E-Learning-Projekt des Bildungsministeriums. Was ist eLSA? Die Abkürzung eLSA steht für eLearning im Schul-Alltag. Die geplante Laufzeit des eLSA-Pilotprojekts war von 2002 bis 2005, dem ein eLSA Netzwerk folgen sollte. Im Rahmen von eLSA sollen innovative Ansätze zum Arbeiten mit Lernplattformen und Kennenlernen neuer Unterrichtsmethoden sowie innovative Formen der Unterrichtsorganisation und Beurteilungsformen ausgetauscht und erprobt werden (vgl. BMBF – eLSA 2015b). Alle Betei-
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ligten – von den SchülerInnen über die Lehrkräfte bis hin zur Schulleitung – haben aktiv mitzuarbeiten und den Unterricht dementsprechend umzugestalten. Die Lehrkräfte sind aufgefordert, sich über ihre Unterrichtsgestaltung auszutauschen und ihre Erfahrungen mit anderen KollegInnen zu teilen. Eine eigens eingesetzte Steuerungsgruppe hat die Abläufe zu koordinieren. Zu guter Letzt soll, um das Projekt abzuschließen, eine freiwillige Zertifizierung angestrebt werden. Nach erfolgreichem Ablauf des Pilotprojekts wurde 2005 das eLSA Netzwerk gegründet. Das Ziel dieses Projekts liegt in der flächendeckenden Einführung von E-Learning bzw. Blended Learning in der Sekundarstufe I. In erster Linie stand beim eLSA-Pilotprojekt die österreichweite Erprobung von Lernen mit technischen Hilfsmitteln im Vordergrund, zudem wurde die Vernetzung von Schulen forciert. Mit diesem Pilotprojekt wurde der Grundstein dafür gelegt, Schulen und in weiterer Folge sämtliche Bildungseinrichtungen in Österreich flächendeckend miteinander zu vernetzen. Aus den Erkenntnissen von eLSA sind in der Folge weitere Projekte – wie beispielsweise edumoodle, das weiter unten diskutiert wird – entstanden. Ebenso im eLSA-Pilotprojektzeitraum wurde das Projekt TEVALO als innovatives Projekt der Beurteilungsform ins Leben gerufen.
4.2. TEVALO Das Projekt TEVALO, eine Abkürzung für Teacher Evaluation Online, wurde im Jahre 2004 gestartet, um Lehrkräften die Möglichkeit zu geben, sich von ihren SchülerInnen online evaluieren zu lassen. TEVALO, ein Projekt der Pädagogischen Hochschule Burgenland unter der Leitung von Vizerektorin Mag. Inge Strobl-Zuchtriegl, ist ein Online-Evaluierungssystem, das – so die Angaben – von Lehrkräften für Lehrkräfte entwickelt wurde und eine zeitsparende Evaluierung des eigenen Unterrichts ermöglichen soll. Ungeklärt bleiben die Fragen zur Datenspeicherung und ihrer möglichen Weiterverarbeitung, hierzu werden keinerlei Informationen gegeben. Es wird nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, auf welchem Server Fragen und Antworten gespeichert werden und ob die gespeicherten Daten für weitere vergleichende Auswertungen dienlich sein können. Unerwähnt bleibt ebenfalls, dass eine Evaluierung immer ein Kontrollinstrument ist und eben auch für Vergleiche herangezogen werden kann.2
4.3. E-Learning und IKT: Rechtsfragen Das Bildungsministerium setzt auch juristisch den Akzent auf Recht in virtuellen Lernumgebungen. So hat ein ministerielles AutorInnenkollektiv (Hummer/Oberlerchner/Olensky/ Rick/Schöggl 2008) sich intensiv mit Fragen des Datenschutzes, des Urheberrechts, der Kommunikationsregeln im Internet und auf E-Learning-Plattformen auseinandergesetzt. So ist zu lesen, dass seit 2003 eine Broschüre zum Urheberrecht aufliegt, welche die 30 am häufigsten 2 Wer kritische Gedanken zu einem forcierten Projekt zur zentralisierten Serveradministration an Österreichs Schulen lesen will, folgt einem in der Ausgabe 3/2014 der MEDIENIMPULSE erschienenen Artikel. Das Wiener Medienkollektiv diskutiert das am Anfang des Schuljahres 2014/2015 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Frauen (BMBF) eingeführte Schulnotenverwaltungssystem „SOKRATES Bund“. (vgl. Kaiser-Müller/Ruge/Swertz 2015: Wäre es Dir lieber, ich würde zu Recht verurteilt? online unter: http://www.medienimpulse.at/articles/view/718 (letzter Zugriff: 15.08.2016).
