Adoleszenz___Migration___Bildung__Bildungsprozesse_Jugendlicher_und_junger_Erwachsener_mit_Migration

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Vera King · Hans-Christoph Koller (Hrsg.) Adoleszenz – Migration – Bildung


Vera King Hans-Christoph Koller (Hrsg.)

Adoleszenz – Migration – Bildung Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund 2., erweiterte Auflage


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

1. Auflage 2006 2., erweiterte Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16471-7



Inhaltsverzeichnis

Adoleszenz als Möglichkeitsraum für Bildungsprozesse unter Migrationsbedingungen. Eine Einführung Vera King/Hans-Christoph Koller ................................................. 9 Ungleiche Karrieren. Bildungsaufstieg und Adoleszenzverläufe bei jungen Männern und Frauen aus Migrantenfamilien Vera King ..................................................................................... 27 Tochter und Studentin – Beobachtungen zum Bildungsaufstieg in der zweiten türkischen Migrantengeneration Andreas Pott ................................................................................. 47 Bildungsaufstieg als Migrationsprojekt. Fallstudie aus einem Forschungsprojekt zu Bildungskarrieren und adoleszenten Ablösungsprozessen bei männlichen Jugendlichen aus türkischen Migrantenfamilien Janina Zölch/Vera King/Hans-Christoph Koller/ Javier Carnicer/Elvin Subow ....................................................... 67 Adoleszenz zwischen sozialem Aufstieg und sozialem Ausschluss Anne Juhasz/Eva Mey .................................................................. 85


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Migration und Bildungsprozess. Zum ressourcenorientierten Umgang mit der Biographie Merle Hummrich ........................................................................ 103 Kreativer Umgang mit familialen Ressourcen bei adoleszenten Bildungsmigrantinnen Marga Günther ........................................................................... 121 Adoleszenz und Flucht – Wie jugendliche Flüchtlinge traumatisierende Erfahrungen bewältigen Hubertus Adam ........................................................................... 139 Adoleszente Generationenbeziehungen in Migrantenfamilien als Untersuchungsgegenstand. Theoretische Ansätze und methodische Perspektiven Wassilios Baros .......................................................................... 155 Spontane Bildungsprozesse im Kontext von Adoleszenz und Migration Arnd-Michael Nohl ..................................................................... 177 Doppelter Abschied. Zur Verschränkung adoleszenz- und migrationsspezifischer Bildungsprozesse am Beispiel von Lena Goreliks Roman „Meine weißen Nächte“ Hans-Christoph Koller ............................................................... 195 Zuweisung geschlechtlicher und ethnischer Zugehörigkeiten im Schulalltag Martina Weber ........................................................................... 213


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Über die Entfaltung von Ressourcen in der Ortslosigkeit: Jugendliche in transnationalen sozialen Räumen Ingrid Gogolin ............................................................................ 225 Adoleszenz und Migration. Zur Bedeutung von Zugehörigkeitsordnungen Paul Mecheril/Britta Hoffarth .................................................... 239 Integrationspolitik als Rahmen für den bildungspolitischen Umgang mit Heterogenität – das Beispiel Hamburg Ursula Neumann ........................................................................ 259 Die Autorinnen und Autoren .................................................. 279



Adoleszenz als Möglichkeitsraum für Bildungsprozesse unter Migrationsbedingungen. Eine Einführung Eine Einführung

Vera King/Hans-Christoph Koller

Für das Verständnis von Bildungsprozessen und Bildungsverläufen Heranwachsender, die entweder selbst oder deren Eltern migriert sind, kommt der Erforschung der Adoleszenz1 ein besonderer Stellenwert zu. Die Phase der Ablösung von der Welt der Kindheit und des Übergangs ins Erwachsenenleben stellt einen in vielen Hinsichten folgenreichen Lebensabschnitt dar: Zum einen werden in modernisierten Gesellschaften im Verlauf der Adoleszenz über Bildungskarrieren zahlreiche Weichen für berufliche Möglichkeiten und spätere soziale Platzierungen im Erwachsenenleben gestellt – und somit auch für die Transformation oder Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Kontext von Migration. Zum andern handelt es sich um eine Lebensphase, in der im Übergang von der Kindheit zu Positionen des Erwachsenseins Welt- und Selbstverhältnisse umgestaltet werden, das heißt biographische, insbesondere auch familiale Erfahrungen transformiert und Lebensentwürfe neu gebildet werden. Auch aus dieser Sicht erscheint es viel versprechend, Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Adoleszenten mit Migrationshintergrund zu untersuchen und zu eruieren, auf welche Weise und unter welchen Voraussetzungen solche Jugendlichen und jungen Erwachsenen sich im Verlauf der Adoleszenz sowohl im Verhältnis zur Familie und deren Migrationsgeschichte als auch in Bezug auf die außerfamiliale soziale Umgebung neu verorten können. Die Bedingungen und Verläufe von Bildungskarrieren und Bildungsprozessen bei Adoleszenten mit Migrationshintergrund sind in diesem Sinne – je für sich genommen und in ihrer Verbindung – Themen dieses Bands. Einige Facetten dieser Themen werden einführend skizziert.

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Mit dem Begriff ‚Adoleszenz’ bezeichnen wir im Folgenden die Lebensphase psychischer und sozialer Veränderungen vom Ende der Kindheit bis zum Erwachsensein. Wir verwenden den Begriff ‚Adoleszenz’ anstelle des Begriffs ‚Jugend’ u.a. deshalb, weil er vom Alltagsverständnis über Altersgruppen deutlicher abgegrenzt ist. Konstitutionslogisch lässt sich die gesellschaftliche Konstruktion von ‚Jugend’ oder ‚Adoleszenz’ als soziale Form der Gestaltung von Generationenverhältnissen fassen, mit der Übergänge und das Heranrücken an den Erwachsenenstatus auch in zeitlicher Hinsicht reguliert werden (King 2002).


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Adoleszente Entwicklung als Bildungsprozess Im Verlauf der Adoleszenz kann sich das Verhältnis zu sich selbst und zur Umwelt einschneidend verändern und potenziell Neues entstehen. Um Transformationen von sozialen Identitäten und Weltbezügen geht es aber auch im Kontext von Migration und Interkulturalität, sodass wir in der Veränderung von Weltund Selbstverhältnissen einen gemeinsamen Gegenstand von Adoleszenz- und Migrationsforschung erkennen können. Geht man von einem Verständnis von Bildung aus, das Bildung als grundlegende Transformation der Art und Weise begreift, in der Menschen sich zur Welt, zu anderen und zu sich verhalten (vgl. Koller 2005), so könnte man auch sagen: Adoleszenz- und Migrationsforschung konvergieren in der Untersuchung von Bildungsprozessen im Kontext von Migration, in denen vorhandene Welt- und Selbstdeutungen in Frage gestellt, neue Figuren der Bezugnahme entwickelt bzw. erprobt und auf diese Weise neue Identitäten bzw. neue Welt- und Selbstverhältnisse hervorgebracht werden können (vgl. Koller 2002b). Wie können wir uns solche Umgestaltungen und neuen Verknüpfungen vorstellen? In modernisierten Gesellschaften wird Adoleszenz als eine Phase der Modifizierung des Verhältnisses zu den Eltern, der psychischen Aneignung des geschlechtsreifen Körpers und der sexuellen Orientierung, der Ausgestaltung der Geschlechtsidentität und der Entwicklung von Lebensentwürfen verstanden. Die Wahrnehmungen der bisherigen selbstverständlichen Lebensbedingungen, der Familie und der ‚Portalfiguren der Kindheit’ – wie es der Schriftsteller Peter Weiss in seinem Roman ‚Abschied von den Eltern’ genannt hat – verändern sich. Perspektiven auf Andere und auf das eigene Selbst können sich durch neue Denk- und Erfahrungsweisen erweitern. Heranwachsende können sich in der Adoleszenz erstmals „reflexiv zu (ihrem) Bildungsprozess verhalten“ und die eigene biographische Entwicklung kritisch aneignen (Habermas 2005: 31). Adoleszente ringen in diesem Sinne gleichsam darum, Gestaltende oder Schöpfer ihrer eigenen Biographie zu werden, wobei sie eben ‚geschaffene Schöpfer’2 sind, das heißt, sich auch mit den Bedingungen ihres Gewordenseins, mit Ursprung, Herkunft und Geschichte auseinandersetzen müssen. Das außerfamilial ausgerichtete Explorationsverhalten nimmt dabei zu, Gleichaltrige spielen eine zunehmend wichtige Rolle, während Eltern-Kind-Beziehungen sich in Form und Praxis wandeln, jedoch weiter relevant sind und die Fähigkeiten zur eigenständigen biographischen Gestaltung entscheidend mit prägen. Nicht nur verändern sich insofern Erfahrungen in Familie, Schule und Peerbeziehungen; sie können darüber hinaus im Verlauf der Adoleszenz auf veränderte Weise zueinander ins 2

Vgl. M. Buchholz, zit. nach Walser 2000: 251


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Verhältnis gesetzt werden. Insofern es um Mögliches und um Potenziale geht und nicht um etwas Gewährleistetes, stellt Adoleszenz einen „Möglichkeitsraum“ (King 2004) dar. Adoleszenz (mit oder ohne Migrationshintergrund) lässt sich als Möglichkeitsraum fassen, aus dem Neues hervorgehen kann. Erdheim (1982) hat aus entwicklungstheoretischer Sicht von Adoleszenz als einer lebensgeschichtlich „zweiten Chance“ gesprochen, da die im Lauf der Kindheit verinnerlichten Erfahrungen, psychischen Strukturierungen und Beziehungsmuster während der Adoleszenz wieder in Bewegung geraten und sich gleichsam verflüssigen, sodass neue Lösungen und Entwürfe daraus erwachsen können. Ob und wie diese transformativen Potenziale der Adoleszenz im Sinne eines Bildungsprozesses genutzt werden können, hängt aber wesentlich von den sozialen Bedingungen ab, die diesen Möglichkeitsraum konstituieren.

Adoleszenz mit Migrationshintergrund als Transformationsprozess Aus dieser Perspektive erschließen sich die ‚Ermöglichungen’, also Ressourcen und Belastungen von Adoleszenz – und das heißt eben auch: von Adoleszenz mit Migrationshintergrund – wesentlich aus den familialen, institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen. Es geht im Blick auf Adoleszenz mit Migrationshintergrund dann gerade nicht, wie es mitunter aufgefasst wird, um die Identifizierung von nationalkulturellen Merkmalen, etwa polnischer oder türkischer, islamischer oder christlicher Migrantenjugendlicher. Die Aufmerksamkeit richtet sich vielmehr auf die Frage, wie die Chancenstruktur des adoleszenten Möglichkeitsraums für Bildungsprozesse im Einwanderungsland aufgrund der sozialen Bedingungen beschaffen ist. Dabei ist allerdings zu beachten, dass ‚Migration’ und auch ‚Adoleszenz mit Migrationshintergrund’ sehr Unterschiedliches beinhalten kann – je nachdem, wer wann mit welchem Motiv aus welchem Land in welche Einwanderungsgesellschaft gewandert ist, und je nachdem, ob die Kinder der ‚ersten’, ‚zweiten’ oder folgenden Generation angehören. Auch bestehen erkennbare Differenzen zwischen Nachkommen unterschiedlicher Migrantengruppen etwa in Bezug auf Bildungsbeteiligung. Die Verknüpfungen solcher Befunde mit nation- oder kulturspezifischen Besonderheiten als möglichen Ursachen haben sich allerdings nicht in einfacher Weise halten lassen: Die Zusammenhänge zwischen nationaler Herkunft und Bildungsverläufen stellen sich bei genauer Betrachtung komplexer und vermittelter dar. Wie sich beispielsweise in der Zusammenfassung der Ergebnisse des interdisziplinären Forschungsschwerpunkts ‚Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung’ zeigte, sind weder Unterschiede in der Bildungsbeteiligung noch Unterschiede in der psychischen Befindlichkeit in vereinfachender


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Weise „auf nationalkulturell unterschiedliche Orientierungen“ zurückzuführen: Demgegenüber sei „davon auszugehen, dass unterschiedliche Sozialisationsbedingungen in den Familien mehr Erklärungskraft für Differenzen in der Bildungsbeteiligung haben“ (Gogolin 2000: 21). Sozialisationsbedingungen in Familien sind wiederum geprägt von der sozialen Lage, der ökonomischen und beruflichen Situation, von der Art der Arbeit oder von Erfahrungen der Arbeitslosigkeit, oder auch, im Falle von Flüchtlingen, von den prekären Wanderungs- und Lebensbedingungen der Asylsuchenden. Soziale und gesellschaftliche Situation einschließlich der erfahrenen Anerkennung oder Missachtung, Diskriminierung oder Aufnahmebereitschaft seitens des Einwanderungslandes und der jeweiligen sozialen Felder, Lebensbedingungen und Wohnumgebungen sind maßgebliche Bedingungen des Aufwachsens von Adoleszenten aus Migrantenfamilien (Hamburger et al. 2005). Diese Bedingungen wirken zum einen direkt auf die Heranwachsenden. Sozialisatorische Effekte ergeben sich zum andern vermittelt über Generationenbeziehungen und Familiendynamiken, in denen sich die Verarbeitung der Erfahrungen der Migration verdichtet zum Ausdruck bringt: In den Gestaltungen der familialen Beziehungen, Kommmunikations- und Interaktionsformen kann sich beispielsweise, direkt oder indirekt, zeigen, welche Bedeutungen die Beteiligten der Migration und ihrer aktuellen Lebenssituation jeweils zumessen. Wie und mit welchen Motiven die Migration gestaltet werden konnte, wie die Erfahrungen in der Ankunftsgesellschaft, das Verhältnis der Erfahrungen von Anerkennung oder von Missachtung und Diskriminierung erlebt wurden, welche Erwartungen an die folgende Generation gerichtet werden, stellen implizite und explizite Themen in Migrantenfamilien dar. Diese wirken sich auf die Beziehungen und auf die Familiendynamiken aus – und zwar gerade auch in der Adoleszenz der Kinder, in der die Familienbeziehungen neu ausbalanciert und adoleszente Ablösungs- oder Umgestaltungsprozesse verarbeitet werden müssen. Adoleszente mit Migrationshintergrund (und ihre Familien) haben es in diesem Sinne – strukturell – mit einer „verdoppelten Transformationsanforderung“ (King/Schwab 2000) zu tun: In beiden Hinsichten – derjenigen der Adoleszenz und der Migration – geht es um Trennung und Umgestaltung, in diesem Sinne auch um eine verdoppelte Herausforderung, um eine mit der Migration selbst verbundene Transformation sowie um den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein. Dies gilt nicht nur für Heranwachsende, die selbst migrieren. Denn auch in der Adoleszenz der Kinder der zweiten Generation prägen die Folgen der Migration für die Familie und die Art der Verarbeitung durch die Eltern die Auseinandersetzung mit der adoleszenten Entwicklung der Kinder und mit den damit verknüpften potenziellen Veränderungen. Dies zeigte sich z.B. in Forschungen, in denen explizit Familiendynamiken in Migrantenfamilien


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mit adoleszent gewordenen Kindern erforscht wurden (Baros 2000). Die Bewältigung der Anforderungen wird durch familiale Ressourcen und soziale Netzwerke erleichtert (Nauck et al. 1997) und anderseits erschwert durch Erfahrungen von Diskriminierung und Benachteiligung. Zudem spielen die Gleichaltrigen (auch) bei der Verarbeitung von Differenzerfahrung in adoleszenten Umgestaltungsprozessen eine besondere Rolle. Dies zeigen Forschungen über intra- und interethnische Peergroups (Nohl 2005; Auernheimer 1990; Haug 2003; Reinders et al. 2006), in denen sich auch ausgesprochen kreative Verarbeitungsformen und Neubildungen finden. Zusammengefasst ergibt sich daraus die Schlussfolgerung, dass sich der Blick interkultureller Adoleszenzforschung zum einen auf die mit Migration und Adoleszenz verknüpften Transformationsanforderungen richten sollte – zum andern auf die Frage, welche Bedingungen für deren Bewältigung günstig oder ungünstig sind. Entsprechend sollte die Qualität der adoleszenten Möglichkeitsräume in den Mittelpunkt der Analysen gerückt und damit auch vermieden werden, adoleszente Entwicklungen mit Migrationshintergrund als ‚Problemfälle’ zu betrachten, oder umgekehrt, die Situation von Migrantenjugendlichen idealisierend zu beschönigen. Der Fokus der Aufmerksamkeit richtet sich aus dieser Perspektive nicht auf vermeintliche Defizite von Heranwachsenden, sondern auf die gesellschaftlichen Bedingungen und sozialen Ungleichheitsverhältnisse des Aufnahmelandes, die die Chancenstrukturen des adoleszenten Möglichkeitsraums prägen.

Adoleszenz und soziale Ungleichheiten Die gesellschaftliche Ausgestaltung von ‚Jugend’ als Lebensphase oder als so genannte Statuspassage unterlag und unterliegt im Zuge von Modernisierungsprozessen erheblichen historischen Veränderungen. Was Jugend oder Adoleszenz bedeutet, variiert jedoch nicht nur im historischen, sondern – was für die interkulturelle Adoleszenzforschung besonders bedeutsam ist – auch im internationalen Vergleich: Gesellschaften entwickeln je unterschiedliche Regulationsformen für Lebensphasen, für die Übergänge zwischen Lebensaltern und die damit verbundenen sozialen Positionen. Dies hängt wiederum mit kulturellen Traditionen, vor allem aber mit den ökonomischen, demographischen und sozialstrukturellen Bedingungen und mit Machtverteilungen zusammen, die die Generationenverhältnisse einer Gesellschaft prägen. Was Jugend oder Adoleszenz bedeutet, hat, soziologisch betrachtet, im Besonderen mit der gesellschaftlichen Regulation der Generationsabfolge und des Generationswechsels zu tun (King 2004): Jugend ist die Zeit des Übergangs zum Erwachsensein. Für Ju-


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gendliche oder Adoleszente ist konstitutiv, dass sie an die Erwachsenenpositionen heranrücken. In jeder Gesellschaft oder auch in gesellschaftlichen Teilbereichen gibt es daher soziale Regeln und Vorstellungen darüber, was Heranwachsende auf welche Weise erreicht haben müssen, etwa welche so genannten ‚Entwicklungsaufgaben’ sie bewältigt haben sollen, um als erwachsen gelten zu können3. Dabei unterliegt es sozialen Wandlungen, zu welchen Zeitpunkten und unter welchen Voraussetzungen Herangewachsene als Erwachsene anerkannt werden, wann diese, in Worten Karl Mannheims (1928), als ‚neue Kulturträger’ im Erwachsenenstatus eingesetzt werden, und d.h. auch: als Erwachsengewordene mit entsprechenden Rechten und Machtpositionen und mit möglicherweise im Verhältnis zur bisherigen Generation veränderten soziokulturellen Praktiken anerkannt werden. Die jeweilige gesellschaftliche Vorstellung von ‚Jugend’ ist daher immer auch Ausdruck von Machtverhältnissen zwischen den Generationen. Diese sind wiederum verknüpft mit den jeweiligen Geschlechter- und Klassenverhältnissen und variieren ebenfalls historisch und kulturell. Zum Beispiel bedeutete für eine junge Frau aus dem Bürgertum um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa Jugend die Vorbereitung auf die Ehe und Mutterschaft, proletarische Jugendliche waren in den Arbeitsprozess eingespannt und allenfalls bei jungen Männern aus dem Bürgertum finden sich für diese Zeit Bedingungen in Richtung der Vorstellung von Adoleszenz als einem Bildungsmoratorium, als einer Art Auszeit für Bildung und Persönlichkeitsentwicklung. Damit ist eine weitere Bedeutung von Adoleszenz angesprochen: Jugend oder Adoleszenz als Bildungsmoratorium, als Spielraum für Subjektbildung oder als ein Möglichkeitsraum für Individuation hat sich historisch in Industriegesellschaften als ein Privileg bestimmter Bevölkerungsgruppen entwickelt. In modernisierten Gesellschaften gibt es Varianten einer Jugendphase inzwischen für große Teile der Bevölkerung. Dies wurde (und wird teilweise) als Ausdruck dafür genommen, dass die soziale Herkunft eine geringere Rolle 3

Die gesellschaftlichen Konstruktionen von Jugend haben Folgen auch für die wissenschaftliche Thematisierung, wie das Beispiel der Verwendung von Havighursts Konzept der ‚Entwicklungsaufgaben’ zeigt. Denn ‚Jugend’ oder ‚Adoleszenz’ wird im Konzept der ‚Entwicklungsaufgaben’ regelmäßig und folgenreich aus einer implizit vereinseitigten Perspektive der jeweils generationell Anderen, also der jeweiligen ‚erwachsenen’ Generation thematisiert: Im Vordergrund steht dann „das von der Jugend zu Erwartende und zu Bewältigende, die so genannten Entwicklungsaufgaben und Integrationsleistungen – weniger und weniger systematisch die Frage, welche intergenerationellen Bedingungen denn jugendliche Entwicklungsprozesse ermöglichen, welche im erweiterten Sinne generativen Voraussetzungen oder Leistungen der Erwachsenenkultur Jugend oder adoleszente Individuationsprozesse ermöglichen.“ (King 2002: 12 f. sowie Kap. II.1.). Die genaue Untersuchung der Bedingungen und Formen intergenerationaler Ermöglichung (bzw. Hemmung oder Verhinderung) adoleszenter Entwicklung und Bildung hat für die Analyse der Situation von Adoleszenten mit Migrationshintergrund besondere Relevanz.


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spiele als in ständisch-traditionalen Gesellschaften, in denen die soziale Position durch Geburt festgelegt war. Gleichwohl sind soziale Ungleichheiten nach wie vor in hohem Maße wirksam. Das Privileg besteht nicht mehr allein darin, eine ‚Jugendphase’ überhaupt durchlaufen zu können. Soziale Ungleichheiten drücken sich zudem darin aus, wie diese Phase im Sinne eines Entwicklungsspielraums – wie Adoleszenz als ein Möglichkeitsraum beschaffen ist, zumal dieser Lebensabschnitt sich in vielen Hinsichten nicht im einfachen Sinne als ‚Moratorium’ darstellt, sondern im Zuge sich beschleunigender Modernisierungsprozesse bereits von hohen und zudem individualisiert und selbstregulativ zu bewältigenden Anforderungen durchzogen ist. Einen wichtigen Faktor stellen dabei auch die ungleich verteilten Chancen der erfolgreichen Partizipation im Bildungssystem dar.

Bildungsbeteiligung von Adoleszenten mit Migrationshintergrund Daten zur Bildungsbeteiligung, die hier nur zusammenfassend skizziert werden, lassen in Deutschland einerseits Verbesserungen der Bildungssituation bei Jugendlichen oder jungen Frauen und Männern mit Migrationshintergrund erkennen, anderseits fortdauernde Benachteiligung (vgl. Baumert et al. 2001; Geißler 2005; Mansel 2007; Diefenbach 2008a, 2008b; Konsortium Bildungsberichterstattung 2006; Statistisches Bundesamt 2008). In den vergangenen Jahren haben sich das durchschnittliche Niveau der Schulabschlüsse wie auch der Anteil der Studierenden an Hochschulen von Kindern aus Einwandererfamilien in Deutschland erhöht: Der Trend geht weg von der Hauptschule zur Real- und Gesamtschule, wobei sich der Abstand zu den gleichfalls verbesserten Schulabschlüssen der deutschen Schülerinnen und Schüler kaum verringert hat. Verschiedene Faktoren können als Ursachen für das Fortbestehen dieses Abstands angenommen werden – etwa die von Gomolla und Radtke (2002) so genannten Mechanismen „institutioneller Diskriminierung“ wie auch die strukturelle Benachteiligung, die mit der „nationalstaatlichen Verfasstheit des Bildungssystems“ (Gogolin 2000) einhergeht und in ihren verschiedenen Implikationen, in Bezug auf die Bedeutung von Sprache und schulischem Habitus, von Lehrplänen und Unterrichtspraktiken detailliert untersucht worden ist (Gogolin et al. 1998). Studien zum dualen System der Berufsausbildung, das bei Migrantenjugendlichen einen Schwerpunkt der Berufsausbildung darstellt, verweisen zudem auf Diskriminierung durch die Betriebe und auf entmutigende Berufsberatung (Attia et al. 2000; vgl. auch Granato 2007). Auffällig sind in Bezug auf Bildungskarrieren die besseren Abschlüsse der Mädchen, die gleichwohl wiederum in der Ausbildung weniger vertreten sind als die Jungen. Die Jungen sind insbe-


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sondere in den Sonderschulen überrepräsentiert und fallen gegenüber den Mädchen bei höheren Abschlüssen zurück (Bednarz-Braun/Heß-Meining 2004). Allein schon aus dieser Skizzierung von Verteilungen ergibt sich eine Reihe interessanter Fragen in Hinblick auf Adoleszenz mit Migrationshintergrund: Angesichts der verbesserten Bildungsabschlüsse wird das Thema Bildungsaufstieg im Verhältnis zur Elterngeneration in Zukunft eine wachsende Rolle spielen. Denn gerade auch bei der Rekonstruktion von Aufstiegsprozessen wird deutlich, dass „Adoleszenz im Migrationsprozess eine komplizierte Positionierung in zwei Richtungen darstellt, nämlich nicht nur in Richtung auf die Ankunftsgesellschaft, sondern auch in Bezug auf die Erfahrungen der eigenen Elterngeneration“ (Apitzsch 2003: 67). Welche Bedeutung haben Bildungsaufstiege in der Adoleszenz in Bezug auf die Herkunftsfamilie? Wie erklären sich die Leistungsunterschiede von männlichen und weiblichen Adoleszenten? In welchem Verhältnis stehen Autonomieentwicklung und Bildungserfolg?4 Welche Effekte haben institutionelle Zuschreibungen, beispielsweise im schulischen Kontext (vgl. Weber 2001), auf individuelle Aneignungsprozesse und subjektive Konstruktionen von Zugehörigkeiten (vgl. Mecheril 2003; Sauter 2000; Geisen/Riegel 2007) in Bildungsverläufen und Bildungsprozessen insbesondere in der Adoleszenz? Wie wirken sich institutionelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen in verschiedenen Ländern, etwa als Faktoren politischer Sozialisation (Schiffauer et al. 2002), und die weltweite Zunahme von Mobilität, Migration und ‚Transnationalität’ (Fürstenau 2004) auf Bildungsmöglichkeiten von Heranwachsenden aus? Offenkundig müssen für das Verständnis adoleszenter Prozesse die Folgen gesellschaftlicher Wandlungen und damit verbundene ‚neue und alte’ soziale Ungleichheiten – Geschlecht, sozialer und ökonomischer Status – in ihren Verknüpfungen analysiert werden.

Adoleszenz mit Migrationshintergrund in Jugend- und Migrationsforschung In vielen Hinsichten hat die Jugendforschung erst begonnen, diese verschiedenen Faktoren interkultureller Adoleszenz theoretisch differenziert zueinander ins Verhältnis zu setzen. Eine US-amerikanische Adoleszenzstudie, von Steinberg 1996 unter dem Titel Beyond the Classroom publiziert, differenzierte zum Beispiel ursprünglich nicht nach ‚Migrationshintergrund’, hat dann aber gezeigt, dass ‚race’/‚ethnicity’ ebenso nachhaltig Adoleszenz und das Alltagsleben amerikanischer Jugendlicher prägen wie ‚Klasse’ oder ‚Geschlecht’ (Zhou 1997: 4

Vgl. dazu Apitzsch 2003, Juhasz/Mey 2003, Hummrich 2002, Gültekin 2003, King 2005, Pott 2002, Gutiérrez Rodriguez 1999, Rohr 2001, Schröter 2002.


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76).) Dass im Rahmen der Jugendforschung gender, race and class lange Zeit eher additiv als systematisch verknüpft wurden5, lag – wie an dieser Stelle eingefügt sei – auch an den mit Jugendforschung häufig einhergehenden Theoriedefiziten. Jugend wird oft rein deskriptiv gefasst, indem etwa bestimmte Altersgruppen beschrieben werden, die auch im Alltagsbewusstsein als jugendlich gelten, oder es werden lediglich die Selbstdeutungen der Jugendlichen herangezogen, oder es werden vorwiegend normative Bezugspunkte gewählt – anstatt, wie erwähnt, Jugend konstitutionslogisch unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Regulation von Generationsverhältnissen zu analysieren und – bezogen auf die individuellen Entwicklungen – die Umgestaltungen und Ablösungsprozesse der Adoleszenz immer auch als Veränderungen von Generationenbeziehungen zu fassen – in diesem Sinne: als intersubjektives Geschehen. Dadurch könnte dann deutlicher werden, dass Jugend intergenerational konstituiert ist, dass die Bewältigung von adoleszenten Anforderungen oder Entwicklungsaufgaben im Rahmen eines intergenerational hergestellten Möglichkeitsraums abläuft, der wiederum in Geschlechter- und Klassenverhältnisse eingebettet ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Bedeutung von Modernisierungsprozessen genauer fassen. Herwartz-Emden (1997) hat darauf hingewiesen, dass die ab den 80er-Jahren vom Individualisierungs- und Pluralisierungsdiskurs geprägte deutsche Jugendforschung auf Migrantenjugendliche lange Zeit kaum Bezug genommen hatte – obgleich junge Männer und Frauen mit Migrationshintergrund Individualisierung und Pluralisierung nach Auffassung von Herwartz-Emden „im historischen Zeitraffer“ (dies. 1997: 209) durchlebten. So zeigte sich in der Shell-Jugendstudie 2000, in der erstmals so genannte ausländische Jugendliche systematisch einbezogen und zu ihren Lebenssituationen und Zukunftserwartungen befragt wurden, dass die Mehrheit der Untersuchten für sich selbst eine offene Jugendphase im Sinne eines Bildungsmoratoriums oder einer verlängerten Lebensphase Jugend beansprucht (vgl. Deutsche Shell 2000). Was aber bedeutet dies für interkulturelle Adoleszenzverläufe in modernisierten differenzierten Gesellschaften? Wie schwierig es sein kann, die Bedeutung von Modernisierungsprozessen in der Migration angemessen zu berücksichtigen, zeigte sich nicht nur in der Jugendforschung, sondern auch in der Migrationsforschung. In dieser herrschte in Bezug auf die Jugendphase von Kindern aus Migrantenfamilien lange Zeit die Annahme vor, dass die Unterschiede zwischen den Erfahrungen in der Herkunftskultur oder -familie einerseits und der modernisierten Ankunftsgesellschaft anderseits besondere Entwicklungskonflikte hervorriefen. Aus diesen verschiedenartigen Erfahrungen resultierten, wie ange5

Vgl. dazu kritisch Klinger 2003, Lutz 2001, Leiprecht/Lutz 2003.


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nommen wurde, regelmäßig psychische oder soziale Schwierigkeiten, die auch Bildungskarrieren erschweren könnten. Verschiedene Varianten von Migrations-Stress-Theorien stellten das Riskante und Überfordernde in den Vordergrund der Betrachtung und schlossen von daher auf nahezu unausweichlich erscheinende Beschädigungen der Identitätsbildung von Migrantenjugendlichen. Solche vereinfachenden Annahmen können inzwischen als widerlegt gelten (vgl. auch Geisen 2007). Zudem – und dies wird nun aus adoleszenztheoretischer Perspektive besonders deutlich – ist eine Differenzerfahrung zwischen Familie und Außerfamilialem für Jugend oder Adoleszenz in modernisierten Gesellschaften ohnehin konstitutiv. Vereinfacht formuliert hieße das: Differenzen und Widersprüche zwischen Familie und Außerfamilialem sind notwendige Quellen und Anstöße nicht nur für individuelle Neubildung in der Adoleszenz, sondern auch für kulturelle Veränderungen (Erdheim 1982). Differenzerfahrung zwischen Familie und Kultur kann durch Migration gesteigert werden – im Sinne der erläuterten „verdoppelten Transformationsanforderung“ – und in Abhängigkeit von sozialen Bedingungen und Ressourcen unterschiedlich bewältigt werden. In der Folge entstehen jedoch weder zwangsläufig noch ausschließlich Problemkonstellationen, sondern Mehrdeutigkeiten, produktive Vermischungen und Neubildungen sprachlicher, kultureller und normativer Praktiken – im individuellen Bildungsprozess, aber auch in Peergroups, in Familien und in anderen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen. Strukturelle Anforderungen von Adoleszenz mit Migrationshintergrund sind keinesfalls, wie es leicht geschieht, gleichzusetzen mit der Variationsbreite der ‚Lösungsmöglichkeiten’. Die Beiträge dieses Bandes verdeutlichen, wie unterschiedlich und auf welche Weise – in Abhängigkeit von gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen – adoleszente Entwicklungen mit Bildungsverläufen verschränkt und Anlass für Bildungsprozesse sein können.

Die Beiträge Eröffnet wird der Band durch eine Reihe von Beiträgen, in denen das Phänomen des Bildungsaufstiegs von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen aus Migrantenfamilien im Zentrum steht. Die Hartnäckigkeit sozialer Ungleichheiten, so führt Vera King in ihrem Beitrag aus, ist mit darin begründet, dass Kinder aus unteren oder stärker diskriminierten Milieus auch bei gleichen Leistungen und Zielen einen oftmals schwierigeren und ‚weiteren’ Weg mit sehr viel mehr gesellschaftlichen, sozialen, institutionellen, aber auch psychosozialen Hindernissen zu durchlaufen


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haben. Dies wird gerade bei Bildungsaufstiegsverläufen mit Migrationshintergrund besonders deutlich und müsste, so King, in einem meritokratisch orientierten Bildungssystem systematisch berücksichtigt werden, um jene Transformationsfähigkeiten unterstützen und fördern zu können, die für Heranwachsende aus ‚bildungsfernen’ oder gewanderten Familien in gesteigertem Maße notwendig werden. Am Beispiel zweier unterschiedlicher Konstellationen der Verschränkung von Bildungskarriere und Adoleszenzverlauf wird veranschaulicht, in welcher Weise die Bewältigung dieser Herausforderungen von äußeren und inneren Ressourcen abhängig ist, die es erlauben, Krisen und Konflikte erfolgreich zu verarbeiten. Auch Andreas Pott untersucht Bildungsaufstiegsprozesse in der zweiten Generation türkischer Migranten und fragt nach Erklärungen dafür. Dabei geht er davon aus, dass für die Bewältigung aufstiegstypischer Problemstellungen, die mit den besonderen Transformationsanforderungen der Adoleszenz einhergehen, Familie und Bildungssystem die entscheidenden Bezugspunkte darstellen. In einer Fallstudie zu einer 20-jährigen Medizinstudentin, die als jüngstes von sechs Kindern und als erstes Mitglied ihrer türkischen Herkunftsfamilie eine höhere Bildungskarriere durchläuft, zeigt sich, dass es der jungen Frau gelingt, den aufstiegsbedingt möglichen Bruch mit ihrer Familie dadurch zu vermeiden, dass sie ihre eigenen Aufstiegsziele nur unter ständiger Berücksichtigung der Wünsche, Ängste und Einstellungen ihrer Eltern verfolgt und bereit ist, auf soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten außerhalb von Familie und Schule/Universität weitgehend zu verzichten. Den erfolgreichen Bildungsaufstieg eines Sohnes aus einer türkischen Migrantenfamilie thematisiert der Beitrag von Janina Zölch, Vera King, HansChristoph Koller, Javier Carnicer und Elvin Subow, der eine Fallstudie aus einem laufenden Forschungsprojekt vorstellt. Im Mittelpunkt dieses Projekts stehen die Wechselwirkungen zwischen der Bildungskarriere der Söhne, migrationsspezifischen Erfahrungen, adoleszenten Ablösungsprozessen sowie der Qualität und Dynamik der Eltern-Kind-Beziehungen. Anhand von Interviews mit einem 25-jährigen Jurastudenten und seinen Eltern wird herausgearbeitet, wie der nicht erfolgreiche Verlauf des Migrationsprojekts der Eltern (die beide auf ein Studium verzichten mussten) zum Auftrag für den Sohn werden kann, gleichsam stellvertretend den Traum der Eltern zu verwirklichen, und wie die Erfüllung dieses Auftrags mit einer ambivalenten Haltung zu bzw. einer unvollständigen Ablösung von den Eltern einhergehen kann. Von einer ähnlichen Konstellation ist auch im Beitrag von Anne Juhasz und Eva Mey die Rede. Die beiden Autorinnen gehen davon aus, dass für Jugendliche aus Einwandererfamilien zwei gegenläufige Tendenzen typisch sind, nämlich zum einen die besonders erfolgreiche schulische bzw. berufliche Posi-


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tionierung und zum andern die Gefahr, überhaupt keinen formalen Schulabschluss zu erreichen. Vor diesem Hintergrund untersuchen sie den Adoleszenzverlauf zweier Jugendlicher, die sich an den beiden entgegengesetzten Enden der Bildungs- bzw. Berufshierarchie befinden, und fragen nach den Bedingungen solcher Positionierungen. Dabei zeigt sich, dass sozialer Aufstieg eine intentional verfolgte Fortsetzung des elterlichen Migrationsprojekts darstellen kann, die aber mit einem Verlust an sozialer Zugehörigkeit und dem Verzicht auf die Entwicklung und Erprobung eigener Lebensentwürfe einhergeht, während das Scheitern von Bildungskarrieren auf strukturelle, d.h. figurations- und kapitalbedingte Ungleichheitserfahrungen zurückzuführen sein kann, die eher passiv erleidend hingenommen werden und als ‚Verlaufskurvenpotential’ im Sinne Schützes wirksam werden. Um Bildungsaufstieg geht es auch im Beitrag von Merle Hummrich, die sich nicht nur von defizit- bzw. problemorientierten, sondern auch von chancenorientierten Ansätzen der Migrationsforschung abgrenzt, da beide dazu neigten, Migrantinnen und Migranten unter Stereotype zu subsumieren und individuelle biographische Verarbeitungsstrategien auszublenden. Stattdessen plädiert sie für eine fallrekonstruktive Biographieforschung, die es erlaube, zugleich die Selektivität institutioneller Bildungsprozesse und deren subjektive Bedeutsamkeit und Erfahrungsqualität in den Blick zu nehmen. Besondere Bedeutung kommt Hummrich zufolge der Untersuchung statistisch erwartungswidriger Bildungsverläufe zu, die hier am Beispiel der Biographie einer jungen Frau demonstriert wird, die als Tochter von italienischen Arbeitsmigranten bäuerlicher Herkunft mehrere Benachteiligungsfaktoren in sich vereint und dennoch bildungserfolgreich ist. Ihr Bildungserfolg erscheint dabei als Fortsetzung des familialen Aufstiegsprojekts, deren eigentliches Antriebsmoment das Spannungsverhältnis zwischen Bindung und Entfremdung im Verhältnis zur Herkunftsfamilie darstellt. Der zweite Teil versammelt Beiträge, in denen es um migrations- und adoleszenzspezifische Aspekte der Bildungs- und Entwicklungsverläufe unterschiedlicher Gruppen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund geht. Marga Günther beschäftigt sich mit Bildungsmigrantinnen aus Guinea und thematisiert ähnlich wie der zuletzt genannte Beitrag familiale Ressourcen, auf die junge Erwachsene im Prozess adoleszenter Identitätsbildung zurückgreifen können. Ihre Fallstudie folgt der These, wonach sich Adoleszenz unter Migrationsbedingungen durch eine doppelte Transformationsherausforderung auszeichnet, und vertritt die Auffassung, dass die Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung entscheidend vom „Zusammenspiel zwischen den äußeren Bedingungen der Aufnahmegesellschaft mit den inneren biographisch erworbenen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern“ abhängt. Der Vergleich der biographischen


