Adoleszenz___Migration___Bildung__Bildungsprozesse_Jugendlicher_und_junger_Erwachsener_mit_Migration

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Andreas Pott

Eltern (bzw. ihr Vater) erlauben nicht, dass sie abends spät ausgeht; sie darf „offiziell“ keinen Freund haben, zumindest dürfen ihre Eltern und Brüder nicht von ihm wissen; und sie darf nicht alleine außerhalb des elterlichen Hauses leben, solange sie noch nicht verheiratet ist. Mit anderen Worten: Özlem spricht über die Regeln und Gewohnheiten des familialen Zusammenlebens, zu denen auch die Erwartungen und Einstellungen ihrer Eltern gehören. Das „strenge“ Verhalten der Eltern erklärt sie sodann mit der Äußerung: „ich glaub, auch irgendwie durch Kultur“. Zögerlich („äh (1) ich glaub“, „ich weiß nicht“) und unspezifisch („auch irgendwie“) sagt sie damit, dass man die elterlichen Einstellungen und Erwartungen auch als kulturell bedingtes Verhalten beschreiben könnte. Ähnlich generalisierend und Gemeinplätze bedienend („wie halt ...“) charakterisiert sie am Ende dieser Passage die für sie geltende Einschränkung („nur abends darf ich nicht rausgehen“) mit dem Verweis auf die vermeintlich türkischen Traditionen und Sitten der Erziehung von Mädchen. Zweierlei ist an diesen Äußerungen erkennbar. Zum einen versucht Özlem dort, wo sie von Kultur spricht, deutlich zu machen, dass das Leben in der Familie auf geteilten Erfahrungen, Gemeinsamkeiten und Regeln als Voraussetzung für intimes und alltäglich-familiäres Verstehen und Verhalten beruht. Zum anderen wird sichtbar, dass Özlem die Rede von Kultur und kulturellen Unterschieden Schwierigkeiten bereitet und ihr nicht behagt: Zunächst zögert sie. Und mit dem Wechsel in die kulturelle Semantik wählt sie plötzlich überraschend undifferenzierte Beschreibungen, die ihren anderen Ausführungen fast zu widersprechen scheinen. Zum Beispiel teilt mir Özlem in ihrem letzten Redebeitrag – vor ihrer kulturellen Pauschalerklärung „wie halt türkische Mädchen erzogen sind“ – mit, dass sie gerade nicht glaubt, wie ein typisch türkisches Mädchen erzogen worden zu sein und zu leben.4 Entsprechende Schwierigkeiten werden auch an anderen Gesprächsstellen deutlich, wenn Özlem mir und meinen Forschungsfragen freundlich entgegenkommt und versucht, gängige Versatzstücke des öffentlichen und wissenschaftlichen Migrationsdiskurses zu reproduzieren. Ihre zaghaften Versuche der Darstellung ihrer Lebenssituation als das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen, zum Beispiel, widersprechen anderen Äußerungen von ihr oder sind so wenig überzeugend, dass ich verdutzt nachfrage. Auf solche Reaktionen hin gibt sie dann zu, dass sie diese Erklärung von ihrem Lehrer habe (Transkript, S. 13), oder erwidert: „Haben das die anderen (Schüler, die du interviewst) nicht gesagt, zwischen zwei Kulturen?“ (S. 26). 4

Deshalb findet sie sich mit der genannten Einschränkung durch ihre Eltern auch bereitwillig ab: Vergleicht sie sich mit anderen türkischen Mädchen, könnten ihre Eltern ihr Leben wesentlich stärker und unangenehmer beeinträchtigen; bis auf die Tatsache, dass sie abends nicht spät ausgehen darf, kann sie machen, was sie will.


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