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gestellten Fragen samt Antworten und einer kleinen Check-Liste für PädagogInnen inkludiert (Haller 2003). Darüber hinaus wird propagiert, dass das Bildungsministerium in den letzten Jahren mit dem Projekt edumoodle und mit der intensiven Diskussion des Web 2.0 versucht hat, den Bereich E-Learning abzudecken. Interessant ist allemal, dass diese Information bzw. dieses Projekt 2012 noch nicht als wichtig eingestuft wurde und dann 2015, also drei Jahre später, als solches auffindbar ist.
4.4 edumoodle Mit dem edumoodle-Projekt (BMBF 2015a) mit seinem Slogan „Wer will, der kann!“ wurde eine – inzwischen aus Urheberrechtsgründen auf http://www.lernplattform.schule.at/lernplattform/ verlegte – zentralisierte Serveradministration forciert. Mit der Nutzung einer Lernplattform wie edumoodle bzw. lernplattform sollten Ressourcen an den eigenen Schulen freigesetzt werden. Durch solche Maßnahmen soll es Lehrkräften und deren SchülerInnen möglich sein, Inhalte über das Internet – auf einer eigens geschaffenen Lernplattform – abzurufen, sich mit anderen auszutauschen und gegebenenfalls miteinander zu vernetzen. Aus dieser Begründung ist bspw. herauszulesen, dass E-Learning mittlerweile automatisch in Verbindung mit dem Internet gesehen wird und es daher keiner besonderen Erwähnung mehr bedarf. Auf der edumoodle-Webseite (EDUMOODLE 2015) wurde ‚Know How‘ zum Weiterlesen und Verweise zu Handbüchern, Praxisbüchern, Tutorials, einem Selbstlernkurs sowie Videos angeboten. Doch nicht alle Links waren „richtig“ verlinkt, denn folgte man den Links zu den Videos, so konnte manche Seite nicht angezeigt werden. Klickte man auf den Link des OnlineMoodle-Kurspool unter dem Namen „E-Learning für alle“, landete man auf einer Seite der Education Group (vgl. EDUCATION GROUP 2015).3 Da stellt sich die Frage: Wer steht hinter der Education Group GmbH? Die Education Group GmbH ist die Zusammenführung von zwei Bildungseinrichtungen, dem BildungsMedienZentrum (BIMEZ) des Landes Oberösterreich und dem Education Highway Innovationszentrum für Schule und Neue Technologie GmbH (EDUHI). Wie in der Beilage 275 des Oberösterreichischen Landtags im Oktober 2010 – mit dem Titel: „Einbringung des BildungsMedienZentrums in die EDUCATION HIGHWAY Innovationszentrum für Schule und Neue Technologie GmbH“ – nachzulesen ist, wurde die Zusammenführung der beiden oberösterreichischen Bildungseinrichtungen im politischen Lenkungsausschusses am 15. November 2010 unter dem Vorsitz des oberösterreichischen Landeshauptmannes Dr. Josef Pühringer beschlossen (vgl. Pühringer 2010, 2). Um die Zusammenführung beider Bildungseinrichtungen in die Education Group GmbH zu realisieren, werden die beteiligten Gesellschafter der EDUHI ihr Stammkapital zu einem symbolischen Kaufpreis von 1 Euro abtreten und das Land OÖ seinerseits auf die Rückzahlung der Förderungsmittel in der Höhe von 220.000 Euro verzichten. Das Vermögen des BIMEZ, 3
Im Herbst 2012 wurde unter dem Motto: „E-Learning für alle“ ein Online-Moodle-Kurspool für die Volksschule und die Sekundarstufen I u. II angeboten. Folgte man dem Link, landete man auf eduhi. at, dem oberösterreichischen Bildungsserver. Wollte man sich eines der angebotenen Moodle-Videos ansehen, wurde man auf die bildungs.tv-Seite verlinkt. Diese Verweise haben sich verändert. Fakt ist, dass sowohl eduhi.at als auch bildungs.tv ins Eigentum von Education Group GmbH übergegangen sind. Die nachfolgenden Ausführungen sind online nicht mehr abrufbar, doch besteht die Möglichkeit, Einsicht in dieses PDF zu bekommen, welches von der Autorin beizeiten gesichert wurde.