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Interviews mit zwei jungen Frauen, die aus dem westafrikanischen Guinea nach Deutschland migriert sind, um hier zu studieren, verdeutlicht, wie unterschiedlich beide Frauen den durch die Trennung von der Herkunftsfamilie erweiterten adoleszenten Möglichkeitsraum nutzen und welche Bedeutung dabei dem Vorhandensein weiblicher Rollenvorbilder sowie der von den Eltern bereits früher gewährten Autonomie zukommt. In Abgrenzung von anderen in der Migrationsforschung verbreiteten Ansätzen entwirft der Beitrag von Wassilios Baros ein „subjektwissenschaftliches“ Modell zur Erklärung von intergenerationellen Konflikten in Migrantenfamilien, das versucht, die impliziten Regeln herauszuarbeiten, nach denen die Familienmitglieder ihre subjektive Wirklichkeit konstruieren. Am Beispiel griechischer Migranteneltern, die die Beziehung zu ihrem 16-jährigen Sohn durch eine kulturelle Distanz gefährdet sehen und hoffen, ihr Familienleben durch die Rückkehr ins Herkunftsland retten zu können, wird gezeigt, wie die subjektive und die objektive Logik des Handelns (nämlich das Streben nach materiellem Besitz als Validierung des Migrationsprojekts einerseits und der daraus resultierende Mangel an innerfamiliären Interaktionen anderseits) in Widerspruch zueinander treten können, ohne dass den Akteuren dies bewusst würde. Eine besondere Gruppe unter den Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund stellen jugendliche Flüchtlinge dar, die im Mittelpunkt des Beitrags von Hubertus Adam stehen. Mit Bezug auf klinische Erfahrungen diskutiert Adam Entwicklungsprobleme und psychische Störungen solcher Flüchtlingsjugendlicher, die nicht nur mit den allgemeinen Bedingungen eines Aufwachsens unter Migrationsbedingungen konfrontiert sind, sondern darüber hinaus auch oft traumatisierende Kriegserlebnisse hinter sich haben. Doch auch hier zeigt sich, dass für die Entstehung und Verarbeitung der mit solchen Erfahrungen verbundenen Gefühle wie Schuld und Scham, Wut oder Hass innerfamiliäre Konstellationen und intergenerationale Beziehungen eine entscheidende Rolle spielen. In den beiden folgenden Beiträgen wird ‚Bildung‘ nicht primär als institutionalisierter Prozess der Aneignung bzw. Vermittlung kulturellen Kapitals begriffen, sondern als grundlegende Transformation der Art und Weise, in der Menschen sich zur Welt und zu sich selbst verhalten. Arnd-Michael Nohl geht es vor allem um solche nachhaltigen und tief greifenden Veränderungen der Lebensorientierungen von Menschen, die durch spontanes Handeln ausgelöst wurden. Am Beispiel eines 17-jährigen Jugendlichen türkischer Herkunft, der sich vom Kleinkriminellen zum anerkannten Breakdancer wandelt, arbeitet er heraus, dass spontane Bildungsprozesse auf migrationspezifische Desintegrationserfahrungen zurückgehen können, die auf einer grundlegenden „Sphärendifferenz“ zwischen Gesellschaft und Herkunftsfamilie beruhen und zur In-


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fragestellung des selbstverständlich Gegebenen führen können. Als adoleszenzspezifisches Kennzeichen solcher spontanen Bildungsprozesse bei Jugendlichen stellt sich heraus, dass die Intensivierung des ursprünglich eher beiläufigen und ganz ohne (berufs-)biographische Orientierungen unternommenen spontanen Handelns mit dem Höhepunkt der Adoleszenzkrise zusammenfällt und im Kollektiv stattfindet. Auch Hans-Christoph Koller versteht Bildung als Prozess der Transformation individueller Welt- und Selbstbezüge. Sein Interesse gilt dabei adoleszenzund migrationsspezifischen Erfahrungen als je besonderen Herausforderungen für Bildungsprozesse in diesem Sinn. Am Beispiel der literarischen Darstellung von Erfahrungen einer bildungserfolgreichen jungen Migrantin aus Russland beschreibt er, wie solche Erfahrungen einander wechselseitig überlagern, wie sie verarbeitet werden und welche Bedingungen für das Gelingen oder Scheitern transformatorischer Bildungsprozesse ausschlaggebend sein können. Dabei zeigt sich u.a., dass neben dem kulturellen und sozialen Kapital der Eltern der Institution Schule eine wichtige Rolle im Blick auf die Chancenstruktur des adoleszenten „Möglichkeitsraums“ zukommt. Den letzten Teil des Bandes bildet eine Reihe von Beiträgen, in denen vor allem übergreifende diskursive sowie migrations- und bildungspolitische Rahmenbedingungen der Entwicklung und Bildung von Jugendlichen aus Migrantenfamilien im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Martina Weber erörtert den Einfluss von Zuweisungen geschlechtlicher und ethnischer Zugehörigkeiten in der Schule auf die Bildungschancen von Schülerinnen mit Migrationshintergrund. Anhand ausgewählter Beispiele aus Interviews mit Gymnasiallehrer(inne)n wird dabei gezeigt, wie auf der einen Seite die Dramatisierung ethnisch-kultureller und geschlechtlicher Zugehörigkeiten im dominanten Diskurs über ‚türkische Mädchen‘ unreflektiert schulische Beurteilungen vorstrukturieren und damit zur Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit beitragen kann, dass anderseits aber auch eine „Entdramatisierung von Differenz im Sinne eines Ruhenlassens von geschlechtlichen und ethnischen Unterscheidungen“ möglich ist, die Schülerinnen mit Migrationshintergrund als Individuen und ohne Mutmaßungen über herkunftskulturelle Zusammenhänge begegnet. Ingrid Gogolin zeigt am Beispiel einer in Deutschland geborenen 16jährigen Tochter portugiesischer Einwanderer, dass sich in Deutschland im Gegensatz zur offiziellen Illegitimität der Zuwanderersprachen (denen anders als z.B. dem Englischen und Französischen die Anerkennung durch Aufnahme in den Kanon der Schulfremdsprachen verwehrt wird) eine „Vervielfachung mehrsprachiger Lebenspraxis“ entwickelt hat, die u.a. in der wechselseitigen Ergänzung, Durchdringung und Überlagerung zweier (oder mehrerer) Sprachen im Alltag von Jugendlichen zum Ausdruck kommt. Die „gelebte Mehrsprachig-


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keit von Jugendlichen aus zugewanderten Familien“ und der Versuch, diese Ressource angesichts entsprechender Hindernisse in Deutschland durch weitere Ausbildung und/oder Berufstätigkeit im Herkunftsland der Eltern (im Beispiel also in Portugal) zu ‚kapitalisieren‘, werden dabei als Kennzeichen von „Transmigration“ gedeutet, d.h. eines neuartigen Migrationstypus, der sich u.a. durch Selbst- und Fremdverortung in „transnationalen Sozialräumen“ und die Ausbildung von „Sowohl-als-auch-Identitäten“ auszeichnet. Paul Mecheril und Britta Hoffarth plädieren dafür, Adoleszenz nicht identitäts-, sondern zugehörigkeitstheoretisch zu thematisieren und so das Verhältnis von Individuum und sozialem Kontext in den Mittelpunkt zu stellen. Ausgehend von der These, dass Erfahrungs- und Möglichkeitsräume der Adoleszenz durch soziale Ordnungen der Zugehörigkeit und deren Regeln strukturiert seien, konzentriert sich ihr Beitrag auf das im Kontext von Migration besonders bedeutsame Konzept „natio-ethno-kultureller“ Zugehörigkeit, die auf symbolischer Mitgliedschaft, habitueller Wirksamkeit und biographischer Verbundenheit beruhe. Im Gegensatz zur exklusiven Logik des dominanten Zugehörigkeitskonzepts sehen die Autoren die Erfahrungen Adoleszenter mit Migrationshintergrund als „natio-ethno-kulturell mehrwertig“ an und fordern dazu auf, das adoleszente Experimentieren mit Mehrfachzugehörigkeiten pädagogisch zu unterstützen. Ursula Neumann schließlich untersucht die Frage, wie bildungspolitisch mit der migrationsbedingten Heterogenität der Schülerinnen und Schüler umgegangen wird und welche Bedeutung dabei der allgemeineren Integrationspolitik zukommt. Ausgehend von der durch Untersuchungen wie PISA oder IGLU belegten Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund durch das deutsche Schulsystem werden die migrationspolitischen Rahmenbedingungen erörtert, die zu diesem Ergebnis beitragen und die vor allem durch das Fehlen einer umfassenden und koordinierten Integrationspolitik gekennzeichnet seien. Noch immer herrsche in Deutschland ein Verständnis von Integration vor, das die einzelnen Migranten und nicht etwa die Gesellschaft und ihre ausgrenzenden Strukturen als Adressaten entsprechender Maßnahmen begreife, während nur vereinzelt Ansätze für strukturelle Veränderungen wie die Kooperation zwischen Schulen und Migrantenorganisationen, die Einführung bilingualer Grundschulen oder angemessener interkultureller Curricula zu beobachten seien. Als eine gemeinsame Tendenz aller Beiträge lässt sich die Einschätzung festhalten, dass sowohl das Bildungssystem insgesamt als auch die pädagogisch Handelnden angesichts weltweiter Migration vor großen Herausforderungen stehen, die vielfach noch nicht in ihrer ganzen Tragweite erkannt worden sind. Jenen Teil dieser Herausforderungen näher zu beleuchten, der mit den Chancen


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und Risiken des Möglichkeitsraums „Adoleszenz“ zu tun hat, stellt das zentrale Anliegen des vorliegenden Bandes dar.

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Ungleiche Karrieren. Bildungsaufstieg und Adoleszenzverläufe bei jungen Männern und Frauen aus Migrantenfamilien Ungleiche Karrieren

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„Er hat mir z. B. erzählt, wie er ... angekommen ist ... und wie stark ihn das beeindruckt hat, (bewegt) wie stark ihn das beeindruckt hat , was für ein Reichtum da herrscht, wie krass das ist und wie er gemeint hat, ey, wir sind nichts, wir in Afrika sind nichts und wir werden es nie schaffen, wir werden es nie schaffen, ......Und das hat mein Vater mir auch so erzählt, in diesem Moment hat er genau gemerkt, als er diesen Reichtum gesehen hat, wir sind nichts, wir sind nichts und da wird nie was werden. ....Und, ehm, das war halt ein Grund warum er wollte / o.k., – mein Sohn soll hier integriert werden. Er soll hier hoch kommen, dass hatte dann auch was mit meinem Bildungsweg zu tun, so, der soll hier ganz klar nach oben kommen, so. Und ich werde alles dafür tun, dass er das hinkriegt sozusagen und werd ihm dann eben halt eben keine andere Sprache / er soll halt Deutscher werden so, ja. Und das zog sich halt eben, wie ich vorhin schon angedeutet habe, durch meine ganze Kindheit....das ist ein Auftrag, (lauter) der wurde mir so beschissen noch mal mitgegeben so, ja . – Und das ist’ n Druck, und dieser Druck ist immer da – (wird immer leiser) und jetzt da -, vor allem wenn man ihn sich bewusst macht und nicht verdrängt, so hm.“1 (Andreas, deutscher Jurastudent und Sohn eines marokkanischen Einwanderers, über seinen Vater)

Bildungsaufstieg2 stellt an Heranwachsende gesteigerte Transformationsanforderungen. Er kann – beispielsweise – damit verknüpft sein, im Verhältnis zu den

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Dieses Interview wurde wie die anderen Beispiele dieses Beitrags im Rahmen eines mit der Lehre verbundenen Forschungsprojekts über Bildungsaufstieg und Bildungsprozesse junger Männer und Frauen mit und ohne Migrationshintergrund am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Fakultät 4 der Universität Hamburg erhoben. In ca. 60 qualitativen Interviews wurden Familienbeziehungen und Bildungsbiographien erfragt. Die Interviews wurden von Studierenden sowie von den wissenschaftlichen Hilfskräften Z. Lee und J. Speidel durchgeführt. Vgl. zu diesem Interview ausführlicher King 2005a. Bildungsaufstieg wird hier gefasst als der statistisch weniger wahrscheinliche Fall des im Verhältnis zur Herkunftsfamilie weiterreichenden Bildungserfolgs. Dies berührt zwar zunächst die Ebene der Bildungskarrieren selbst und ist nicht zwangsläufig identisch mit der späteren sozialen Platzierung, da auch bei der Einmündung in den Beruf die soziale Herkunft (in Verbindung mit Geschlecht) erneut wirksam ist, aber zumindest wird die Wahrscheinlichkeit für eine spätere berufliche Tätigkeit mit höherem Einkommen und Prestige erhöht. Von besonderem Interesse sind jene Bildungsverläufe, die über die gesellschaftlich durchschnittliche Erhöhung des Bildungsniveaus hinaus (im Sinne des ‚Fahrstuhleffekts’) zu einem deutli-


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Erwartungen oder zu einem ‚Auftrag’ der Eltern einen eigenen Weg finden zu müssen. Wie es sich in den zitierten Passagen andeutet, kann ein solcher ‚Auftrag’ umso bedrängender erlebt werden, wenn er in der Elterngeneration aus Missachtungs- oder Ausgrenzungserfahrungen resultiert oder wenn Kinder durch ihren Aufstieg auch Leid und Mühen der Eltern zu kompensieren versuchen. In diesem Sinne kann für die ‚zweite Generation’ die Schwierigkeit entstehen, eigene Bildungsanstrengungen und Ambitionen von einer Anpassung an die Wünsche und Themen der Eltern abzugrenzen. Diese Konstellation ist ein Beispiel dafür, dass Differenzen oder auch Benachteiligung im Verhältnis zu Kindern aus so genannten ‚bildungsnahen’ Familien nicht nur Folgen unterschiedlicher Ressourcen an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital im engeren Sinne sind. Gesteigerte Transformationsanforderungen ergeben sich zudem daraus, dass der Sinn- und Praxishorizont der generationalen Tradierungen und eingeschliffenen Lebenspraktiken der Herkunftsfamilie und des Herkunftsmilieus, vertraute Deutungs- und Beziehungsmuster in einigen Hinsichten aufgegeben oder transzendiert werden müssen. Bildungsaufstieg beinhaltet, das Bildungsmilieu der Herkunftsfamilie in einigen Hinsichten zu verlassen und sich von damit verbundenen sozialen Beziehungen und soziokulturellen Praktiken stärker zu entfernen3. Entsprechend bedarf es – individuell und intergenerational – spezifischer psychosozialer Motivationen und Kompetenzen, zum Beispiel ausreichender Fähigkeiten, sich abzulösen, verinnerlichte Muster umzugestalten, (intergenerationale) Differenz anzuerkennen, aber auch Schuldgefühle, Neid und Rivalität zu verarbeiten. Gerade Aufstiegsprozesse sind auch innerfamilial mit intergenerationalen Ambivalenzen verknüpft, die sich unter ungünstigen Bedingungen hemmend auswirken können4. Die zur Bewältigung notwendigen Kompetenzen gehen zugleich oft über das hinaus, was innerfamilial selbstverständlich angeeignet werden kann. Ob und wie die mit Bildungsaufstieg einhergehenden gesteigerten Transformationsanforderungen bewältigt werden, hängt insofern zwar einerseits von den Ressourcen und Belastungen in den familialen Generationenbeziehungen ab, aber anderseits auch von den Möglichkeiten der biographischen Verarbeitung und der

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chen Überschreiten des sozialen Status und Bildungsniveaus der Herkunftsfamilie geführt haben. Bildungstheoretisch formuliert, kann dadurch eine ‚Krise des Welt- und Selbstverhältnisses’ (vgl. Koller 2002, 2005) initiiert werden, die Bildungsprozesse in Gang setzt; eine Krise kann jedoch auch vermieden und damit die Möglichkeit von Bildungsprozessen sistiert werden. Vgl. zum Bildungsaufstieg die Studien von Hummrich 2002, Pott 2002, Juhasz/May 2003 (sowie deren Beiträge in diesem Band) und von Gutiérrez Rodriguez 1999, Rohr 2001; zur Bildungsmigration Günther 2001. Vgl. Grundmann et al. (2004), die darauf verweisen, dass aus eben diesem Grund die Attraktivität schulischer Erfolge gering sein kann.


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Umgestaltung dieser Erfahrungen in unterschiedlichen außerfamilialen sozialen Feldern im Verlauf der Adoleszenz. Bildungskarrieren sind in diesem Sinne verwoben mit adoleszenten Entwicklungen und Verläufen, die in sich modernisierenden Gesellschaften auch in Bezug auf die spätere soziale Platzierung, in Bezug auf die Weitergabe oder Umwandlung des familialen ‚sozialen Erbes’ besondere Bedeutung bekommen.

Weitergabe und Veränderung des Erbes „In ausdifferenzierten Gesellschaften stellt sich die für jede Gesellschaft fundamentale Frage der Erbfolge, also des Umgangs mit den Eltern-Kind-Beziehungen, oder, genauer gesagt, die Frage der Sicherung des Fortbestands der Abstammungslinie und ihres Erbes im weitesten Sinne, sicherlich auf eine ganz besondere Weise. Erstens: Das zentrale Element des väterlichen Erbes besteht zweifellos darin, den Vater, also denjenigen, der in unseren Gesellschaften die Abstammungslinie verkörpert, fortleben zu lassen, also eine Art ‚Tendenz, ein Fortdauern zu sichern’, seine gesellschaftliche Position zu perpetuieren. In vielen Fällen muß man sich hierfür vom Vater unterscheiden, ihn übertreffen und in gewissem Sinne negieren. Dies geht nicht ohne Probleme vonstatten, und zwar einerseits für den Vater, der diese mörderische Übertroffenwerden durch seinen Nachkommen gleichzeitig wünscht und fürchtet, und andererseits für den Sohn…, der sich mit einer Mission beauftragt sieht, die ihn zu zereißen droht und die als eine Art Transgression erlebt werden kann. Zweitens: Die Weitergabe des Erbes ist heute in allen gesellschaftlichen Kategorien (wenn auch nicht in gleichem Maße) vom Urteil der Bildungsinstitutionen abhängig, das wie ein brutales und machtvolles Realitätsprinzip funktioniert, welches aufgrund der Intensivierung der Konkurrenz für viele Mißerfolge und Enttäuschungen verantwortlich ist.“ (Bourdieu 1997: 651)

In diesen Passagen grenzt Bourdieu – mit Blick auf Statusvererbung zwischen Vätern und Söhnen – die mehrfach vermittelten Mechanismen der sozialen Platzierung in ‚ausdifferenzierten Gesellschaften’ von jenen (ständisch-)traditionalen Regulationsformen ab, bei denen die soziale Position unmittelbar vererbt wird. Zugleich sind damit auch die ‚ausdifferenzierten’ modernisierten Formen der Reproduktion von sozialen Ungleichheiten angesprochen: Die Möglichkeiten der Karriere hängen zum einen vom ‚Urteil der Bildungsinstitutionen’ ab, wobei die Arten und Weisen, in denen Bildungsinstitutionen selegieren, zu neuen und alten Ungleichheiten beitragen, wie vielfach gezeigt wurde. Zum anderen – und dieser Aspekt scheint in der Bildungs- und Mobilitätsforschung weniger präzise ausgeleuchtet – verlagern sich bestimmte Momente der Reproduktion von Ungleichheiten stärker ‚nach innen’: Während in traditionalen Gesellschaften die soziale Position durch Geburt festgelegt war, wird im Zuge von Modernisierungsprozessen eine zunehmend individualisierte Auseinanderset-


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zung mit dem ‚Erbe des Vaters’ oder der Mutter5 notwendig, in der auch die psychischen und sozialen Spielräume der Abweichung, des möglichen Überschreitens oder des spezifisch Eigenen im Verhältnis zu den Lebensentwürfen der Eltern ausgelotet werden müssen. Bourdieu unterstreicht diese Anforderung durch affektstarke Beschreibungen – wenn er etwa von der Furcht des Vaters vor dem ‚mörderischen Übertroffenwerden’ und von der damit einhergehenden Zerrissenheit des Sohns spricht. Er verweist auch darauf, dass diese Auseinandersetzung im Fall des Bildungsaufstiegs, also für Nachkommen von Vätern (oder Müttern), die eine „beherrschte Position“ einnehmen – „und zwar entweder in ökonomischer und gesellschaftlicher Perspektive (Arbeiter, kleiner Angestellter), oder in symbolischer Perspektive (Angehöriger einer stigmatisierten Gruppe)“ (Bourdieu 1997: 655) – strukturell, d.h. durch die mit Aufstiegsprozessen verbundenen Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten, besonders großen Belastungen ausgesetzt ist6. Dadurch entstehen neue Ungleichheitsfaktoren, da hier eben, wie man sagen könnte, zunehmend auch das Ausmaß an psychosozialer Kompetenz ins Gewicht fällt: das Ausmaß jener psychischen und sozialen Kompetenzen und Verarbeitungsfähigkeiten, die gerade im Fall eines möglichen Aufstiegs die Ambivalenzen und Widersprüche bewältigen helfen oder eben nicht. Mit anderen Worten: Die Reproduktion von sozialer Ungleichheit ist mit darin begründet, dass Kinder aus niedrigeren oder stärker stigmatisierten Sozialschichten – auch bei gleichen Leistungen und bei gleichem Ziel – größeren psychosozialen Anforderungen ausgesetzt sind. Ähnliches gilt für viele Nachkommen aus Migrantenfamilien7, die – strukturell – um einen akademischen Beruf auszuüben, einen – auch im psychosozialen Sinne – ‚weiteren Weg’ mit sehr viel mehr gesellschaftlichen, sozialen, institutionellen, aber eben auch psychosozialen Hindernissen zu durchlaufen haben als etwa Kinder aus einheimischen Akademikerfamilien8. Dies müsste in einem meritokratisch orientierten Bildungssystem systematisch berücksichtigt werden: So 5

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Bourdieu befasste sich im zitierten Beitrag vor allem mit Vater-Sohn-Beziehungen und behielt sich die Untersuchung der „Varianten der Erbschaftsbeziehungen je nach Geschlecht“ (Bourdieu 1997: 651, Fn. 1) für spätere Arbeiten vor. Von dem Vater, der sich in einer ‚beherrschten Position’ befindet, gehe oftmals eine doppelte Botschaft aus: „Sei wie ich, mache es wie ich, und: Sei anders, geh’ fort.“ (ebd.) Und zwar in Abhängigkeit nicht nur vom ökonomischen Status oder kulturellen Kapital, sondern insbesondere auch in Abhängigkeit vom sozialen Prestige bzw. Ausmaß der Stigmatisierung der Herkunftsnationalität oder der sog. ‚Herkunftskultur’. Was nicht bedeutet, dass diese in jedem Fall erfolgreicher sind oder nicht auch absteigen könnten (vgl. Schmeiser 2003). Es bedeutet vielmehr, dass sich das Kind einer Akademikerfamilie im höheren Bildungssystem weniger fremd fühlt und im Fall des Schulerfolgs keinen so weit reichenden Milieuwechsel und damit verbundene Trennung und Distanzierung im Verhältnis zur Elterngeneration zu vollziehen hat wie etwa ein Sohn oder eine Tochter aus einer, zudem diskriminierten, türkischen Arbeiterfamilie.


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gälte es, nach Möglichkeiten zu suchen, jene Transformationsfähigkeiten zu unterstützen und zu fördern, die für Kinder aus bildungsfernen Familien in gesteigertem Maße notwendig werden. Dieser Zusammenhang ist jedoch kaum im Selbstverständnis der Bildungsinstitutionen verankert. An diesem Punkt verdeutlicht sich eine der großen Herausforderungen für die Bildungswissenschaften: nämlich jene Bildungsprozesse genau zu untersuchen – wie auch die Möglichkeiten der Unterstützung und Förderung, die das erfolgreiche Durchlaufen dieser im gesellschaftlichen Sinne ‚weiten’ und hindernisreichen Bildungsaufstiege ermöglichen.

Biographische Perspektiven auf soziale Ungleichheiten In den Sozial- und Erziehungswissenschaften herrschte ab den 80er und 90er Jahren angesichts sich beschleunigender Pluralisierung in modernisierten Gesellschaften eine Tendenz vor, sich von den Kategorien Schicht oder Klasse zu verabschieden und stattdessen individualisierten Bildungsprozessen und Biographieverläufen zuzuwenden. In jüngerer Zeit ist deutlicher geworden, dass es darum gehen muss, Prozesse der Individualisierung und Biographisierung mit Kategorien sozialer Herkunft bildungs- und sozialisationstheoretisch neu zu vermitteln. Denn einerseits sind Bindungen an soziale Milieus und kollektive Orientierungen brüchiger geworden und die Anforderungen in modernisierten Gesellschaften an individualisierte Lebensplanung, biographische Kompetenz und „Selbstzwang“ im Sinne von Elias gestiegen. Andererseits korrelieren die im Erwachsenenleben erreichte gesellschaftliche Position und der soziale Status eines Menschen nach wie vor in hohem Maße mit seiner Herkunft, wie auch die jüngeren Ergebnisse der Ungleichheitsforschung gerade für Deutschland zeigen. Dies bedeutet unter anderem auch, dass die verschiedenen Bildungsinstitutionen selbst keine ausreichenden Korrekturmöglichkeiten im Verhältnis zur sozialen Herkunft bieten. An dieser Stelle besteht noch immer erheblicher wissenschaftlicher Erkenntnisbedarf. Er rührt u.a. daher, dass, wie es Vester (2005) formulierte, wir zwar über eine Reihe von Erklärungsansätzen verfügen, dass gleichwohl gerade die „oft subtilen Mechanismen, nach denen im Bildungssystem die sozialen Ungleichheiten hergestellt und reproduziert werden, (…) weitgehend ungeklärt“ sind. Diese subtilen Mechanismen, über die sich soziale Ungleichheiten reproduzieren, seien der „blinde Fleck des öffentlichen Diskurses“ (S. 17). Fassen wir die bestehenden Erklärungsansätze und Befunde zusammen, so besteht in der Forschungslandschaft zwar weitgehend Konsens darüber, dass die beobachtbare Benachteiligung von Kindern aus eher bildungsfernen Familien zumindest zwei wesentliche Wurzeln hat: nämlich Schule und Familie. Schule


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und Herkunftsfamilie sind Schlüsselvariablen für die Art der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs der nachfolgenden Generationen, und sie wirken als soziale Filter, die zu Ausschluss und Abdrängung von Kindern aus bildungsfernen Familien führen. So haben in Bezug auf die Schule PISA- und andere Studien Mechanismen institutioneller Benachteiligung und Diskriminierung von Kindern aus bildungsfernen und aus eingewanderten Familien aufgezeigt und verschiedene Faktoren erforscht, die die ungünstigeren Bildungsverläufe von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bedingen (vgl. z.B. Baumert et al. 2001; Geißler 2005; Gogolin/Nauck 2000; Gogolin/Neumann/Reiter 1998; Gomolla/Radtke 2002; Neumann/Reuter 2004). In Bezug auf die Herkunftsfamilie wurden Annahmen darüber bestätigt, dass Bildungsressourcen intergenerational weitergegeben werden (z.B. Nauck 1997). Wie im Einzelnen „der Prozess der intergenerationalen Transmission von Bildungschancen über die Vermittlung von Kenntnissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Orientierungen und Einstellungen der Eltern an ihre Kinder (etwa die Leistungsbereitschaft) vonstatten geht“ (Becker/Lauterbach 2004a: 13), sei jedoch noch unklar und bedürfe weiterer Erforschung.

Klasse, Geschlecht und Ethnizität/Migrationsstatus in Bildungsverläufen der Adoleszenz Soziale Herkunft steht zudem in Wechselwirkung mit gender und race/ethnicity – wobei die einzelnen Faktoren nicht linear wirksam sind und auch bei den Bildungschancen differenziert betrachtet werden müssen: Bezogen auf Geschlecht ist festzuhalten, dass Mädchen – mit und ohne Migrationshintergrund – bei den Schulabschlüssen tendenziell besser abschneiden, jedoch den Vorsprung im Übergang zum Arbeitsmarkt und in den Berufskarrieren nicht umsetzen. Entsprechend ist zum einen zu klären, womit die schlechteren Schulleistungen von Jungen zusammenhängen und welche Sozialisationsbedingungen von Jungen mit dazu beitragen. Zum andern muss weiter geprüft werden, wie es zur Reproduktion der ungünstigeren beruflichen Platzierung von jungen Frauen kommt. In Verbindung mit Migrationshintergrund gibt es weitere Differenzierungen: Kinder aus Migrantenfamilien schneiden bei den Bildungsabschlüssen schlechter ab, sind jedoch, wie einige Studien für die USA zeigen, bei den Spitzenleistungen in manchen Bereichen sehr stark repräsentiert (vgl. Zhou 1997). Die Söhne aus Migrantenfamilien bildungsferner Schichten bilden wiederum die Spitze unter den Verlierern im deutschen Bildungssystem. Theorie- und Forschungsperspektiven einer systematisch biographie- und ungleichheitsorientierten Bildungswissenschaft sind daher auf die Analyse der Vermittlungen von


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Klasse, Geschlecht und Ethnizität/Migrationsstatus in Bildungsverläufen und Sozialisationsprozessen, in Karrieren und Bildungsprozessen auszurichten. Die Komplexität dieser Herausforderungen erhöht sich noch, wenn wir die Bedingungen für Veränderung von Ungleichheiten ins Auge fassen. Nicht allein die Frage ist von Interesse, wie Status und Bildung als kulturelles Kapital milieuspezifisch familial vererbt werden9. Vielmehr ist es in Hinblick auf eine angestrebte Überwindung sozialer Ungleichheit notwendig, jene Anforderungen zu erfassen, die bewältigt werden müssen, um im Verhältnis zur Herkunftsfamilie das soziale Erbe zu transformieren: Wie und wodurch, so lautet eine der wichtigen Fragen, wird der familiale Horizont des bis dahin Möglichen überschritten? Umgestaltung der Selbst- und Weltbezüge, Individuation im Verhältnis zur Herkunftsfamilie finden lebensgeschichtlich potenziell während der Adoleszenz statt. Zur Klärung der Frage, wodurch ermöglicht wird, einen nicht im einfachen Sinne herkunftsdeterminierten Weg einzuschlagen, ist insofern die Untersuchung der Verschränkungen von Adoleszenz- und Bildungsverläufen von besonderem Interesse. Welche Bedeutung hat die Lebensphase Adoleszenz für Entwicklungs- und Bildungsprozesse in modernisierten Gesellschaften? In der Adoleszenz lösen sich Jugendliche im günstigen Fall von den kindlichen Bindungen zu den Eltern ab und nähern sich an die psychischen und sozialen Positionen des erwachsenen Lebens an. Sofern biographische Zeit des „Sozialaus-dem-Spiel-Seins“ (Bourdieu 1980) zur Verfügung steht, eröffnen sich in dieser Lebensphase Spielräume für psychosoziale Wandlungsprozesse: Adoleszente können sich dann aufgrund veränderter körperlicher, psychischer, kognitiver und sozialer Voraussetzungen mit der Welt der Kindheit, mit ihrer Familie, mit den bisherigen selbstverständlichen Lebensbedingungen auf eine andere Weise als bisher auseinandersetzen. Bisher Gelebtes kann auf andere Weise gesehen werden. Heranwachsende können sich in der Adoleszenz auf neue Weise reflexiv zu ihrer Geschichte ins Verhältnis setzen und diese, potenziell, kritisch aneignen. Die eigene Bildungsgeschichte und die familialen Erfahrungen zu bearbeiten, ist damit verbunden, neue Perspektiven auf bisher Selbstverständliches zu entwickeln. Zudem werden in der Adoleszenz die Erfahrungen in Familie, Schule und Peer-Beziehungen potenziell neu verknüpft und dadurch transformiert. Ob und wie diese transformativen Potenziale der Adoleszenz genutzt werden können, hängt wiederum von der Chancenstruktur des adoleszenten Möglichkeitsraums ab (King 2002), die geprägt ist durch die Qualität der Generationenbeziehungen und das soziale Milieu des Aufwachsens. Soziale Ungleichheiten vermitteln sich insofern gerade auch über die Gestaltungschancen oder –hindernisse der Adoleszenz. Während klassen- und geschlechtertypi9

Vgl. dazu insbes. die theoretisch und methodisch innovativen, mehrgenerational angelegten Untersuchungen von Brake/Büchner 2003 u.a.


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sche Privilegien im Übergang von ständisch-traditionalen zu modernen Gesellschaften noch darin Ausdruck fanden, ob und für welche Gruppen Jugend als Bildungs- und Experimentierphase überhaupt zur Verfügung stand, verändern sich die ungleichheitreproduzierenden Momente in modernisierten Gesellschaften: Ungleiche Anforderungen, Chancen und Risiken erscheinen einerseits zunehmend in individualisierter biographisierter Form, sind anderseits aber auf vielfältige Weise mit Klasse, Geschlecht und Ethnizität/Migrationsstatus vermittelt, die in unterschiedlichen Konfigurationen die Chancenstruktur des adoleszenten Möglichkeitsraums prägen. Auf welche Weise und mit welchen Effekten Ungleichheitsfaktoren ineinander greifen können, zeigt sich an den Bedingungen der Adoleszenz in Migrantenfamilien, in denen durch die Migration eine Statusverbesserung für die nachfolgende Generation zu erreichen versucht wird.

Generationenverhältnisse und das Ringen um Statusverbesserung in Migrantenfamilien In Migrantenfamilien kann der Bildungserfolg eine große Rolle spielen, wenn die mit der Migration angestrebte Statusverbesserung durch Bildungsaufstieg in der folgenden Generation erreicht oder bestätigt werden soll. In der erwähnten Studie über Bildungsaufstieg mit und ohne Migrationshintergrund10 wurden entsprechende Vorstellungen mitunter direkt an die Kinder herangetragen. Doch selbst wenn die Eltern (Bildungs-) Aufstiegserwartungen nicht aussprechen oder auch gar nicht hegen, kann diese Haltung, für die Eltern erfolgreich sein zu müssen, bei den Kindern durch die Schicksale der Eltern selbst hervorgerufen werden. Dies kann sich umso bedrängender gestalten, je leidvoller sich das Leben der Eltern aus der Sicht der Kinder darstellt, wie es im eingangs zitierten Interview zum Ausdruck gebracht wurde, bei der der Sohn das Erleben seines Vaters schildert, ‚nichts’ und ‚nie’ etwas zu gelten im Verhältnis zur Einwanderungsgesellschaft. Der Umstand, dass die Eltern selbst Diskriminierung, Entwertung oder Deklassierung erfahren haben, kann zu Revolte, Auflehnung und Verweigerung führen11 – er kann aber auch als Auftrag, sozial aufzusteigen, aufgefasst werden. Das Erfüllen eines elterlichen Auftrags konfligiert allerdings 10 11

Vgl. Fn 1. Und damit mit ein Motiv bilden für die ‚aggressive Cliquenbildung’ gerade männlicher Jugendlicher, die in der PISA-Studie (Baumert et al. 2001) als eine der möglichen Erklärungen für die schlechteren Schulerfolge der Jungen vermutet wurde. In der US-amerikanischen Forschung sprach z.B. Gans (1992) von der ‚second-generation-revolt’ jener Kinder, deren Eltern trotz harter Arbeit und großer Anstrengungen immer in diskriminierten oder ‚beherrschten Positionen’ im Sinne Bourdieus geblieben sind und die auch für sich selbst keine Aufstiegsperspektive sehen oder haben.


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mit adoleszenter Ablösung oder Individuation: Die Entwicklungsspielräume der adoleszenten Söhne und Töchter können, auch auf geschlechtstypische Weise, eingeschränkt werden durch starken psychischen Druck, den Status zu verbessern. Solche Konstellationen gehen unter ungünstigen Bedingungen mit verschiedenen Varianten der Selbstentfremdung einher; im günstigen Fall – und auch hier geht es um biographische Transformation und Verarbeitungsmöglichkeiten in außerfamilialen Räumen – werden im Verlauf der Adoleszenz die Themen und Aspirationen der Eltern von jenen der Kinder schrittweise getrennt. Betrachten wir die Ambitionen der Adoleszenten selbst, so könnten, soziologisch betrachtet, für Kinder aus bildungsfernen Familien, aus Migrantenfamilien oder (mit Blick auf die tendenziell ungünstigere berufliche Platzierung von Frauen) für Töchter in vielen Hinsichten genuin starke Motive für Bildungserfolg bestehen. Schulische Erfolge könnten in einer, in ihrem Selbstverständnis meritokratisch, also auf Leistung im Bildungssystem basierenden Gesellschaft dazu führen, die in der Herkunftsfamilie aufgrund von Klasse, Migration oder Geschlecht wahrgenommenen Einschränkungen zu überwinden. Dies gilt jedoch unter anderem nur in dem Maße, wie diese Ziele als erreichbar angenommen werden. Dem steht, in gesellschaftlichen Verhältnissen begründet, bereits entgegen, dass Kinder aus bildungsfernen oder gewanderten Familien zum einen auf dem Weg zum erfolgreichen Abschluss im Bildungssystem mehr Hindernisse zu überwinden haben, die Wahrscheinlichkeit also geringer ist, dieses Ziel zu erreichen (vgl. dazu zusammenfassend Diefenbach 2004). Dem steht darüber hinaus entgegen, dass Töchter und Söhne aus bildungsfernen oder gewanderten Familien auch im Falle des Bildungserfolgs selten in die Positionen der ‚Etablierten’ gelangen, sondern im Sinne von Elias und Scotson (1965/2000) offen oder subtil ‚Außenseiter’ bleiben: Bildungsaufstieg aus marginalisierten Positionen, davon kann ausgegangen werden, ist regelmäßig mit anhaltenden – und im Fall großer Mühen und Integrationsanstrengung umso schmerzlicheren – Exklusionserfahrungen verbunden. Dies gilt in besonderem Maße für Töchter und Söhne aus Migrantenfamilien, da sie, variierend nach Herkunftsland, Diskriminierung in besonderem Maße ausgesetzt sind. Für Kinder aus Migrantenfamilien besteht daher ein verstärkter Druck: Im Verhältnis zur Herkunftsfamilie sind sie häufig familialen Erwartungen und Ansprüchen ausgesetzt, bildungserfolgreich zu sein, damit den Erfolg des familialen Migrationsprojekts zu bestätigen und den Status der Familie zu verbessern. Auf der anderen Seite sind sie in verschiedenen sozialen Räumen innerhalb und außerhalb des Bildungssystems Missachtungs- und Ausschlusserfahrungen ausgesetzt, die auch durch Bildungserfolge nicht umfassend kompensiert werden. Die Suche nach dem eigenen Weg steht in der Adoleszenz deshalb oftmals unter besonderen Vorzeichen: Nicht nur stellen erstens die Individuation


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im Verhältnis zur Familie, zweitens der Bildungserfolg und drittens das Ringen um soziale Anerkennung bereits je für sich genommen häufig schwierige Anforderungen dar. Hinzu kommt, dass Individuation, Bildungserfolg und Anerkennung keineswegs zwangsläufig konvergieren. Sie können vielmehr in Widerspruch zueinander stehen, wenn Bildungsanstrengungen oder -erfolg vor allem als Anpassung an elterliche Wünsche erlebt und realisiert werden (was dann beispielsweise auch zu späterer Verweigerung führen kann) – oder wenn trotz Bildungserfolg soziale Anerkennung ausbleibt und Bildungserfolg lediglich zu neuen Varianten der Exklusion führt. Wie mit diesen Spannungen umgegangen wird und welche Lösungen aus diesen Dilemmata möglich sind, hängt auch mit den Geschlechterverhältnissen zusammen. Im Folgenden werde ich in Bezug auf adoleszente Entwicklungen und Bildungsverläufe zwei Konstellationen von Adoleszenz- und Bildungsverläufen mit Migrationshintergrund erläutern12.

Verschränkungen von adoleszenten Entwicklungen und Bildungsverläufen 1. Konstellation: Übernahme der elterlichen Bildungsaspiration und Bildungserfolg bei beibehaltener Nähe zu den ‚Gescheiterten’ und ‚Außenseitern’ Sennett und Cobb haben bereits 1972 in einer Studie mit dem bezeichnenden Titel The Hidden Injuries of Class ausgeführt, dass Bildungs- und Aufstiegsaspirationen in Familien unterer Schichten widersprüchliche Konstellationen zur Folge haben können. Widersprüche können demzufolge dadurch entstehen, dass der Versuch, ihren Kindern einen Aufstieg über Bildung zu ermöglichen, den Eltern zugleich Einschränkungen abverlangt, was wiederum von den Kindern selbst sehr ambivalent erlebt werden kann: als Verlust an Nähe zu den Eltern, die immer viel arbeiten mussten – aber auch als Opfer der Eltern, das bei den Kindern oft Schuldgefühle hervorruft. Durch solche Konstellationen wird es den Adoleszenten erschwert, einen eigenen Weg zu finden. Wie sich in der erwähnten Studie über Bildungsaufstiegsprozesse zeigte, können sich in der Folge Anpassung und Auflehnung gegenüber den elterlichen Erwartungen abwechseln: Unter Umständen verbleiben die Adoleszenten in einer psychischen Position, bei der sie hin- und herschwanken zwischen den Positionen des Erfolgs und des Scheiterns13. Diese Dynamik findet sich bei BildungsaufsteigerInnen mit und ohne Migrationshintergrund. Sie kann durch Erfahrungen der Diskriminierung 12 13

Weitere Konstellationen sind in King 2005a,b; 2006 ausgeführt. Vgl. auch Streeck 1981.


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verstärkt werden, der Kinder aus Migrantenfamilien oft in besonderer Weise ausgesetzt sind: wie erwähnt beispielsweise dadurch, trotz erfolgreicher Bildungskarrieren doch niemals vorbehaltlos in ‚etablierten Positionen’ als zugehörig aufgenommen zu werden14. Bildungserfolg und die biographischen Risiken des ‚Scheiterns’ liegen hier oft näher zusammen als es die rein statistische, formale Betrachtung vermuten ließe, wie am folgenden Beispiel deutlich wird. Bülent ist ein 25jähriger Student der Zahnmedizin. Sein Vater ist Arbeiter, die Mutter Hausfrau, beide waren vor seiner Geburt aus der Türkei nach Deutschland migriert. Über weite Passagen des Interviews standen zwei Themen im Vordergrund: zum einen der Leistungsdruck, der von den Eltern ausgeübt wurde; zum anderen die Erfahrungen der Diskriminierung, die er als Kind einer türkischstämmigen Familie erlebte. Als Schüler wurde er, wie er erzählt, zunächst auffällig, weil er gemeinsam mit dem Bruder Unterschriften des Vaters unter Klassenarbeiten gefälscht hatte. Für die Eltern sei eine Note schlechter als ‚gut’ bereits Anlass zur Warnung gewesen, dass ihm ein Leben am unteren Rand der Gesellschaft drohe. Was die Diskriminierungserfahrungen angeht, so schildert Bülent in langen Passagen von ihm als äußerst quälend empfundene Entwertungen insbesondere von Mitschülerinnen. Einmal ging er voller Zorn auf eine Schülerin los, die ihn hänselte15, und konnte gerade noch vom Bruder zurückgehalten werden. Seine Schulkarriere ist von zahlreichen Brüchen, Störungen und Verstörungen geprägt. Als 13jähriger wurde er auf der Straße ohnmächtig und, wie er sagt, von der ‚Müllabfuhr aufgelesen’. Am Ende eines langen und zugleich atemlosen Interviews bricht sich ein weiteres Thema Bahn, das Bülent mit gesteigerter Bedrängnis schildert. Er beschreibt die Opfer, die seine Eltern gebracht haben, dass diese nur für die Kinder gelebt hätten und welch schlechtes Gewissen er habe, wenn er seinen eigenen Wünschen zu folgen versuche. Er erzählt, dass er erst vor nicht allzu langer Zeit realisiert habe, dass seine Mutter sehr gerne Schokolade esse – denn sie habe nie Schokolade gegessen, um das Geld für die Kinder aufzusparen. Zusammengefasst sind die drei dominierenden Themen des Interviews der leidvoll erlebte Erwartungsdruck der Eltern, die als sehr quälend erlebten Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen und schließlich die für ihn schwer erträgliche, Schuldgefühle erzeugende Leidensbereitschaft der Eltern, die den Kindern alles gegeben haben und die Lebensgenuss und Gesundheit – so 14 15

Vgl. die Studie von Juhasz/Mey 2003. Auch mit Bülents Eltern wurde ein Interview durchgeführt. Die Eltern schildern, dass ein Lehrer Bülent häufiger als ‚türkischen Pascha’ bezeichnete. Vgl. zur ‚Ethnisierung im Schulalltag’, bei der Geschlechterstereotypisierungen eine große Rolle spielen, Weber 2003. Bei diesem Beispiel zeigt sich, in welcher Weise der ohnehin massive Druck, unter dem der Junge stand, durch solche Zuschreibungen verschärft und das Erleben der Ohnmacht vervielfältigt werden kann.


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sein Erleben – für die Ermöglichung des (Bildungs-)Aufstiegs der Kinder geopfert haben. Anhand seiner Schilderungen wird deutlich, dass es ihm trotz seiner Auflehnung gegen den Erwartungsdruck der Eltern schwer fällt, sich davon zu lösen: das große Opfer der Eltern wird als eine in starkem Maße bindende Bürde erlebt. Auflehnung und Anpassung wechseln sich daher ab, sodass Bülent sich sowohl mit den ‚Erfolgreichen’ als auch mit den ‚Gescheiterten’ identifiziert. Ausführlich beschreibt Bülent beispielsweise Beziehungen zu Freunden, die sich in sozial randständigen Positionen befinden und denen er sich nahe fühlt, wobei er zugleich die Differenz betont. Im Verhältnis zu den von ihm so genannten ‚Gebildeten’ empfindet er ebenfalls große Unterschiede. Zur Illustration folgende Passsage: B.: „Du hast deine fünf Freunde, die sind gebildet, die gucken, die gehn/die gehen nich in die Blockbuster-Kinofilme … die gehen in diese Reihenkinos, die gucken Arte! (.) Ganz ehrlich! (.) Unter denen komm ich mir immer vor wie der allergrößte Asi so. Und wenn ich dann aber absolut betrachtet, bin ich aber auch noch der gebildetere Typ weißt du so? Das ist immer so diese diese Wahrnehmungswelten, die sind total verschoben, das is alles gar nich existent, es ist absolut alles ehm (.) [relativ] relativ, es is absolut relativ. So und es ist echt erschreckend so wenn man das so sieht so ne. (..)“

Fügen wir die verschiedenen Perspektiven zusammen, so liegen Bülents Bewältigungsversuche nach einem bereits sehr krisenhaften Schulverlauf darin, dass er den drängenden Wunsch der Eltern nach einem Aufstieg des Sohns zu den ‚Gebildeten’ zu erfüllen sucht, ohne sich darin – aus ‚äußeren’ wie ‚inneren’ Gründen – widerspruchsfrei wiederfinden zu können. Er konnte sich offenbar bislang von der Last des Opfers der Eltern nicht hinreichend befreien, auch wenn er es inzwischen benennen kann, und muss sich immer wieder dagegen auflehnen. Wenn er sich als ‚Asi’ sieht, kann sich darin zum einen die Erfahrung artikulieren, auch als Erfolgreicher wenig Anerkennung zu erfahren. Die Schärfe der Formulierung könnte zum andern als Hinweis dafür verstanden werden, dass Bülent gegen den Aufstiegswunsch der Eltern rebelliert und zugleich darunter leidet. Er äußert in dieser Passage, dass er über kein für sich geklärtes Selbstbild verfügt: Auf erschreckende Weise erscheint ‚absolut alles’ ‚absolut relativ’. Diese Verwirrung muss sich wiederum zwangsläufig verschärfen durch Erfahrungen entwertender Zuschreibungen, mit denen er als Junge und junger Mann aus türkischer Familie immer schon konfrontiert war, und durch das damit verbundene Erleben, im Verhältnis zu den im jeweiligen sozialen Feld ‚Etablierten’ doch immer ein Anderer zu bleiben. Hintergrund solch konflikthaften Erlebens sind – wie hier klar und deutlich werden sollte – in diesem Sinne nicht etwa ‚ethnische’ oder ‚Kultur’-Konflikte und auch nicht ‚Konflikte zwischen Tradition und Moderne’: Es handelt sich vielmehr um aufstiegstypische Konstellationen, deren ohnehin schwierige Bewältigung durch Ausgrenzungs-, Diskriminie-


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rungs- und Missachtungserfahrungen sowohl der Eltern als auch des Sohns – und zwar des Sohns als männliches Kind einer aus der Türkei stammenden Arbeiterfamilie – massiv erschwert werden.

2. Konstellation: Bildungsaufstieg ist eingebettet in eine Suche nach dem eigenen Weg, beides erfolgt im Rahmen eines adoleszenten Individuations- und Bildungsprozesses. Bildungsaufstieg und adoleszente Individuation können auch konvergieren und sich wechselseitig ergänzen. Erfahrungen im Bildungssystem können im adoleszenten Kampf um innere und äußere Freiräume hilfreich sein, während umgekehrt die Neupositionierung der Adoleszenten im Verhältnis zur Herkunftsfamilie Motivation und Interesse im schulischen Bereich verstärken kann. Dass und wie Bildungserfolg und Individuation konvergieren, ist dabei oft auch schon Resultat von krisenhaften Entwicklungs- und Bildungsprozessen – da Kinder aus bildungsfernen und/oder Migrantenfamilien es eben strukturell mit gesteigerten Transformationsanforderungen zu tun haben. In dem Maße, wie diese gesteigerten Anforderungen bewältigt werden, erweitern sich jedoch auch die Kompetenzen und biographischen Ressourcen, wie das folgende Beispiel zeigt. Selcin ist 23, Krankenschwester, steht im 2. Bildungsweg kurz vor dem Abitur und beabsichtigt, Medizin zu studieren. Sie ist in Deutschland geboren, die Eltern stammen aus der Türkei. Selcin verwendet in etlichen Passagen des Interviews eine adoleszent anmutende, lässige Sprechweise, zugleich schildert sie in vielen Hinsichten das Verhältnis zu ihrer Herkunftsfamilie auffällig differenziert. Während sie in einigen Bereichen Verständnis und Einfühlung betont, grenzt sie sich in anderen ab von ihrem Herkunftsmilieu. Dieser Differenzierung gingen – anders als bei Bülent auch im Verhältnis zu den Eltern – heftige und zudem weiterführende Auseinandersetzungen in der Adoleszenzkrise voraus. Ihre „Pubertät“ habe sie, wie sie sagt, „ziemlich mitgerissen“: S: … Ich wollte auch eine Zeit lang zu Hause weglaufen und (...) es war grausam (...) ich hatte nur noch Fluchtgedanken in meinem Kopf und (...) wusste nicht wohin damit. Wusste nicht an wen ich mich wenden sollte I: Und das hast du dann trotzdem irgendwie geschafft. S: Ja. Irgendwie hat es geklappt. Ich glaube, das hat wirklich dann auch viel mit der Ausbildung zu tun gehabt, dass ich dann aus dem Stadtteil raus bin.

Im Interview wird deutlich, dass es sich bei diesen Auseinandersetzungen zum einen um ihre Freiräume als junge Frau drehte – darum, auszugehen und ihre


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Freizeit selbständig zu gestalten. Auf einer anderen Ebene waren diese adoleszenten Kämpfe offenbar mit einem Ringen darum verbunden, ein Leben im eigenen Recht zu führen und auch die Opfer der Eltern nicht zum Bezugspunkt der eigenen inneren und äußeren Spielräume zu erheben. In Selcins Familie waren die Eltern migriert, während die Geschwister in der Türkei bei den Großeltern aufwuchsen. Sie selbst war die einzige, die in Deutschland geboren wurde und bei den Eltern aufwuchs. Die Eltern waren in Bezug auf die mit der Migration verbundenen Trennungen mit Schmerz erfüllt und hatten Selcin gegenüber schon häufiger geäußert, dass sie es bereuen, nicht in der Türkei geblieben zu sein. Der für die Migration gezahlte Preis erscheine ihnen im Nachhinein zu groß. Es stellte für Selcin eine erhebliche Anforderung dar, angesichts dieser schmerzlichen Empfindungen der Eltern und Geschwister ihren eigenen Weg zu finden. Selcin berichtete, dass sie gleichwohl Äußerungen der Eltern, in denen diese behaupteten, nur Selcins und ihrer Ausbildung zuliebe noch in Deutschland zu bleiben, mit dem Hinweis konterte, die Eltern könnten von ihr aus in die Türkei zurückkehren und sie allein lassen. Während in einigen anderen Interviews Kinder aus Migrantenfamilien solche Konstellationen als unauflöslich belastend erlebten, konnte Selcin die Anmutung der Eltern auf die adoleszenztypisch provokative, aber eben für die Abgrenzung hilfreiche Weise zurückweisen. Dies kann, im Verbund mit anderen Indizien, als Hinweis dafür gesehen werden, dass sie die eigenen Lebensentwürfe von den Nöten und Themen der Eltern zu lösen imstande ist. So konnte sie im Interview aus einer vergleichsweise abgegrenzten Position über die von ihr früher als ‚ungebildet’ wahrgenommenen Eltern zurückblicken, die ihr in der Schule nie hatten eine Hilfe sein können: S: „…Weil ich hab mich sehr lange Zeit allein gefühlt mit meiner Bildung und mit mir selbst so. I.: Innerhalb der Familie? A: Innerhalb der Familie, ja. Ich konnte mich halt an niemanden wenden. I: Aber das war jetzt nicht, dass das deine Eltern bewusst gemacht haben? A: Nein. Also, die haben auch immer gesagt, wir bezahlen dir irgendwie Nachhilfelehrer und mach. Aber mir hat die Motivation gefehlt dafür, weil ich hab halt bei anderen Klassenkameraden und Kameradinnen gesehen, die sind nach Hause, haben mit ihren Eltern die Hausaufgaben gemacht oder wurden noch mal von der Mutter oder dem Vater durchgelesen und das hatte ich nie. Ich war halt immer auf mich allein gestellt (...) und ich denk mal das (...) wäre wenn es anders gewesen wäre, wäre es auch anders gelaufen.“

Dieses ‚Auf-sich-allein-gestellt-Sein’ konnte Selcin inzwischen besser akzeptieren und auch als Stärke wahrnehmen, wie sie auch die Leistungen der Eltern, die sie auf ihre Weise unterstützt haben, eher anerkennen konnte. Selcin konnte die


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Adoleszenzkrise produktiv nutzen zur Abgrenzung des Eigenen und dabei die außerfamilialen Bereiche anders als im vorigen Beispiel nutzen, um den für sie gemäßen, von ihr als authentisch empfundenen Weg zu finden. In diesem Sinne beschrieb sie auch ihre Beziehungen zu Gleichaltrigen. So distanzierte sie sich von einigen ihrer früheren ‚türkischen’ Freundinnen: S.:. …Und irgendwann hat sich das für mich entschieden, so gut, ich hab gesehen, die haben mit siebzehn, achtzehn sich verlobt …Und das war halt nicht meine Weltanschauung so. (…) Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich da auch mit reingerate. Und ich hab auch eine Freundin, der das genauso geht – die von den sieben, acht Leuten übrig geblieben ist. I: Auch eine türkische Freundin, die das auch nicht will? S. Genau, und die ist jetzt fünfundzwanzig und die ist auch wie ich.

In Selcins Biografie addieren sich (ebenfalls) eine Reihe von Bedingungen, die typischerweise – und zwar wiederum jenseits ‚kultureller’ Fragen – mit Migration einhergehen können: Die sequentielle Migration der Familie führt zu schmerzlichen Trennungserfahrungen, die auch in den familialen Auseinandersetzungen der Adoleszenz nachwirken. Innerhalb der Familie gibt es zudem unterschiedlich erfahrenes Leid, das zu Schuldgefühlen und umso stärkerer Bindung an das Opfer der Eltern führen könnte. Schließlich wird bei Selcin deutlich, dass das geringe Bildungskapital der Eltern nicht nur in der unmittelbaren Weise Folgen zeitigt, wie es häufig diskutiert wird, sondern vor allem indirekt – vermittelt über die Eltern-Kind-Beziehungen: Die Eltern wurden von der Tochter lange Zeit als enttäuschend, beschämend oder defizient erlebt, weil sie z.B. nicht wie die Eltern von Mitschülern ihre Hausaufgaben durchsehen können. Entsprechend fühlte sie sich, wie sie sagt, „sehr lange Zeit allein mit ihrer Bildung und mit sich selbst“. Diese belastenden und den Zorn der Tochter erregenden Bedingungen werden in der Adoleszenzkrise durchgespielt und – teils implizit, teils explizit – zum Gegenstand heftiger familialer Auseinandersetzungen, die in der Folge zu einer Veränderung der Wahrnehmung ihrer eigenen Stärken und ihrer Eltern führen: Es habe sich, so Selcin, „ein gutes Vertrauen aufgebaut.“ Dabei verwendet Selcin auch Erfahrungen und Freiräume, die für sie aus der Teilhabe am Bildungssystem resultieren, um ihre Position als Tochter und junge Frau zu stärken und damit gleichsam adoleszent zu expandieren. Im Ergebnis des krisenhaften adoleszenten Bildungsprozesses scheint Selcin über größere innere Spielräume, über besondere Ressourcen und Selbstbehauptung zu verfügen. Diese könnten es ihr ermöglichen, mit den äußeren Widerfahrnissen und Diskriminierungen offensiv umzugehen, mit denen sie vermutlich weiterhin rechnen muss. In diesem Sinne zeigen gerade auch Rekonstruktionen von Adoleszenzverläufen, dass Krise, Konflikt und Differenzerfahrung keineswegs


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als solche zu ungünstigen Verläufen führen. Vielmehr ist es umgekehrt so, dass die Vermeidung von Krise und Konflikt unter dem Deckmantel des ‚Normalen’ sehr viel ungünstigere Folgen zeitigen kann.

Schlussfolgerungen In diesem Beitrag wurden die Verschränkungen von Adoleszenz- und Bildungsprozessen ins Zentrum gestellt und in zwei Varianten geschildert: Einmal wurde eine Konstellation beschrieben, bei der der Sohn zwar bildungserfolgreich war, die Bindung an die Aufträge und Opfer der Eltern jedoch weiterhin in starkem Maße bedeutsam blieb und in einigen Bereichen zu einem Hin- und Herschwanken zwischen Auflehnen, Annehmen und Unterwerfen führte. Die Lösung lag lebenspraktisch unter anderem darin, auch im Bildungsaufstieg zugleich die Nähe zu den Außenseitern und ‚Gescheiterten’ beizubehalten und die eigene soziale Verortung gleichsam offen zu halten. Diese Lösung entsprach zugleich der sozialen Erfahrung, auch als bildungserfolgreicher Zahnmedizinstudent türkischer Abstammung neuen Formen von Exklusion ausgesetzt zu sein und wenig Anerkennung zu bekommen. In der zweiten Konstellation gingen der Kampf um adoleszente Individuation und die Teilhabe am Bildungssystem Hand in Hand. Nachdem heftige Adoleszenzkrisen in der Familie durchgestanden waren, deren Themen in engem Zusammenhang mit der Migration standen – und zwar mit dem Leiden an der Migration und an den damit verbundenen Trennungen gerade seitens der Eltern, aber auch mit der Enttäuschung der Tochter darüber, dass die Eltern ihr in der Schule nicht helfen konnten – konnte ein eigensinniger und eigenständiger Lebens- und Bildungsweg eingeschlagen werden. In beiden Konstellationen sind die gesteigerten Transformationsanforderungen16 erkennbar – die Transformationen der Adoleszenz, eingebettet in Bewältigungen und Neubildungen der Migration in Verbindung mit Bildungsaufstiegsprozessen. Ebenfalls deutlich war, dass die Themen der sozialen Anerkennung auf der einen Seite und der gesellschaftlichen Missachtung, Ausgrenzung oder Diskriminierung sich in erheblichem Maße auswirken auf die Art der familialen und individuellen Auseinandersetzung mit Adoleszenz und Migration. Gesellschaftliche Bedingungen, unter denen adoleszente Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Familie stattfinden, institutionelle Strukturen der Schulen, der Grad der Durchlässigkeit des Bildungssystems, die Geschlechterund Generationenbeziehungen wirken vielfältig zusammen: Die Mechanismen 16

Vgl. dazu King/Schwab 2000, King 2005a,b sowie King/Koller in diesem Band.


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des Ein- und Ausschlusses in Bildungsinstitutionen sind auf verschiedene Weise mit daran beteiligt, ob und wie Transformationsanforderungen der Adoleszenz zur Überforderung werden. Diskriminierungserfahrungen in der Schule wirken sich auf die Spielräume der Ablösung von der Familie aus. Die Familienbeziehungen stellen wiederum einen wichtigen Bezugspunkt adoleszenter Individuation dar: Adoleszente setzen sich implizit oder explizit, konstruktiv oder destruktiv, mit Familienthemen und primären Bindungen auseinander. Die damit einhergehenden psychosozialen Veränderungsprozesse schaffen im günstigen Fall wiederum neue Voraussetzungen für schulische Bildungsverläufe. Pädagogische Interaktionen in Bildungsinstitutionen stellen potenziell eine wichtige Erweiterung der Familienerfahrung dar. Sie können der Produktivität von Differenzerfahrungen Raum geben. Dies allerdings unter der Voraussetzung, dass keine Zuschreibung von Differenz erfolgt, dass also die Bestimmungsmomente der Differenz offen bleiben und damit einem Austausch unter kommunikativ Gleichen zugänglich. Denn Differenzerfahrungen können sowohl überfordern als auch Anstoß für kreative Neubildungen sein. Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz ist in diesem Sinne strukturell ein krisenhafter Prozess. Es sollte daher deutlich werden, dass es sich auch bei Adoleszenz mit Migrationshintergrund nicht a priori um eine Problemkonstellation handelt. Sehr viel sinnvoller erscheint es demgegenüber, Migration als einen Umwandlungs- und Neubildungsprozess, die Migrationsbiographie als „Modell der gesellschaftlichen Transformation“ (Apitzsch 1993, vgl. auch Fürstenau 2004) zu betrachten – und zudem die Herausforderungen und Chancen von Adoleszenz als einem Möglichkeitsraum für Bildungsprozesse einzubeziehen. Dabei haben auch die exemplarisch ausgeführten Konstellationen der Verschränkungen von Bildungsaufstieg und Adoleszenzverläufen gezeigt, dass es keinesfalls genügt, Bildungskarrieren auf formale Kriterien zu reduzieren. Vielmehr geht es in Bildungsprozessen zentral um psychosoziale Kompetenzen, die im günstigen Fall angeeignet werden und die es oft erst ermöglichen, erreichte Abschlüsse in eine Lebensform einmünden zu lassen, die den biographischen Ressourcen entspricht. Entsprechend muss mit Blick auf biographische Bearbeitungsmöglichkeiten systematischer von einem Bildungs-Dreieck der drei Faktoren Schule – Familie – außerschulische Räume ausgegangen werden, die je hemmend oder fördernd in Wechselwirkung stehen. In professionell-pädagogischer Hinsicht gilt es daher, sowohl in schulischen Feldern als auch in jenen der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit, in der Familienpädagogik und in der Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule ‚soziale Heterogenität’ als Bezugspunkt der Förderung und Ermöglichung von Bildung systematisch zu differenzieren und zu erweitern: Orientierung an Heterogenität bedeutet aus dieser Sicht, gerade auch die biographische Bewältigung der in sozialen Un-


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gleichheiten begründeten Transformationsanforderungen zu unterstützen. Dies beinhaltet zugleich, an diejenigen vielfältigen Ressourcen und Fähigkeiten anzuknüpfen, die mit den Prozessen der Erweiterung und Binnendifferenzierung der Welt- und Selbstbezüge in Bildungsprozessen mit Migrationshintergrund verbunden sind.

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Ungleiche Karrieren

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Tochter und Studentin – Beobachtungen zum Bildungsaufstieg in der zweiten türkischen Migrantengeneration Tochter und Studentin

Andreas Pott

Die Diskussion über Einwanderungsprozesse und ihre Folgen wird in Deutschland nach wie vor sehr einseitig geführt. Der dominante Migrationsdiskurs ist ein Problemdiskurs. Er blendet Potentiale, Chancen und Erfolge weitgehend aus. Damit stigmatisiert er nicht nur, sondern sorgt auch für Überraschungen. So werden die bildungserfolgreichen Kinder der ehemaligen Gastarbeiter, die seit den 1990er Jahren auf den weiterführenden Schulen, den Universitäten und dem Akademiker-Arbeitsmarkt in Erscheinung treten, von vielen Beobachtern bis heute kaum erwartet. Sie passen nicht ins vielfach reproduzierte Bild einer Bevölkerungsgruppe, die generationenübergreifend durch soziale Ungleichheit, Benachteiligung und vielfache, auch schulische, Integrationsprobleme gekennzeichnet zu sein scheint. Dabei gehör(t)en schon ihre Eltern – trotz ihrer Bildungsferne – zu den vergleichsweise innovativen und risikobereiten Personen, die ihre Lebenssituation durch die damalige Migrationsentscheidung zu verbessern suchten. Insofern ließe sich der Bildungsaufstieg der in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kinder der Arbeitsmigranten auch als das erfolgreiche und eigentlich erwartbare Beerben des Mobilitätspotentials ihrer Eltern deuten. In ähnlicher Weise vermag der kulturalistische Diskurs über die kulturell fremden Türken, ihre patriarchalischen Familienstrukturen und ihre daraus resultierenden besonderen Integrationsschwierigkeiten negative Erwartungen zu präformieren. Denn wer diesem Diskurs unkritisch Glauben schenkt, ist gleich mehrfach überrascht. An den allmählichen Aufstiegsbewegungen in der zweiten Generation partizipieren natürlich auch die Kinder türkischer Migranten. Und wie bei der autochtonen Bevölkerungsmehrheit werden die Söhne in ihrer Bildungsmotivation und ihrem formalen Bildungserfolg nicht selten von türkischen Töchtern übertroffen. Gleichwohl bleiben die gegenwärtigen Bildungsaufstiegsprozesse in der zweiten Migrantengeneration erklärungsbedürftig – im Allgemeinen ebenso wie im besonderen Falle der Töchter türkischer Arbeitsmigranten. Denn angesichts ihrer illiteraten Eltern und des Arbeitermilieus, dem sie entstammen, vollziehen sie – und zwar innerhalb einer Generation – einen bemerkenswert steilen sozia-


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len Aufstieg. Diese Leistung ist, wie die Literatur zu sozialer Mobilität belegt, keineswegs selbstverständlich. Der üblichen problemfixierten und assimilationstheoretisch inspirierten Forschung gelten die Bildungsaufsteiger(innen) als integriert bzw. strukturell weitgehend assimiliert. Aus dem etablierten Untersuchungsraster fallen sie damit heraus. Unbeantwortet bleibt daher aber die Frage, wie diesen Kindern der Arbeitsmigranten ihre höheren Bildungskarrieren überhaupt gelingen. Wie gelingen sie ihnen unter gesellschaftlichen Bedingungen, die für die Mehrheit der Kinder mit Migrationshintergrund lediglich zur Reproduktion oder gar zur Verschärfung sozialer Ungleichheit führen? Welche Handlungsformen haben die Bildungserfolgreichen entwickelt, um die Anforderungen eines sozialen Aufstiegs in der Migrationsgesellschaft zu bewerkstelligen? Der Aufsatz wird diesen Fragen exemplarisch am Beispiel türkischer Bildungsaufsteigerinnen nachgehen.

1.

Soziale Mobilität und migrante Adoleszenz

Wie im Falle der qua Bildung aufsteigenden Söhne aus der zweiten Migrantengeneration sind auch die Lebensbedingungen der Bildungsaufsteigerinnen ganz wesentlich von ihrem bisherigen sozialen Aufstiegsprozess bestimmt. So müssen sie neben den allgemeinen Anforderungen einer höheren Bildungskarriere1 auch die Schwierigkeiten meistern, die mit der allmählichen Entfernung von ihrem Herkunftsmilieu einhergehen. Zu den „Kosten“ sozialer Mobilität können zum Beispiel gehören:2 Die durch Kontextwechsel induzierte Suche nach sozialer Zugehörigkeit; die Suche nach Umgangsformen mit der permanenten Ambivalenz der sozialen Zuordnung zwischen Familie, Arbeitermilieu und den Kontexten des höheren Bildungssystems mit ihren teilweise gegensätzlichen Erwartungen; die sich im Zusammenhang damit für die einzelnen Aufsteiger bisweilen stellende Loyalitätsfrage; die Verarbeitung der Erfahrung von Statusinkonsistenz und von Unsicherheit ob der eigenen Fähigkeiten und Zukunft; oder das notwendige Ausbalancieren der Widersprüche zwischen individueller Aufstiegsleistung und der Unausweichlichkeit kollektiver Zuschreibungen, die insbesondere bei Aufsteigern mit Migrationshintergrund zu erwarten sind. Welche dieser aufstiegstypischen Konstellationen und Problemstellungen für die 1

2

Dazu gehört nicht nur der Erwerb der für die Fortsetzung höherer Bildungskarrieren nötigen Zertifikate. Nötig ist auch die Ausbildung von Handlungsformen, mit denen die Teilnahme an den für höhere Bildungskarrieren relevanten Organisationen (Schulen, Universitäten usw.) auch sozial gelingt. Vgl. Berger 1998, Hoggart 1971, Luckmann/Berger 1980, Schlüter 1992, Williams 1985, Young/Willmott 1972.


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alltägliche Lebenspraxis von Bildungsaufsteigerinnen aus türkischen Migrantenfamilien tatsächlich bedeutsam sind, kann allerdings nicht theoretisch entschieden, sondern nur empirisch ermittelt werden. Für eine solche Analyse verspricht die Berücksichtigung der Adoleszenzproblematik besonderen Aufschluss. Denn eine entscheidende Phase höherer Bildungskarrieren – nämlich die Phase, in der über den Eintritt in weiterführende Schulen bzw. Schulstufen und Hochschulen, über ihr erfolgreiches Durchlaufen und damit über den Erwerb von Zertifikaten, die die Fortsetzung von Aufstiegskarrieren ermöglichen, entschieden wird – koinzidiert mit den für die Adoleszenz typischen Transformationsanforderungen (Ausbildung einer Geschlechtsidentität, Auseinandersetzung mit der Familie, Ablösung von den Eltern, Entwicklung tragfähiger Lebensentwürfe u.a.). So geht im Falle von Bildungsaufsteigerinnen der Wandel vom Kind (bzw. Mädchen) zur Frau mit der Entwicklung von der Schülerin aus der Arbeiterfamilie zur Abiturientin und Studentin einher. Folgt man den voranstehenden Thesen und damit auch der Annahme, dass der Adoleszenz eine besondere Bedeutung für den sozialen Aufstiegsprozess zukommt, lassen sich insgesamt zwei Bezugssysteme unterscheiden, die für die Ermöglichung von Bildungsaufstiegsprozessen wie für die Bewältigung aufstiegstypischer Herausforderungen von zentraler Bedeutung sind: die Familie und das Bildungs- bzw. Erziehungssystem (mit seinen Organisationen Schule und Universität). Als Teilnehmerinnen beider Systeme sind alle Bildungsaufsteigerinnen Tochter (Schwester usw.) und Studentin (oder Schülerin). In welcher Weise für ihre Inklusionskarrieren, für die Bearbeitung ihrer Mobilitätserfahrungen und für die Formen ihrer Identitätskonstruktionen auch die Geschlechtskategorie bedeutsam ist, kann ebenso wenig pauschal beantwortet werden wie die Frage nach der Relevanz des Arbeitermilieus, von Freundschaften, von Ethnizität (bzw. von Kultur, ethnisierenden Zuschreibungen, ethnischen Ressourcen wie Sprache, intraethnischen Netzwerken usw.) oder von familialen Migrationserfahrungen. Allerdings verweisen diese Kategorien ebenfalls auf das Erziehungssystem (Schulen, Universitäten usw.) und die Familie als zwei der zentralen alltagsrelevanten Kontexte, in denen über ihre Bedeutung und ihren sozialen Gebrauchswert direkt oder indirekt mitentschieden wird. Die Fruchtbarkeit dieser theoretischen Skizze soll nachfolgend anhand einer Einzelfallrekonstruktion plausibilisiert werden, die Ende der 1990er Jahre im Rahmen einer größeren Untersuchung zum Bildungsaufstieg in der zweiten türkischen Migrantengeneration durchgeführt wurde (Pott 2002).


50 2.

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Die Rücksichtsvolle – ein Fallbeispiel

2.1. Gesprächskontext und Fallstruktur Die vorzustellende Rekonstruktion eines Handlungsmusters einer türkischen Bildungsaufsteigerin beruht auf der Analyse eines Forschungsgespräches, das ich mit der 20jährigen Medizinstudentin Özlem nach ihrem ersten Universitätssemester geführt habe. Vor der Universität besuchte Özlem eine Dortmunder Gesamtschule, auf der sie wiederholt die jahrgangsbeste Schülerin war und auch das beste Abitur ihres Jahrgangs ablegte. Obwohl sie in Dortmund geboren wurde und aufwuchs, spricht Özlem – wie manche andere Absolventen der Dortmunder Gesamtschule, einer Innenstadtschule mit hohem Anteil ausländischer und türkischer Schüler und Schülerinnen (55% bzw. 37%) – nicht fehlerfrei Deutsch. Verschiedene Feldforschungsbeobachtungen offenbarten außerdem, dass Özlem sich im Vergleich zu ihren Mitschülern und Kommilitoninnen eher zurückhaltend und unauffällig, gleichwohl immer sehr hilfsbereit verhielt. Zu Beginn unseres Gespräches zeigte sich Özlem zunächst überrascht, dass ich auf den Vorschlag, sie in ihrem elterlichen Haus zu treffen, eingegangen war. Sie hatte erwartet, dass ich einen ruhigeren Ort für unser Gespräch bevorzugte. Denn in dem kleinen Mietshaus ihrer Eltern lebt Özlem auf relativ engem Raum mit 10 anderen Familienmitgliedern – ihren Eltern, Geschwistern sowie ihrer Schwägerin mit Kindern. Während unseres ca. einstündigen Gespräches kam es daher häufiger zu kleineren Unterbrechungen: durch ihre kleinen, im Wohnzimmer herumspielenden Neffen, ihre zeitweise im Raum anwesende Schwägerin, die uns Getränke anbot, sowie durch zwei ihrer älteren Brüder, die während des Gespräches von der Arbeit nach Hause kamen und sich jeweils kurz in das Gespräch einschalteten. Niemand schien sich jedoch durch unser Gespräch sonderlich gestört zu fühlen. Özlem ist das jüngste von sechs Kindern und das einzige Familienmitglied, das eine höhere Bildungskarriere verfolgt. Ihre Geschwister haben Hauptschulabschlüsse auf der benachbarten Hauptschule gemacht und sind alle entweder verheiratet oder verlobt und haben teilweise schon Kinder. Nur ein Bruder hat eine Berufsausbildung absolviert. Und nur die beiden Brüder arbeiten; zwei der drei Schwestern leben bei ihren Männern, sind Hausfrauen und erziehen ihre Kinder. Zum Zeitpunkt unseres Gespräches teilte sich Özlem mit der noch nicht verheirateten älteren Schwester, die allerdings kurz vor ihrer Hochzeit stand, ein Zimmer. Özlem ist also nicht nur in Bezug auf ihr Medizinstudium, sondern auch in Bezug auf ihre erfolgreiche Schulkarriere eine große Ausnahme in der Familie.


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Die Art und Weise, wie das Gespräch selbstverständlich in die familiale Lebenssituation integriert wurde, ist charakteristisch für die analysierte Fallstruktur. Im Gegensatz zu anderen untersuchten Aufsteiger(inne)n adressiert sich Özlem zumeist als Teil ihrer Familie und nicht als autonom handelndes Individuum. Dies kommt in Formulierungen wie „wir sind ja sechs Geschwister Großfamilie“ (statt z.B.: „ich habe fünf Geschwister“) zum Ausdruck. Doch Özlem verhält sich ihrer Familie nicht nur sehr loyal gegenüber. Spricht sie über ihre Pläne und Entscheidungen, fällt auf, dass sie sie stets in einen familialen Entscheidungsrahmen einbettet, in dem die Interessen ihrer Eltern und Geschwister berücksichtigt werden. Familiale Ansprüche und Erwartungen an sie haben vor anderen Dingen Vorrang. Die folgende Zusammenfassung der Fallrekonstruktion zeigt, wie Özlem ihre Aufstiegsambitionen mit dem Leben im Familienverband verträglich hält. Dabei wird deutlich, dass ihre beachtlichen individuellen Aufstiegsleistungen in einem engen Zusammenhang mit ihrer Rücksichtnahme auf die Familie stehen.

2.2. Respekt, Rücksichtnahme, Familienkompromiss Zu Beginn des aufgenommenen Gesprächs unterhalten wir uns über verschiedene Themen: Özlems Nebenjob als Kassiererin in einem Supermarkt; den Urlaub in der Türkei mit ihrer Familie nach den Abiturprüfungen, aus dem sie nach nur einer Woche schon zurückkehrte, um ihr Abiturzeugnis auf der Abschlussfeier persönlich entgegennehmen und um sich um einen Medizin-Studienplatz kümmern zu können; ihre Eltern,3 die seit dem Berufsende des Vaters mehrere Monate im Jahr in dem Dorf in der Türkei, aus dem sie stammen, verbringen; sowie das ihr von der ZVS im Rahmen des Bewerbungsverfahrens um einen MedizinStudienplatz angebotene, von zwei Professoren geführte Auswahlgespräch für einen Studienplatz an der Universität Bochum. Nachdem Özlem mir erzählte, dass sie schon immer Kinderärztin werden wollte, frage ich sie, ob es denn auch eine Ärztin in ihrer Familie gebe. Sie verneint, in ihrer Familie gebe es bisher weder Ärzte noch Krankenschwestern, und fährt fort: Ausschnitt 1: Özlem: Ich bin auch die einzige in der Familie, die Abitur gemacht hat [ah ja] und jetzt weiter studiert

3

Ihr Vater war bis zum Antritt seiner Rente vor wenigen Jahren sowohl in der Türkei als auch in Deutschland ungelernter Bergwerksarbeiter; ihre Mutter hatte ebenfalls nur die türkische Grundschule besucht und war in Deutschland nie berufstätig. Beide Eltern sprechen auch 25 Jahre nach ihrer Migration kaum Deutsch.