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welches sich Ende 2010 auf ca. 1,267 Mio. Euro beziffert, wird auf EDUHI übertragen und die beschäftigten Landesbediensteten werden – entsprechend dem Zuweisungsgesetz – gegen Refundierung des Personalaufwands auf Dauer der EDUHI überlassen. Im Zuge dieser Umstellung wird EDUHI – Education Highway Innovationszentrum für Schule und Neue Technologie GmbH – in Education Group GmbH umgeändert und im Eigentum der OÖ Landesholding GmbH geführt (vgl. Pühringer 2010, 3 f ). Des Weiteren ist geplant, dass eine OÖ Innovationsholding GmbH gegründet wird, welche zu hundert Prozent Tochtergesellschaft der bestehenden OÖ Landesholding GmbH sein wird, in welche die Education Group GmbH übertragen werden soll (vgl. Pühringer 2010, 4). In der Argumentationsführung wird deutlich, dass Sparen und Zukunftsorientierung im Vordergrund stehen und neben der Nutzung der Webtechnologie auf Neues und Innovatives gesetzt werden soll. Ein Argument, das für die Zusammenführung spricht, besteht darin, dass „Doppelgleisigkeiten“ beseitigt und frei werdende Synergien genutzt werden sollten. Das Einsparungspotenzial im Personal- und Sachaufwand wurde für Land und Gemeinden pro Jahr auf rund 2,46 Millionen Euro geschätzt (vgl. Pühringer 2010, 2). Am Beispiel der Umstrukturierung kann aufgezeigt werden, wie Bildungseinrichtungen – mit dem Argument der Kostenersparnis – privatisiert werden können, damit Finanzen nicht mehr direkt dem Land Oberösterreich, sprich dem Staat Österreich, zuordenbar sind. Beim edumoodle-Projekt stand das Argument der Kostenersparnis eindeutig im Vordergrund. Indem die Daten auf einem Server zentral zusammengetragen und gewartet werden, ging man davon aus, dass Server- und Personalkosten eingespart werden könnten. Dass eine zentrale Wartung auch eine leichtere Kontrolle der Inhalte ermöglicht, blieb – wie bei den anderen vorgestellten Projekten – indes unerwähnt. Am Beispiel von edumoodle kann darüber hinaus aufgezeigt werden, wie Bildungseinrichtungen ausgelagert, d. h. privatisiert wurden. Bemerkenswert ist angesichts des edumoodle-Projekts, wie die Auslagerung und Privatisierung von Bildungseinrichtungen vor sich gehen kann und wie sie mit angeblichen Personal- und Sachmittelersparnissen legitimiert wurde. Hier will nochmals ausdrücklich festgehalten werden, dass die Informationen der Zusammenlegung, bzw. Privatisierung – angestoßen von einem Landeshauptmann – online zum Zeitpunkt der Linküberprüfung nicht mehr aufzufinden waren. (Wie oben bereits erwähnt, hat die Autorin die damals auffindbaren Dokumente beizeiten abgespeichert.) Der Nutzen im Verschwinden dieses Dokuments liegt möglicherweise darin, dass die Privatisierung dieser Bildungseinrichtung nicht mehr so einfach nachvollzogen werden kann. Der propagierte Nutzen des edumoodle-Projekts lag in der stärkeren Onlinevernetzung von Schulen. Nutzen kann solch eine Forcierung allerdings auch der Internettechnologie in Schulen und den Marktanbietern für Serverdienste und Internetzugänge. In Österreich profitiert die Firma Telekom eindeutig von solchen Projekten.
4.5. Web 2.0 Abschließend soll ein Projekt vorgestellt werden, das derzeit nicht mehr als eines der wichtigsten IT-Projekte angeführt wird, obwohl es noch 2012 als solches aufgelistet war. Es ist in mehrerer Hinsicht von Bedeutung, wenn die Maßnahmen eines Ministeriums einer ideologiekritischen Analyse unterzogen werden wollen. Hier drängt sich die Frage förmlich auf, aus
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elchem Grund gerade dieses Projekt nicht mehr in der Liste auffindbar ist, obwohl es der daw maligen Unterrichtsministerin Schmied sehr am Herzen lag. „Ich darf Ihnen versichern und sagen, dass das Projekt Web2.0 Klasse ein ganz, ganz großes Anliegen meines Ressorts ist. Das Mitmach-Internet bringt neue Technologie an die Schule; dieses Mitmach-Internet führt vor allem aber auch zu einem ganz neuen Verständnis von Lernen; es wird darum gehen, dass die Schüler und Schülerinnen der neun Hauptschulen sich eigenständig auf den Weg machen; sie machen sich auf den Weg, österreichische Nationalparks zu erkunden, sie tragen Informationen zusammen; bauen sich damit Bilder auf. Die Lehrer und Lehrerinnen kommen durch dieses Projekt in eine ganz andere und neue Rolle; sie sind in erster Linie Partner der Schüler und Schülerinnen beim Erwerb von Wissen. Das ist für mich als Ministerin für Unterricht und Kultur eine ganz große Motivation, dieses Projekt ganz besonders zu unterstützen, weil mir gerade an der Partnerschaft zwischen LehrerIn und Lernenden ganz, ganz viel liegt, und in dem Sinne hoffe ich und glaube ich daran, dass dieses Projekt Schule machen wird, und mein großer persönlicher Dank geht an Telekom Austria; Sie machen dieses Projekt möglich; danke schön.“ (BM Schmied 18.06.2007, eLsa – Web2.0 2015, Hervorhebungen im Original). Aus der Projektbeschreibung von Web 2.0 ist herauszulesen, dass der Einsatz von Webtechnologie forciert wird. „In einem Pilotprojekt möchten das bm:ukk und Telekom Austria heraufinden, wie Wikis und Blogs für den Unterricht tauglich sind.“ (Vgl. ebd., Hervorhebungen im Original) Die Nutzung des Internets mit seinen unterschiedlichen kooperativen Anwendungen steht im Mittelpunkt. Online, zeit- und ortsunabhängig – über die Grenzen einer Schule hinaus – soll kooperatives Lernen erprobt werden. Das Projekt soll der Untersuchung dienen, inwieweit Lernen mit den Web-2.0-Tools – insbesondere mit Wiki – schulübergreifend funktionieren kann. Die zwei angeführten Links, die weitere Informationen bereitstellen sollten, verweisen lediglich auf die Startseite von A1 Telekom. Im Zuge der Recherche wurden Seiten von Schulen aufgefunden, die sich an diesem Pilotprojekt beteiligt haben. Ein Gymnasium in Melk (http://edu.gymmelk.ac.at/wiki/index.php/E-Learning) sowie eine NMS in Illmitz (http://www.boburgenland.at/schulen/nms-illmitz/) haben an diesem Projekt teilgenommen und auf ihren Schulseiten darüber berichtet. Nach längerer Recherche konnte zudem auf der Telekom-Presseseite ein Eintrag zu diesem Projekt gefunden werden. (Telekom Presse 2015) Unter der Überschrift „Web 2.0 ist cooler als Schule“ resümiert Ingrid Paus-Hasebrink von der Universität Salzburg folgendermaßen: „Die Schüler hatten große Freude daran, im Team an einer gemeinsamen Aufgabe zu arbeiten. Der Einsatz von Web 2.0 führte so zu einer höheren Lernmotivation und letztendlich zu einem größeren Lernerfolg.“ (Vgl. ebd.) Das Web 2.0-Projekt forciert demnach das kollaborative Lernen mittels Einsatz von Webtechnologie. Als Argumentation für den Einsatz von Web-2.0-Tools, im speziellen für Wiki, werden die Steigerung der Lernmotivation und Medienkompetenzerweiterungen angeführt. Anhand der Web-2.0-Projektbeschreibung kann aufgezeigt werden, wie es von wirtschaftlicher Seite möglich ist, mittels Legitimation durch die Wissenschaft die Einführung und Nutzung von Webtechnologien an Schulen zu forcieren. Hier ist hervorzuheben, dass es im Rahmen des Web-2.0-Projekts dem Netzwerkanbieter Telekom gelungen ist, ein Projekt zur Nutzung von Webtechnologien an Schulen zu initiieren und es gleichzeitig durch wissenschaftliche Studien zu legitimieren. Dabei ist zu betonen, dass die Telekom mit dem Ausbau von Internet anbindungen eindeutig wirtschaftliche Vorteile erzielen konnte.
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4.6. Zusammenfassung der Maßnahmen Neben den klassischen Begründungen der Orts- und Zeitunabhängigkeit sowie der Zeit- und Kostenersparnis wurden bei den Projektbeschreibungen auch die Vorteile des selbst gesteuerten, individuellen und kollaborativen Lernens angeführt. Anhand der Projektanalysen wurde deutlich, dass Schulen durch die Implementierung von E-Learning technisch aufgerüstet und Lehrkräfte mit neuen Unterrichtswerkzeugen konfrontiert wurden. Angesichts des edumoodle-Projekts konnte zudem darauf verwiesen werden, wie die Auslagerung und Privatisierung von Bildungseinrichtungen vor sich gehen kann, und mit Personal- und Sachmittelersparnissen legitimiert wurde. Im Blick auf das Web-2.0-Projekt konnte darüber hinaus aufgezeigt werden, wie es einem Netzwerkanbieter (Telekom), der mit dem Ausbau von Internetanbindungen eindeutig wirtschaftliche Vorteile erzielt, gelang, ein Projekt zur Nutzung von Webtechnologien an Schulen zu initiieren und es gleichzeitig durch wissenschaftliche Studien zu legitimieren. Anhand der Analyse dieser Projekte sind auch weitere Interessen, die nicht in diesem Sinne kommuniziert wurden, auffällig: • In keinem der Projekte wurde angeführt, welche monatlichen Kosten anfallen oder gar welche Anschaffungskosten nötig sind, um solche Vernetzungen zu ermöglichen. • Weiters bleiben die Kontrollmechanismen, die durch eine weitgehende Vernetzung und zentrale Steuerung möglich sind, bei all den Projekten unerwähnt. • Ebenso verhält es sich mit der Tatsache, dass die Wirtschaft aufgrund der Forcierung neuer Technologien in Schulen erhebliche Umsätze erzielen kann. Es ist festzuhalten, dass die eingehende Analyse der ministeriellen Projekte zur Implementierung von Webtechnologie im Unterricht ein bedenkliches Ergebnis zeigt: Denn durch die Art und Weise, in der die Wirtschaft bildungspolitisch durchaus wichtige Projekte zum Einsatz von IKT im Unterricht mitgestaltet und beeinflusst, wird nicht nur neoliberales Gedankengut in Schulen etabliert, sondern auch die Unabhängigkeit von Wissenschaft und Forschung bedroht. Die relative Autonomie von Bildung und Unterricht wurde mithin – aus ideologiekritischer Perspektive – selbst im Rahmen der ministeriellen Projekte neoliberal durchsetzt und dem Zwang der Marktkonformität unterworfen.