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A:

Ah ja hmhm. Und äh haben/ hat deine Familie oder haben deine Eltern das dann manchmal dann so gesagt, das wäre schön, dass du [ja] also (.) so gerade so Medizin oder so/ Özlem: ~ sie haben sie sind ja auch stolz auf mich [ja] weil ich ja/ nicht, dass ich jetzt nur Medizin studiert habe, sondern auch Abitur geschafft habe und weiter studieren möchte [hm] das ist eigentlich mir überlassen A: Ach so (.) die/ oh (.) vielen Dank Schwägerin: Bitte (Sie reicht uns Tee.) A: Ja. Sie (.) sie unterstützen das so die ganze Zeit? Özlem: Ja (.) sie unterstützen mich [hm] hm A: Und das war auch schon die ganze Zeit so oder? Özlem: Hm ja (lacht) ich war ja die Jüngste und da haben die gesagt, ja du, unser Kleinste, du willst studieren (lacht) [ja] was weiß ich (.) so halt wie man ein Kind erzog. A: Ja. Ich wollte gerade fragen, wieso war das äh bei dir so und bei deinen Geschwistern nicht so Özlem: Es ist nach Interesse [hm] weil, vielleicht waren ja meine Geschwister ja nicht interessiert, weiter zu studieren [hm] das kommt einfach von innen (.) ich weiß nicht. A: Hm. Wann hast du denn so (.) wenn du das im Rückblick dir anguckst, so für dich klar gehabt, dass du gerne Abitur machen möchtest und dann vielleicht auch studieren möchtest? Özlem: So in der siebten und ach/ in der achten Klasse [hm] (.) erst da habe ich gesagt ich m/ ich werde Abitur machen (.) und meine Lehrerin hat mich auch unterstützt [ja] sie hat gesagt, die hat äh du bist gut in der Schule [ja] mach weiter [hm] wirst auch schaffen [ja] habe ich auch Motivation bekommen (.) habe ich gesagt, du schaffst/ A: ~ was hast du bekommen? Motivation? Özlem: Motivation ja [ja] da habe ich gedacht, du schaffst das (1) A: Ja. Ähm (.) wo warst du denn vorher auf der Grundschule? Özlem: Auf der Grundschule hier bei uns äh H.-Grundschule. A: Ah ja hm (1) und wie war das, hast du da noch Erinnerungen dran? Özlem: Ja (1) es war also ähm meine Lehrerin, das war auch komisch (.) meine Lehrerin wollte mich aufs Gymnasium schicken (.) da meinte mein Vater, das ist zu weit entfernt und ähm deine Geschwister sind auf der Hauptschule, du kommst auch auf die Hauptschule [hm] da war meine Lehrerin nicht einverstanden (.) hat gesagt, ja geht nicht, sie ist zu gut für die Hauptschule [hm] dann schicken wir sie lieber zur Real/ dann mein Vater nein, das ist auch weit entfernt (lacht) und dann irgendwie kam ich auf die Gesamtschule [hm] auf unsere G.-Gesamtschule A: Ja (.) weil die nicht ganz so weit weg ist oder warum? Özlem: Ja hmhm (.) genau (.) auch bisschen (.) da bin ich auch mit der Straßenbahn gefahren [hm] aber, es war so, wir hatten einige Nachbarskinder, die auch auf der Gesamtschule waren (.) deswegen [hm] haben sie gesagt, ja (.) kannst auf die Gesamtschule

Bescheiden erklärt Özlem mir ihre Ausnahmestellung in der Familie in Bezug auf ihre erfolgreiche Schulkarriere und ihr begonnenes Medizinstudium. Es fällt auf, wie zurückhaltend und dezent Özlem ihre Leistungen präsentiert. Fast


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könnte man sagen, sie spielt ihre schulischen Erfolge herunter; ihre Geschwister hätten eben andere Interessen. Özlems Eltern seien stolz auf sie und ihre Erfolge. Daher seien ihr, dem Nesthäkchen, ihre Studienpläne und beruflichen Entscheidungen auch „eigentlich“ selbst „überlassen“. Mit dieser Äußerung sagt Özlem nicht nur, dass ihr Oberstufen- und Universitätsbesuch (bzw. die Studienwahl) von ihren stolzen Eltern grundsätzlich unterstützt wird. Indirekt spricht sie hier auch so etwas wie familiale Besonderheiten ihrer „eigentlich“ selbstbestimmten Verfolgung ihrer Aufstiegsziele an – spezifisch familiale Voraussetzungen, Ausnahmen oder Einschränkungen. Mit der anschließenden Beschreibung ihrer Schulkarriere liefert sie umgehend ein Beispiel dafür. Denn offensichtlich verliefen die Entscheidungen über ihre Schullaufbahn nicht so wie bei denjenigen Aufsteigern, die stets von ihren Eltern zu ihren Schulleistungen und zu einem Studium motiviert wurden. Es war ihre Lehrerin, die Özlem aufgrund ihrer guten Schulleistungen zum Abitur „motivierte“; ihr Vater unterstützte diesen Plan zunächst nicht vorbehaltlos. Als Grund für die Haltung des Vaters führt Özlem die Entfernung des Gymnasiums von der elterlichen Wohnung an. Die „Lösung“, der der Vater schließlich zustimmte, war die Gesamtschule, die zwar ebenfalls in einem anderen Stadtteil lag, also nicht so nah wie die vom Vater favorisierte Hauptschule im gleichen Stadtteil, auf die jedoch auch „einige Nachbarskinder“ gingen. Das Gymnasium oder die Gesamtschule sind Schulen, die weder der Vater selbst noch seine anderen Kinder besucht hatten. Man kann vermuten, dass diese Bildungsinstitutionen und die mit ihnen verbundenen Lebensformen und Lebensläufe ihrem Vater mehr oder weniger fremd waren. Die Tatsache, dass auch Kinder, die dem Vater aus der Nachbarschaft oder über andere Familien bekannt waren, die für ihn fremde Schule besuchten, habe dazu geführt, dass er bzw. ihre Eltern sich – in Form eines Kompromisses zwischen seinen Wünschen und denen der Lehrerin – für die Gesamtschule entschieden. Die Entscheidung, das Abitur zu machen, beschreibt Özlem insofern als eine Entscheidung, die wesentlich von der Erfüllung der Erwartungen ihres Vaters abhing. Özlem beschreibt ihren Vater weder als jemanden, der ihr ihren Bildungsaufstieg verbietet, noch als jemand, der ihn bedingungslos unterstützt, sondern vor allem als jemand, auf den sie Rücksicht nimmt. Obwohl ihr Vater sich denkbar stark von Özlem unterscheidet und seine Einstellungen und Erfahrungen (bzw. die ihrer Eltern) stark von ihren eigenen differieren (wie sie auch an anderen Textstellen verdeutlicht), spricht Özlem sehr verständnisvoll, fast nachsichtig über ihre Eltern. Statt sie als „ungebildete Bauern“ o.ä. zu beschreiben, wie das die meisten anderen der in der Untersuchung befragten Abiturienten und Abiturientinnen taten, kommentiert Özlem die Verhaltensweisen ihrer Eltern ähnlich respektvoll wie die weit weniger erfolg-


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reichen Biographien ihrer Geschwister (z.B.: „so halt wie man ein Kind erzog“; „vielleicht waren ja meine Geschwister ja nicht interessiert, weiter zu studieren ...“). In derartigen Beschreibungen reproduziert sich eine Handlungsorientierung, die durchgehend am ganzen Gesprächstext interpretierbar ist. Die entsprechenden Gesprächsstellen verweisen darauf, dass Özlem bei der Verfolgung ihrer Aufstiegsziele stets die Wünsche, Ängste, Gefühle oder Einstellungen ihrer Eltern und Familie bedenkt und berücksichtigt. Noch deutlicher wird dieses Verhalten an einer Passage nur kurze Zeit später. Özlem erzählt mir, dass sie immer die beste Schülerin in ihrem Jahrgang auf der Gesamtschule gewesen war. Daraufhin frage ich, ob es für sie je eine besondere Bedeutung gehabt habe, dass sie als Mädchen so erfolgreich war. Özlem verneint dies deutlich, „auch Jungen hätten das schaffen können“. Als ich dann auf andere türkische Mädchen, die nicht studieren, anspiele, schaltet sich ihr kurz zuvor in den Raum eingetretener, gerade von seiner Arbeit (als Aushilfsarbeiter bei einer Gerüstmontagefirma) heimkehrender 25jähriger Bruder in das Gespräch ein. Er erklärt mir, dass das Verhalten der von mir indirekt angesprochenen nicht studierenden türkischen Mädchen und die Tatsache, dass viele türkische Mädchen abends nicht „so spät rausgehen“ dürften, „auch religiöse Gründe hätte“. In ihrer Reaktion auf seine Bemerkung modifiziert Özlem seine Einschätzung etwas und meint, dass die Vorbehalte mancher türkischer Eltern sich auf die „Entfernung“ der Töchter von dem Wohnort der Eltern bezögen, was wiederum „kulturell“, aber nicht unbedingt religiös begründet sei. Auch in dieser kurzen Passage, in der ihr Bruder an unserem Gespräch teilnahm, kann Özlems ebenso rücksichts- und respektvolle wie kompromisssuchende Haltung beobachtet werden. Obwohl sich der Bruder offensichtlich mit wichtigen Bemerkungen etwas vor mir aufspielt und Özlem seine Meinung hinsichtlich der angeblich religiösen Gründe nicht teilt, fährt sie ihm nicht verbessernd über den Mund oder ironisiert seine Bemerkungen. Vielmehr „übersetzt“ sie das, was sie glaubt, dass er sagen will, für mich, indem sie seine Formulierungen vorsichtig „reformuliert“ und für mich erläutert. Nur indirekt sowie höflich, taktvoll und einfühlsam korrigiert sie durch ihren Verweis auf die „Entfernung“ und damit auf „kulturelle Sitten“ die religiöse Pauschalerklärung des Bruders. Ähnliches ist an Ausschnitt 2 ersichtlich. Die von mir eingeführte Thematisierung des Verhaltens türkischer Mädchen greift Özlem auf und führt als Beispiel ihre Studienortwahl an. Medizin könne man in Dortmund nicht studieren; die von Dortmund aus nächste Universität sei Bochum:


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Ausschnitt 2: Özlem: Zum Beispiel (.) hätte ich einen Platz in Berlin bekommen (über die ZVS) [ja] oder in München [ja] dann würde mein Vater mich nicht hinschicken. A: Ja (.) auch aus religiösen Gründen? Özlem: Nicht aus religiösen Bruder: ~ ach nee (.) nicht aus religiösen Gründen (.) aber das kommt da rein wieder [ja] die Religion (.) weil, das/ sie ist ein Mädchen [ja] allein [ja] siehst du ja auch hier in Deutschland (.) wie das alles läuft [ja] Özlem: Also (.) wird nicht gut gesehen von/ also nicht erkannt von anderen Verwandten oder Bekannten [ja] oder Nachbarn [ja] wird ganz schlecht darüber gesprochen (.) ein Mädchen äh wohnt und lebt allein in einer anderen Stadt [ja] ohne Aufsicht [ja] würd/ wäre dann, also (.) würden die anderen sagen (.) ich weiß nicht A: Ja also das wäre ja eine schwierige Situation gewesen (.) ne? [hmhm] wenn du jetzt Berlin bekommen hättest [genau] dann/ hättest du denn dann noch ernsthaft überlegt oder kannst du dir das vorstellen oder/ Özlem: ~ ich glaube schon [hm] also, da würde vielleicht mein Vater äh mich mit mit meiner Mutter [ja] hinschicken (.) also [ja] dann würde ich mit meiner Mutter zusammenleben [ja] in einer Wohnung [ja] aber alleine dürfte ich bestimmt nicht

An dieser Stelle sollen weder die Antwortversuche des Bruders, der kurz nach dieser Passage das Zimmer wieder verließ, noch die Sprachschwierigkeiten von Özlem interessieren. Wichtiger ist, dass Özlem nun auch die Entscheidung für ihren Studienort als eine Entscheidung darstellt, die von der Zustimmung ihres Vaters abhängt. Sie geht nicht irgendwo hin, sondern ihr Vater „schickt“ sie bzw. „schickt“ sie nicht irgendwo „hin“. Als Grund führt sie die Befürchtung des Vaters bzw. der Eltern an, Verwandte und Nachbarn würden „schlecht“ über sie reden, wenn sie als Mädchen alleine außerhalb des elterlichen Wohnbereiches „ohne Aufsicht“ lebte. Ob Özlem diese Formulierung wählt, um einer etwaigen Haltung des Bruders rücksichtsvoll zu entsprechen, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Festgestellt werden kann jedoch, dass sie, indem sie sich – vor ihrem Bruder und mir – als das (türkische) „Mädchen“, das „beaufsichtigt“ werden muss, präsentiert, erneut Rücksichtnahme und Loyalität ihren Eltern und deren Einstellungen gegenüber demonstriert. Dies tut sie in vergleichbarer Weise auch an anderen Gesprächsstellen, wo wir uns alleine im Wohnzimmer befinden. Beide Optionen, Bochum und die hypothetische Situation Berlin, haben die Gestalt eines Kompromisses. Da Özlem jetzt in Bochum studiert, kann sie pendeln, also noch zu Hause wohnen, wie ihre Eltern das wünschen. Hätte sie aufgrund einer entsprechenden Studienplatzzuweisung in Berlin oder in einer anderen, ähnlich entfernten Stadt anfangen müssen, hätte sie durch die Begleitung ihrer Mutter ebenfalls den Vater (bzw. andere Verwandte) beruhigt. Özlem wählt folglich keine Lösung, mit der sie einen Konflikt mit der Familie oder ihren Eltern riskieren würde. Dazu passt die bemerkenswerte Tatsache, dass sie bei ihrer Schilderung weder sich noch das Verhalten ihrer Eltern in irgendeiner


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Form abwertet – wie dies andere Jugendliche tun, die das Verhalten ihrer Eltern als altmodisch, traditionell o.ä. kritisieren. Zu solchen Zumutungen der üblichen Kultur- und Migrationsdiskurse in Deutschland und den damit verbundenen Erwartungen der individuellen oder kollektiven Selbstabwertung bewahrt Özlem in ihrer dezenten, verständnis- und respektvollen Rede durchgängig Distanz. Aufschlussreich ist an Ausschnitt 2 aber auch der schlichte Umstand, dass Özlem nicht sagt, im Fall eines anderen Studienplatzangebotes hätte sie nicht studiert oder diesen Platz nicht angenommen. Vielmehr sagt sie, dass dann ihre Mutter mitgekommen wäre und mit ihr zusammengelebt hätte, da sie (als unverheiratetes Mädchen, wie sie an anderer Stelle erklärt) nicht allein leben dürfe. Ihren Plan und Wunsch zu studieren, hätte sie somit auch in diesem Fall realisiert. Insofern demonstriert diese Passage eindrucksvoll die Art und Weise, in der die Medizinstudentin ihr biographisches Projekt mit einem entgegenkommenden, respekt- und rücksichtsvollen Umgang mit ihrer Familie verknüpft. Dieses Handlungsmuster lässt sich an verschiedenen Beispielen in unserem Forschungsgespräch beobachten. Auch mit ihrem Plan, so wie viele ihrer Mitschüler den deutschen Pass zu beantragen, nimmt sie Rücksicht auf die Gefühle und Einstellungen ihrer Eltern, insbesondere auf die ihres Vaters, der ein „bisschen dagegen“ sei (Transkript, S. 20). Sie wolle zwar im Gegensatz zu ihren Eltern, die ihr Leben lang davon träumten, später „für immer in die Türkei“ zu gehen, auf keinen Fall in der Türkei leben. Im Gegenteil, ihre Zukunft als Ärztin sieht sie ganz selbstverständlich in Deutschland. Dennoch werde sie den deutschen Pass zunächst nicht beantragen, da sie damit ihren Vater „bestimmt ärgere“ und „seelisch erkranke“. Sie wolle erst einmal warten, bis ihre älteren Brüder, die ebenfalls in Deutschland bleiben möchten, auch die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen: „Als erste möchte ich das lieber nicht“ (S. 24).

2.3. Irrelevanz von Ethnizität Özlem greift in ihrer Rede nur sehr selten auf ethnische Unterscheidungen zurück. Wenn überhaupt, geschieht dies nach vorhergehender Ethnisierung meinerseits und außerdem in einer erstaunlich zurückhaltenden und wenig überzeugenden Weise. Özlems sparsame und unsichere Verwendung des Kulturdiskurses verweist auf die geringe Relevanz, die die Ethnizitätskategorie für sie bisher hatte. Ein Grund für die vergleichsweise geringe Bedeutung von Ethnizität wird sichtbar, wenn man Gesprächsausschnitte wie den folgenden, in denen Özlem


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ausnahmsweise mit „Kultur“ und ethnischen Unterscheidungen operiert, genauer analysiert. Mit Bezug auf die vorhergehende Intervention des Bruders, Özlems Rede von „unserer Religion“ und ihre Erwähnung, dass sie seit vier Jahren aus Solidarität mit ihrer Familie zur Fastenzeit mitfaste (S. 11), frage ich Özlem nach der Bedeutung, die Religion für sie habe: Ausschnitt 3: A: Bist du denn ähm auch religiös erzogen worden? Hast du so von der Religion auch was mitbekommen? Özlem: Nein (.) äh also äh ich bin nicht zur Moschee gegangen (.) ich war nicht ((zu dem Kind, das fragt:) ja kannst du) äh ich/ mei/ also (.) meine ähm meine meine Schwestern, die ja auch verheiratet sind [hm] die tragen auch kein Kopftuch [hm] die müssen auch nicht beten. Es gibt ja diese äh [ja] fünf weißt du ja (.) fünf (lacht) Tageszeiten beten [ja] das machen auch meine Eltern nicht. Sie sie gehen auch nicht zur Moschee (.) aber (.) sie sind so halt streng (.) äh (1) ich glaub, auch irgendwie durch Kultur und, ich weiß nicht (.) aber [hm] zu religiös sind wir nicht [hm] es gibt ja einige Hodschas [hm] die das richtig machen dieses Fünf-Tageszeiten-Beten [hm] und viele ähm (.) wie sagt man das? (.) so Gebete [hm] verschiedene Gebete (.) ich ich kann nur zwei oder vier Gebete so auswendig [ja] aber ansonsten? [ja] Arabisch lesen kann ich auch nicht (.) meine Eltern auch nicht. A: Ja. Warst du denn auch mal im Korankurs zum Beispiel? Özlem: Nein (.) nur einmal bin ich mit meiner Freundin hingegangen (.) aus Interesse [ja] dann nicht mehr. A: Ja. Das machen ja sehr viele Jugendliche/ Özlem: ~ ja (.) sehr viele (.) aber auch durch die Eltern [hm] meine Eltern haben ja nichts gesagt, ja geh zum Korankurs oder so (.) haben sie mir nicht gesagt [hm] al/ äh zum Beispiel, ich kann mich frei anziehen (.) so ohne Kopftuch oder so modisch (.) sagen nichts dazu (.) aber nur abends darf ich nicht rausgehen [hm] wie halt türkische Mädchen erzogen sind (lacht) [hm] so

Abgesehen von ihrer Demonstration gängigen Wissens über die religiöse Praxis der Muslime sagt Özlem unmissverständlich, dass Religion für sie, aber auch für ihre Familie keine große Rolle spiele. Sie sei weder religiös erzogen noch zur Praktizierung religiöser Tätigkeiten angeleitet worden. In ihren Antworten spricht Özlem davon, dass ihre Schwestern „auch nicht beten müssen“ und dass sie selbst sich „frei anziehen“ könne. Diejenigen, die über diese Dinge entscheiden, sind also wie bei der Schul- und Universitätswahl (s. Ausschnitte 1 und 2) erneut ihre Eltern (bzw. die Männer der Schwestern) und nicht sie (oder ihre Schwestern) und ihr persönlicher Glaube. Insofern artikuliert Özlem auch in Ausschnitt 3 ihren bzw. den familialen Respekt vor den Eltern und ihren Einstellungen. Religiös seien die Eltern nicht, „aber (.) sie sind so halt streng“. Hiermit spricht Özlem explizit an, was sie im bisherigen Gespräch schon wiederholt angedeutet hat. Mit „streng“ bzw. „strenger“ Einstellung meint Özlem, wie dieser Ausschnitt und andere Stellen zeigen, im wesentlichen drei Sachen: Ihre


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Eltern (bzw. ihr Vater) erlauben nicht, dass sie abends spät ausgeht; sie darf „offiziell“ keinen Freund haben, zumindest dürfen ihre Eltern und Brüder nicht von ihm wissen; und sie darf nicht alleine außerhalb des elterlichen Hauses leben, solange sie noch nicht verheiratet ist. Mit anderen Worten: Özlem spricht über die Regeln und Gewohnheiten des familialen Zusammenlebens, zu denen auch die Erwartungen und Einstellungen ihrer Eltern gehören. Das „strenge“ Verhalten der Eltern erklärt sie sodann mit der Äußerung: „ich glaub, auch irgendwie durch Kultur“. Zögerlich („äh (1) ich glaub“, „ich weiß nicht“) und unspezifisch („auch irgendwie“) sagt sie damit, dass man die elterlichen Einstellungen und Erwartungen auch als kulturell bedingtes Verhalten beschreiben könnte. Ähnlich generalisierend und Gemeinplätze bedienend („wie halt ...“) charakterisiert sie am Ende dieser Passage die für sie geltende Einschränkung („nur abends darf ich nicht rausgehen“) mit dem Verweis auf die vermeintlich türkischen Traditionen und Sitten der Erziehung von Mädchen. Zweierlei ist an diesen Äußerungen erkennbar. Zum einen versucht Özlem dort, wo sie von Kultur spricht, deutlich zu machen, dass das Leben in der Familie auf geteilten Erfahrungen, Gemeinsamkeiten und Regeln als Voraussetzung für intimes und alltäglich-familiäres Verstehen und Verhalten beruht. Zum anderen wird sichtbar, dass Özlem die Rede von Kultur und kulturellen Unterschieden Schwierigkeiten bereitet und ihr nicht behagt: Zunächst zögert sie. Und mit dem Wechsel in die kulturelle Semantik wählt sie plötzlich überraschend undifferenzierte Beschreibungen, die ihren anderen Ausführungen fast zu widersprechen scheinen. Zum Beispiel teilt mir Özlem in ihrem letzten Redebeitrag – vor ihrer kulturellen Pauschalerklärung „wie halt türkische Mädchen erzogen sind“ – mit, dass sie gerade nicht glaubt, wie ein typisch türkisches Mädchen erzogen worden zu sein und zu leben.4 Entsprechende Schwierigkeiten werden auch an anderen Gesprächsstellen deutlich, wenn Özlem mir und meinen Forschungsfragen freundlich entgegenkommt und versucht, gängige Versatzstücke des öffentlichen und wissenschaftlichen Migrationsdiskurses zu reproduzieren. Ihre zaghaften Versuche der Darstellung ihrer Lebenssituation als das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen, zum Beispiel, widersprechen anderen Äußerungen von ihr oder sind so wenig überzeugend, dass ich verdutzt nachfrage. Auf solche Reaktionen hin gibt sie dann zu, dass sie diese Erklärung von ihrem Lehrer habe (Transkript, S. 13), oder erwidert: „Haben das die anderen (Schüler, die du interviewst) nicht gesagt, zwischen zwei Kulturen?“ (S. 26). 4

Deshalb findet sie sich mit der genannten Einschränkung durch ihre Eltern auch bereitwillig ab: Vergleicht sie sich mit anderen türkischen Mädchen, könnten ihre Eltern ihr Leben wesentlich stärker und unangenehmer beeinträchtigen; bis auf die Tatsache, dass sie abends nicht spät ausgehen darf, kann sie machen, was sie will.


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In derartigen Ungereimtheiten und Folgeproblemen der Wahl kultureller Unterscheidungen scheint der Grund für die Irrelevanz von Ethnizität für das analysierte Handlungsmuster zu liegen. Der „laute“ Kulturdiskurs passt nicht zu Özlems ansonsten sehr zurückhaltender, taktvoller und feinfühliger Rede über ihre Eltern und Familie. Er ist zu grob und verstellt vieles, was für ihr Handlungsmuster charakteristisch ist. Wie unser Gespräch zeigt, hält sie gerade Distanz zu vielen der gängigen Erwartungen über türkische Migrantenfamilien, ihre Kultur und ihre Töchter. Für Özlem verunmöglicht der Kulturdiskurs daher Differenzierung und ihr Bemühen, ihre Familie, ihre Eltern und ihr eigenes Verhalten ihrer Familie gegenüber einfach das sein zu lassen, was sie für sie sind.

2.4 Rücksichtnahme als Aufstiegsressource Insgesamt wird bei der Analyse von Özlems Selbstbeschreibungen klar, dass sie in ihrem Alltag im Wesentlichen nur an zwei sozialen Kontexten teilnimmt: Entweder ist Özlem zu Hause und in familialen Verpflichtungen engagiert (Arztbegleitung, Besuch von Hochzeitsfeiern auch entfernter Bekannter etc.) oder sie ist in Handlungszusammenhänge auf der Schule oder der Universität involviert. Priorität haben für Özlem eindeutig ihre Verpflichtungen im Studium und in der Familie. In diesem Sinne kann man Özlems Lebenswelt zweigeteilt nennen: Bei den für die analysierte Fallstruktur relevanten Aspekten handelt es sich auf der einen Seite um familienbedingte Bezüge, Entscheidungen und Eigenarten ihres Lebens und auf der anderen Seite um bildungssystemspezifische Arbeitsbedingungen und Leistungsanforderungen oder Freundschaften zu Schülern aus den von ihr belegten Kursen. Aus anderen Zusammenhängen hält Özlem sich tendenziell heraus. Zum Beispiel gelänge es ihr, seit sie in Bochum studiert, „leider“ fast gar nicht mehr, alte Freunde von der Schule zu treffen, obwohl sie sie oft vermisse. Da das Medizinstudium sehr arbeitsintensiv sei, habe sie für Freizeitaktivitäten kaum Zeit. Statt den Kontakt zu früheren Mitschülern und Freunden weiter zu pflegen, habe sie begonnen, auf der Universität neue Freundschaften zu (türkischen, deutschen und rumänischen) Kommilitonen aus ihren Kursen aufzubauen. Vor dem Hintergrund ihrer derart strukturierten Lebenswelt kann Özlems Rücksichtnahme auf familiale Belange und ihre diesbezügliche Kompromissbereitschaft als die biographisch angeeignete und praktizierte Form der Verbindung der beiden für sie relevanten sozialen Kontexte Familie und Schule/Universität bestimmt werden. Özlem hat gelernt, ihre Aufstiegsambitionen mit ihrem Leben im Familienverband in einer Weise zu verbinden, mit der sie


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bisher sehr erfolgreich aufsteigen konnte. Besonders klar reproduziert sich diese Verbindung in der folgenden kurzen Sequenz. Nachdem Özlem mir erklärt hatte, dass sie nicht religiös erzogen worden sei, erzählte sie, dass ihre Mutter ein Kopftuch trage. Sie tue dies aus Gewohnheit, sie habe immer schon eines getragen. Daraufhin frage ich – obwohl Özlem klar betont hatte, dass sie nicht religiös sei: Ausschnitt 4: A: Könntest du dir das denn vorstellen, ein Kopftuch zu tragen? Özlem: Meine Mu/ ich/ mich? (lacht) A: Hmhm Özlem: Ich weiß nicht. Vielleicht zu Hause (.) aber wenn ich ausgehe, ausgehe oder irgendwohin, zu Freunden (.) dann würde ich das nicht vorstellen.

Özlem führt hier vor, wie sie den häuslich-familialen Kontext und den Handlungszusammenhang, in dem sie primär ihre eigenen Interessen verfolgt, d.h. Schule/Universität und Freizeit, miteinander verbindet. In der Art und Weise, wie sie diese beiden Kontexte kombiniert, äußert sich genau die bezeichnende Rücksichtnahme und Kompromissbereitschaft – in diesem Fall auf die hier hypothetisch von Özlem in Interpretation meiner Frage angenommene Forderung der Eltern, ein Kopftuch zu tragen. Ihre Antwort demonstriert das Entgegenkommen, mit dem sie in der Lage ist, ihren Eltern und ihrer restlichen Familie zu verdeutlichen, dass sie sich trotz des Universitätsbesuchs nicht wesentlich von ihren Lebensvorstellungen unterscheidet. Auch wenn die Ansichten ihrer Eltern teilweise sehr wohl von ihren eigenen Einstellungen und Plänen differieren, und auch wenn sie auf der Universität oder in ihrer Freizeit ihren eigenen Vorstellungen folgt, so wahrt sie ihnen gegenüber dennoch stets Loyalität und Respekt. Ein weiteres Beispiel: Als Özlem und ich uns ein anderes Mal trafen, erzählte sie mir, dass sie im letzten Jahr auf der Gesamtschule einen Freund gehabt habe. Anvertraut habe sie das aber nur einer ihrer Schwestern. Ihre Eltern würden so etwas nicht erfahren (dürfen). Özlem lässt sich also nicht etwa von ihren Entscheidungen und Interessen abbringen, nur in der Form ihrer Durchführung (siehe die Beispiele Freund oder Studienortwahl) nimmt sie Rücksicht auf die Einstellungen, Unsicherheiten und Empfindungen ihrer Eltern. Man kann vermuten, dass Özlem erhebliche familiale Probleme provozieren würde, wenn sie bei ihren Entscheidungen nicht auf ihre, wie sie sie beschreibt, „strengen“ Eltern Rücksicht nehmen oder sich ihnen gegenüber nicht kompromissbereit zeigen würde. Dies könnte z.B. eintreten, wenn sie in ein Studentenwohnheim zöge, „alleine“ in Berlin Medizin studierte oder ähnliche eigene Pläne durchsetzte. Unter Umständen käme es bei einer relativ kompro-


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misslosen Verfolgung ihrer Aufstiegsziele und eigener Interessen zu erheblichen Spannungen, die schließlich in einem Bruch mit der Familie resultieren könnten. Nicht selten geht ein sozialer Aufstieg mit derartigen Schwierigkeiten einher. Sie sind umso wahrscheinlicher, je größer die sozialstrukturelle Distanz zwischen der bildungsfernen Herkunftsschicht und der Position ist, in die der Aufstieg führt. Auch im Falle von sozial aufsteigenden Migrantinnen der zweiten Generation sind die Spannungen, die bei einer nicht gelungenen Ausbalancierung der unterschiedlichen sozialen Gruppen entstehen können, und die Unsicherheiten, die der Prozess des Herauslösens aus Familienverband und sozialem Herkunftskontext mit sich bringen kann, bekannt. Riesner z.B. beschreibt anhand von Fallbeispielen die „durch die Einschränkungen (durch die strengen Eltern und den Verwandten- und Bekanntenkreis) hervorgerufenen Konflikte“ (Riesner 1995: 144) und das „Orientierungsdilemma“ (ebd.: 158) derjenigen türkischen Migrantinnen der zweiten Generation, die sich – oftmals infolge ihrer positiven (Aufstiegs-) Erfahrungen im deutschen Schulsystem – mit den „Lebensvorstellungen sog. traditioneller Türkinnen nicht identifizieren“ können, die ihre Aufstiegsaspirationen gleichwohl nicht aufgeben wollen (ebd.: 145 u. 155ff.). Etwas pathetisch subsumiert sie die Frauen, bei denen die aufstiegsbedingten Diskrepanzen dann zu einem „endgültigen Bruch mit ihrer Familie“ führten (ebd.: 146), in der „Gruppe der ‘ausgebrochenen’ Frauen“ (ebd.: 131ff.) und geht auf verschiedene, mit dem Bruch verbundene psychisch-emotionale Folgeprobleme ein. Vergleicht man das Handlungsmuster Özlems, die ihre Aufstiegs- und Medizinkarriere nicht orientierungslos, sondern ausgesprochen zielstrebig verfolgt, mit den von Riesner beschriebenen „ausgebrochenen Frauen“, deren Lebenssituationen strukturell durchaus vergleichbare Elemente aufweisen, so ist der Nutzen von Özlems Verhalten offensichtlich. Die mit einem Bruch mit der Familie oder mit großen Spannungen einhergehenden möglichen „Kosten“ des individuellen Bildungsaufstiegs kann Özlem durch ihre einfühlsame Rücksichtnahme und ihr respektvolles Entgegenkommen verhindern. Das Wagnis des sozialen Aufstiegs, das für manche Aufsteiger(innen) in den durch die zunehmende Entfernung vom Herkunftsmilieu hervorgerufenen familialen Problemen besteht, kann Özlem derart abfedern und reduzieren. Umgekehrt lassen ihre Eltern ihr dann auch genügend Gestaltungs- und Selbstbestimmungsfreiheit. Ihre im Vergleich zu ihren Geschwistern kontinuierlich zunehmende Verschiedenartigkeit wird nicht sanktioniert; die Weiterverfolgung ihrer Bildungskarriere erfährt im Gegenteil die familiale Unterstützung. Damit kann der Gebrauchswert des rekonstruierten Handlungsmusters wie folgt zusammengefasst werden. Solange Özlem mit ihren aufstiegsbezogenen Entscheidungen und Handlungsorientierungen auf ihre Familie und familiale


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Erwartungen Rücksicht nimmt, kann sie mögliche Konflikte, die ihren bisher überaus erfolgreichen Aufstieg behindern könnten, verhindern. Dieses Verhalten ermöglicht ihr nicht nur eine kontinuierliche und zielstrebige Verfolgung ihrer Studien- und Berufsziele, sondern sichert ihr darüber hinaus auch die Unterstützung ihrer Familie. Insofern ist die analysierte Art und Weise der Verknüpfung ihrer Aufstiegsziele mit dem Leben im Familienverband sowohl Aufstiegsbedingung als auch Aufstiegsermöglichung.

3.

Kontrastierungen

Die vorgestellte Fallrekonstruktion bestätigt die theoretischen Annahmen. Zentrale Bedeutung für die Ausformung von Aufstiegsmustern kommt der Adoleszenz und hier insbesondere der Familie sowie dem sozialen Kontext des höheren Bildungssystems zu. Auf eine ganz andere Weise belegen dies auch die zitierten Kontrastfälle der (vergleichsweise radikalen und weniger kompromissbereiten) Migrantinnen der zweiten Generation, deren aufstiegsrelevante Handlungsmuster und Identitätsformen sich gerade im Konflikt mit der Familie ausgebildet haben. Der allgemeine Befund der wechselseitigen Relevanz von Bildungsaufstieg, migranter Adoleszenz, Schule/Universität und Familie ließe sich durch die Analyse und Diskussion zusätzlicher Kontrastfälle noch stärker differenzieren. Am Beispiel einer weiteren Fallrekonstruktion sei dies abschließend zumindest angedeutet. Das hier nur knapp zusammenzufassende Handlungsmuster der sog. Multikulturalistin unterscheidet sich deutlich von dem der Rücksichtsvollen. Die Multikulturalistin Jale ist eine Pädagogikstudentin, die sich – unter den durch das Forschungsgespräch hervorgerufenen Bedingungen ethnischer Zuschreibungen, die auf viele andere Situationen in Bildungsinstitutionen wie der Schule oder der Universität übertragbar sind – als emanzipierte Türkin mit multikulturellen Kompetenzen präsentiert. Wie sich in der Analyse zeigt, ist ihre ethnisierende und explizit die Geschlechterkategorie mobilisierende Selbstbeschreibung Ausdruck eines vielseitigen Aufstiegsverhaltens, das sich ebenfalls erst vor dem Hintergrund der für sie relevanten familialen und schulischen (bzw. universitären) Erfahrungen erschließt. Auch Jale ist das jüngste Kind der Familie (von fünf). Doch anders als Özlem hat sie zwei Schwestern, die ebenfalls Abitur gemacht haben und bereits seit einigen Jahren studieren.5 Sie ist also nicht das erste Familienmitglied, das 5

Die Medizinstudentin Özlem und die Multikulturalistin Jale besuchten die gleiche Gesamtschule und legten im gleichen Jahrgang ihr Abitur ab, waren jedoch nicht weiter befreundet.


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studiert und die damit verbundene Pionierarbeit in der Arbeiterfamilie leisten muss. Mit ihren höheren Bildungskarrieren heben sich die drei Schwestern von ihren Eltern, ihren beiden älteren Geschwistern und ihrer Verwandtschaft deutlich ab. Daher sieht Jale sich und ihre beiden studierenden Schwestern als Vorreiterinnen einer sich wandelnden türkischen Migrantencommunity in Deutschland. Sie ist sich ihres sozialen Aufstiegs und ihrer Selbständigkeit im Vergleich zu anderen türkischen Frauen sehr bewusst und deutet ihre Bildungskarriere als Aufstieg und Modernisierungsprozess. So sagt sie etwa, dass ihre Eltern als ungebildete Bauern in der Türkei zu der „untergeordneten Klasse“ ohne wirtschaftliche Zukunft gehört hätten, dass ihr Vater nur ein ungebildeter Industriearbeiter sei oder dass ihre Mutter, die weder lesen noch schreiben könne, eine typische „türkische Hausfrau“ sei. Aus diesen Erfahrungen schöpft sie, ebenso wie aus dem Vorbild ihrer zwei Schwestern, Motivation für ihre eigene Bildungskarriere. Auf keinen Fall will sie den Lebensstil ihrer Eltern bzw. ihrer Mutter wiederholen. Mit Blick auf die große Abhängigkeit ihrer Mutter von ihrem Vater sagt sie: „Ich vertrete diese Ansicht halt, dass eine Frau auf jeden Fall ihre Selbständigkeit erlangen muss“. Indem Jale ihre bisherige Bildungskarriere nicht nur als Modernisierung, sondern auch als persönliche Emanzipation eines Migrantenkindes deutet, kann sie sich besondere Kompetenzen speziell für pädagogische Aufgaben, deren Ziel die Betreuung von Migrantinnen und die Förderung ihrer beruflichen und sozialen Selbständigkeit ist, zuschreiben. Der Blick auf ihr Studium und ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Erziehungssystem verdeutlicht nun auch, warum sie ihre Rede von Modernisierung, Emanzipation und erzieherischen Aufgaben semantisch durch die Reproduktion des Multikulturalismus-Diskurses rahmt. So hat die Pädagogikstudentin Jale – anders als die Medizinstudentin Özlem – in ihren letzten Schuljahren auch die Erfahrung des Scheiterns bei Klausuren und Prüfungssituationen gemacht. Dies führt zu einer aufstiegsbedingten (und aufstiegstypischen) Unsicherheit ob der eigenen Fähigkeiten, die formalen Ansprüche einer höheren Bildungskarriere (d.h. hier nun diejenigen eines Universitätsstudiums) überhaupt erfüllen zu können. Die detaillierte Fallrekonstruktion (Pott 2002: 296ff.) kann zeigen, dass und wie Jale während ihrer Bildungskarriere gelernt hat, gerade mit der ethnisierenden Selbstbeschreibung aufstiegsbedingte Unsicherheiten zu absorbieren und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Mit der Aneignung des (nicht zuletzt über ihre Schule, ihr Pädagogikstudium und ihre gewählten Kurse vermittelten) Multikulturalismus-Diskurses kann sie – falls erforderlich – nicht nur ihre Kompetenz als engagierte Pädagogikstudentin unter Beweis stellen. Sie kann auch als Spezialistin und damit als geeignete Kandidatin für pädagogische Aufgabenfelder auftreten, genauer: für multi-


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kulturelle und migrantinnenspezifische. Dazu gehört auch ihr neu erwachtes Interesse an der türkischen Sprache, die sie als wertvolle Ressource in der multikulturellen Gesellschaft erkennt. Zugleich gelingt es Jale durch die Reproduktion des Multikulturalismus-Diskurses, die Erfahrung zu artikulieren, dass sie sich mit fortschreitender Bildungskarriere zunehmend von ihrer Familie entfernt. Ihre multikulturelle Redeform ermöglicht ihr das in einer Weise, in der sie sich ihrem Herkunftskontext trotz zunehmender Verschiedenheit sehr loyal gegenüber verhält:6 Auch die türkische Bevölkerung selbst wird als multikulturell beschrieben; es gebe ungebildete, konservative, religiöse etc., aber eben auch aufgeklärte, emanzipierte und moderne Türken und Türkinnen wie sie. Mit ihrer Selbstbeschreibung als eine moderne und emanzipierte Türkin mit einer multikulturellen Identität gelingt es dieser Studentin daher insgesamt, ebenso selbstbewusst wie studienmotiviert die selbstverständliche Mitgliedschaft im höheren Bildungssystem zu beanspruchen – eine Leistung, die für soziale Aufsteiger(innen) gerade nicht selbstverständlich ist. Trotz verschiedener Schwierigkeiten, die sie auf dem Weg in die Universität schon erfahren hat, lässt sie sich von dem Wagnis der Fortsetzung ihrer Aufstiegskarriere nicht abschrecken. Anders als im Falle der Medizinstudentin Özlem zeichnet sich das Handlungsmuster des skizzierten Kontrastfalles der Pädagogikstudentin durch die explizite und wiederholte Mobilisierung von ethnischen und geschlechtsbezogenen Unterscheidungen aus. Auch spielen außerschulische und außerfamiliale Freundschaften für die Multikulturalistin eine weit größere Rolle als für die Rücksichtsvolle. Im Einzelfall können Geschlecht, Ethnizität, Arbeitermilieu, Freundschaften und andere Merkmale, mit deren Hilfe die Lebenssituation der Kinder von Migranten häufig beschrieben wird, für die Handlungsmuster der qua Bildung aufsteigenden Kinder der Arbeitsmigranten in ganz unterschiedlicher Weise relevant oder eben auch irrelevant sein. Dies zeigt auch die Kontrastierung der vorgestellten Handlungsmuster durch Analysen von Aufstiegsmustern männlicher Bildungsaufsteiger (Pott 2002). Dass außerdem die jeweils gefundenen Formen des Umgangs mit schulischen/universitären, familialen und adoleszenztypischen Erfahrungen und Problemlagen individuell variieren, ändert nichts an der zentralen Aussage des Beitrags: Für das Verständnis der Bedingungen und Formen von Bildungsaufstiegsprozessen in der zweiten Migrantengeneration ist die analytische Berücksichtigung sowohl der migranten Familien als auch der für höhere Bildungskarrieren relevanten Organisationen des Erziehungssystems unabdingbar. 6

Loyalität demonstriert Jale auch dadurch, dass sie am Anfang ihres Studiums noch bei ihren Eltern wohnen bleibt. Wie eine ihrer älteren Schwestern zieht sie nach den ersten erfolgreich absolvierten Semestern in ein Studentenwohnheim.


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Literatur Berger, P. A. (1998): Soziale Mobilität. In: Schäfers/Zapf (1998): 574-583 Hoggart, R. (1971): The Uses of Literacy. Aspects of working-class life, with special references to publications and entertainments. London Luckmann, Th. (Hrsg.) (1980): Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen. Sammlung. Paderborn/München/Wien/Zürich Schöningh Luckmann, Th./ Berger, P. (1980): Soziale Mobilität und persönliche Identität. In: Luckmann (1980): 142-160 Pott, A. (2002): Ethnizität und Raum im Aufstiegsprozess. Eine Untersuchung zum Bildungsaufstieg in der zweiten türkischen Migrantengeneration. Opladen: Leske + Budrich Riesner, S. (1995): Junge türkische Frauen der zweiten Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Analyse von Sozialisationsbedingungen und Lebensentwürfen anhand lebensgeschichtlich orientierter Interviews. Frankfurt/M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation Schäfers, B./Zapf, W. (Hrsg.) (1998): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Opladen: Leske + Budrich Schlüter, A. (1992): Arbeitertöchter und ihr sozialer Aufstieg. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und sozialer Mobilität. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag Williams, R. (1985): The Country and the City. London Young, M./Willmott, P. (1972): Family and Kinship in East London: Middlesex



Bildungsaufstieg als Migrationsprojekt. Fallstudie aus einem Forschungsprojekt zu Bildungskarrieren und adoleszenten Ablösungsprozessen bei männlichen Jugendlichen aus türkischen Migrantenfamilien Janina Zölch/Vera King/Hans-Christoph Koller/Javier Carnicer/ Elvin Subow

Soziale Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem werden vor allem durch die Faktoren Schichtzugehörigkeit, Geschlecht und Migrationsstatus bedingt. Empirische Untersuchungen über die Bildungsverläufe von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund geringere Bildungschancen haben als einheimische SchülerInnen und dass dabei männliche Jugendliche durchschnittlich schlechter abschneiden als weibliche. Junge Männer mit türkischem Migrationshintergrund sind zum Beispiel unter den Abiturienten deutlich unterrepräsentiert.1 Um den bisher wenig erforschten Gründen für das schlechtere Abschneiden der jungen Männer mit türkischem Migrationshintergrund nachzugehen, sind qualitative Untersuchungen nötig, die sowohl positive als auch negative Bildungskarrieren nachzeichnen und deren Bedingungen rekonstruieren. An diesem Punkt setzt ein aktuell laufendes Forschungsprojekt2 an, das das Ziel verfolgt, biographische Verläufe formal erfolgreicher und weniger erfolgreicher Bildungskarrieren von männlichen Adoleszenten aus türkischen Migrantenfamilien zu rekonstruieren und zu kontrastieren, um dadurch Aufschlüsse über die Faktoren zu gewinnen, die die Unterschiede in den Verläufen bedingen. Als 1

2

Die größte Gruppe der in Deutschland lebenden Migranten stellen die aus der Türkei gewanderten dar; zugleich weist diese Gruppe unter den verschiedenen Migrantengruppen über alle Alterstufen die niedrigste Schulabschlussquote sowie den geringsten Anteil an Schülern der gymnasialen Oberstufe auf (Dinkel u.a. 1999, Baumert u.a. 2001). Es handelt sich dabei um das von der DFG geförderte Forschungsprojekt „Bildungskarrieren und adoleszente Ablösungsprozesse bei männlichen Jugendlichen aus türkischen Migrantenfamilien“, durchgeführt unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Vera King und Prof. Dr. Hans-Christoph Koller, Sektion für Allgemeine, Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft der Fakultät 4, Universität Hamburg. Wissenschaftliche Mitarbeiter: Javier Carnicer, Janina Zölch; studentische Hilfskraft: Elvin Subow.


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bildungserfolgreich gelten dabei junge Männer, die das Abitur erworben und vor kurzem ein Studium begonnen haben, da sie damit den höchsten formalen Abschluss in Deutschland anstreben. Als weniger bildungserfolgreich werden Gleichaltrige angesehen, die zwar eine zur Hochschulreife führende Schule besuchten, diese Schulausbildung aber vor dem Abitur abgebrochen haben. Je Familie werden nach Möglichkeit Vater, Mutter und (mindestens) ein Sohn interviewt (insgesamt handelt es sich um bis zu 60 Interviews). Aus diesem Projekt wird im Folgenden eine Familie, bei der die Eltern aus der Türkei nach Deutschland migriert sind, mit einem bildungserfolgreichen Sohn vorgestellt. Dabei wird in diesem Beitrag das Augenmerk vor allem auf die Wechselwirkungen zwischen adoleszenten Ablösungsprozessen und der Bedeutung der Bildungskarriere in der intergenerationalen Dynamik von Vater, Mutter und Sohn gerichtet.

Die Bedeutung der Herkunftsfamilie für den Bildungserfolg Eine Schlüsselinstanz für die Art der Bildungsbeteiligung und den Bildungserfolg der nachfolgenden Generation stellt, so ein zentraler Befund der Bildungsforschung, die Familie dar. Unklar ist jedoch, wie „der Prozess der intergenerationalen Transmission von Bildungschancen“ (Becker/Lauterbach 2004, S. 13) im Einzelnen vonstatten geht. Es ist davon auszugehen, dass in Bezug auf die geringeren Bildungserfolge von Kindern aus Migrantenfamilien zwar Zusammenhänge mit der sozialen Klasse oder Schicht bestehen, dass diese jedoch weder einfache Effekte schichtspezifischer Kapitalausstattung noch eines im engeren Sinne schichttypischen oder migrationsspezifischen Mangels an Bildungsaspirationen darstellen.3 Erklärungsansätze, die sich auf Kapitalausstattung sowie Bildungsaspirationen beziehen, müssen offenbar genauer differenziert werden und weitere Faktoren in ihren Wirkungen und Wechselwirkungen einbeziehen. Zu diesen gehört die Qualität der familialen Generationenbeziehungen (Diewald/Schupp 2004), die den Kapitalausstattungen unterschiedliche Bedeutung verleiht, aber auch – und darauf liegt in unserer Untersuchung der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit – die Art und Weise, wie im Prozess der adoleszenten Ablösung die Erfahrungen in der Herkunftsfamilie verarbeitet und generational tradierte, familien- oder milieuspezifische Sinn- und Praxisfiguren modifiziert werden können. Dabei wird die Ablösung nicht, wie häufig impli3

Ditton u.a. konnten mit ihrer empirischen Erhebung sogar deutlich machen, dass die Quote der Gymnasialwünsche für ihre Kinder in Familien, in denen beide Elternteile nicht in Deutschland geboren sind, mit 42,4% höher liegt als in Familien mit zwei in Deutschland geborenen Elternteilen (35,8%). (vgl. Ditton u.a. 2005: 290 f.)


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ziert, als einseitige Entwicklungsaufgabe gefasst, sondern als intergenerationales und insofern intersubjektives Geschehen betrachtet (King 2004). Die Bedingungen der Möglichkeit für Ablösungsprozesse und daraus resultierende Eigenpositionierung variieren auch in Abhängigkeit von den elterlichen generativen Kompetenzen und der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung. Forschungspraktisch bedeutet dies, dass in unserer Untersuchung sowohl junge Männer als auch ihre Eltern – und somit die Sichtweise auf die Familienbeziehungen von Eltern und Söhnen – in die Untersuchung einbezogen werden.

Doppelte Transformationsanforderung: Adoleszenz und Migration Unter Migrationsbedingungen stellt Adoleszenz strukturell eine doppelte Herausforderung dar: Zum einen geht es für Jugendliche mit Migrationshintergrund (wie für alle Jugendlichen in modernisierten Gesellschaften) um den Wandel vom Status des Kindes zum Status des Erwachsenen und die Bewältigung der damit verbundenen Besonderungs- und Individuierungserfahrungen, die mit der Art der Ablösung von den Eltern verbunden sind.4 Zum anderen ist mit dem Migrationshintergrund selbst eine weitere Transformationsanforderung verbunden: Migration und damit verbundene Trennungs- und Umgestaltungsnotwendigkeiten der gewanderten Familie und ihrer Mitglieder erzeugen in den familialen Generationenbeziehungen spezifische Bedingungen für die Trennungs- und Umgestaltungsprozesse der adoleszenten Kinder. Solche Prozesse vollziehen sich für Jugendliche mit Migrationshintergrund überdies insofern unter besonderen Bedingungen, als ihnen innerhalb der im Zuge der Adoleszenz immer wichtiger werdenden Instanzen wie Peergroup, Schule oder Öffentlichkeit tendenziell die Rolle von „Außenseitern“ im Verhältnis zu den „Etablierten“5 zukommt und sie deshalb mit einer weiteren Besonderungserfahrung konfrontiert werden. Aus dieser Sicht gilt es zu untersuchen, in welcher Weise der Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund mit der Bewältigung dieser doppelten, miteinander verschränkten Herausforderung unter Bedingungen des Migrantenstatus und daher mit den Entwicklungsprozessen der Adoleszenz zusammenhängt. Ebenso ist zu klären, wie die Kompetenz zur Eigenpositionierung im sozialen Raum verbunden ist mit der Qualität und den Resultaten der adoleszenten Ablösungsprozesse. Fassen wir die skizzierten Gesichtspunkte zusammen, so kann davon ausgegangen werden, dass die Sozialisation im Elternhaus einen der zentralen Faktoren bei der Reproduktion von Bildungsungleichheit darstellt – die spezifischen 4 5

Vgl. King/Schwab 2000 sowie die Beiträge von King und Koller in diesem Band. Im Sinne von Elias/Scotson 1965; vgl. auch Juhasz/Mey 2003.


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Wirkmechanismen müssen jedoch in vielen Aspekten erst noch erhellt und präzisiert werden. Gerade die Zwischenglieder in dem von Hurrelmann so genannten „zirkulären Verlauf des Sozialisationsprozesses“ (2000, S.170), die Übergangsbereiche und Transpositionen zwischen familialen und außerfamilialen Erfahrungen, die insbesondere in der Adoleszenz bedeutsam werden, müssen hier ins Zentrum rücken. Ein fehlendes Bindeglied stellen in diesem Sinne gerade jene Prozesse dar, die einerseits in starkem Maße von der Herkunftsfamilie geprägt sind, aber zugleich einen Übergangsbereich zwischen Familie und Schule bzw. außerfamilialen gesellschaftlichen Feldern darstellen – die adoleszenten Entwicklungs-, Ablösungs- oder Individuationsprozesse. In Hinblick auf die Verbindung von Methode und Gegenstand ist entsprechend anzunehmen, dass sich die Komplexität und Subtilität dieser Zusammenhänge eher einer detaillierten qualitativen Analyse erschließt – im Folgenden veranschaulicht anhand von Ausschnitten der narrations- und sequenzanalytischen Rekonstruktion des Falls einer Familie. Fallrekonstruktion Familie Güngör6 Anhand der folgenden detaillierten Fallanalyse sollen die Wechselwirkungen zwischen Qualität und Dynamik der Eltern-Kind-Beziehung, migrationsspezifischen Erfahrungen, adoleszenten Ablösungsprozessen und der Bildungskarriere Engin Güngörs rekonstruiert werden.7 Der 25jährige Engin ist in einem so genannten Problemstadtteil8 einer mitteldeutschen Großstadt aufgewachsen. Sein Vater war zu Beginn der 1970erJahre als Gastarbeiter aus einem türkischen Dorf nach Deutschland mi6 7

8

Alle Namens- und Ortsangaben wurden anonymisiert. Aufgrund des ausgeführten Forschungsinteresses ist es erforderlich, Entwicklungs- und Verarbeitungsprozesse auch jenseits subjektiver Deutungen möglichst präzise erfassen zu können, weshalb dem Projekt in methodischer Hinsicht ein qualitatives Design zugrunde liegt, das auf die Rekonstruktion biographischer und interaktiver Prozessstrukturen abzielt, die mithilfe narrativer Interviews (vgl. Schütze 1977, Hermanns 1991) erhoben werden. Die Auswertung der Interviews erfolgt zum einen mit der Narrationsanalyse im Anschluss an Fritz Schütze (Schütze 1983, Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997), mit der die Interviewtexte in ihrer gesamten Länge betrachtet und übergreifende Ereignisketten bzw. Erzählstrukturen herausgearbeitet werden können. Zum anderen werden ausgewählte Textpassagen mit dem Verfahren der Sequenzanalyse in Anlehnung an die objektive Hermeneutik (Oevermann u.a. 1979, Wernet 2000) analysiert, wodurch ein präziser Zugriff auf die Differenz zwischen dem subjektiv vermeinten Sinn und der latenten objektiven Sinnstruktur möglich wird. Aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunkte verspricht die Triangulation der beiden Methoden fruchtbare Ergebnisse. Vgl. auch King 2009. Der Stadtteil gilt als sog. Brennpunkt, der für seinen hohen Anteil an (türkischen) Migranten bekannt ist.


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griert und ist seitdem als Facharbeiter tätig. Seine Mutter folgte nach der Hochzeit 1980 und arbeitet heute als Krankenpflegerin. Beide setzen sich seit Jahren aktiv für ihren Stadtteil ein. Engins um zwei Jahre älterer Bruder, Özgan, hat nach Abschluss seines Studiums vor kurzem seine erste akademische Anstellung angetreten. Beide Söhne leben noch in der elterlichen Wohnung. Engins Bildungsweg verlief zunächst sehr erfolgreich. Früh besuchte er einen Kindergarten und darauf vier Jahre lang eine Gesamtschule. Dort hatte er sehr gute Noten, sodass er als einziger der Schüler mit Migrationshintergrund aus seiner Klasse eine Empfehlung für das Gymnasium erhielt. Anfangs zeigte er auch auf dem Gymnasium gute Leistungen, die aber etwa ab der siebten Klasse nachließen. Aufgrund des daher eher schlechten Abiturdurchschnitts musste er ein Jahr auf einen Studienplatz in seiner mitteldeutschen Heimatstadt warten, das er mit Jobben verbrachte. Das daran anschließende Jurastudium konnte er in einem überdurchschnittlich raschen Studienverlauf mit einem zudem herausragend guten ersten Staatsexamen abschließen, durch das ihm viele berufliche Möglichkeiten offen stehen. Engin, dem Sohn türkischer Migranten aus einem sog. Problemstadtteil, ist es somit gelungen, eine steile Bildungskarriere zu vollziehen. Indem die Ergebnisse der Analysen der Interviews mit Engin sowie seinen beiden Eltern, Herrn und Frau Güngör, zu einem Familienporträt verdichtet werden, soll den vielschichtigen Bedingungskonstellationen, Motivlagen und Folgen dieses Erfolgs auf die Spur gekommen werden.

Zum Verhältnis von Migration und Bildungsaspirationen der Eltern Interviewerin: Sie ham auch gesagt, dass Sie am Anfang, also dass sie bestimmte Ziele für Ihre Kinder haben. So Wünsche, wie sie sein, [ja, dass die] was sie schaffen solln. Herr Güngör: Ja, dass die, ich sag mal, dass die mal einmal die, die studieren. [mh] Die, ne? [mh] Einmal studieren. [mh] Das hatte ich das Ziel, ja. [so Ihr Wunsch] Ja, das genau, ja. [mh] Das hatte ich denn irgendwie so. Da wollen wir hin! [mh] Und da versuchen wir erstmal hinzukommen.

Ähnlich wie Herr Güngör in dieser Sequenz beschreibt auch seine Frau mit großer Bestimmtheit, dass der Bildungserfolg der Söhne ihr erklärtes Ziel gewesen sei. Dabei klingt Herrn Güngörs Ausruf „Da wollen wir hin!“9 so, als handele es sich um ein gemeinsames Projekt. Es geht nicht (nur) um die Wünsche der Söhne und deren individuelle Wege, sondern vielmehr um eine größere Gruppe 9

Eingerückte Passagen und Sätze bzw. Wörter zwischen doppelten Anführungsstrichen sind, sofern keine Quelle angegeben wird, wörtliche Zitate aus dem Interviewtranskript. Dabei werden kurze Äußerungen der Interviewerin, die den Redefluss des Gegenübers nicht unterbrechen, zwischen eckigen Klammern [] wiedergegeben, paraverbale Äußerungen des Sprechers zwischen Schrägstrichen (/lacht/) und betont ausgesprochene Wörter fett gesetzt.


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(„wir“ – die Familie), die dieses Ziel vor Augen hat. Dadurch wirkt das erwünschte Studieren wie ein Auftrag, der von Herrn Güngör (bzw. beiden Elternteilen) an die Kinder weitergegeben wird. Es geht für die Söhne nicht nur um ihre persönlichen Ziele, sondern auch darum, es für die Familie zu schaffen. Hilfreich ist dabei, dass sich die Eltern, da sie den Bildungsaufstieg als Familienprojekt betrachten, intensiv für diesen einsetzen. So erreichte die Mutter, dass der kleine Engin einen Acht-Stunden-Kindergartenplatz erhielt, damit er dort schon früh ein gutes Deutsch lernen konnte. Für den bücherliebenden Grundschüler trug sie später ohne Unterlass Bücher aus der Bücherhalle nachhause. Engins Vater war an den Schulen seines Sohnes, zum Beispiel als Elternvertreter, sehr engagiert und hat Anteil daran, dass dieser eine Gymnasialempfehlung erhielt. Während des Studiums ermöglichten sie es ihm, weiter zuhause zu wohnen, und unterstützen ihn finanziell so sehr, dass er nicht arbeiten musste, sondern sich allein auf das Lernen konzentrieren konnte. Vor allem in der Erzählung von Frau Güngör wird deutlich, dass sie aufgrund ihres unbedingten Aufstiegswillens für ihren Sohn „ständig gezittert“ hat. Den Wunsch, Engin zum Abitur zu führen, habe sie als schwere Last auf ihren Schultern gespürt und wie ein Gefängnis empfunden, das sie einengte und unfrei machte. Erst durch das Bestehen seien die Ketten gelöst, ihr die Last abgenommen worden. Die Analysen der Elterninterviews machen deutlich, dass dieser starke Wille auch mit der je eigenen Verarbeitung der Migration in Zusammenhang zu sehen ist. Auf dieses Thema des Migrationsmotivs angesprochen reagiert Herr Güngör mit deutlichen Formulierungsschwierigkeiten. In diesen Sequenzen wirkt er konfuser als in anderen und drückt sich zudem vage und widersprüchlich aus, was die Vermutung begründet, dass dieses Thema für ihn problembelastet ist. Er gibt an, in der Türkei nicht studiert haben zu können, ohne dafür eine Erklärung anzuführen.10 Daher sei er als Arbeitsmigrant nach Deutschland gekommen, wobei er diesen vermeintlich degradierenden Begriff selbst nicht ausspricht. Durch seine Darstellungsweise und Vergleiche mit anderen Migranten wird deutlich, dass er Hoffnungen auf eine eventuelle Studienmöglichkeit in Deutschland gesetzt hat, die sich jedoch nicht erfüllten. Stattdessen ist er bis heute als Facharbeiter tätig, in einem Beruf also, der weit von dem erträumten Studium entfernt ist. Herr Güngör hätte gerne studiert – nun geht der Auftrag an seine Söhne über. Denn so sei es sein oberstes Ziel gewesen, „dass wenigstens, dass die mal [mh] (.) gute Schulbildung haben, ne?“. Während die Analyse bei Engins Vater aufgezeigt hat, dass er durch die Migration nicht das gewonnen hat, was er sich erwünschte, ist bei der Mutter zu 10

Unter Einbeziehung des historischen Kontextes der Türkei zu Beginn der 1970er Jahre könnten politische Gründe als Ursache vermutet werden.


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beobachten, dass ihr erfolgreicher Weg gerade durch die Ausreise beendet wurde, sie durch die Migration etwas verloren hat. Auch bei ihr hebt sich die Erzählung zur Migration von ihrem üblichen Sprachstil ab. Sie ist knapp und teilweise diffus, wodurch ebenfalls der Eindruck entsteht, dass es sich um ein für sie problembesetztes Thema handelt. Frau Güngör schildert, wie sie quasi von der Schulbank aus heiratete, wobei ihre Eltern gegen diese Ehe gewesen seien. Deutlich wird, dass sie davon ausgegangen war, dass ihr Mann in der Türkei bleiben würde. Er kehrte jedoch kurz nach der Hochzeit wieder nach Deutschland zurück, wo er auch in Zukunft bleiben wollte. Nach einigem Überlegen beschloss Frau Güngör, ihrem Mann in das fremde Land zu folgen. Auch wenn sie es nicht explizit ausführt, wird vor allem durch ihre Erzählweise spürbar, dass ihr diese Entscheidung schwer gefallen ist. Als Hauptgrund führt sie den dadurch geplatzten Traum an, zu studieren. In Deutschland erlangte die junge Frau, die in der Türkei als nächstes ein Hochschulstudium angestrebt hatte, keine Anschlussmöglichkeit. Nach Zwischenstationen in einfachen Tätigkeiten, die sie, wie sie erzählt, aufgrund von Allergien beenden musste, machte sie eine Ausbildung zur Krankenpflegerin und ist seitdem in diesem Beruf tätig. Bereits in der Kennenlernphase vor dem Interview machte sie jedoch deutlich, dass sie auch diese Tätigkeit bald aufgeben möchte, obwohl sie erst 50 Jahre alt ist. Frau Güngör resümiert im Interview, dass ihr Weg seit der Migration sehr schwer gewesen sei, da sie viel zu kämpfen gehabt habe. Auffällig ist die von ihr verwendete Kriegsterminologie; sie erscheint als Soldatin, die in Deutschland kämpfen musste, um nicht vernichtet zu werden. Als Schlachtfelder benennt sie die Familie, den Beruf und die Gesellschaft. Zentral in ihrer Erzählung sind ihre Erfahrungen der Diskriminierung sowie die damit zusammenhängende Aversion gegen den Stadtteil, in dem sie lebt, die sie jeweils durch sehr starke Bilder ausdrückt. Sie fühle „Kälte und Hass“ in den „Lungen“ der Anderen ihr gegenüber aufgrund ihres Migrationshintergrundes. Durch diese ungewöhnliche Metapher, die auch an ihr Asthma denken lässt, wird ihre Verletzung auf eindrucksvolle Weise ins Bild gesetzt. In Bezug auf die starke Luftverschmutzung in Stadtteil A, gegen die politisch nichts unternommen werde, zieht sie überdies einen Vergleich mit der Vergasung der Juden im Nationalsozialismus, der äußerst drastisch und objektiv nicht angebracht ist. Gerade dadurch aber wird spürbar, in welch extremer Weise sich Frau Güngör existentiell bedroht fühlt und wie sehr sie unter dem Stadtteil leidet, ihn kaum ertragen kann, sich dort wie eingesperrt und gequält fühlt. Insgesamt wirkt es zudem so, als sei sie geradezu betrogen worden, da sie davon ausgegangen war, dass ihr Mann nach der Hochzeit wieder in die Türkei zurückkehren würde. In den Interviews beider Elternteile bleibt ihre Beziehung zueinander gänzlich blass. Vor allem bei Frau Güngör entsteht der Eindruck,


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dass ihre Liebe der Wut, Reue und Enttäuschung gewichen ist, die durch die Folgen der Migration ausgelöst worden sind. Sie wurde gleichsam um ihr Studium betrogen und dadurch unglücklich. Wenigstens die Söhne sollen stellvertretend den Weg der höheren Bildung gehen. Hier wird die verdoppelte Transformationsanforderung für die nachfolgende Generation – „die Transformationen der Adoleszenz, eingebettet in Bewältigungen und Neubildungen der Migration“ (King 2005, S.73) – besonders augenfällig. Aufgrund des für sie nicht erfolgreichen Verlaufs ihres Migrationsprojekts vermitteln beide Eltern ihren Söhnen die Botschaft ‚Lebe du meinen Traum‘. Diese Botschaft kann von der nachfolgenden Generation als belastender und einengender Auftrag empfunden werden und, wie King (2005) aufgezeigt hat, in unterschiedlichen Konstellation auch entsprechend konflikthafte Bildungsverläufe zur Folge haben. Wie stellt sich nun Engins eigene Sichtweise dar?

Engins Umgang mit dem Auftrag Engin: Also meine Eltern, äm besonders mein Vater war auch im Elternrat und so weiter, also er hat sich schon engagiert und äh, (.) vielfach denkt er auch, dass mein Erfolg sein Werk ist. Also so hab ich das Gefühl, [mh] aber die wissen ja nich, was in mir selbst vorgeht, sie dachten, ich bin jetzt vom Weg abgekommen, weil ich so sehr schlechte Noten hatte und so weiter. Aber ich hatte praktisch alles im Griff. [mh] Für mich war die Schule, also ab der achten bis zur dreizehnten Klasse wirklich nur: Ich will mein Abitur haben, [ja] damit ich studieren kann und dann will ich richtig loslegen.

Engin reagierte auf diese Delegation in sehr besonderer Weise. Die Inszenierung seiner Erzählung macht den Eindruck einer Ex-Post-Konstruktion, die seinem gesamten Lebensweg im Nachhinein ein Drehbuch zugrunde legt, für das er sich zugleich als Regisseur und als heldenhafter Hauptdarsteller ausgibt. Bereits seit der fünften Klasse sei ihm klar gewesen, dass er studieren wolle und auch das Berufsziel Rechtsanwalt habe bereits früh festgestanden. Seine ‚Gegner’, das, wogegen er kämpfen musste, seien Vorurteile aufgrund seines Migrationshintergrundes, aber auch das Verhalten der Eltern gewesen, die ihm bei schlechten Noten einen Kontrollverlust zugeschrieben und anhaltende Misserfolge befürchtet hätten. Demgegenüber versucht Engin immer wieder deutlich zu machen, dass er während der Schulzeit seine eigenen Strategien angewandt habe, um das Abitur zu erreichen, und sich des guten Ausgangs – auch in Krisensituationen – immer bewusst gewesen sei. Er stellt es so dar, als sei er als Held des Filmes immer wieder von Angreifern bedroht gewesen, die ihn zu besiegen suchten, obgleich das Happy End von vornherein feststand. In der aktuellen Interviewsituation ist der Plan aufgegangen. Engin hat sehr schnell und mit einem hervorragenden Ergebnis sein erstes Staatsexamen abgeschlossen, wobei er seinen


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Aufstieg in Worte fasst, die an einen siegreichen Feldherrn denken lassen. Dabei ist es ihm wichtig aufzuzeigen, dass er selbst die Verantwortung für diesen Sieg trägt und der Vater seines Erfolgs ist. Den Beitrag seiner Eltern erkennt er nur in Grundzügen an. Sein spezifischer Umgang mit den Bildungsaspirationen der Eltern sowie deren Hintergrund ist dadurch charakterisierbar, dass er diese zwar übernimmt, aber im Verlauf der Adoleszenz auf eine Weise zur eigenen Sache gemacht hat, in der der Beitrag der Eltern kaum noch erkennbar ist. Betrachten wir die Darstellung seiner Erfolgsgeschichte genauer. In den ersten Schuljahren glänzte Engin durch sehr gute Noten und erfüllte somit die elterlichen Hoffnungen. Im Zuge der frühen Adoleszenz versuchte er sich jedoch durch eine Pendelbewegung erste Freiräume zu schaffen. Engin: Der Druck von Eltern kam natürlich, aber ich dachte mir: Die solln mich ruhig in Ruhe lassen [mh] ich hab das alles im Griff. Die dachten weil mein Durchschnitt so schlecht wurde [mh] also immer im ersten Halbjahr hat ich dann ein schlechten Durchschnitt. [mh] […] Dann hab ich immer nach dem ersten Halbjahr, dann hab ich da alles um eine Note verbessert [oh] um Eins Komma Null praktisch war dann der Durchschnitt immer besser. Dann warn auch meine Eltern so einigermaßen beruhigt.

Engin beschreibt in dieser Sequenz einen strategischen Spagat zwischen der eigenen Haltung und den Ansprüchen der Eltern: Im ersten Halbjahr sei er seiner Unlust gefolgt und habe dafür schlechte Noten erhalten, im zweiten habe er dem Druck der Eltern nachgegeben und seine Noten deutlich gesteigert. Engin präsentiert sich somit auf der inhaltlichen Ebene als ein intentional handelndes Subjekt, das ganz bewusst zwischen eigenem Vergnügen und dem Anspruch der Eltern pendelt. Erkennbar sind erste Anzeichen eines biographischen Handlungsschemas, mit dem er den institutionellen Ablaufmustern sowie den Aspirationen der Eltern begegnet. Diese Tendenz ist auch im Zusammenhang mit dem Abitur auszumachen, das er zwar besteht, doch mit einer schlechten Durchschnittsnote. Das Pendeln zwischen großem Erfolg und nachlassender Anstrengung als ein – auch im ganz konkreten Sinne ‚ambitendenter’ – Umgang mit dem elterlichen Auftrag verschafft ihm Freiräume, enthielt aber auch die Gefahr des Scheiterns. Erst nach dem Abitur bot sich ihm ein neuer Möglichkeitsraum, denn beide Elternteile berichten, dass sie sich danach weniger eingemischt hätten. Sein Vater macht deutlich, dass Engin zeitgleich mit dem Abitur aus seiner Sicht einen Erwachsenenstatus erreicht habe. Bis dahin hätten die Söhne unter seiner Verantwortung gestanden, doch nun „können sie schon mal selber anpacken“. Mit der Hochschulreife gesteht er seinen Kindern somit mehr Freiheiten, Rechte und auch mehr Fähigkeiten zu. Zugleich waren seine eigenen Möglichkeiten, sich als Vater einzumischen, mit dem Abitur weitgehend erschöpft. Die Hochschule befindet sich jenseits der väterlichen Lebenswelt, außerhalb des Stadtteils


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A, in dem er durch seinen jahrelangen Einsatz als Experte auftreten kann. Darüber hinaus fehlen ihm, wie auch seiner Frau, Kenntnisse über das Milieu der Universität und das Wesen eines Studiums. Aus den genannten Gründen, musste sich die Art des Einflusses zwangsläufig ändern. Seine Unterstützungsmacht erfolgte daraufhin nur noch auf finanzieller Ebene, womit er für Engin jedoch unersetzlich bleibt. Auch Frau Güngör beschreibt, wie ihr Einmischen nach dem Abitur die Ebene gewechselt habe. Es richte sich nicht mehr auf Leistungen und Noten, sondern nur noch auf das körperliche Wohl ihres Sohnes. Die größere Eigenständigkeit des Sohnes geht jedoch nicht nur darauf zurück, dass die Eltern – anders als in der Schulzeit – aus der Welt des Studiums objektiv ausgeschlossen sind, sondern auch auf eine in einigen Passagen deutlich werdende, reflektierte generative Haltung, die vor allem bei Frau Güngör erkennbar wird. So betont sie, dass man sich als Mutter nicht zu sehr einmischen dürfe, um keine „Muttersöhnchen“ heranzuziehen und um den Kindern das Sammeln eigener Erfahrungen zu ermöglichen. Indem sie hervorhebt, wie wichtig es sei, sich als Eltern stets weiterzuentwickeln und die eigenen Fehler zu erkennen, macht sie darüber hinaus auf eindrückliche Weise deutlich, dass sie die Eltern-Kind-Beziehung nicht als absolut hierarchisch betrachtet. In Bezug auf die ‚Pubertät’ beschreibt sie es als Aufgabe der erwachsenen Generation, den neuen Menschen zu akzeptieren, auch wenn es nicht immer leicht falle. Als konkretes Beispiel in Bezug auf Engin spricht sie vom Rauchen, das dieser in der Pubertät angefangen habe. Auch wenn sie selbst dieses ablehne, habe sie es akzeptiert. Dadurch, dass die Eltern insbesondere nach dem Abitur nicht mehr so viel Einfluss ausüben konnten und wollten, hat Engin beträchtlich an Spielraum gewonnen, den er positiv für sich nutzen konnte. Sie gaben ihm die Möglichkeit, den Erfolg als seinen eigenen zu verbuchen und ihn nicht als bloße Erfüllung des Auftrages zu sehen. So zeichnet er es im Interview auch so, dass er das Abitur lediglich als Eintrittskarte für das Studium erreichen wollte, um anschließend „richtig los(zu)legen“. Dadurch deklariert er den von den Eltern mitgeformten Weg zu einer weniger bedeutsamen Vorlage für das für ihn eigentlich Relevante, das danach kommt, also der folgende eigene Karriereweg im Studium, bei dem er erst ‚richtig loslegt’. In Bezug auf das Studium spricht er dann auch ganz konkret von einem Plan, den er gehabt habe: nämlich nicht einfach nur zu bestehen, sondern hervorragend abzuschneiden und sich somit von der Masse abzuheben. Dies habe sich jedoch erst im Verlauf des Studiums ergeben. Am Anfang sei es sein Ziel gewesen, möglichst schnell das Examen zu erhalten, egal mit welcher Note, um dann schnell Geld zu verdienen. „Und mit der Zeit dacht ich mir: Was soll das hier? Und: Ich will auch abräumen, ne? /schmunzelt/“. Mit dem Verb „abräumen“ verwendet er ein Bild aus dem Be-


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reich des Spiels und legt damit nahe, dass er durch seinen geschickten Einsatz den kompletten Spieltisch abräumt und als großer Gewinner der Partie hervorgeht. Engin wollte nicht einfach nur bestehen, er wollte als großer Sieger aus dem Studium hervorgehen, was ihm auch gelang. Insbesondere im Verlauf des Studiums scheint es ihm zunehmend möglich zu werden – mit bedingt durch die veränderte Haltung der Eltern – nicht einfach nur ihren Auftrag zu erfüllen, sondern sich auch Spielraum für Eigenes zu schaffen.11 Dabei wird in Engins Erleben seine Eigenständigkeit dadurch abgesichert, dass er den Auftrag der Eltern noch weit übertrifft.

Nichtvollzogene Ablösung von den Eltern Durch seinen Bildungserfolg hat Engin die Eltern übertroffen und sich in seinem Bildungserfolg sozial entfernt. Die Analyse der Interviews gibt zugleich Hinweise darauf, dass die Ablösung von den Eltern indes nicht gänzlich vollzogen wurde. Dies zeigt sich zum einen äußerlich durch die anhaltende räumliche Nähe zu den Eltern. So lebt Engin während und auch trotz des abgeschlossenen Studiums noch immer in seinem Kinderzimmer in der elterlichen Wohnung. Stauber/Du Bois-Reymond (2006) sprechen in diesem Zusammenhang von einem neuen Charakteristikum der Lebenslage junger Erwachsener, der SemiAbhängigkeit, „verstanden als Gleichzeitigkeit von Verselbständigungsbewegungen und verlängerter (nicht nur ökonomischer) Abhängigkeit“ (ebd.: 207), wobei das „Nebeneinander von (ökonomischer) Abhängigkeit und Autonomieansprüchen“ (ebd.: 210) Konfliktpotentiale schaffe. Diesem Dilemma versucht Engin offenbar ‚mental’ zu entfliehen, indem er die Eltern herabsetzt, sich zum Familienernährer erklärt und somit gleichsam die Rollen tauscht. Er zeichnet im 11

Von Vorteil für seinen erfolgreichen Weg war sicher auch, dass die Eltern kulturelles Kapital mit nach Deutschland brachten, auch wenn dies durch die erreichten Berufspositionen in Deutschland eine Entwertung erfahren hat. So spricht Frau Güngör selbst davon, dass es sich bei ihnen um eine „bildungsnahe Familie“ handele. Dadurch gerät Engin weniger stark in das Dilemma, das vor allem die Kinder von Arbeitsmigranten betrifft, „es zwar den Eltern recht machen zu wollen – also deren Wünsche und Träume erfüllen – sich aber eben auch nicht – durch Bildungsaufstieg – entfernen zu wollen“ (King 2005: 66) und dadurch den elterlichen Auftrag nicht konsequent verfolgen zu können. In Bezug auf die Bildungsaspirationen sind sich die Eltern einig und ziehen an einem Strang. Zudem zeigen beide sehr viel Engagement in Stadtteil A sowie der Vater auch in den Schulen der Söhne. Durch diesen Einsatz zeigen sie zugleich Wege nach außen auf. Des Weiteren gelingt es ihnen auch, diese Netzwerke für sich zu nutzen. So zeigt Frau Güngör eine besondere Offenheit für Hilfsangebote. Sie scheut sich nicht, ihre Grenzen anzuerkennen und sich bei kompetenten Stellen Hilfe zu holen, von denen es in ihrem Stadtteil viele gebe. Frau Güngör weiß den Stadtteil somit auch geschickt für sich zu nutzen.