5. Fazit und Ausblick Aus den vorgestellten Projekten kann abgeleitet werden, dass das Interesse bei den durchgeführten Maßnahmen eindeutig in der Nutzung des Internets und an dessen vielfältigen Anwendungen liegt. Neben den klassischen Begründungen der Orts- und Zeitunabhängigkeit werden auch Individualisierung und Kooperation mit anderen in den Vordergrund gerückt. Die zentrale Sammlung der Daten und der Ausbau der Onlinevernetzung wird – wie bereits erwähnt – mit Kostenersparnissen begründet. So kann die Frage, welchen Nutzen die Einführung von E-Learning hatte, dahingehend beantwortet werden, dass E-Learning genutzt wurde, um neoliberale Strukturen durchzusetzen und mithin für deren Akzeptanz zu sorgen. Mit der Beantwortung dieser Ausgangsfrage ist jedoch keineswegs geklärt, wie eine freiwillige Einordnung und aktive Zustimmung zu einer derartigen Einschränkung pädagogischer Handlungsbedingungen möglich ist. Die präzise Beant-
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wortung dieser Frage würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, kann aber als Desiderat der Forschung bezeichnet werden. Weitere Forschungen können aber dort ansetzen, wo im Rahmen dieses Artikels bereits die am häufigsten angeführten Argumente für die Nutzung von E-Learning hervorgehoben werden konnten. Deshalb sollen hier im Sinne eines Ausblicks abschließend die wichtigsten dieser Argumente zusammengefasst werden. Lernen für die Zukunft: Der Verweis auf künftige Verbesserungen des Bildungssystems ist eines der beliebtesten Argumente des Bildungsministeriums. Selten aber wird erfasst, dass gerade dieser Glaube an die Zukunft neoliberale Machtstrukturen in der Gegenwart legitimieren kann. Im Sinne einer neuen Religion kann der Neoliberalismus dahingehend genutzt werden, um das Individuum marktkonform zu mobilisieren. Orts- und Zeitunabhängigkeit: Mittels neuer Kommunikationstechnologien ist es grundsätzlich möglich, den Alltag derart zu durchsetzen, dass das Individuum allerorts und jederzeit – also rund um die Uhr – verfügbar ist. Diese permanente Verfügbarkeit wird des Öfteren mit den Begriffen Mobilität und Flexibilität umschrieben bzw. gefordert. Auch dies markiert einen Problembereich, der weitere Forschungen nötig machen würde. Selbst gesteuertes Lernen: Bildungsprozesse werden seit jeher durch unterschiedliche Lehrund Lerntechniken beeinflusst. Durch den flächendeckenden Einsatz von IKT wird deutlich, wie es zur Vereinheitlichung von Wahrnehmung kommt und wie mittels selbst gesteuertem Lernen erneut die Motivationspotenziale des Individuums abgerufen werden, um neoliberalen Denkstrukturen zu folgen. Durch die Selbststeuerung wird das Individuum im Sinne des Neoliberalismus mit Bewegungsmöglichkeiten in einem vorprogrammierten System ausgestattet. Auch hier wäre eine nähere Analyse wünschenswert. Abschließend ist zu erwähnen, dass es gleichgültig ist, ob von lebenslangem Lernen oder von Privatisierung der Bildung gesprochen wird. Beide Ideologien verweisen auf ein marktwirtschaftlich dominiertes Regelsystem. Wenn davon ausgegangen wird, dass die Privatisierung der Bildung auch die Behandlung der Bildung als Ware bedingt, dann können die SchülerInnen als Kunden oder Konsumenten von Bildung angesehen werden, was wiederum die Vergleichbarkeit der Ware Bildung mittels Standardisierung und Qualifizierung erfordert. Und so können die Bildungskonsumenten selbst als Ware betrachtet werden, deren Humankapital im stetigen Wettbewerb mit anderen steht und stehen soll. Dies bedingt die Aufforderung zu lebenslangem Lernen, um den Marktpreis und die Konkurrenzfähigkeit zu erhalten. Gerade dadurch wird es aber möglich, dass der Einzelne an seine Freiheit glaubt und doch über neoliberale Denksysteme durchsteuert wird. Diese indirekte Lenkung kann durch den Einsatz von E-Learning herbeigeführt werden. Gerade dadurch zeichnet sich die problematische Überlappung von Ideologie und Technologie im Feld der konkreten Unterrichtspraxis aus, weshalb einem unreflektierten Einsatz aus pädagogischer Perspektive mit Nachdruck zu widersprechen ist.
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Barbara Buchegger
Sexting im Schulumfeld Beitrag online im Ressort Praxis unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/776
Abstract Barbara Buchegger berichtet von einer Studie rund um das Thema „Sexting“, die im Auftrag von Saferinternet.at durchgeführt wurde. Wie steht es um die Übermittlung von Nacktaufnahmen in unseren Jugendkulturen? Stimmt der Eindruck aus den Workshops in Schulen, dass es bereits ein „übliches Verhalten“ der Jugendlichen geworden ist? Saferinternet.at hat im November/Dezember 2014 eine Studie durch das Institut für Jugendkulturforschung rund um das Thema „Sexting“ in Auftrag gegeben. Sexting in the School Environment. Barbara Buchegger reports on a study on the issue of “sexting”, commissioned by Saferinternet.at. What about the transfer of nude photos in our youth cultures? Is the impression from workshops at schools that this has already become “normal behaviour” amongst young people correct? Saferinternet.at commissioned a study on the issue of “sexting” from the Institut für Jugendkulturforschung in November/December 2014.
1. Bereits ein Drittel der Jugendlichen hat Erfahrung mit Sexting Die Studienergebnisse zeigen sehr deutlich, dass Sexting eine häufige Facette des Beziehungs- und Sexuallebens von Jugendlichen geworden ist: 51 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren kennen jemanden, der oder die schon einmal Nacktaufnahmen von sich selbst an andere geschickt hat. Ein Drittel (33 %) hat selbst schon Fotos oder Videos erhalten, auf denen die oder der Abgebildete fast nackt oder nackt zu sehen ist. 16 Prozent der Jugendlichen gaben an, schon einmal Nacktaufnahmen von sich selbst erstellt und diese dann meistens auch verschickt zu haben. Die weite Verbreitung von Sexting im Alltag zeigt sich auch daran, dass es 31 Prozent als „normal“ empfinden, ihren PartnerInnen Nacktaufnahmen zu schicken. Jeder Zehnte (9 %) sagt auch, dass es „normal“ sei, von der besten Freundin oder vom besten Freund Nacktaufnahmen zu kennen. Jugendliche erhalten erotische Fotos und Videos vor allem von Freunden (31 %), Personen, die flirten möchten (27 %), dem Partner bzw. der Partnerin (24 %), unbekannten Personen (24 %), Ex-Partnern bzw. Ex-Partnerinnen (23 %) sowie Personen, mit denen sie ein Verhältnis hatten (14 %).
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2. Was heißt das nun für die Schule? Ist nun ein Bild, ein Film oder Ähnliches eines/-r Schüler/-in im Umlauf, so verbreitet sich die Aufnahme in der Regel in digitalen Medien sehr rasch. Auch wenn nicht unbedingt jede/-r einzelne Schüler/-in die Aufnahme am Handy haben wird, so werden doch schnell alle davon wissen, egal in welcher Schulstufe. Die Folge ist, dass es mit dem Unterrichten dann nicht so einfach ist. Ein einzelnes Bild hat große Auswirkungen. Auch wenn es ursächlich das Privatleben der SchülerInnen betrifft, so hat es in der Schule so viele Auswirkungen, dass reagiert werden muss. Erst dann kann wieder ans Unterrichten gedacht werden.
3. Was tun, wenn eine Sexting-Aufnahme in der Schule im Umlauf ist? Saferinternet.at hat eine Infografik erstellt, die einen Überblick über die nötigen Schritte gibt.