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Interview ein Bild, das seinen Vater und seine Mutter als alt, krank und hilfsbedürftig erscheinen lässt. Er habe so schnell studiert, um seine Eltern von der finanziellen Last zu befreien, die dringend von ihnen genommen werden müsse, da sie sonst darunter zusammenbrechen würden. Engin äußert, dass die beiden den Plan hätten, in die Türkei zurückzukehren, sobald er auf eigenen Füßen stehen kann, was jedoch von keinem der Elternteile berichtet wird. Mit dem Wunsch, seine Eltern zu befreien, kann auch der Gedanke assoziiert werden, sich somit (durch ihr Gehen) wiederum von ihnen zu emanzipieren. Darüber hinaus wolle er ihnen finanziell etwas zurückgeben, für ihre „Verpflegung“ aufkommen, wobei auch in dieser Formulierung eine Abwertung mitklingt. Dies verstärkt das Bild der senilen und gebrechlichen Eltern. Engin zeichnet sich als aufopfernden Sohn; auf der anderen Seite spricht er jedoch nur von materiellen Gesichtspunkten und nicht von Emotionen. Objektiv betrachtet sind seine Eltern mit 54 und 50 Jahren noch nicht sehr alt und auch nicht schwer krank. Es wirkt daher, als mache er sie seniler und hilfsbedürftiger, als sie tatsächlich sind, um sich dadurch über sie stellen zu können. Er möchte die Rolle des Versorgers übernehmen, die Vater und Mutter solange innehatten, wodurch sie auch Druck ausüben konnten. Die Positionen der Generationen sollen vertauscht werden, nicht nur, um ihnen etwas zurückzugeben, was er bekommen hat. Seine Formulierungen legen vielmehr nahe, dass die Eltern beherrscht werden sollen, um zu kompensieren, dass Engin noch immer im Status des Sohnes zuhause lebt. Auch tritt in Engins Sprechen über den Vater nicht nur eine Entidealisierung, sondern auch eine deutliche Entwertung hervor. Als Kind habe er seinen Vater idealisiert; später, im Verlauf der Adoleszenz, jedoch begriffen, dass dieser eben nicht „perfekt“ sei. Engin hat seinen Vater somit entzaubert und entthront. Letzteres geschah zudem durch seinen Bildungserfolg, was er jedoch selbst nicht explizit anführt. Im Vergleich zu anderen, schlechteren Vätern, sei er jedoch (immer noch) als ‚gut’ zu bezeichnen. In der Art des Vergleichs liegt selbst etwas Herablassendes, obgleich er den Vater vor der vollständigen Herabsetzung zu bewahren scheint. Die Entwertung des Vaters wird besonders greifbar in Engins Beschreibung der elterlichen Rollenverteilung. Interviewerin: Und bei deinen Eltern is es auch nich so ne traditionelle Rollenverteilung, ne? Also wie man sich das so vorstellt, oder? Engin: Ne, aber mein Vater hat dazu unmittelbar angesetzt so, dazu sagen wir: ein Versuch. [mh] Wenn ein Straftatbestand versucht wird, [schmunzelt] dazu selbst wenn jemand unmittelbar zur Tat (?), also mein Vater hat unmittelbar angesetzt. [schmunzelt] /schmunzelt/ Um das so durchzuziehen, weil, in der Anfangszeit hatte meine Mutter andere Sorgen, um dem entgegen zu halten. [mh] Aber mit der Zeit hat sie dann alles im Griff und dann kam der Gegenstoß, ne? der Gegenangriff. /lacht/ [schmunzelt] Und dann wurde die Armee meines Vaters praktisch vernichtet. /lacht/ [schmunzelt, mh] […] Mein Vater is jetzt, geht jetzt mehr auf meine Mutter ein und so, ne? [mh] Kommt das wegen dem Alter? Is er zu schwach geworden?


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[schmunzelt] Das muss man auch fragen. Wieso is er jetzt so, ne? [mh] Wieso seh ich meinen Vater jetzt öfter mal staubsaugen oder so?

Sein Vater habe demnach versucht, eine traditionelle Rollenverteilung durchzusetzen, was aber nur solange funktioniert habe, bis die Mutter die Schwierigkeiten der Anfangszeit in Deutschland überwunden und Kraft für einen „Gegenangriff“ gehabt habe. Engin verwendet hier ebenfalls eine Kriegsterminologie („Gegenstoß“, „Gegenangriff“, „Armee“, „vernichtet“), die die Auseinandersetzung um die Rollenverteilung als gewalttätig und zudem bedeutsam erscheinen lässt, da sie es wert ist, dass um sie ein Kampf ausgefochten wird. Indem er diese Kämpfe in einer unterhaltsamen Art darstellt (er lacht mehrmals und steckt damit auch die Interviewerin an), wird die Niederlage des Vaters zu etwas Belustigendem. Das Bild Herrn Güngörs mit dem Staubsauger in der Hand, so legt es Engins Darstellung zunächst nahe, erscheint als das eines geschlagenen und erniedrigten Mannes, der nun der (weiblich konnotierten) Hausarbeit nachgeht.12 Die Entwertung war auch in der Interaktion zwischen Vater und Sohn zu beobachten, als die Interviewerin die Familie besucht hatte. Das Interview mit Herrn Güngör fand in der elterlichen Wohnung statt. Als er Getränke aus der Küche holt, ging die Interviewerin bereits auf den Balkon, den Herr Güngör als Interviewort gewählt hatte, wohin ihr Engin folgte und sich mit ihr unterhielt. Der Sohn setzte die Unterhaltung auch dann noch für längere Zeit fort, als sein Vater mit den Getränken vor der Balkontür wartete. Engin bemerkte dies wohl, ließ ihn jedoch stehen, was wiederum vom Vater hingenommen wurde. Schließlich war es die Interviewerin, die die Situation auflöste, da sie diese im Verhältnis zum passiv wartenden Vater als unangenehm empfand. Die zunächst beschriebene Idealisierung des Vaters hat Engin im Verlauf der Adoleszenz überwunden und eine kritische Sicht ihm gegenüber eingenommen, was ihm einen Gewinn an Selbständigkeit eingebracht hat. Eine realistische Sicht auf den Vater hat er jedoch nicht erreicht, wie in seiner entwertenden Darstellung deutlich wird. Ganz anders und eher idealisierend fällt das Urteil über seine Mutter aus, auf die er „stolz“ sei. Engin: Also meine Frau, die muss auch schon so ähnlich sein, wie meine Mutter. /lacht/ [schmunzelt] Eigenständig, Selbständig. [ja] Also ich hab ne Freundin jetzt, ne? [mh] Und manchmal nervt es mich, dass sie nich eigenständig is. [mh] […] Und (.) meine Mutter is anders, sie, sie regelt viel, [mh] sie kann viel regeln. Man sagt ja: Frauen können zwei Sachen [mh] gleichzeitig machen. Sie macht vier Sachen, sie hat vier Hände. [oh] Also sie kann, sie 12

Im Sinne einer modernen Rollenverteilung könnte dieses Verhalten auch neutral oder sogar als Stärke des modernen Mannes bewertet werden. Und auch Engin gibt an, dass er Hausarbeit verrichte, ohne dies als Erniedrigung zu empfinden. Daher ist nicht von einer generellen Abwertung dieses Verhaltens auszugehen, sondern einer in speziellem Bezug auf seinen Vater, zu dem es nicht passe, da er ein „Idealist“ gewesen sei.


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kann sehr vieles regeln. […] Meine Mutter mit zwei Kindern [mh] und schon in einem gewissen Alter auch angekommen, ne? wo es nich einfach is, so ne Schulbank sozusagen zu drücken, [ja] hat sie das gemacht. (2) […] Und ja, und (4) also meine Freundin muss sich da ran halten, /schmunzelt/ sagen wir mal so.

Engin betont, dass seine Mutter sich trotz schwieriger Bedingungen in Deutschland durchgekämpft habe. Er beschreibt sie bewundernd als starke, selbständige und tatkräftige Frau, die sich in der Ausprägung ihrer Fähigkeiten von anderen Frauen positiv abhebt. Zuvor wurde deutlich, dass er seine Mutter aufgrund ihrer Eigenschaften und der Schwäche des Vaters als über diesem stehend betrachtet. In dieser Sequenz führt er einen weiteren Vergleichsmaßstab an, seine Freundin, die hinter der Mutter zurücksteht und ihr mehr ähneln solle. Auch fällt auf, dass seine aktuelle Partnerin erst nach über zwei Stunden im Interview überhaupt Erwähnung findet und in diesem äußerst blass bleibt. Insgesamt wirkt Engin eher als Bündnispartner der Mutter. Durch den Bildungserfolg wird es ihm möglich, über den Vater hinauszuwachsen und überdies Enttäuschungen der Mutter zu kompensieren. Um einem eigenen Lebensentwurf außerhalb der Herkunftsfamilie folgen zu können, müsste die adoleszente Ablösung jedoch noch weiter vollzogen werden.

Diskriminierung und Distinktion Eingangs wurde betont, dass sich aus dem Migrantenstatus besondere Bedingungen in Zusammenhang mit Instanzen wie Peergroup, Schule oder Öffentlichkeit ergeben. Im Interview mit Engin lassen sich in diesem Kontext neben der Familie zwei weitere Antriebsquellen für seinen Bildungserfolg ausmachen: zum einen die dadurch mögliche ‚stolze Beweisführung’ gegenüber einem Lehrer, durch den er Diskriminierung erfahren hat und dem er nun zeigen kann, dass er es geschafft hat – zum anderen die Distinktion im Verhältnis zu anderen Menschen mit Migrationshintergrund. Engin: Und na ja äm, also meine erste Erfahrung war mit ein Lehrer, das war in der sechsten Klasse, ich hatte einen Durchschnitt von Zwei Komma Zwei in der fünften und sechsten und er hat mir aber schon damals gesagt: Du wirst dein Abitur nich schaffen. Das war in der sechsten Klasse. [was? schmunzelt] Ja.

Die Äußerung des Lehrers wie auch sein schlechtes Abiturzeugnis stellen für Engin bis heute eine Kränkung seines brennenden Ehrgeizes dar. Mehrere Male im Interview macht er seine Missachtung der Schule gegenüber deutlich, wobei an diesen die dargestellte Lockerheit aufgesetzt wirkt. Er will zwar auf die Schule pfeifen, doch dadurch, dass er dies immer wieder erwähnt, wird spürbar,


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dass er mit diesem Kapitel innerlich noch nicht abgeschlossen hat. In diesem Kontext ist auch seine Phantasie zu sehen, einst als Rechtsanwalt, wenn er also einen hohen gesellschaftlichen Status erreicht hat, den ihm einige Lehrer nicht zutrauten und der auch durch seine Abiturnote nicht zu erahnen war, in die Schule zu kommen. Engin: Aber ich pfeif auf die Schule ehrlich gesagt. [ja] (3) Vielleicht wenn ich Rechtsanwalt bin, schau ich da vorbei, [mh] fahr ich mal dahin: /lacht/ Alles klar? /lacht/ [schmunzelt] Interviewer: Ich hab’s geschafft oder wie? Engin: Ja. Dann lass ich meine Visitenkarte da. /lacht/

Engin imaginiert sich als lockeren Anwalt, der nur sagt: „Alles klar?“ und seine Visitenkarte dalässt. Es wirkt wie eine späte Rache, wenn er sich vorstellt, triumphierend an den Ort zurück zu kehren, an dem er gedemütigt wurde. Der Wunsch, dem Lehrer und anderen Schlüsselfiguren zu beweisen, dass er es eben doch schaffen kann, und zwar äußerst erfolgreich, ist als ein weiterer Faktor dafür anzunehmen, „abräumen“ zu wollen. Neben seinem Erfolg ist sein Migrationshintergrund, der auch im Kontext mit dem Lehrer als vermutete Ursache für die negative Prognose erwähnt wird, ein zentrales Thema seiner Erzählung. Dabei nimmt Engin eine Abgrenzung zu anderen Migranten vor, wodurch er einen Distinktionsprofit erzielt.13 Auch die Fallstrukturhypothese, die aus der Sequenzanalyse des Interviewanfangs entwickelt wurde, stützt dieses Bild. Deutlich wird, dass er seine Schulkameraden mit Migrationshintergrund als bloßen ‚Ausländeranteil’ darstellt, deren Versagen als Hintergrund dient, vor dem er seine Leistung klar hervorheben kann. Die Anderen (Freunde, Schulkameraden) erscheinen als Komparsen, um den Bildungsaufstieg zu präsentieren; sie dienen als Kontrastfolie, auf der der eigene Erfolg und die eigene Leistung deutlich zutage treten. So macht er bereits für die Gesamtschule und das Gymnasium in Form einer Inklusions-ExklusionsStrategie deutlich, dass er zwar einer von vielen Schülern mit Migrationshintergrund gewesen sei, sich aber dennoch von diesen unterschieden habe: auf der Gesamtschule, da er eine Gymnasialempfehlung erhalten habe, auf dem Gymnasium, da er nicht wie viele sitzen geblieben und schließlich „weg“ gewesen sei. Sogar in Bezug auf Freundschaften stellt er sich als bewusst auswählend dar. In

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Auffällig ist, dass er in diesem Punkt, was die Struktur der Darstellung im Interview betrifft, (wahrscheinlich unbewusst) in die Fußstapfen des Vaters tritt. Auch dieser nimmt eine deutliche Abgrenzung zu anderen Migranten vor. Er präsentiert sich als Experten, als Wissenden, der für seine Söhne die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Für andere Migranteneltern wählt er abfällige Formulierungen und macht deutlich, dass er diesen Unwissenden erkläre, wie es ausschaut und wie sie zu agieren haben. Durch seine starke und abwertende Abgrenzung von anderen Migranteneltern erhöht er gewissermaßen sich selbst.


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Zusammenhang mit der Schule erklärt er, dass er keine Zeit mit der negativ konnotierten „Türkenclique“ aus seiner Klasse verbracht habe, sondern mit einem klugen autochthon deutschen Freund, was den Anschein einer strategischen Wahl macht, die ihn selbst weiterbringt. Wie in diesem Beispiel grenzt Engin sich bezogen auf seinen eigenen Lebens- und Bildungsweg an mehreren Stellen teils explizit, teils implizit von anderen Migranten ab. In seinen eher allgemeinen, politischen Äußerungen solidarisiert er sich wiederum mit Migranten. Und schließlich hebt Engin hervor, dass er es aufgrund der mehrfachen Benachteiligung, ein junger Mann mit Migrationshintergrund aus Stadtteil A zu sein, schwerer hatte, es aber trotzdem in überragender Weise geschafft hat und er sogar die (deutsche) Juraelite übertreffen und schlagen konnte, was seinen Sieg noch erhöht und ihm eine Genugtuung verschafft, die in der Darstellungsweise spürbar wird. Durch den Bildungserfolg wird es ihm demnach möglich, seine Aggressionen, die in Zusammenhang mit der erfahrenen Diskriminierung aufgrund seines Migrationshintergrundes vorhanden sind, auszutarieren und für sich nutzbar zu machen.

Fazit und Ausblick Im Sinne eines Werkstattberichts wurden hier erste Ergebnisse aus einem laufenden Projekt präsentiert. Am Beispiel einer Familie mit einem bildungserfolgreichen Sohn wurde ausgeführt, welche Zusammenhänge zwischen den familialen Interaktionsformen, der Verarbeitung migrations- und adoleszenzspezifischer Herausforderungen und der schulischen Bildungskarriere bestehen. Die Auswertung konnte zugleich aufzeigen, wie fruchtbar es ist, durch die Interviews mit Sohn und Eltern unterschiedliche Familienperspektiven aufeinander zu beziehen. Dadurch wird ermöglicht, der intergenerationellen Dynamik der Adoleszenz, insbesondere die implizit virulente familiale Auseinandersetzung mit der Migrationsgeschichte der Eltern und, damit zusammenhängend, den ebenfalls intergenerational wirksamen Aufstiegsaspirationen und -delegationen im Kontext von Migration sowie deren Wahrnehmung und Verarbeitung durch die Kinder nachzugehen. Nach der Auswertung aller Interviews werden in weiteren Schritten auf der Basis von Vergleichen zwischen den Interviews mit Jugendlichen und deren Eltern weitere Falldarstellungen im Sinne von Porträts der untersuchten Familien angefertigt, um von dort aus durch systematische Fallvergleiche zwischen unterschiedlichen Familien nach dem Prinzip der maximalen Variation der Fälle zu einer Typologie im Blick auf den Zusammenhang von adoleszenten Ablösungsprozessen und Bildungskarrieren zu gelangen. Das Beispiel der Familie


Bildungsaufstieg als Migrationsprojekt

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Güngor verweist bereits auf die Komplexität und Mehrschichtigkeit von Ressourcen und Risiken im Kontext von Migration, die durch die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Bildungskarrieren und Ablösungsprozessen freigelegt werden: Zum Beispiel wirken sich Aufstiegsambitionen der Eltern, die ja häufig ein wichtiges Migrationsmotiv darstellen, auf die Kindergeneration sowohl als Antrieb wie auch als Belastung aus. Um den Aufstieg zur eigenen Sache machen zu können, müssen oftmals schmerzliche und konflikthafte Ablösungsprozesse vollzogen werden, die phasenweise durchaus auch mit Bildungsmisserfolgen oder mit forcierter Abgrenzung von den Ansprüchen der Eltern einhergehen können. Auch die kehrseitig damit verbundene Entwertung etwa der Väter durch die Söhne kann deren eigene Entwicklung zusätzlich belasten, auch wenn sie phasenweise vorrangig als Triumph erlebt wird. Leidvolle Diskriminierungserfahrungen der gesamten Familie erschweren in einigen Hinsichten die Ablösungsprozesse. Die rekonstruktive Analyse der intergenerationalen Dynamik bildungserfolgreicher Fälle verdeutlicht insofern strukturell bedingte Konfliktpotenziale, die zur Überforderung werden können und aus der oft fragilen Bahnung des Aufstiegs mitunter wieder herausdrängen.14 Komplementär wurde deutlich, unter welchen Bedingungen auch belastende Differenzerfahrungen produktiv gewendet werden können. Und nicht zuletzt wird präzisierbar, welche enormen Anstrengungen, weit überdurchschnittlichen Leistungen und kreativen Fähigkeiten vielfach in erfolgreiche Karrieren eingeflossen sind.

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Beim Vergleich von Aufstiegsverläufen mit Migrationshintergrund und Aufstiegsverläufen ohne Migrationshintergrund (King 2008) zeigte sich, dass zahlreiche Aspekte, die häufig als migrationstypisch erachtet werden, als Aufstiegstypik gelten können (King 2009). Die Migrationstypik liegt gleichsam quer dazu – etwa die intergenerational vermittelte Auseinandersetzung mit der Migrationserfahrung selbst, sowie die Spezifität von Aufstiegsaspirationen im Kontext von Migration. Beides spielt auch im Fall von Familie Güngor eine zentrale Rolle.


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Adoleszenz zwischen sozialem Aufstieg und sozialem Ausschluss Anne Juhasz/Eva Mey

Wie eine neue Schweizer Studie (Mey/Rorato/Voll 2005)1 zur sozialen Stellung der so genannten zweiten Generation zeigt, sind Kinder aus eingewanderten Familien in Bezug auf ihre schulische und berufliche Positionierung insgesamt gesehen erfolgreich: Den Jugendlichen ausländischer Herkunft gelingt es im Schnitt häufiger als einheimischen Gleichaltrigen, einen sozialen Aufstieg zu vollziehen und damit höhere soziale Positionen zu erreichen, als ihre Eltern sie innehaben. Allerdings gilt es, die beobachtete kollektive Aufwärtsbewegung der Söhne und Töchter von Migrantinnen und Migranten differenziert zu untersuchen: So zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass sich die insgesamt hohen sozialen Mobilitätswerte der Jugendlichen ausländischer Herkunft aus zwei einander gegenläufigen Tendenzen zusammensetzen: Einerseits absolvieren Jugendliche aus eingewanderten Familien bei gleich bleibenden Ausgangsbedingungen häufiger eine Ausbildung auf der Tertiärstufe als gleichaltrige Schweizerinnen und Schweizer. Andererseits ist bei ihnen aber auch der Anteil derjenigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen höher als bei der Schweizer Vergleichsgruppe, die nach der obligatorischen Schulbildung keine weiteren Ausbildungen absolvieren und damit auf einer minimalen Ausbildungsstufe verbleiben – und dies unabhängig davon, welche Ausbildung die Eltern absolviert haben. Mit anderen Worten zeichnen sich Angehörige der so-genannten zweiten Generation nicht nur durch höhere Aufstiegschancen, sondern auch durch ein erhöhtes Abstiegsrisiko aus.2 1

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Die Studie basiert auf den Daten aus der eidgenössischen Volkszählung 2000, so dass weitgehend alle in der Schweiz lebenden Söhne und Töchter von Migrantinnen und Migranten in die Analysen mit einbezogen werden konnten. Zur zweiten Generation wurden dabei jene Personen gezählt, die als Kinder von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz geboren wurden, und zwar unabhängig davon, ob sie selber in der Zwischenzeit das Schweizer Staatsbürgerrecht erworben haben oder nicht; es wurden also sowohl eingebürgerte als auch nicht eingebürgerte Personen in den Analysen berücksichtigt. Verfügen die Eltern zum Beispiel über einen einfachen Berufsabschluss, so absolvieren unter den Zweitgenerations-Angehörigen rund 15% eine Ausbildung auf Tertiärstufe, während der entsprechende Prozentsatz bei den gebürtigen Schweizerinnen und Schweizern mit rund 10% um einen Drittel tiefer liegt. Die zweite Generation ist aber auch am anderen Ende der Bil-


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Diese gegenläufigen Tendenzen tragen mit dazu bei, dass sich innerhalb der zweiten Generation eine Polarisierung beobachten lässt und sich eine ‚Schere’ öffnet: Während die einen besonders erfolgreich sind, schließen andere überhaupt keine formale Schulbildung ab oder müssen sich mit einem Abschluss auf minimaler Qualifikationsstufe begnügen, der ihre Chancen bei der anschließenden beruflichen Positionierung stark einschränken wird. Demgegenüber sind Bildungsabschlüsse auf einem mittleren Qualifikationsniveau und insbesondere Berufslehren unter den Jugendlichen mit Migrationshintergrund seltener. Vor diesem Hintergrund interessieren wir uns im Folgenden dafür, wie sich Adoleszenz in biographischen Verläufen präsentiert, die hinter der beschriebenen Polarisierung stehen: Am Beispiel der Biographien von zwei jungen Männern, die sich am je anderen Ende der Bildungs- bzw. Berufshierarchie positioniert haben, möchten wir einige der typischen Mechanismen und Dynamiken beschreiben, die wirksam werden, wenn – wie im einen Fall – ein ausgeprägter sozialer Aufstieg vollzogen wird oder wenn – wie im anderen Fall – das Projekt sozialer Mobilität (zumindest vorläufig) beim Erreichen eines minimalen Bildungsabschlusses endet. Wie lässt sich der jeweilige Positionierungsprozess der Jugendlichen beschreiben, inwiefern ist er mit anderen biographischen Bildungsprozessen verbunden und wie gestalten sich diese? Wie verändern sich unter den genannten Bedingungen die Beziehungen der Jugendlichen zu ihren Eltern sowie zu ihrem sozialen Umfeld? Ungleiche Resultate von Positionierungsprozessen (und damit soziale Ungleichheit) interpretieren wir dabei gleichermaßen als Ausdruck des gesellschaftlichen Kontextes, in dem diese Positionierungsprozesse stattfinden, als dungshierarchie übervertreten: Während es bei den Schweizer Kindern von Eltern mit Berufsbildung rund 5% sind, die im Alter von 20 Jahren nur über eine minimale Ausbildung verfügen, ist dieser Wert bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund mit 10% doppelt so hoch. Verfügen die Eltern über eine höhere Fachausbildung, sind es bei der zweiten Generation über 30%, die eine Tertiärausbildung absolvieren, gegenüber knapp 20% bei den Schweizerinnen und Schweizern – umgekehrt haben bei gleicher Qualifikation der Eltern 9% der Jugendlichen ausländischer Herkunft einen minimalen oder gar keinen Abschluss vorzuweisen, bei den Schweizerinnen und Schweizern liegt dieser Prozentsatz mit 3,5% deutlich tiefer. Dieses Bild einer Übervertretung der zweiten Generation am oberen sowie am unteren Ende der Bildungshierarchie bleibt auch dann erhalten, wenn im Rahmen von multivariaten Analysen andere Einflussfaktoren (Geschlecht, Region etc.) kontrolliert werden. Außerdem zeigt sich, dass die Tendenzen zur Polarisierung innerhalb der zweiten Generation nicht einfach auf die unterschiedlichen Qualifikationsniveaus von verschiedenen (nationalen) Herkunftsgruppen zurückgeführt werden können: Denn in nahezu allen untersuchten Herkunftsgruppen lässt sich, wenn auch in unterschiedlich starkem Ausmaß, eine Übervertretung sowohl bei den Best- als auch bei den Schlechtestqualifizierten beobachten. Eine Ausnahme bildet die Gruppe der deutschen zweiten Generation, die nur über erhöhte Abstiegsrisiken, nicht aber über erhöhte Aufstiegschancen verfügt, was auf das vergleichsweise hohe Bildungsniveau der deutschen ersten Generation zurückzuführen sein dürfte.


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auch als eine Folge von Handlungen und Strategien der daran beteiligten Individuen und Gruppen. In Bezug auf die soziale Positionierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist davon auszugehen, dass diese im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund in zweifacher Hinsicht schlechter gestellt sind3: Zum einen wachsen Jugendliche ausländischer Herkunft in Familien auf, die in der Regel unteren Gesellschaftsschichten angehören und in denen entsprechend wenig ökonomisches, soziales und insbesondere wenig (schulrelevantes) kulturelles Kapital vorhanden ist, was die Chancen auf eine erfolgreiche Platzierung im Bildungs- und anschließend im Berufssystem einschränkt. Es handelt sich dabei um einen Mechanismus von sozialer Ungleichheit, der grundsätzlich für alle Gesellschaftsmitglieder gilt – unabhängig von ihrer nationalen Herkunft –, der Kinder ausländischer Herkunft aber deshalb vermehrt trifft, weil sich eingewanderte Familien im Schnitt häufiger in unteren Gesellschaftsschichten befinden. Zum andern sind Töchter und Söhne von Migrantinnen und Migranten aufgrund ihrer ausländischen Herkunft insofern schlechter gestellt, als sie im Kontext einer Etablierten-Außenseiter-Figuration (Elias/Scotson 1990) als Angehörige von neu zugewanderten Gruppen vielfältigen Mechanismen von sozialem Ausschluss in Form von gesellschaftlicher Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt sind. Neben diesen kapital- und figurationsbedingten Ungleichheitsmechanismen ist als weitere Dimension sozialer Ungleichheit auch das Geschlechterverhältnis zu nennen, das sich strukturierend auf biographische Verläufe auswirkt. Im Folgenden soll es aber nicht nur um die Frage gehen, durch welche äußeren Bedingungen biographische Verläufe strukturiert werden, sondern auch darum, Ressourcen und Handlungsmuster der Jugendlichen darzustellen. Mobilitätsprozesse von Jugendlichen ausländischer Herkunft, wie sie sich in den zitierten Daten manifestieren, sind unseres Erachtens nur dann ausreichend erklärbar, wenn Jugendliche als handelnde Individuen gesehen werden, die bewusst Ressourcen und Strategien einsetzen, um ihren (vergleichsweise kleinen) Möglichkeitsraum bestmöglich auszunutzen bzw. zu vergrößern.4 Prozesse der sozialen Positionierung sind jedoch grundsätzlich – und nicht nur dann, wenn sie erfolgreich verlaufen – als das Resultat eines Ineinandergreifens von gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Handeln zu verstehen. Bei den im Folgenden präsentierten Biographien soll also exempla3 4

Die an dieser Stelle nur sehr knapp skizzierten theoretischen Überlegungen sind ausführlich dargestellt in Juhasz/Mey 2003. Eine weitere Dynamik, die zu den beobachteten kollektiven Mobilitätsprozessen führt, ergibt sich nach Elias/Scotson 1990 dadurch, dass eine Einwanderergruppe mit zunehmendem sozialen Alter ihre Position verbessern kann: Über die Zeit kommen neue Einwanderergruppen hinzu, denen die Außenseiterpositionen zugewiesen werden können, so dass für die bereits Anwesenden der Zugang zu besseren sozialen Positionen mit zunehmender Anwesenheit im Aufnahmeland erleichtert wird.


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risch aufgezeigt werden, in welcher Weise sich die Jugendlichen mit den skizzierten gesellschaftlichen Bedingungen auseinandersetzen und welche Chancen und Einschränkungen für die Individuierung der Jugendlichen damit verbunden sind.5 Eric6: Die beschleunigte Adoleszenz Eric ist zum Zeitpunkt des Interviews 25 Jahre alt. Er wird als zweites Kind einer italienischen Familie in der Schweiz geboren, sein Bruder ist zwei Jahre älter, die Schwester vier Jahre jünger. Seine Eltern sind bereits in jungen Jahren in die Schweiz eingewandert, um hier Arbeit zu finden. Heute arbeitet der Vater als Magaziner in einer größeren Fabrik, die Mutter als Aushilfskraft in einem Büro. Eric gehört zu jenen Söhnen und Töchtern von Arbeitsmigrantinnen und -migranten, denen es trotz vergleichsweise schwierigen Ausgangsbedingungen gelingt, einen schulischen Aufstieg zu vollziehen und sich danach beruflich erfolgreich zu positionieren. Die schulische und berufliche Laufbahn, die Eric in seiner lebensgeschichtlichen Erzählung präsentiert, führt kontinuierlich nach ‚oben’, ohne nennenswerte Brüche aufzuweisen: Noch in den ersten Schuljahren kaum Deutsch sprechend und „aus ärmlichen Verhältnissen stammend“, wie Eric es selber einmal formuliert, absolviert er die Oberstufe bereits auf Sekundarschulniveau. Nach der obligatorischen Schulzeit findet Eric eine Lehre im kaufmännischen Bereich, die er erfolgreich abschließt. Es folgen die ersten Berufsjahre, in denen sich Eric nach einem ersten Stellenwechsel in den Außendienst hocharbeitet, der ihn schon immer fasziniert hat. Parallel zur Arbeit ab-

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Das im Folgenden präsentierte empirische Material basiert auf einer biographischen Studie (Juhasz/Mey 2003), in deren Rahmen in den Jahren 1998 bis 2002 rund 60 narrative Interviews mit Jugendlichen ausländischer Herkunft durchgeführt wurden. Vgl. zur Erhebungsund Auswertungsmethode sowie zum Sample Juhasz/Mey 2003. Dort finden sich auch die ausführlichen Fallanalysen (mit zum Teil etwas anderen thematischen Schwerpunktsetzungen). Alle Namen und Angaben wurden anonymisiert, die Jugendlichen haben sich ihre Pseudonyme selber gewählt. Die Interviews wurden in Schweizerdeutsch durchgeführt und bei der Transkription auf Hochdeutsch übersetzt, wobei versucht wurde, möglichst nahe am gesprochenen Wort zu bleiben. Interpunktionszeichen bilden den Redefluss ab, sind also nicht primär nach grammatikalischen Regeln gesetzt worden. Transkriptionszeichen: Zahlen in Klammern geben die Dauer der Sprechpausen in Sekunden an, das Gleichheitszeichen steht für ‚schneller Anschluss’, Großbuchstaben weisen auf Betonungen hin und in Doppelklammern finden sich Bemerkungen zur nonverbalen Kommunikation.


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solviert er ein betriebswirtschaftliches Studium an einer höheren Fachschule, das er zum Zeitpunkt des Interviews bald abschließen kann. Eric hat die schulischen und beruflichen Statuspassagen, die ihm ein (finanziell) unabhängiges Leben ermöglichen und als solche zum Übergang ins ‚Erwachsensein’ gehören, geradlinig und scheinbar ohne zu zögern vollzogen. Im Folgenden gilt es zu zeigen, unter welchen Bedingungen dieser soziale Aufstieg möglich wird, und in welcher Weise sich die für den geradlinigen Positionierungsprozesses notwendigen Handlungs- und Deutungsmuster auf die Gestaltung anderer biographischer Bildungsprozesse auswirken. Wie viele andere Jugendliche der zweiten Generation vollzieht auch Eric seine schulische Laufbahn mit viel Fleiß und Willenskraft. Die Entstehung seines ausgeprägt intentionalen Handlungsmusters7 geht dabei auf frühe Erfahrungen von sozialer Benachteiligung und sozialem Ausschluss zurück: Als Kind nimmt er schon kurz nach seiner Einschulung wahr, dass die anderen, die Schweizer Kinder, nicht nur eine Sprache beherrschen, die er selber noch kaum versteht, sondern dass sie auch in besseren Verhältnissen leben. Eric erzählt, wie er „ein bisschen eifersüchtig“ gewesen sei: Oh, die können Deutsch reden, ich kann’s nicht, und die haben’s so gut, und ich, ich habe es nicht so gut, die sind in den reicheren Familien und ich nicht.

Hinzu kommen schon früh Erfahrungen der gesellschaftlichen Stigmatisierung – Eric wird als „Tschingg“, „Spaghettifresser“ oder „Pizzaschieber“ beschimpft, was „natürlich nicht etwas Angenehmes“ gewesen sei, wie er sich erinnert. Vor diesem Hintergrund wahrgenommener sozialer Benachteiligung und gesellschaftlicher Ausgrenzung entwickelt sich bei Eric der unbedingte Wunsch, dazuzugehören zu dieser Welt der Schweizer Kinder, in der alles besser scheint. Sein Streben ist im Folgenden darauf ausgerichtet, den Anschluss an die einheimischen Gleichaltrigen zu finden: indem er soziale Kontakte sucht („ich habe dann versucht, mich ein bisschen zu integrieren“), und indem er einen außerordentlichen Lerneifer an den Tag legt, um seine mangelhaften Deutschkenntnisse zu überwinden und sich in seinen schulischen Leistungen möglichst rasch jenen der Schweizer Kinder anzugleichen. Aus seinem Wunsch des Dazugehörens wird die soziale Positionierung bereits in Erics Kindheit zu einem wichtigen Thema, und im Sinne einer frühen Biographisierung (Zinnecker 1990) wird für ihn klar, dass ein Vordringen in 7

Zu biographischen Handlungsschemata mit intentionalem Charakter siehe Schütze 1981. Intentionalität bedeutet nach Giddens: „Ich benutze diesen Begriff [intentional] zur Charakterisierung einer Handlung, von der der entsprechende Akteur weiss oder glaubt, dass sie eine besondere Eigenschaft oder Wirkung hat und wo solches Wissen von ihm in Anschlag gebracht wird, um eben diese Eigenschaft oder Wirkung hervorzubringen.“ (1995: 61)


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diese Welt der Bessergestellten nur durch einen schulischen Aufstieg zu erreichen ist, für den er letztlich selbst verantwortlich ist. Schon früh entwickelt Eric eine Lebenshaltung, die mit starker Intentionalität einher geht und die im Folgenden seine gesamte Biographie prägen wird: Eric wird zum selfmade-man, der sein Ziel des sozialen Aufstiegs mit viel Wille, Fleiß und Disziplin verfolgt. In Anlehnung an Elias (1976) ließe sich formulieren, dass bei Eric eine früh einsetzende Umwandlung von Fremdzwang (erlebt als soziale Benachteiligungen) in Selbstzwang erfolgt, der keine Abweichungen vom schmalen Pfad des sozialen Aufstiegs erlaubt. Die ausgeprägte Aufstiegsorientierung wird dabei geprägt und gestärkt durch eine Interpretation der eigenen Familiengeschichte, in der intentionales Handeln und ein „Projekt der Mobilität“ (Juhasz/Mey 2003) wesentliche Merkmale sind: Eric führt sich immer wieder ins Bewusstsein, wie seine Eltern vor vielen Jahren in Italien „die Koffer gepackt“ hätten, um in der Schweiz ein besseres Leben zu suchen. Das Hochhalten der Erinnerung an die elterliche Migrationsgeschichte ist auch mit einer tiefen Dankbarkeit gegenüber seinen Eltern verbunden, da diese Opfer auf sich genommen haben, um letztlich ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Indem Eric sein eigenes Ziel des sozialen Aufstiegs als eine Fortsetzung jenes Projektes der Mobilität definiert, das seinerzeit seine Eltern in die Schweiz gebracht hatte, knüpft er seinen eigenen Lebensentwurf an jenen seiner Eltern an und bindet ihn damit auch an den Entwurf der Eltern zurück. In seiner lebensgeschichtlichen Erzählung zeigt sich wiederholt, dass Eric besonders in krisenhaften und irritierenden Momenten diese Anlehnung des eigenen Lebensplans an die Familie sucht, womit er sich der Angemessenheit seines intentionalen Handlungsmusters versichern kann und dieses auch in krisenhaften Momenten bestätigt und verfestigt wird. Je erfolgreicher Eric seinen Weg des schulischen Aufstiegs geht, desto schwieriger gestaltet sich allerdings seine Suche nach sozialer Zugehörigkeit. Denn immer offensichtlicher zeigt sich, dass er sich durch seine schulische Karriere von seinen früheren Kollegen (strukturell) entfernt und diese andere Interessen haben als er – Interessen, die sich nicht mit dem Ziel des schulischen Aufstiegs vereinbaren lassen: Es hat Kollegen gehabt, sie haben einfach mehr, immer an den Spaß gedacht, das ist typisch die südländische Mentalität, Spaß haben, das Leben genießen, raus gehen, wenn’s geht so lange wie möglich rausgehen, im Ausgang, mit dem Töffli rumkurven, eh, das ist, das ist schön gewesen, das ist gut und recht gewesen, aber es ist irgendwie, auch zuwenig seriös gewesen für mich, weil irgendwann muss man auch über seriöse Dinge denken können, über die Zukunft, über das Leben, was man machen will.


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Der ‚südländischen Mentalität’ stellt Eric Fleiß und Disziplin gegenüber, jene Eigenschaften, die ihn zum Erfolg führen werden und die er schon als junger Schüler als ‚typisch schweizerische’ Eigenschaften definiert, setzt er doch von klein an ‚erfolgreich sein’ mit ‚Schweizer sein’ gleich. Verstärkt wird diese Gleichsetzung dadurch, dass er bei seinen italienischen Kollegen, die keinen schulischen Aufstieg anstreben, diese Eigenschaften nicht sieht und dass er von diesen auch – so kann aufgrund einiger Äußerungen vermutet werden – als ‚Schweizer’ gehänselt wird. In Erics Lebenserzählung ist spürbar, wie ihn diese Fremdetikettierungen, dieses Absprechen seines ‚Italienerseins’ durch seine eigene Herkunftsgruppe stark beschäftigen und zu einem intensiven „Zugehörigkeitsmanagement“ (Mecheril 2000a) herausfordern. Er findet eine für ihn lebbare Lösung, indem er sich selber – im Sinne eines Kompromisses und bei gleichzeitiger Identifikation mit der Herkunft seiner Mutter – als ‚Norditaliener’ definiert. Diese an seiner Mutter orientierte Selbstdefinition erlaubt ihm nicht zuletzt, sich gegenüber wahrgenommenen Stigmatisierungen seitens der Mehrheitsgesellschaft zu schützen, grenzt er sich damit doch dezidiert vom Bild des faulen und spaßorientierten Südländers ab.8 Als Eric älter wird, hat er aber nicht nur zu seinen ehemaligen italienischen Kollegen, sondern auch zu den Schweizer Gleichaltrigen wenig soziale Kontakte. In seiner Erzählung wird deutlich, dass er als Jugendlicher kaum Gleichaltrigenkontakte hat und er die Zeit, in der seine Kollegen kollektive Formen der Freizeitbeschäftigung pflegen, ziemlich einsam verbringt, sie aber mit der ihm eigenen Zielgerichtetheit gestaltet: Für eh, Synthesizer habe ich mich sehr stark interessiert, bin immer wieder in Verbindung mit Computer und Technik, ich habe versucht, Arrangements zu erstellen, mit Computer natürlich, sehr faszinierende Sache gewesen, dort ist gerade irgendwie, eh, die, die, neue Generation von Musik entstanden, das heißt, mehr Techno, mehr House, das ist gerade so, an diesem Anfang gewesen, ich habe versucht, dort ein bisschen mitzugehen, es ist auch einfach eh zu spielen gewesen, das heißt im Grunde genommen ist der Technorhythmus das Einfachste, das es gibt ((lacht)), einfacher geht es nicht mehr, oder, bumm bumm, dann hat man das schnell einmal 8

Zum Zeitpunkt des Interviews hat sich Eric entschieden, sich einbürgern zu lassen. Er sagt, dass er das auch deshalb wolle, damit seine Kinder einmal wüssten, wohin sie gehörten: Nebst der Aufstiegsorientierung erscheint der Einbürgerungswille als weiterer wichtiger Teil des Zugehörigkeitsprojektes, das Eric schon seit seiner Kindheit verfolgt und auch auf die nächstfolgende Generation übertragen möchte. Dabei ist festzuhalten, dass beides, die Einbürgerung zur Erlangung politischer Mitbestimmungsrechte und der soziale Aufstieg, Merkmale eines Etablierungsprozesses sind, den die Jugendlichen vor dem Hintergrund sozialer Benachteiligung als Ausländerinnen und Ausländer anstreben und durch den sie gleichzeitig jene Autonomiegewinne erzielen, die typisch sind für den Übergang in die Erwachsenenwelt. Statistische Hinweise darauf, dass der Einbürgerungswunsch oftmals mit einer hohen Aufstiegsorientierung bzw. einer erfolgreichen sozialen Positionierung einhergeht, finden sich in Mey/Rorato/Voll 2005.