Quelle : https://www.saferinternet.at/fileadmin/files/Studien/Sexting_Studie/Checklist_f%C3%BCr_ Schulen.pdf
Reaktionen sind auf drei Ebenen notwendig: 1. das System Schule ansprechen 2. die Aufnahme aus dem Internet entfernen 3. betroffene Personen unterstützen
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4. Reaktionen in der Schule – das System Schule ansprechen In einem ersten Schritt ist es notwendig, zu klären, inwieweit die Aufnahme bereits unter den SchülerInnen verbreitet ist. Ist die Aufnahme nur punktuell verbreitet und hat noch kaum Aufmerksamkeit in der Schule verursacht, so kann es genügen, die Aufnahme löschen zu lassen. Es sollten aber auf jeden Fall Konsequenzen für die Personen ersichtlich sein, die die Aufnahme veröffentlicht haben. Nach einiger Zeit wird es sinnvoll sein, präventive Maßnahmen in der Schule zu setzen, beispielsweise mit entsprechenden Schulungen (Präventionspolizisten, Saferinternet.at oder ähnliche Einrichtungen). Hat die Aufnahme aber bereits weite Kreise erfasst, so muss in der Schule schnell auf breiter Ebene reagiert werden. Die Schule sollte sehr eindeutig die Haltung vermitteln, dass „wir das in dieser Schule nicht zulassen“. So ist es sinnvoll, dass die KlassenvorständInnen den Fall direkt oder allgemein in jeder Klasse zum Thema machen. Handelt es sich bei den Aufnahmen um eindeutig pornografisches Material, so ist dies aus mehreren Gründen wichtig: • Nach dem Kinderpornografiegesetz §207a StGB darf in Österreich niemand eine pornografische Aufnahme einer minderjährigen Person bewusst anschauen, besitzen oder weitergeben. (Ausgenommen ist nur die Person, die auf der Aufnahme zu sehen ist – sie darf diese Aufnahme von sich machen und auch besitzen, aber an niemanden weitergeben. Dies trifft nicht nur „Pädophile“, sondern auch alle SchülerInnen, die solche Aufnahmen von Gleichaltrigen bekommen haben. • Pornografische Aufnahmen sind nach dem Jugendschutzgesetz Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich zu machen bzw. es ist dafür zu sorgen, dass sie auf solche Inhalte nicht zugreifen können. Da dies mit technischen Maßnahmen nicht umfassend umgesetzt werden kann, ist die kompetente und eindeutige Reaktion von Lehrenden notwendig. In weiterer Folge – mit etwas zeitlichem Abstand – ist es sinnvoll, bewusstseinsbildende Maßnahmen in der Schule zu setzen. Dies entweder durch externe ExpertInnen, besser noch ist es aber, wenn Lehrende dies in den Fachunterricht integrieren. Folgende Themen könnten in solchen Einheiten durchgenommen werden: • Recht am eigenen Bild • Welche Bilder dürfen auf keinen Fall veröffentlicht werden? • Wie reagieren, wenn ich am Handy eine Nacktaufnahme bekomme? • Wo hole ich mir Hilfe, wenn ich unsicher bin? • Welche Regeln haben wir in der Schule, und was passiert, wenn wir uns an solche Regeln nicht halten? • Wie verhalten wir uns, wenn wir bemerken, dass eine Person aus unserer Mitte gemobbt oder fertiggemacht wird?
5. Aufnahme löschen! Die entsprechende Aufnahme möglichst schnell aus dem Internet zu entfernen, muss ein wichtiges Ziel sein, auch wenn es nicht leicht zu erreichen sein wird. Hat sich ein Bild einmal
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verbreitet, ist es kaum möglich, „es wieder einzufangen“. Dennoch muss alles versucht werden, die Aufnahme aus dem Internet zu bringen! Als ersten Schritt sollte man die Person, die ursprünglich gepostet hat, auffordern, es zu löschen, und diese kann wiederum auch diejenigen, an die die Aufnahme gegangen ist, zum Löschen auffordern. Dies wiederum mit dem Hinweis, dass es strafrechtlich verboten ist, solche Bilder am eigenen Gerät zu besitzen.
5.1. Soziale Netzwerken nutzen Soziale Netzwerke haben in der Regel einen Mechanismus, wie man kompromittierende Bilder/Videos melden kann. Die Erfahrung zeigt, dass vor allem Nacktaufnahmen von Minderjährigen in der Regel gelöscht werden. Es macht also durchaus Sinn, entsprechende Aufnahmen zu melden.
5.2. Hilfe holen Reagieren allerdings soziale Netzwerke nicht auf solche Meldungen, so kann auch die Unterstützung des „Internet-Ombudsmanns“ in Anspruch genommen werden. Man kann den konkreten Link zur Aufnahme mittels einer Beschwerde unter www.ombudsmann.at eingeben.
5.3. Im Internet nach weiteren Bildern suchen Ist ein Bild einmal im Umlauf, so hat die abgebildete Person zumeist das Interesse, zu wissen, wo es überall genutzt wird. Hier hilft die Google-Bildersuche. Sie macht es möglich, mit einem Bild nach eben diesem in Google suchen zu lassen. Dazu auf das Kamera-Symbol in der Sucheingabe klicken und das betroffene Bild hochladen. Achtung: Ist das Bild ein kinderpornografisches Bild, so ist dies natürlich keine einfache rechtliche Situation. Für die betroffene Person ist es jedoch eine Möglichkeit, sich mehr Gewissheit zu verschaffen.
6. Betroffene Person(en) unterstützen Vor allem die abgebildete Person auf einer Nacktaufnahme braucht psychologische Unterstützung. Dies kann z. B. durch die Schulpsychologie erfolgen oder durch privat organisierte PsychotherapeutInnen. Auch wenn dies die Privatsache der betroffenen Personen sein mag, ist es im Interesse der Schule, dafür zu sorgen. Denn nur dann, wenn alle Beteiligten ohne allzu viele bleibende Schäden aus der Sache herauskommen, hat es auch in der Schule weniger schwerwiegende Folgen, z. B. wenn die entsprechenden Aufnahmen zu einem späteren Zeitpunkt wieder auftauchen. Ist es nicht möglich, die Schulpsychologie einzubinden, so sollten die betroffenen Personen mithilfe von Beratungsstellen, wie z. B. „Rat auf Draht“ (www.rataufdraht.at, Telefon 147), die ersten Schritte setzen.
7. Eltern einbeziehen? Ist ein/-e Jugendliche/-r mit der Verbreitung einer Nacktaufnahme konfrontiert, so ist sehr oft seine/ihre Sorge, wie die eigenen Eltern reagieren werden. Viele dieser Jugendlichen haben
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schlicht und einfach Angst vor der Reaktion der Eltern. Da Eltern in solchen Situationen immer wieder – oft aufgrund der eigenen Angst – fast panisch reagieren und in solchen Situationen Fehler machen, ist diese Angst oft auch begründet. Daher kommt es, dass sich Jugendliche eher an eine Lehrkraft wenden, da sie sich hier eher Unterstützung erwarten. Letztendlich müssen Eltern aber natürlich von solchen Vorfällen erfahren, wenn es sich um minderjährige Kinder handelt. Es kann aber überlegt werden, in welchem Setting dies erfolgen kann. So hilft es manchmal, wenn Lehrende bei der Erstinformation anwesend sind und gleich darlegen können, welche Schritte bereits eingeleitet wurden.
8. Anzeigen? Eine der ersten Reaktionen von Eltern ist es immer wieder, zu überlegen, ob die Person, die die Aufnahme des eigenen Kindes weitergegeben hat, angezeigt werden soll. Klarerweise macht sich diese Person ja strafbar. Jedoch ist abzuwägen, inwieweit auch das eigene Kind in eine rechtlich problematische Situation kommen kann. Denn streng genommen könnte sich auch das eigene Kind strafbar gemacht haben, wenn es die entsprechende Aufnahme freiwillig an eine/-n Freund/-in weitergegeben hat.
9. Fazit Eine Nacktaufnahme, die in der Schule die Runde macht, stört den Unterricht unter Umständen empfindlich. Daher ist es notwendig, dass die Schule entsprechende Reaktionen zeigt und nicht versucht, die „Sache auszusitzen“. Eine gute und kompetente Reaktion im Ernstfall ist die beste Prävention für kommende ähnliche Vorfälle!
Literatur Link: Aktiv gegen Nacktaufnahmen – Leitfaden: online unter: https://www.saferinternet.at/uploads/tx_ simaterials/Leitfaden_Aktiv_gegen_Nacktaufnahmen.pdf (letzter Zugriff: 15.08.2016). Presseunterlagen zur Studie „Sexting in der Lebenswelt von Jugendlichen“ (2015): online unter: https:// www.saferinternet.at/presse/presse-details/article/aktuelle-studie-versand-von-eigenen-nacktaufnahmen-unter-jugendlichen-nimmt-zu-491/ (letzter Zugriff: 15.08.2016). 147Rat auf Draht: Quiz für Jugendliche zum Thema „Sexting“, online unter: http://rataufdraht.orf. at/?story=20771 (letzter Zugriff: 15.08.2016). Saferinternet Flyer für Jugendliche, online unter: https://www.saferinternet.at/uploads/tx_simaterials/ Flyer_Sexting.pdf (letzter Zugriff: 15.08.2016). Saferinternet.at – Unterrichtsmaterial für Lehrende: Sex und Gewalt in digitalen Medien, online unter: https://www.saferinternet.at/uploads/tx_simaterials/Sex_und_Gewalt_in_digitalen_Medien.pdf (letzter Zugriff: 15.08.2016)
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Dieter Spanhel
Der Prozess der Medienbildung bei Kindern und Jugendlichen und seine Ausrichtung durch Medienerziehung Beitrag online im Schwerpunkt unter http://www.medienimpulse.at/articles/view/792
Abstract Dieter Spanhel untersucht in seinem Beitrag den Prozess der Medienbildung bei Kindern und Jugendlichen und betont dabei die Notwendigkeit, ihre Lebenswelten und Sozialisationen einer eingehenden medienpädagogischen Analyse zu unterziehen. Dabei diskutiert er die Medienentwicklungen und veränderten Formen des Mediengebrauchs in unserer Wissens- und Informationsgesellschaft und fragt danach, wie sie sich auf die Formen, Inhalte und Strukturen der Bildungsprozesse auswirken, unabhängig davon, ob es sich um Kontexte formaler, nonformaler oder informeller Bildung handelt. Mit allem Nachdruck betont Spanhel diesen medialen Aspekt der menschlichen Lern- und Bildungsprozesse, der gerade im Rahmen der Medienpädagogik ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden muss. The Process of Media Literacy in Children and Adolescents and its Orientation by Media Education. In his contribution, Dieter Spanhel examines the process of acquiring media literacy in children and adolescents. He emphasizes the necessity of a comprehensive media education analysis of their lived experience and socialization, discussing the development of the media and the ch