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eingegeben, ich habe unglaublich viel Geld in diese Anlage investiert, für meinen Stiftenlohn, praktisch alles, und, statt in den Ausgang zu gehen mit meinen Kollegen, bin ich dann mehr hinter diesen Tastaturen gehockt.

Eric tritt mit jenen Handlungsmustern in seine Jugendzeit ein, die er im Laufe seines schulischen und beruflichen Positionierungsprozess als einzige ihm offen stehende Strategien eingeübt hat: Wohl wissend, was zu einem ‚jugendspezifischen’ Lebensstil gehört, versucht er sich jugendkulturelle Inhalte (Technomusik) bewusst und effizient anzueignen. Er kann dadurch zwar eine gewisse Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur empfinden, das reale Zusammensein und die Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen aber bleiben aus. Gebunden an seinen Lebensentwurf des effizient vollzogenen sozialen Aufstiegs und in einer Phase erschwerter sozialer Zugehörigkeit erlebt Eric damit eine Adoleszenz unter starken Einschränkungen. Er hat und gibt sich selber keine Gelegenheit, im Zusammensein mit Gleichaltrigen alternative Lebensentwürfe auszuprobieren und auf diese Weise seinen eigenen Lebensentwurf einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Orientierungsschwierigkeiten in Folge von gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen kennt Eric nicht. Viel eher verschafft er sich durch seinen Lebensentwurf eine klare Orientierung, um möglichst schnell auf jenem schmalen Pfad vorwärts zu kommen, der ihm die ‚Sicherheit der einzigen Chance’ gewährt. Eine Auseinandersetzung mit alternativen Lebensentwürfen bleibt jedoch nicht nur in Folge der fehlenden Gleichaltrigenkontakte aus, sondern auch im Rahmen von Erics Beziehung zu seinen Eltern: Zwar enthält, wie sich zeigen wird, die erfolgreiche soziale Positionierung per se Autonomisierungspotentiale, doch gleichzeitig erschwert das starke Eingebundensein in das familiale Projekt der Mobilität und die damit in Zusammenhang stehende Familienorientierung die Herausbildung von eigenständigen Lebensentwürfen. Der soziale Aufstieg, den Kinder von Arbeitsmigrantinnen und -migranten in vielen Fällen vollziehen, bringt eine Verschiebung der innerfamiliären Machtverhältnisse mit sich: In Erics Familie findet eine Umkehrung der Hierarchie zwischen Vater und Sohn überaus konkret und sichtbar dann statt, als der Vater nach 30jähriger Tätigkeit bei der gleichen Firma entlassen wird und nur dank den Vermittlungsdiensten seines Sohnes eine neue Stelle erhält, und zwar in der gleichen Firma, in welcher der Sohn als Kadermann im Außendienst tätig ist. Eric beschreibt die Folgen so: Und ich konnte ihn in die Firma hineinbringen, seit dem hat sich das Verhältnis zu meinem Vater geändert, seit dem ist es anders geworden in dem Sinne, dass er eh, irgendwie einen anderen Respekt mir gegenüber hat (…) ist ganz ein anderes Verhältnis, ist mehr, wie ein Kollege geworden.


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Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn bleibt nicht unbeeinflusst von den (ungleichen) Positionen, die beide in der Sozialstruktur einnehmen: Durch seinen sozialen Aufstieg wird Eric gegenüber seinem Vater in die Rolle des autonomen und ‚erwachsenen’ Sohnes befördert. Außerdem gelangt Eric durch die soziale Mobilität an einen Ort im sozialen Raum, der ihm viele Erfahrungen ermöglicht, die gegenüber jenen seines Vaters neu und andersartig sind. Eric erreicht auf diese Weise eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber seinem Vater, die allerdings nicht die Folge eines konfliktiven Ablösungsprozesses zwischen Vater und Sohn ist, in dessen Rahmen unterschiedliche Lebensentwürfe aneinander abgearbeitet worden wären. Auf das enge Verhältnis, das Eric zu seiner Mutter hat, wirkt sich die Umkehrung der Hierarchie zwischen Vater und Sohn anders aus: Eric bewundert seine Mutter dafür, dass sie die fürsorgliche und, wie er es nennt, „perfekte Mutter“ darstellt. Trotz – oder gerade wegen – der relativen ‚Entmachtung’ des Vaters im außerfamiliären Bereich werden in Erics Familie die Geschlechterrollen zwischen Mann und Frau bestärkt. Dies wird nicht zuletzt in einer geschlechtsspezifischen Erziehung der beiden Söhne und der Tochter zum Ausdruck gebracht: Während sich Erics Schwester vehement gegen die tradierten und ihr einen minderen Status zuweisenden Geschlechtsrollen wehrt9, ist für Eric dieses „klassisch italienische“ Modell, wie er es nennt, erstrebenswert, und er selber ist sich sicher, dass er dieses Modell in seiner Familie „genau gleich“ fortführen werde, wie er darlegt. Eric spürt zwar, dass ihm dieses Modell möglicherweise nicht voll und ganz entspricht und er erwähnt auch, dass ihn „eine Karrierefrau“ eigentlich „mehr anzieht“ als die „traditionelle italienische Frau“. Das Thema beschäftigt ihn stark, doch es gelingt ihm nicht, auf die Irritation bezüglich Geschlechterrollen anders zu reagieren, als er dies bis jetzt immer und erfolgreich getan hat: indem er sich (und seine Zweifel) diszipliniert und seinen eingeschlagenen Weg weitergeht. Eine nicht unwesentliche Rolle dabei dürfte spielen, dass er in der Aufrechterhaltung des ‚italienischen Modells’ und der traditionellen Geschlechterrollen eine Möglichkeit sieht, die soziale Distanz, die im Laufe seines beruflichen Positionierungsprozesses zwischen ihm und seinem Herkunftsmilieu bzw. seiner Herkunftsfamilie entstanden ist, zu überwinden. Es kann daher in seinem Fall davon gesprochen werden, dass – zumindest bisher – nur eine eingeschränkte Individuierung stattgefunden hat. Die Tradierung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern von einer Generation zur nächsten erscheint so gesehen als der Preis für die intergenerationelle soziale Mobilität 9

Vgl. hierzu das Konzept der dialektischen Familienorientierung bei Apitzsch (1990), das besagt, dass sich Töchter aufgrund ihrer größeren Nähe zur Mutter intensiver mit den tradierten Geschlechterrollen auseinandersetzen und dadurch auch eher in der Lage sind, alternative Lebenskonzepte für sich zu entdecken.


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und damit für das Durchbrechen der Reproduktion von (schichtbezogener) sozialer Ungleichheit.

Nuran: Adoleszenz unter eingeschränkten Möglichkeiten Nuran ist zum Zeitpunkt des Interviews 21 Jahre alt. Seine Eltern stammen aus einem kleinen Dorf östlich von Istanbul. Mitte der 70er Jahre kam sein Vater in die Schweiz, später kamen die Mutter und die Schwester nach, Nuran sowie seine zwei jüngeren Geschwister wurden in der Schweiz geboren. Beide Eltern haben keine Ausbildung, zum Zeitpunkt des Interviews sind sie arbeitslos, die Mutter ist zudem teilinvalid. Nuran wächst in einer Agglomeration von Zürich auf, besucht dort die Primar- und später die Realschule. Die Eingangserzählung von Nuran beginnt mit einem Bericht über seinen schulischen und beruflichen Werdegang. Stichwortartig zählt er die verschiedenen durchlaufenen Schulen auf und erzählt dann ausführlicher darüber, dass er nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit keine Lehrstelle gefunden hat. Er wählt deshalb eine Zwischenlösung, und hängt, weil er auch nach diesem Zusatzjahr keine Lehrstelle findet, ein weiteres Zwischenjahr an. Danach bekommt er eine Lehrstelle als Informatiker, doch schon nach einem halben Jahr wird er entlassen, wegen „Diebstählen und so weiter“, die in der Firma vorgefallen sind. Nicht nur er, sondern alle Mitarbeiter seien fristlos entlassen worden. Die fristlose Entlassung markiert einen Wendepunkt im Leben von Nuran: Es ist alles noch normal = es ist normal abgelaufen gewesen = aber nach dem Fristlosen an und für sich als ich arbeitslos gewesen bin, als ich keine Lehre mehr gehabt habe, hat von meiner Sicht her hat das eigentliche Leben, an und für sich, angefangen = weil ich bin sechs Monate lang arbeitslos gewesen.

Während dieser Zeit, als Nuran arbeitslos ist, hängt er mit Kollegen herum, „die schief waren, die etwas Stammkunden gewesen sind bei der Polizei“, wie Nuran sagt. Er scheint hier Anschluss gefunden zu haben an andere Jugendliche, die wie er zu gesellschaftlichen Außenseitern gehören. Die jugendspezifische Lebenswelt, in die Nuran hineingerät, unterscheidet sich somit in Bezug auf die soziale Stellung und das Prestige stark von anderen möglichen Lebenswelten, die eine Art Gegenwelt zu den Erwachsenen bilden, gleichzeitig jedoch höheres gesellschaftliches Ansehen besitzen als jenes Milieu, dessen Teil Nuran wird (etwa alternative Kulturszenen). Dies ist ein Beispiel dafür, wie stark der adoleszente Möglichkeitsraum Ausdruck und Medium sozialer Ungleichheit ist (vgl. King 2004). Nuran gerät typischerweise in eine Lebenswelt hinein, die ihm


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zwar neue Handlungsperspektiven eröffnet, welche allerdings gesellschaftlich nicht legitimiert sind. Dies evaluiert Nuran im Interview wie folgt: Und es hat wirklich Zeiten gegeben, bei mir ist es so gewesen, es hat wirklich Zeiten gegeben, es hat wirklich wenig gefehlt, dass ich vom Weg abgekommen wäre (2). Ich sage mal so, wäre es bei mir dümmer gelaufen, hätte ich vielleicht beim Postraub auch mitgemacht ((lacht)).

Die Phase der Arbeitslosigkeit, die Nuran zur Untätigkeit und zum Rumhängen zwingt, kann nicht als off time im Sinne biographischer Irrelevanz bezeichnet werden (Schütze 1981) oder als Zeit, in welcher er sich in spielerischer Art und Weise neue Freiräume erschließen kann. Vielmehr birgt diese Phase ein großes Verlaufskurvenpotenzial und ist somit für den weiteren Verlauf der Biographie von hoher Relevanz. Nuran stellt es so dar, als wäre die kriminelle Laufbahn unmittelbar bevor gestanden. Dabei scheint es, als manövriere er sich nicht absichtlich in diese Situation hinein, sondern im Gegenteil scheint die Abkehr von diesem Weg, der gleichsam den „wahrscheinlichsten Pfad“ (Kohli 1981) dargestellt hätte, intentionales Handeln erforderlich zu machen. Wie wir später sehen werden, gelingt es Nuran tatsächlich, diesen wahrscheinlichsten Pfad zu verlassen. Dass aber eine deviante Laufbahn eine Option war, die durchaus im Bereich des Möglichen lag und nahe liegender war als eine ‚ordentliche’ Ausbildungs- und Berufskarriere, ist Ausdruck der sozialen Position Nurans und der sich daraus ergebenden Chancenstruktur. Diese soziale Position wird nicht nur durch geringe Ressourcen bestimmt, sondern auch durch die ausländische Herkunft. Wie ein roter Faden zieht sich die Thematik des ‚Ausländerseins’ und des ‚Außenseiterseins’ durch Nurans Biographie. Er erzählt, dass er schon in der Schulzeit immer eine Außenseiterrolle zugewiesen bekam: Ich bin halt auch ein bisschen einer gewesen, der ein bisschen PECH gehabt hat im Leben = also Pech = also nicht irgendwie versagt und so aber allgemein = es hat schon in der Schule hat es angefangen, ich bin halt immer ein Außenseiter gewesen irgendwie oder = als Ausländer = wobei dazumal, vor ungefähr vor zehn Jahren, ist das halt noch nicht so ein großes Problem gewesen, Ausländer zu haben und ich meine, ich bin der einzige Ausländer gewesen in der Schule und so = und ich bin immer ein Außenseiter gewesen irgendwie.

Die Fremdzuschreibungen scheinen hier wie ein „stahlhartes Gehäuse der Zugehörigkeit“ (Nassehi 1997) gewirkt zu haben, welchen sich Nuran nicht entziehen konnte. Die Fremdzuschreibungen sind Teil seines Selbstbildes geworden, was sich etwa in der Aussage widerspiegelt, dass Nuran selber „einen so dahergelaufenen Idioten [wie ihn] nicht eingestellt“ hätte. Allerdings versucht er auch immer wieder, negative Fremdzuschreibungen von sich zu weisen, wie das folgende Zitat zeigt, in welchem Nuran die Vermutung äußert, dass die ausländische Herkunft auch die Stellensuche beeinflussen könnte:


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Und, ein typisches Beispiel, wenn man einen Job geht suchen, nachher heißt es, nein wir haben die Stelle an und für sich schon vergeben und so, tut uns leid und so. Da geht einem immer durch den Kopf, ja vielleicht weil ich ein Ausländer bin. Ich versuche, nicht immer so zu leben = auch nicht so zu denken. Es muss nicht das sein (7).

Dass in der Schweiz Jugendliche ausländischer Herkunft bei der (Lehr-) Stellensuche tatsächlich diskriminiert werden, ist mittlerweile empirisch bestätigt worden (Fibbi/Kaya/Piguet 2003). Unabhängig davon, inwieweit die Lehrstellensuche Nurans tatsächlich durch Diskriminierungen aufgrund seiner türkischen Herkunft erfolglos verlaufen ist und inwiefern weitere Faktoren im Spiel waren, kann festgehalten werden, dass Nurans Biographie durch Ausschlusserfahrungen sowohl im Sinne von Stigmatisierungen als auch im Sinne von Diskriminierungen geprägt ist. Auch Diskriminierungserfahrungen, die anderen Personen derselben Herkunft widerfahren, haben auf das eigene Selbstbild einen Einfluss, wie Mecheril (2000b) gezeigt hat. Festzuhalten ist darüber hinaus, dass Nuran neben diesen figurationsbedingten Ungleichheiten auch mit kapitalbedingter Ungleichheit konfrontiert ist. Er wächst in nicht privilegierten Verhältnissen auf, es mangelt ihm an ökonomischen Ressourcen, aber auch an sozio-emotionaler Unterstützung durch seine Eltern. Nurans Möglichkeitsraum ist durch diese mangelnden Ressourcen und Ausschlusserfahrungen somit stark eingeschränkt, was ihm selbst durchaus bewusst ist: Also ich ((lacht)) habe nicht einmal sagen können, ich glaube, ich gehe studieren, oder ich glaube, ich mache eine Lehre, und so. Ich habe versuchen müssen, eine Lehre zu machen.

Die Weichen stellende Funktion, welche die Adoleszenz aufweist, ist vorstrukturiert und äußeren Zwängen unterworfen, der eigene Handlungsspielraum dadurch stark eingeschränkt. Deshalb hofft er, dass es wenigstens seinen jüngeren Geschwistern gelingen wird, eine höhere Ausbildung zu absolvieren und höhere berufliche Positionen zu erreichen. Er fühlt sich für sie verantwortlich, versucht, sie in ihrer schulischen Laufbahn zu beraten und ihnen Tipps zu geben. Ihm selbst fehlte in seiner Kindheit und frühen Adoleszenz eine solche Unterstützung, er fühlte sich von seinen Eltern allein gelassen. Deshalb fühlt er sich jetzt umso stärker verpflichtet, gegenüber seinen jüngeren Geschwistern Verantwortung zu übernehmen. Dies lässt auch darauf schließen, dass seine Eltern nach wie vor und auch für seine jüngeren Geschwister keine große Unterstützung darstellen. Anzunehmen ist, dass sie mit eigenen Sorgen beschäftigt sind; zum Zeitpunkt des Interviews sind beide Eltern arbeitslos bzw. beziehen eine Invalidenrente, so dass Nuran, der mittlerweile Geld verdient, auch den größten Teil seines Einkommens zuhause abgibt. Wie bei Eric verändert sich auch bei Nuran die Beziehung zwischen den Eltern und den Kindern dergestalt, dass die Kinder


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– in diesem Fall Nuran – an Autorität gewinnen, während die Eltern gleichzeitig Autorität einbüßen. Allerdings stellt dieser Umstand, dass Nuran früh Verantwortung übernehmen muss und seine Eltern (insbesondere sein Vater) ihm weniger als Vorbilder denn als abschreckende Beispiele dienen, eine biographische Erfahrung dar, aus welcher biographisches Kapital erwächst. Nuran scheint gerade vor dem Hintergrund negativer Beispiele aus seinem Umfeld, von welchen er sich im Verlaufe des Interviews immer wieder dezidiert abgrenzt, den starken Willen zu entwickeln, „es zu etwas zu bringen“. Trotz bisheriger Misserfolge und erfahrener Barrieren glaubt er daran, dass er selbst es einmal schaffen wird, Anschluss zu finden – wenn auch nicht, wie ursprünglich erträumt, auf dem institutionell vorgegebenen Weg der Ausbildung und einer daran anschließenden beruflichen Laufbahn. Seine Motivation, sein Wille und auch sein Ehrgeiz dafür haben sich dabei nicht nur vor dem Hintergrund von negativen Vergleichshorizonten ausgebildet, sondern entstanden auch als Reaktion auf verweigerte soziale Anerkennung. In diesem Sinne stellen sie ein Widerstandspotential gegen gesellschaftlichen Ausschluss dar, das Nuran produktiv einzusetzen vermochte. Wie angedeutet ist es ihm nämlich gelungen, die Verlaufskurve, die sich während seiner Arbeitslosigkeit angebahnt hatte, zu durchbrechen. Dabei bot ihm die Phase der Arbeitslosigkeit trotz aller Risiken auch die Chance systematischer Reflexion (Apitzsch 2000) und Neuorientierung, die Nuran offensichtlich gepackt hat. Er habe begriffen, dass es „so einfach nicht weitergehen“ kann und er an seiner Situation dringend etwas ändern müsse. Er „reißt sich zusammen“ und findet eine Stelle als Pizzakurier, die zwar nicht seinen Wünschen entspricht, ihm aber ermöglicht, sich wieder in das Erwerbssystem einzugliedern. Ausdruck seines beschriebenen Ehrgeizes und seiner Aufstiegsorientierung ist aber, dass es ihm bald gelingt, eine prestigeträchtigere Arbeit zu finden, die er auch als seinen Fähigkeiten für angemessen hält. Diese Stelle bringt eine erneute Wende in sein Leben, mit Schütze (1981) kann vom Einsetzen einer „Steigkurve“ gesprochen werden. Zum Zeitpunkt des Interviews ist diese Stelle zwar aufgrund von Umstrukturirungen in der Firma in Gefahr, Nuran ist jedoch zuversichtlich, dass er entweder innerhalb der gleichen Firma versetzt wird oder dass er eine neue Stelle findet, denn er wird von seinen Vorgesetzten gelobt und erhält gute Zeugnisse. Wie geschildert führen die erfahrenen Benachteiligungen und eingeschränkten Möglichkeiten bei Nuran somit dazu, dass sich gerade aus diesen Erfahrungen biographische Ressourcen entwickeln, die er als biographisches Kapital einsetzen kann. Allerdings strukturieren Deprivation, mangelnde soziale Anerkennung und Diskriminierungserfahrungen seinen biographischen Verlauf stark und wirken auch dann fort, als sich eine Verbesserung seiner Situation


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abzuzeichnen beginnt. So entwickelt er ein rigides Denken und eine Anfälligkeit, sich Autoritäten zu unterwerfen. Während dies in seiner Kindheit und frühen Jugend vor allem Lehrpersonen sind, wendet er sich später einer nationalistischen Gruppierung zu. Etwa in jener Zeit, als er ohne Lehrstelle ist, sich in einer Zwischenlösung befindet und nicht weiß, wie es mit ihm weitergehen wird, tritt Nuran einem türkischen Verein bei, der sich im Verlauf der Erzählung als nationalistische Gruppierung entpuppt. Der Verein ist hierarchisch und autoritär organisiert, die älteren Mitglieder betrachtet Nuran als Respektpersonen und Autoritäten, sie sind Meinungsbildner und geben Handlungsanweisungen, die für ihn verbindlich sind. Damit erfüllt der Verein für ihn die Funktion einer Orientierungshilfe und ersetzt ihm die Autorität, die er, wie an verschiedenen Stellen im Interview deutlich wird, bei seinen Eltern vermisst. Bei dieser Gruppierung findet er aber auch Zugehörigkeit und Anerkennung. „Volk, Nation und Rasse sind Prinzipien der Selbst- und Fremdbewertung, die auch dann noch gelten können, wenn alle anderen Prinzipien – Geld, Macht, Wissen und Prestige – schon versagt haben. Für Unterlegene fungieren sie als ethnozentristisches Apriori sozialer Anerkennung, das um so mehr in den Vordergrund tritt, je weniger andere Quellen von Anerkennung verfügbar erscheinen, soziale und kulturelle Prozesse als demütigend empfunden werden“ (Neckel 1991: 169). Die Bezugnahme auf die eigene ethnische Herkunft kann als Betonung „natürlichen Kapitals“ (Karrer 2000) bezeichnet werden, die von Personen ergriffen wird, die über wenig erwerbbares Kapital verfügen.10 Sie stellt aber auch eine Reaktion auf Diskriminierung und Stigmatisierung dar und hat die Funktion, Identität und Stabilität im Leben herzustellen und eine Orientierungshilfe zu bieten, wenn institutionelle Ablaufmuster fehlen und biographische Planung sowie eigene Ziele aufgrund äußerer Einschränkungen nicht realisierbar sind.

Diskussion Vorausgehend wurden zwei Biographien von männlichen Jugendlichen ausländischer Herkunft dargestellt, die sich an den beiden Polen der eingangs erwähnten ‚Schere’ in der zweiten Generation befinden. Dabei wurde aufgezeigt, 10

Als ‚natürliches’ Kapital im Sinne zugeschriebener und nicht erwerbbarer Merkmale kann auch die Geschlechtszugehörigkeit betrachtet werden. In den Interviews fand sich sowohl bei weiblichen als auch bei männlichen Jugendlichen das Muster, dass sie sich auf traditionelle Geschlechterrollen zurückzogen, wenn sie ihre Ziele mittels erwerbbarer Merkmale nicht zu erreichen vermochten. Als Rückzug auf ‚natürliche’ Ressourcen kann ferner auch die Rückkehrorientierung betrachtet werden, die nach Enttäuschungen oder bei wahrgenommenen Barrieren in Erwägung gezogen wird.


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wie sich Prozesse sozialer Mobilität und sozialen Ausschlusses vollziehen und wie sich dabei Struktur und Handlung ineinander verschränken. Dieses Zusammenspiel prägt die je spezifischen Chancenstrukturen, welche den „adoleszenten Möglichkeitsraum“ (King 2004) strukturieren. Am Beispiel von Eric, der den Typus des sozialen Aufsteigers repräsentiert, wurde beschrieben, wie Prozesse sozialer Mobilität möglich werden, weil familiale Handlungsmuster und subjektives intentionales Handeln sich gegen die Struktur, d.h. gegen die Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit, durchzusetzen vermögen. Erics biographischer Verlauf ist dabei durch eine eigentümliche Verbindung von Offenheit und Geschlossenheit gekennzeichnet: Die frühe Entstehung und Beibehaltung des Projekts der Mobilität lässt ihn zielstrebig und rigide seinen Weg verfolgen, weshalb er sich keine Auszeit und keine jugendlichen Spielereien gönnt, die diesen Weg gefährden könnten. So entsteht zwar in seiner Biographie Neues in dem Sinne, dass es ihm gelingt, das Muster der Reproduktion sozialer Ungleichheit zu durchbrechen, gleichzeitig schränkt er sich selbst ein, in dem er sich den Anforderungen anpasst und sich ihnen unterordnet, die ein sozialer Aufstieg mit sich bringen. Sein Möglichkeitsraum wird zwar erweitert, weil er sich mehr kulturelle und ökonomische Ressourcen aneignet, als seine Eltern je besessen haben, gleichzeitig wird sein Möglichkeitsraum aber auch stark eingeschränkt, weil es nur einen engen Pfad gibt, den es zu verfolgen gilt. Eine Adoleszenz im Sinne eines Möglichkeitsraumes, der neue Lebensentwürfe entdecken und sogar ausprobieren lässt, findet sich in Erics Biographie nicht; vielmehr wird in der Jugendphase ein biographischer Plan verfolgt, der schon vor der Jugendphase entworfen wurde. Bei Jugendlichen wie Eric lässt sich formulieren, dass ihr Wunsch, in die Welt der Etablierten vorzustoßen, so dringlich ist, dass dies zu einer Beschleunigung der in der Adoleszenz stattfindenden Transformationsprozesse führt und die Jugendlichen dadurch in gewisser Weise in die Welt der Erwachsenen hinein katapultiert werden. Nuran kann insofern als Gegentypus zu Eric betrachtet werden, als bei ihm zunächst die äußeren strukturellen Vorgaben die Biographie stark prägen und er sich eher passiv erleidend als aktiv handelnd verhält. Ohne auf familiale Ressourcen zurückgreifen und der sozialen Benachteiligung entgegenhalten zu können, setzt bei Nuran schon früh genau das ein, was Eric mit aller Kraft vermeiden wollte: Das Abkommen vom ‚rechten Weg’, vom Pfad der sozialen Mobilität, der den erhofften Anschluss an etablierte Gesellschaftskreise ermöglichen soll. Die Arbeitslosigkeit führt bei Nuran aber dazu, dass er sich seiner eigenen Potentiale gewahr wird, die angesichts der sich anbahnenden Verlaufskurve zu verschütten drohen. Hier, an diesem Wendepunkt, gibt es unseres Erachtens einen Moment im Leben von Nuran, wo sich ein adoleszenzspezifischer


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Möglichkeitsraum eröffnet, der einen Bildungsprozess und neue Potentiale freisetzt. Im Unterschied zu Eric, dessen weiterer biographischer Verlauf zum Zeitpunkt des Interviews absehbar scheint, weil er selbst keine Abweichung vom eingeschlagenen Pfad zulässt und bereits eine relativ privilegierte Stellung erlangt hat, scheint die Situation bei Nuran deutlich offener, allerdings auch prekärer zu sein. Ob es ihm gelingen wird, seine Potentiale weiterhin zu entfalten und sich aus seiner Außenseiterposition lösen zu können, ist angesichts des drohenden Verlusts seiner bisherigen Stelle fraglich. Eine Kontrastierung der Biographien von Nuran und Eric mit biographischen Verläufen von weiblichen Jugendlichen fördert Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zu Tage. Auch bei weiblichen Jugendlichen, die wie Eric einen sozialen Aufstieg vollzogen haben, fanden sich Individuierungsprozesse, die durch eine hohe Intentionalität eingeschränkt wurden. Allerdings zeigte sich bei den weiblichen Jugendlichen auch, dass die Auseinandersetzung mit traditionellen Geschlechterrollen Autonomisierungsprozesse befördern kann. Während sich bei fast allen der interviewten weiblichen Jugendlichen eine bewusste Auseinandersetzung mit traditionellen weiblichen Geschlechterrollen findet, bleibt diese bei den männlichen Jugendlichen oft aus. Diese übernehmen jene traditionellen männlichen Geschlechterrollen, die sie bereits von ihren Eltern kennen, wodurch, wie etwa am Beispiel von Eric gezeigt, die strukturelle Entfernung zu den Eltern verringert werden soll, die durch die soziale Aufwärtsmobilität entstand. Diese Möglichkeit, eine Distanz von den Eltern auf diese Weise zu verringern, ist für weibliche Jugendliche (nicht nur) ausländischer Herkunft eine weniger attraktive Option, da sie sich ihren eigenen Möglichkeitsraum auf diese Weise stark einschränken würden. Bei weiblichen Jugendlichen, die wie Nuran schon früh mit Ausschlusserfahrungen und Deprivationen konfrontiert wurden, fanden sich aber auch Anpassungsstrategien, die als ‚stilles Leiden’ und Resignation zu bezeichnen sind. Im Unterschied zu deviantem Verhalten werden solche Anpassungsstrategien von außen zwar kaum als störend wahrgenommen, da die jungen Frauen als durchaus ‚integriert’ und ‚angepasst’ wirken. Genau dies birgt aber auch die Gefahr in sich, dass die jungen Frauen zwar unter massiven Einschränkungen ihres Möglichkeitsraumes leiden, dass sich aber an ihrer prekären Situation nichts ändert. Die Gemeinsamkeiten von Biographien von Jugendlichen ausländischer Herkunft in der Schweiz, deren Eltern als Gastarbeiter eingewandert sind, liegen darin, dass die Kinder und Jugendlichen in nicht privilegierten Verhältnissen aufwachsen und als Personen ausländischer Herkunft sozialen Ausschluss erfahren. Kapital- und figurationsbedingte Ungleichheitserfahrungen setzen dabei schon in der Kindheit ein, was auch bedeutet, dass bereits früh – und schon


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lange vor dem Einsetzen der Adoleszenz – die Weichen für den weiteren biographischen Verlauf gestellt werden. Ob es gelingt, die strukturellen Benachteiligungen zu überwinden und in welchem Ausmaß dabei Fremd- in Selbstzwänge übersetzt werden, oder ob der Wunsch nach Etablierung scheitert und die soziale Positionierung nicht in der Welt der Etablierten, sondern an den Rändern der Gesellschaft endet, dafür sind eine Reihe von inneren und äußeren Faktoren verantwortlich, deren Zusammenspiel hier an zwei Biographien beispielhaft aufgezeigt wurde.

Literatur Apitzsch, U. (1990): Migration und Biographie. Zur Konstitution des Interkulturellen in den Bildungsgängen junger Erwachsener der 2. Migrantengeneration. Universität Bremen: Habilitationsschrift Apitzsch, U. (2000): Migration als Verlaufskurve und Transformationsprozess. Zur Frage geschlechtsspezifischer Dispositionen in der Migrationsbiographie. In: Dausien et al. (2000): 6278 Attia, I./Marburger, H. (Hrsg.) (2000): Alltag und Lebenswelten von Migrantenjugendlichen. Frankfurt/M.: IKO Verlag für Interkulturelle Kommunikation Büchner, P./Krüger, H.-H./Chisholm, L. (Hrsg.) (1990): Kindheit und Jugend im Interkulturellen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich Bundesamt für Statistik (Hrsg.) (2005): Die Integration der ausländischen zweiten Generation und der Eingebürgerten in der Schweiz. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik Burkholz, R./Gärtner, C./Zehentreiter, F. (Hrsg.) (2001): Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft Buschkremer, H./Bukow, W.-D./Emmerich, M. (Hrsg.) (2000): Die Familie im Spannungsfeld globaler Mobilität. Zur Konstruktion ethnischer Minderheiten im Kontext der Familie. Opladen: Leske + Budrich Dausien, B./Calloni, M./Friese, M. (Hrsg.) (2000): Migrationsgeschichten von Frauen. Beiträge und Perspektiven aus der Biographieforschung. Bremen: Universität Bremen Elias, N. (1976): Über den Prozess der Zivilisation. Frankfurt/M.: Suhrkamp Elias, N./Scotson, J.L. (1990): Etablierte und Außenseiter. Zur Theorie von Etablierten-AußenseiterBeziehungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp Fibbi, R./Kaya, B./Piguet, E. (2003): Nomen est omen: Quand s’appeler Pierre, Afrim ou Mehmet fait la différence. Synthesis im Rahmen des NFP 43, Bildung und Beschäftigung. Bern: Schweizerischer Nationalfonds Giddens, A. (1995): Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Campus Juhasz, A./Mey, E. (2003): Die zweite Generation: Etablierte oder Außenseiter? Biographien von Jugendlichen ausländischer Herkunft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Karrer, D. (2000): Die Last des Unterschieds. Biographie, Lebensführung und Habitus von Arbeitern und Angestellten im Vergleich. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag King, V. (2004): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. 1. unv. Nachdruck. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Kohli, M. (1981): Biographische Organisation als Handlungs- und Strukturproblem. Zu Fritz Schütze: „Prozessstrukturen des Lebensablaufs“. In: Matthes et al. (1981): 157-168


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Anne Juhasz/Eva Mey

Krüger, H.-H./Marotzki, W. (1996): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen: Leske + Budrich Matthes, J./Pfeifenberger, A./Stosberg, M. (Hrsg) (1981): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Erlangen: Verlag Nürnberger Forschungsvereinigung Mecheril, P. (2000a): Zugehörigkeitsmanagement. Aspekte der Lebensführung von Anderen Deutschen. In: Attia/Marburger (2000): 27-47 Mecheril, P. (2000b): Ist doch egal, was man macht, man ist aber trotzdem ’n Ausländer – Formen von Rassismuserfahrungen. In: Buschkremer et al. (2000): 119-142 Mey, E./Rorato, M./Voll, P. (2005): Die soziale Stellung der zweiten Generation. Analysen zur schulischen und beruflichen Integration der zweiten Ausländergeneration. In: Bundesamt für Statistik (2005): 61-152 Nassehi, A.(1997a): Das stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit. Unschärfen im Diskurs um die „multikulturelle Gesellschaft“. In: Nassehi (1997b): 117-208 Nassehi, A. (Hrsg.) (1997b): Nation, Ethnie, Minderheit. Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Köln/Wien/Weimar: Böhlau Neckel, S. (1991): Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt/M.: Campus Schütze, F. (1981): Prozessstrukturen des Lebensablaufs, in: Matthes et al. (1981): 67-156 Schütze, F. (1996): Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie. In: Krüger/Marotzki (1996): 116-157 Schütze, F. (2001): Ein biographieanalytischer Beitrag zum Verständnis von kreativen Veränderungsprozessen. Die Kategorie der Wandlung. In: Burkholz et al. (2001): 137-162 Zinnecker, J. (1990): Kindheit, Jugend und soziokultureller Wandel in der Bundesrepublik Deutschland. In: Büchner et al. (1990): 17-36


Migration und Bildungsprozess. Zum ressourcenorientierten Umgang mit der Biographie Migration und Bildungsprozess

Merle Hummrich

Die Diskussion um Migrantenjugendliche in Deutschland polarisiert. Während auf der einen Seite Bilder von Gettoisierung, gewaltbereiten männlichen und unterdrückten weiblichen Migrantenjugendlichen gezeichnet werden, findet eine polare Entgegensetzung statt, indem auf der anderen Seite auf die Faktizität von Multikulturalismus und dem Zuwanderungsland Deutschland sowie die subjektiven Möglichkeiten der Migration verwiesen wird. Längst hat diese dichotome Linienführung die Diskussion um den Zusammenhang von Bildung und Migration erreicht. Bildung eröffnet dabei Zugangs- und Partizipationsmöglichkeiten an der Gesellschaft, eine Tatsache, deren sich Migrantenjugendliche und ihre Familien zunehmend bewusst werden, ja sogar schneller bewusst werden, als dies bei deutschen Jugendlichen nach der Bildungsreform der Fall war (Nauck 2004). Dennoch bleibt Deutschland das Land, in dem Migrantenjugendliche im Vergleich zu anderen europäischen Ländern vergleichsweise schlecht abschneiden (Fend 2004). Der vorliegende Artikel zielt nun darauf, einen Vorschlag zu unterbreiten, den Zusammenhang von Migration und Bildung jenseits polemisierender Diskursführungen zu fassen. Dabei ist nicht zu leugnen, dass die biographische Disposition des Migrantenstatus ein strukturelles Integrationsrisiko birgt, wenn man allein von den statistischen Erwartbarkeiten ausgeht. Demgegenüber steht die Möglichkeit der Transformationserfahrung durch Bildungserfolg und die Realisierung eigener Bildungserwartungen auf der anderen Seite, wenn entsprechende Leistungen erbracht werden. Vermittelt werden beide das Handeln beeinflussende Aspekte durch die Biographie. Darum soll in diesem Beitrag der Aspekt der Biographie hinsichtlich der empirischen Möglichkeitsräume für Bildung entlang eines Fallbeispiels skizziert werden, um damit den Stellenwert der Biographieforschung im Zusammenhang mit Migration hervorzuheben. Dabei müssen zunächst die gegensätzlichen Perspektivnahmen auf Migrationsforschung und Bildungsbeteiligung skizziert werden, um im Anschluss einen Blick auf ein für die qualitativ empirische Forschung tragfähiges Konzept der Bildungsforschung zu werfen. Hieran anschließen soll sich die Falldarstellung


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einer Migrantinnenbiographie, entlang deren abschließend die Möglichkeiten einer biographisch ausgerichteten Bildungsforschung entworfen werden.

1.

Migrationsforschung zwischen Defizit- und Chancendiskurs

Die mangelnde Bildungsbeteiligung der Migrantenjugendlichen war ein zentrales Ergebnis von PISA I und II (Baumert et al. 2001, Prenzel et al. 2004), das sich ebenfalls polarisierend diskutieren lässt. Hierbei lassen sich eine eher defizit- und problemorientierte Sichtweise und eine chancenorientierte unterscheiden: Die erstere, die defizit- und problemorientierte Sichtweise, interpretiert das Ergebnis, dass Migrantenjugendliche die am meisten benachteiligte Gruppe des Bildungssystems sind, als mangelnde Integrationsbereitschaft ‚der’ Migrantinnen und Migranten und macht insbesondere die Eltern für das schlechte Abschneiden ihrer Kinder verantwortlich. Für beide Geschlechter wird unter Bezugnahme auf das Bild des ‚katholischen Arbeitermädchens vom Lande’ mit ‚dem/der’ Migrantenjugendlichen ein Prototyp von VersagerInnen im Bildungssystem geschaffen (Migrantenmädchen: Baumert/Schümer 2001, MagotsiuSchweizerhof 2000; Migrantenjungen: Geißler 2005, Hunger/Thränhardt 2001). Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes (vgl. Statistisches Bundesamt 2000, 2004) bestätigen diese Festschreibung, wobei deutlich wird, dass die Bildungsbeteiligung von Migrantenjugendlichen zwischen 1983 und 2004 zwar insgesamt gestiegen ist: 1983 waren 3,6% der Abiturienten Migrantinnen und Migranten, in den vergangenen Jahren waren es 11%, das heißt ca. 4% weibliche und 7 % männliche Abiturienten (Statistisches Bundesamt 2004). Migrantenjugendliche sind jedoch an Haupt- und Sonderschulen nach wie vor überrepräsentiert und junge Frauen insbesondere bei der Berufsausbildung benachteiligt (nur 44% erreichen einen Berufsabschluss, Statistisches Bundesamt 2000). Die Benachteiligungsthese lässt sich zuspitzen, interpretiert man die gestiegene Bildungsbeteiligung als Resultat des „Fahrstuhleffektes“ (Grundmann et al. 2003), das heißt: des allgemeinen Anstiegs der Bildungsbeteiligung durch alle Schichten hindurch bei gleichbleibenden Unterschieden zwischen den Schichten (insgesamt: Helsper/Hummrich 2005). Die hier angeführte Diskurslinie zur mangelnden Bildungsbeteiligung von Migrantenjugendlichen ist nun thematisch-inhaltlich anschlussfähig an die Diskursführung in den 1970er und frühen 1980er Jahren, in denen Problembelastung (Berenkopf 1984, König/Straube 1984, Laijos/Kiotsoukis 1984, Poustka 1984), Identitätsdiffusion (Mihelic 1984, Weber 1989) und Benachteiligung durch traditionalistische Einbindung (Chaidou 1984, Geiersbach 1983, Simon-


Migration und Bildungsprozess

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Hohm 2001, Akgün 1993, Veneto-Scheib 1993) die zentralen Themenbereiche der Migrationsforschung waren. Insbesondere in Reaktion auf die schlechten PISA-Ergebnisse im bundesdeutschen Durchschnitt werden heute verstärkt Migrantenjugendliche für die ‚Bildungsmisere’ in Deutschland verantwortlich gemacht (kritisch dazu: Hamburger 2005). Damit wurden und werden Orientierungen auf den Plan gerufen, die Migrantenfamilien stereotyp unter der Benachteiligungsperspektive sehen, nicht nur auf Grund der befürchteten Bildung von ‚Parallelgesellschaften’, sondern auch weil die Basiskompetenzen nicht ausreichend unterstützt werden. Die Familie und ihre Entscheidung zur Migration scheinen damit damals wie heute die Verantwortung für die Integrationsprobleme ihrer Kinder zugeschrieben zu bekommen. Die Folge ist heute vielfach eine Rückkehr zu einseitigen Assimilationskonzepten (etwa in Hessen: wer nicht deutsch spricht, darf nicht zur Schule gehen) oder zu kompensatorischen Erziehungsmaßnahmen, die nicht an Integration, sondern am Problem Migration arbeiten. Eines der Kernprobleme dabei ist die Rede von „der“ Benachteiligung „der“ Migrantenkinder und -jugendlichen und die Unterstellung, dass Familie von vornherein nicht unterstützend wirken kann. Die eher chancenorientierten Ansätze nehmen konsequent die Perspektive von Migrantinnen und Migranten ein und interpretieren die Ergebnisse der PISA-Vergleichsstudien gerade unter Bezugnahme auf die Tatsache, dass in anderen westeuropäischen Ländern die Integration von Migrantenjugendlichen besser gelungen ist, mit Verweis auf die „institutionelle Diskriminierung“ (Gomolla/Radtke 2002) oder etwa den „monolingualen Habitus der Schule“ (Gogolin 2005). Begreifen die hier genannten Forscherinnen und Forscher diesen „Perspektivenwechsel“ (Gogolin 2000) als Erweiterung und Korrektur der bisherigen Argumentationslinie, so entstehen gerade an dieser Stelle auch Linienführungen, die den Chancendiskurs einseitig werden lassen: etwa wenn von Migrantinnen und Migranten als „Avantgarde der postmodernen Gesellschaft“ die Rede ist (Rosen 1997) oder sie zu Jongleurinnen oder Seiltänzerinnen stilisiert werden, die die Erfordernisse der Anforderungen des Bildungssystems quasi spielerisch bewältigen (Gutiérrez Rodríguez 2000). Der mit den 1980er Jahren begonnene chancenorientierte Diskurs, der gerade die Möglichkeiten familialer Bindungen in den Blick nimmt (Gogolin 2000, 2005, Hummrich 2002, Badawia 2002), droht wieder in eine vereinseitigende Verkehrung zu kippen, durch die mittels dualistischer Konzeptionen Konkurrenzen zwischen Migrantenjugendlichen und Einheimischen geschürt werden. Migrantenjugendlichen wird per se ein Mehr an Kompetenzen zugeschrieben, etwa weil sie zwei Sprachen sprechen oder in zwei „Kulturen“ oder zwei „Welten“ beheimatet sind (Rosen 1997). Die familiale Herkunft wird in diesem Zusammenhang entweder als Kontext bewertet, aus dem insbesondere die hier unterdrückten Migrantin-


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nen die Befreiung schaffen, oder als Hort ‚ursprünglicher Verbundenheit’ herausgehoben. Diese Reaktion auf die erste Diskurslinie mündet auf der Handlungsebene in eine Empfehlung zur Kompensation kompensatorischer Erziehungsvorstellungen, indem Differenzen negiert werden oder gerade eine Überbetonung der Differenzen resultiert, im Sinne eines naiven Multikulturalismus, der verdinglichend das Handeln in zwei und mehr Kulturen zur Handlungsmaxime macht. Was an beiden Diskurslinien auffällt, ist zweierlei: Zum einen besteht die Möglichkeit, dass aus beiden Diskursen eine jeweils reduktionistische Perspektive resultiert, durch die die jeweils andere Seite der Migration ausgeblendet wird. Unter anderem schlägt sich dies in einer verdinglichenden Nutzung des Kulturbegriffes nieder. Gerade diese reduktionistische Perspektive in beiden eigentlich gegensätzlich anmutenden Diskurslinien birgt immer die Gefahr, unzulässig zu verallgemeinern und Migrantinnen und Migranten unter Stereotype zu subsumieren, die individuelle biographische Entwicklungsmöglichkeiten verkennen und subjektive Verarbeitungsstrategien ausblenden, weil sie überindividuelle Merkmale verallgemeinern, ohne die individuellen Chancen oder Risiken von Migrationsprozessen in den Blick zu nehmen. Bildung wird in diesem Zusammenhang entweder als Möglichkeit gesehen, die Herkunft hinter sich zu lassen und sich an die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren, die gleichzeitig die Freiheit bietet, die familial verwehrt wird; oder als in die Tatsache der Migration bereits besonders chancenhaft eingeschrieben, wenn etwa besondere Fähigkeiten unterstellt werden, weil die Erfahrung der Migration eine Bereicherung sein muss: auch dies impliziert jedoch die Festschreibung von Handlungs- und Verhaltensmustern. Zum anderen wird in beiden Diskursführungen die Differenz von Einheimischen und Zugewanderten zentral gesetzt (Hamburger 2005): Wird die Tatsache zugewandert zu sein oder durch die Eltern zu den Zugewanderten zu gehören auf der einen Seite als biographisches Risiko ausgelegt oder daran das Risiko der Existenz der Gesellschaft festgemacht, so bedeutet für die andere Seite die Erfahrung der Migration einen biographischen Vorteil, weil im Fall der Erfahrung von Migration besser mit den Anforderungen von modernen Gesellschaften umgegangen werden kann.

2.

Möglichkeiten einer Bildungsforschung zwischen Selektivität und subjektiven Erfahrungen

Die Schwierigkeit, den Zusammenhang von Bildung und Migration hinreichend zu bestimmen, liegt nun nicht nur in vereinseitigenden Perspektivnahmen oder


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differenztheoretischen Vorannahmen, sondern auch in der Problematik der Verwendungsweise des Bildungsbegriffs. Ohne diesen hier umfassend bestimmen zu können, möchte ich doch auf einen zentralen Aspekt hinweisen, wie er für die Bildungsforschung relevant ist. Koller (2002) verweist auf die grundlegenden Schwierigkeiten der Bestimmung eines Bildungsbegriffes angesichts der sich immer rascher vollziehenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse und der Tatsache, dass trotz der geisteswissenschaftlichen Tradition von Bildung ein Bildungsbegriff auch dem Kriterium der empirischen Verwendbarkeit unterliegt. Die Frage, wie sich Bildung empirisch fassen lässt, impliziert jedoch ein weiteres Spannungsmoment, das sich zwischen der „Makroperspektive“ der Lern-, Wissens- und Selektionssysteme und der „Mikroperspektive“ individueller und individualisierter Selbstbildungsprozesse aufspannt (vgl. Hamburger 2005: 10). Beide Verwendungsweisen des Bildungsbegriffs ließen sich nun wiederum gegeneinander (polarisierend) diskutieren und man könnte an ihnen den Widerstreit unterschiedlicher Forschungsparadigmen in der Bildungsforschung rekonstruieren. Jedoch erscheint es an dieser Stelle produktiver, einen Bildungsbegriff zu suchen, der diesen Widerstreit aufnimmt und produktiv wendet, indem er zum Beispiel die Selektivität von Bildungsprozessen auf der einen Seite berücksichtigt – denn diese sind angesichts der ‚Vermassung’ von Bildung Prozesse, die für fast alle Jugendlichen relevant sind – und andererseits auf deren subjektive Bedeutsamkeit und Erfahrungsqualität Bezug nimmt. Die Produktivität einer solchen Bildungsforschung zeigt zum Beispiel Kramer (2004) in kritischer Auseinandersetzung mit einer Bildungsforschung, die an der Verwendbarkeit für bildungspolitische und bildungspraktische Entscheidungen gemessen wird (Tippelt 2002) und dabei vor allem makrostrukturelle Erkenntnisse in den Blick nimmt. Kramer führt hier als Beispiel die Studie PISA 2000 (Baumert et al. 2001) an, die ihre primäre Aufgabe darin sieht, „den Regierungen der teilnehmenden Ländern auf periodischer Grundlage Prozessund Ertragsindikatoren zur Verfügung zu stellen, die für politisch-administrative Entscheidungen zur Verbesserung der nationalen Bildungssysteme brauchbar sind“ (ebd.: 15). Dabei bezieht sich der Begriff „politisch-administrative Entscheidungen“ sowohl auf das Bildungssystem insgesamt als auch auf einzelne Schulen, die Lehrerbildung oder die Schulberatung. Der damit einhergehende Anspruch ist, alle Ebenen des Bildungsprozesses umfassend einzubeziehen: vom Bildungssystem bis hin zu den Schülerbiographien. Dabei orientiert jedoch das Konzept der Biographie ausschließlich auf sehr hoch aggregierte Faktoren wie das Herkunftsmilieu, Geschlecht oder Ethnizität, also eher auf kollektive Rahmungen als auf die subjektiven Implikationen, die jede Biographie für sich besondern und in der die unterschiedlichen Erfahrungen in den einzelnen Handlungsfeldern zusammenlaufen (Kramer 2004), verarbeitet und (kreativ) han-


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delnd gewendet werden Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg läuft daher leicht Gefahr, deterministisch zu erscheinen. Gerade die Einbindung der Ergebnisse in kollektive Zusammenhänge (z.B. Migrationshintergrund) als Hauptkriterium der Auswertung eröffnet Möglichkeiten für Wahrscheinlichkeitsannahmen, die wiederum vereinseitigend (nachteilig oder vorteilig) ausgelegt werden können. Studien zur statistischen Erwartbarkeit von Bildungsverläufen beziehen sich also nur oberflächlich auf die Möglichkeiten und Grenzen der Biographien in den Handlungsräumen, in die sie verstrickt sind und bestärken stereotype Wahrnehmungsmuster (etwa in Bezug auf Migrantenjugendliche). Gleichzeitig ist es jedoch gerade im Fall der Migrationsforschung geboten, die Integrationsbedrohung durch die Selektivität des Bildungssystems einzubeziehen. Darüber hinaus besteht der Anspruch, dass Studien zu Bildungsprozessen Migrantenjugendlicher Erklärungskraft jenseits polarisierender Interpretationen besitzen, um die Ressourcen und Barrieren, die den einzelnen Biographien inhärent sind, erfassen zu können. Eine Möglichkeit, die ich an dieser Stelle gleichsam als Vorschlag einbringen möchte, den widerstreitenden Diskursen produktiv zu begegnen, wäre eine fallrekonstruktiv angelegte Forschung, die auch statistisch erwartungswidrige Fälle einbezieht und damit stereotypen Wahrnehmungsmustern entgegenwirkt, indem sie sowohl Chancen als auch Risiken individueller Verläufe analytisch zugänglich macht. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich folgenden Fall vorstellen.

3.

Fallbeispiel einer „erwartungswidrigen“ Bildungsbiographie

Das empirische Material, auf das ich mich hier beziehe, ist eines von sechs in meine Dissertation (Hummrich 2002) eingegangenen autobiographisch-narrativen Interviews, für dessen Auswertung ich die Methoden objektive Hermeneutik nach Oevermann und narrationsstrukturelle Analyse nach Schütze kombiniert habe. Es handelt sich dabei um den Fall Beatrice, deren Vater im Zuge der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in den 1950er Jahren aus Italien nach Deutschland kam. Im Zuge der Familienzusammenführung nach dem Anwerbestopp kam die Mutter mit dreien ihrer sechs Kinder ebenfalls nach Deutschland. Beatrice steigt nun wie folgt in die Darstellung ihrer Lebensgeschichte ein: hmhm . . . also es hat sich schon entwickelt weil mhm wie soll ich sagen . ich wusst bestimmt net als kind dass ich ma studieren wird also das auf gar keinen fall das hat sich entwickelt . ich hat hier die grundschule besucht gehat ganz normal bin dann zur ‚realschule’ (betont) un und wusste dann nach der zehnten klasse , ich war ne gute schülerin , sehr gute schülerin auf der realschul auch sehr ehrgeizig und hab dann gedacht , mensch was machstn . un dann ähm


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wusst ich eigentlich nich und hab dann so nachgedacht un hab dann auch wirklich richtig so überlegt , was machste , gehst weiter zur schule . hast n guten notendurchschnitt , egal was de später machst kannste immer noch überlegen . un da bin ich dann aufs wirtschaftsgymnasium gegangen

Wir haben es hier auf den ersten Blick mit einer institutionengebundenen Darstellung zu tun, die scheinbar der Form eines tabellarischen Lebenslaufes entspricht. Dies verweist darauf, dass Beatrice sich hier im Rahmen eines am Normalmodell orientierten Lebenslaufmodells entwirft. Sie besucht nach der Grundschule die Realschule und entscheidet sich danach, weiter zur Schule zu gehen. Besonderheiten in ihrem Entwurf manifestieren sich jedoch in der Betonung der Tatsache, dass sie als Kind ganz bestimmt noch nicht wusste, dass sie studieren wird, und dass sie offensichtlich in einen langen Überlegens- und Entscheidungsprozess verwickelt war, als es darum ging, Anschlüsse für die Realschule zu finden. Dass sie nun als Kind „auf gar keinen Fall“ wusste, dass sie studieren wird, ist ein erster Hinweis auf die Bildungsdistanz des Elternhauses. Das Einbettungsmilieu scheint hier keines zu sein, das ein Studium automatisch nahe legt oder zum selbstverständlichen familialen Bildungskonzept gehören lässt. Dies belegt auch die Umständlichkeit, mit der die Entscheidung, zum Gymnasium zu gehen, getroffen wird. Sie ist unter anderem auch ein Hinweis darauf, dass es neben der Bezugnahme auf die hier eingeführten Gelegenheitsstrukturen „gute Schulleistungen“, die Beatrice als Begründungsfigur für ihren Bildungsverlauf angibt, auch noch andere Motivierungslinien gegeben haben muss, in die sie bei ihren Überlegungen verstrickt gewesen sein muss. Darauf verweist auch eine detaillierende Stelle im Interview, wo Beatrice als weiteres Entscheidungskriterium den Ausschluss der typisch weiblichen Lehrberufe Floristin und Apothekenhelferin einführt. Hier wird deutlich, dass sie zugleich eine distinktive und transformative Entscheidung getroffen hat, die impliziert, dass sie die lebensgeschichtlich erfahrenen Statusbarrieren überwindet. Nach dem Abitur muss Beatrice wieder entscheiden, was sie machen soll. Die Gelegenheit, ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Caritas zu machen, gibt ihr die Möglichkeit eines Entscheidungsaufschubes. Sie entscheidet sich nach dem Jahr für den Studiengang Lehramt für Grund- und Hauptschule, womit sie dem Rat einer Freundin folgt, die das gleiche studiert. Hier bekommt sie nun Schwierigkeiten mit dem BAföG-Amt, da ihr die Förderung verweigert wird, auf Grund der Tatsache, dass sie keine deutsche Staatsangehörige ist und ihr Vater ein Jahr vor der Frist, in der auch sie BAföG für sich hätte beanspruchen können, verstorben ist. Der Sachbearbeiter auf dem BAföG-Amt macht ihr in diesem Zusammenhang schwere Vorwürfe, da sie Italienerin und keine Deutsche ist, denn als Deutsche wäre das ja alles kein Problem. Beatrice entscheidet


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sich schließlich für den Studiengang Lehramt an Realschulen an ihrem Heimatort, wo sie noch bei ihrer Mutter leben kann, schließlich aber dann auch BAföG bekommt. Soweit der Abriss zu Beatrices Bildungsverlauf, in dem sie, wie bereits gesagt, den Deutungshorizont ‚Gelegenheitsstrukturen’ zur Grundlage ihres Handelns macht, auf die sie jedoch durchaus unter Nutzung ihres eigenen kreativen Handlungspotenzials reagiert. Die Bezugnahme auf den Deutungshorizont ‚Normalverlauf’ trägt jedoch nicht, was sich nicht nur an den bereits genannten Stellen des Entwicklungsmodells und des Übergangs von der Realschule zum Gymnasium zeigt, sondern auch dort, wo der Tod ihres Vaters während ihrer Adoleszenz zunächst nur en passant eingebracht wird: als Hinderungsgrund, BAföG zu bekommen. Eine Nachfrage zum Tod des Vaters gibt schließlich den Impuls für eine längere biographische Erzählung, in der sich Beatrice vor dem Migrationshintergrund ihrer Familie verortet: ja also mein vater , da fang ich am besten mal von vorne an

Mit diesem Satz erwartet man zunächst eine Ergänzung von Beatrices bisheriger Darstellung um die Bedeutsamkeit des Vaters. Beatrice fährt aber fort: B: also ähm ich komm ja aus kalabrien . kalabrien liegt also ganz unten in italien ähm ähm das letzte stück von italien unten an der spitze is kalabrien ähm ähm da unten ähm (lacht) I: hmhm jaja an der stiefelspitze (lachen) B: ganz genau das is an der stiefelspitze ne ganz schöne landschaft das is ne ganz arme region ne wunderschöne landschaft sehr sehr schön aber sehr sehr arm . also die meisten menschen leben eben dort von der landwirtschaft und wir ham halt dort auch von der landwirtschaft , also sehr viel land besessen und äh das angebaut worden , angebaut wurde , mein vater und meine mutter ham das eben angebaut äh mein vater meine mutter sind ‚bauern’ (betont) also die ham sonst auch nichts gelernt außer jetzt halt anzubaun bloß , mein vater hat eben auch gemerkt dass es nit reicht , nur anzubaun es war halt eben auch kein geld da , er hat wahrscheinlich auch gedacht , ich muss meine familie ernährn

Beatrice beginnt hier eine Erzählung, die lange vor ihrer Geburt beginnt, denn ihr Vater und ihre Mutter, die zu Beginn der 1950er Jahre geheiratet haben, waren nur bis 1956 oder 1957 Bauern in Kalabrien. Mit dieser Betonung ihrer eigenen geographischen Herkunft und der sozialen Herkunft der Eltern detailliert sie nun das, was zu Beginn lediglich thesenhaft behauptet werden konnte: die Distanz vom deutschen Bildungssystem. Wir haben es hier mit einer maximalen Kontextuierung dessen zu tun, was zuvor im Modell Normalverlauf zu erzählen vermieden wurde. Dabei markiert die vielfache Betonung des „ganz unten“ und der Armut der Region eine maximale Besonderung des vollzogenen


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Bildungsprozesses, so dass die Kontextuierung sich schließlich als Kontrastierung darstellt. Die Darstellung der elterlichen Migrationsgeschichte kann hier nur sehr verknappt erfolgen: 1956 oder 1957 folgt der Vater zusammen mit zweien seiner Brüder der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte nach Deutschland. Seine Frau und die zwei Kinder bleiben im Hause seiner Mutter wohnen. Ziel ist die Auswanderung der drei Brüder und ihrer Familien nach Kanada, sobald genügend Geld verdient wurde. Nachdem aber das Geld für einen der Brüder zusammengespart wurde und dieser in Kanada eine Existenz aufbauen konnte, kommt es zu einem Konflikt, nach dem die Entscheidung fällt, dass Beatrices Vater in Deutschland bleibt. Seine Familie und die mittlerweile vier Kinder bleiben in Italien, wo seine Frau seine Mutter pflegt. Schließlich holt er den ältesten Sohn auch nach Deutschland, die Frau folgt später mit dreien der inzwischen sechs Kinder, als seine Mutter gestorben ist und sie ihre älteste Tochter verheiratet haben. Beatrice ist zu diesem Zeitpunkt ein Jahr alt und hat einen Bruder, der nur ein Jahr jünger als sie ist und die Aufmerksamkeit der Mutter fast vollständig auf sich zieht. An diese im Jahr 1972 verortete Erzählung knüpft Beatrice nun fast nahtlos mit dem Tod ihres Vaters im Jahre 1986 an. Sie schildert hier den familialen Zusammenhalt, die Kompensation des Verlustes durch die Geschwister und die Bedeutsamkeit der den familialen „Clan“ überwachenden und regulierenden Mutter, zu der sie eine ambivalente Beziehung hat, weil diese einerseits in ihrer Überwachungsfunktion eine Tradition repräsentiert, von der sich Beatrice distanziert, andererseits aber auch den Statusgewinn von Beatrice und ihren Geschwistern gut heißt und unterstützt. Die Geschwister haben fast alle eine abgeschlossene Ausbildung und stellen in ihren Berufen unter Beweis, dass das Problem des Vaters, die Familie nicht ernähren zu können, gelöst ist. Die Überwindung von Armut und der damit einhergehenden sozialen Scham ist damit generationsübergreifend ein entscheidendes Antriebsmoment, Bildung zu realisieren. Beatrice schildert an mehreren Stellen des Interviews, dass die Armut von den Kindern als beschämend empfunden wurde, etwa wenn ihr jüngerer Bruder nicht in gebrauchter Kleidung zur Schule gehen wollte, das Essen sehr begrenzt war oder sie zahlreiche Ausreden erfunden hat, wenn ihr Lehrer sie zu Hause besuchen wollte, weil sie sich für die Möbel und das schäbige Haus geschämt hat. Die vollzogene Transformation stellt sie ebenfalls plastisch dar, indem sie ihren Bruder als Beispiel anführt, der heute immer die neuesten „Klamotten“ haben muss, oder sich selbst, die – wie sie sagt – immer einen vollen Kühlschrank „wie für nen vierfamilienhaushalt“ haben muss. Die hier zum Ausdruck kommende familiale Vergemeinschaftung, die ihre Biographie in eine Tradition des sozialen Aufstiegs einrückt, blendet jedoch die


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14 Jahre zwischen 1972 und 1986 aus. Der familiale Zusammenhalt kann damit offensichtlich für diese Phase nicht ungebrochen behauptet werden. Auf eine Nachfrage zu dieser Zeitspanne kommt es zu einer erneuten Hintergrundkonstruktion, in der Beatrice darstellt, dass der Zusammenhalt zwischen ihr und ihrer Familie besonders in dieser Phase sehr brüchig war, denn sie war seit der Ankunft ihrer Familie vornehmlich bei den deutschen Nachbarn, die sie „Tante“ und „Onkel“ nennt und damit in eine familialisierte Beziehung setzt, untergebracht. ich muss dazu sahn das is schon n bisschen kompliziert weil ich mein hier in dem haus da hat vorher n altes ehepaar gewohnt n älteres, meine tante anna, die ich über alles geliebt hab also ‚ich bin bei ihr groß geworn eigentlich’ (lachend) weil ähm, die hatten keine enkelkinder, un die ham dann natürlich so en kleines süßes italienisches kind gesehn (lachen) so mit schwarzen haarn dunklen augen das da hilfesuchend in diesem kinderwagen gelegen hat un da is denen glaub isch s herz überglaufen un da ham die gedacht, och das da könnt ja auch mein enkelkind sein un da ham die misch immer mitgnommen also ich bin mit denen in den zoo, un spaziern gegangen, schon als kleines kind hab von denen alles bekommen was man sich vorstellen kann, wir haben ausflüge gemacht an z-see un isch bin tretboot gefahrn mim onkel alwiss un ähm die ham misch abgöttisch geliebt so wie ich sie auch abisch=abgöttisch geliebt hab, ähm mit dem nachteil eigentlich, also mir is sehr sehr gut gegangen bei denen eigentlich . also ich wollt auch gar nimmi heim.

Hier bricht nun auf, was zuvor durch die am Normalmodell orientierte Erzählung und die Einbettungsgeschichte im Latenten geblieben ist: die weitreichende Distanzierung von den Eltern, die nicht allein durch die Überwindung von Statusbarrieren erklärt werden kann. Die familiale Einbindung wird damit hochgradig brüchig und spannungsvoll. An die Stelle der Familie tritt nämlich hier ein Ersatzzusammenhang, der zwar die familial erfahrenen Defizite kompensiert (Beatrice fällt ja als hilfsbedürftig auf), sie aber von ihrer Familie entfremdet. Bis zu ihrer Einschulung und dem damit einher gehenden ‚muttersprachlichen Unterricht’ spricht Beatrice kaum Italienisch und kann sich mit ihrer Mutter nicht verständigen. Der Kontakt verbessert sich erst mit dem Italienischkurs und dem etwa zeitgleichen Tod des Onkels. Damit liegt eine Brüchigkeit der Primärkonstellation vor, die Beatrice aus der Familie ausschließt. Die signifikanten Anderen, die durch die Eltern verkörpert werden könnten, brechen weg. Auch wenn Beatrice hier wiederum auf ihr Deutungsmuster ‚Gelegenheitsstrukturen’ zurückgreift, um diese Konstellation darzustellen, lässt sich hinter der Struktur des Wegfallens und der Kompensation vermuten, dass der primäre Habitus wesentlich durch die Ersatzfamilie beeinflusst war. Erst die zeitlich nahe beieinanderliegenden Ereignisse ‚Tod des Vaters’ und ‚Tod der Tante’ beinhalten die Ausbildung diffuser Sozialbeziehungen in der Familie, wie sich in folgender Sequenz zeigt:


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ähm dann fing die zuordnung mit dem tod von meinem vater an, da sin mer dann rischtisch zusammen gekommen . also äh das war eigentlich so der knackpunkt wo ich sagen würd, also wir ham uns dann auch vorher gut verstan’n aber uns alles erzählen oder eh, das is wirklich zu dem zeitpunkt, das war sechsunachtzisch als mein vater tot is, weil wir wir warn noch klein wir brauchten ne bezugsperson und die bezugsperson war auf jeden fall meine, also meine ja meine geschwister, weil n jahr später also siebn’nachzisch is die tante anna gestorbn . un dann hatt ich ja keinen mehr, außer meine geschwister un das hat schon also der zusammenhalt is schon sehr groß.

Hier fällt wiederum auf, dass ein Abbruch stattfindet, wenn es darum geht, eine Bezugsperson zu benennen. Eigentlich müsste an der Stelle des Abbruchs die Tante als signifikante Andere treten. Dass sie erst im zweiten Anlauf benannt wird, verweist auf die Tabuisierung der Tatsache, dass die Tante familiale Aufgaben übernommen hat und Beatrice nicht in die Familie integriert war. Das Ausfallen ihrer zentralen Bezugsperson ist nun erst die Voraussetzung dafür, dass sich Beziehungen zu den Geschwistern entwickeln, während die Mutter unbenannt bleibt und damit die Position einer signifikanten Anderen auch nicht zugesprochen bekommt. Diese Geschwisterbindung und die damit einhergehende Integration bedingt nun auch die Einbindung Beatrices in das familiale Aufstiegsprojekt. Zwar treten die Eltern hier nicht direkt in Erscheinung, aber die Geschwister vermitteln Beatrice immer wieder die Bedeutsamkeit ihres Handelns für die Familie und die Eltern und entlassen sie nicht in eine distanzierte Beziehung. Beatrice passt sich schließlich an die normativen Vorgaben der Geschwister an, denn der geschwisterliche Zusammenhang bedeutet ja die Möglichkeit, diffuse Sozialbeziehungen auszuformen. Auch an anderer Stelle verweist Beatrice auf die Bedeutsamkeit ihrer Tante und ihres Onkels für ihren Lebensweg und einer Schule der italienischen Mission für ihren Bildungsweg: un die ham mein lebensweg schon bestimmt und ham gesacht die schule is wichtisch un wir werden dir helfen, also die tante anna vor allem, der onkel alwiss war ja dann schon gestorben un die ham mit sicherheit meinen lebensweg geprägt so auch später für auf de realschule zu gehen, so da gehst du hin, das schaffst du auch . un ab der dritten klasse bin ich dann in die n.schuola gegangen, n.-schuola is äh das worüber ich meine arbeit geschrieben hab, äh ne nachhilfe äh ich sach jetz ma nachhilfestudio (lachen) nee kann mer auch net sagn also das wurde von der katholischen mission von der italienischen mission ähm damals gegründet um den gastarbeiterkindern den italienischen gastarbeiterkindern schulische unterstützung zu gewährleisten un das war zweima in der woche un da bin ich dann immer hingegangen, das waren deutsche lehrer die einem bei den hausaufgaben geholfen ham . un die warn natürlich auch sehr entscheidend weil die ham uns, also meinem kleinen bruder un mir also wirklich geholfen . also bis zum abi nee nich bis zum abitur aber bis zur mittleren reife ‚un die sin heut mächtisch stolz ja dass wir das so geschafft ham’ (lachend) ja wenn ich die seh die sagen immer also ihr wart unsre besten ‚wir wissen was wir geleistet haben’ (lachend) un die ham wirklich uns wahnsinnisch geholfen das war sehr entscheidend und sehr prägend mit sicherheit . die ham uns viel unterstützung gegeben, die ham uns auch gelobt, ich mein meine mutter


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hat uns auch gelobt aber, ich mein die hat vom schulsystem ja keine ahnung . ich mein die weiß net wie das is ne abiturprüfung zu schreiben oder so . äh meine mutter, die is ja aufm land großgeworn ‚total abseits von jeder zivilisation oder kultur’ (lachend)

Dieses Zitat verdeutlicht zweierlei: zum einen impliziert der Satz „wir wissen was wir geleistet haben“ von den Lehrern der italienischen Schule eine positive Diskriminierung, die Beatrice ihres Bildungserfolgs beraubt. Jedoch deutet Beatrice die hier gemachten Erfahrungen auch wieder im Sinne ihrer optionsentfaltenden Ermöglichungsstruktur. Zum anderen setzt sie die Signifikanz der hier erfahrenen materialen Unterstützungsangebote den eher abstrakten und marginalen Leistungen der Mutter entgegen. Diese Marginalisierung der Mutter und ihre Distanzierung verweist auf eine rollenförmige Beziehungsstruktur, die schließlich im Sinne einer funktionalen Arbeitsteilung gefasst werden kann. Die Mutter erkennt die Bildungsmotivation an: So entlastet sie Beatrice zum Beispiel auch von Hausarbeiten und handelt damit entgegen der Tradition, in der andere italienische Mütter ihre Töchter einspannen, unter der Bedingung, dass Beatrice mit ihren guten schulischen Leistungen zum Aufstiegsprojekt der Familie beiträgt. Bindung wird damit an funktionale Bedingungen geknüpft. Jedoch birgt diese Funktionalität und die damit einhergehende Bedingtheit von Bindungen, dass Entfremdung familial dort auftritt, wo eigentlich emotionale Anerkennung gefordert ist. Zusammenfassend für diesen Fall lässt sich sagen: Die Differenz der hier erzählten Geschichten, beginnend mit der Darstellung eines Normalverlaufs, über die Einbettung in die Migrationsgeschichte ihrer Eltern bis hin zur eigenen Transformationsgeschichte verdeutlicht die Verstrickung in Tabuisierungszusammenhänge, die die anfänglich behauptete Normalität in ihr Gegenteil verkehren. Familie, Ersatzfamilie, Schule, Geschwister und italienische Mission stellen ein komplexes Bedingungsgefüge dar, das besonders in der Adoleszenz seine fallspezifische Dynamik entfaltet. Hier wird deutlich, dass zwar eigene Vorstellungen entwickelt und realisiert werden, diese jedoch einer sensiblen Ausbalancierung der zum Teil widersprüchlichen Anforderungen bedürfen. In der Phase der Adoleszenz, so kann hier analytisch abstrahiert werden, treffen diese Anforderungen zusammen: Beatrices Vater und Tante sterben – damit fällt die bisherige Bezugsperson aus und die Familie verliert mit dem Vater den ‚Motor’ der Migration. Daraus folgt, dass die Kinder nun eigene Antriebsmöglichkeiten entwickeln müssen. Für Beatrice kommt hinzu, dass sie gefordert ist, wichtige bildungsbiographische Entscheidungen zu treffen. Sie bearbeitet die Kumulation von Ereignissen, indem sie sie als ‚günstige Gelegenheiten’, die sich wie von selbst ergeben, darstellt: die Geschwister ersetzen die wegfallende signifikante Andere, ihre Freunde gehen zum Gymnasium, also geht sie mit.


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Diese ‚Gelegenheitsstrukturen’ stellen ihre lebenspraktische Bewältigung der erfahrenen Brüchigkeit dar. Was dies vor dem Hintergrund der zuvor skizzierten Migrationsdebatte einerseits bedeutet, hinsichtlich der Frage nach dem Stellenwert qualitativer Studien andererseits, soll im Folgenden dargestellt werden.

4.

Zur Bedeutsamkeit der biographischen Erfahrungen vor dem Hintergrund der gegensätzlichen Diskurse in der Migrationsforschung

Migration wird in der Familienbiographie, in der die hier dargestellte Lebensgeschichte eingebettet ist, als Mechanismus der Modernisierung (Hamburger 1994) genutzt, das heißt: die Entscheidung zur Migration ist motiviert durch die Möglichkeit, das bäuerliche Leben mit all seinen Unwägbarkeiten hinter sich zu lassen und sich innerhalb eines modernen Produktionsprozesses zu verorten und gleichzeitig den Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Damit wird mit der Migration eine Transformationstradition (Apitzsch 1999a) begründet: Migration kann als familiales Aufstiegsprojekt gefasst werden. Die geographische Mobilität der Eltern wird durch die soziale Mobilität der Kinder weitergeführt. Bildungserfolg bedeutet in diesem Zusammenhang auch das Gelingen des Lebenskonzeptes der Eltern: sich und den Kindern durch die Migration ein besseres Leben zu verwirklichen. Was also durch die Eltern nicht unmittelbar geleistet wurde: die Armut durch die Migration hinter sich zu lassen, verspricht nun der Bildungserfolg der Kinder. Dies bedingt nun eine funktionale Strukturierung der Eltern-Kind-Beziehungen im Fall Beatrice: Zwar sind die Eltern mit dem Bildungserfolg einverstanden, denn schließlich verspricht er ihnen auch die Realisierung ihrer Aufstiegsaspiration, sie treten jedoch nicht aktiv dafür ein, denn sie fallen sowohl hinsichtlich der Ermöglichung emotionaler Anerkennung als auch hinsichtlich der inhaltlich-fachlichen Unterstützung aus. Der familiale Auftrag wird damit hochgradig abstrakt. Die ‚Lücke’ der hier notwendigen Konkretionen schließt zunächst die Ersatzfamilie, die zum primären Beziehungsgefüge für Beatrice wird. Damit beginnt jedoch die Entwicklung einer fallspezifischen Dynamik, die ständig gefordert ist, ausfallende Signifikante zu ersetzen. Das Bewältigungsmuster ‚Gelegenheitsstrukturen’ ermöglicht dabei eine flexible Bezugnahme und Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit. Die Bildungsbiographie von Beatrice steht damit exemplarisch für die enge Verwobenheit der unterschiedlichen biographischen Erfahrungsräume und die Möglichkeiten, diese Erfahrungsräume für die Selbstentfaltung optimal zu nutzen. Dies wird besonders an der Kumulation von Ereignissen in der Adoleszenz


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deutlich, in der es ihr gelingt, die familialen und institutionellen Einbindungen so zu nutzen, dass sie letztendlich als bildungserfolgreich daraus hervorgeht. Sie zeigt damit auch, dass vereinseitigend defizitorientierte Perspektiven auf die Familie und die damit einhergehende These von der Kompensation durch Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft nicht trägt: denn die mit der Familie verbundene Problematik von Zerfall und Distanzierung ist eine, die nicht allein unter dem Fokus der Migration und Assimilation zu betrachten ist. Zwar gibt es hier eine deutliche Verzahnung mit dem Migrationsprozess, der Wegfall der Familie als primäre Bezugsgruppe fordert jedoch eine weitreichendere Kompensation als die Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft. Gleichzeitig trägt jedoch die einseitig chancenorientierte Sicht auf Familie nicht, Institutionen dürfen nicht als einzige Gefahr der Integration gesehen werden: denn die Eltern bieten Beatrice ja funktionale Unterstützung und einen abstrakten Auftrag. Die Ersatzfamilie, die Geschwister und die institutionelle Einbindung kompensieren den Ausfall der Eltern in anderen Bereichen. Dabei verpflichten die Geschwister Beatrice jedoch immer wieder auf den elterlichen Auftrag, so dass die Migrationsgeschichte und das gemeinsame Aufstiegsprojekt schließlich die Entfremdung von den Eltern überlagert und es immer wieder zu Tabuisierungen der Ersatzfamilie und ihrer Bedeutsamkeit kommt. Die hier erfahrenen Spannungsmomente können schließlich als entscheidendes Antriebsmoment von Beatrices Bildungsbiographie gesehen werden. Dies wird in dem Spannungsmoment der Bindung und Entfremdung besonders deutlich: Obwohl die Eltern von Beatrice ihr nur einen abstrakten Auftrag mitgeben und die Entfremdungstendenzen sich immer wieder Bahn brechen, ist sie in das familiale Aufstiegsprojekt eingebunden. Die Unterstützung durch die Ersatzfamilie bedeutet dabei die besondere Möglichkeit, die Aufstiegsaspiration auf eigene Weise zu verwirklichen. Dies spricht gegen eine deterministische Sichtweise, in der Familie Aufstieg ermöglicht oder verhindert: denn der Fall Beatrice zeigt deutlich, dass Bildungserfolg nicht gegen die Familie erbracht wird, aber auch nicht nur durch sie, dass es also weder eine völlig autonome und auf sich gestellte Leistung ist, noch eine fremdbestimmte und auf familialer Delegation beruhende Verwirklichung. Vielmehr bedarf es einer aktiven Aneignung, was Beatrice durch die eigenständige Modifikation der Aspiration zum Ausdruck bringt.

5.

Zur Bedeutung der Rekonstruktion unerwarteter Bildungsbiographien für die Bildungsforschung

Die im vorhergehenden Abschnitt aufgezeigte Möglichkeit der Überwindung von dualistischen Betrachtungsweisen und der Betrachtung von Biographie als


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Transformationsprozess impliziert die Chance, Studien wie diese von ihrem jeweiligen Exotismus (z.B. als Migrationsstudie) zu lösen und als Studie zu Bildungsprozessen unter Bedingungen sozialer Ungleichheit zu fassen (Hummrich/Wiezorek 2005). In diesem Zusammenhang erscheint Beatrice als Person, bei der alle drei Faktoren sozialer Ungleichheit (Klasse, Ethnizität und Geschlecht) nachteilig auf ihre Bildungschancen wirken, da sie als weibliche Migrantenjugendliche aus dem bäuerlichen Milieu eine Erfolgswahrscheinlichkeit von unter 4% hat. Jedoch zeigt gerade ihre Biographie, dass die gleichen Faktoren nicht gleichermaßen additiv zusammen wirken, sondern, dass die Verwobenheit unterschiedlicher Erfahrungsräume auch optionsentfaltend genutzt werden kann. Wenn King (2004) an dieser Stelle von „adoleszenter Kreativität“ als dialektischer Spannung von Generativität und Individuation (ebd.: 259) spricht, spielt sie genau auf jene Antriebsspannung an, die in der widersprüchlichen Erfahrung von Einbindung und Verlust oder Vereinzelung liegt. Ganz allgemein birgt also eine fallrekonstruktive Biographieforschung zu erwartungswidrigen Bildungskarrieren die Möglichkeit zu zeigen, wie mit Bedingungen sozialer Ungleichheit lebenspraktisch umgegangen wird, welche Chancen familiale Herkunft und Schule für die Entwicklung des Selbst beinhalten, aber auch wie mit den je spezifischen Risiken aus Familie und Schule umgegangen wird. Für den Fall erfolgreicher Bildungskarrieren kann dabei auf der Ebene der Forschung geschlossen werden, dass Bildungserfolg unter Bedingungen sozialer Ungleichheit nicht unbedingt nur eine Entfremdung von der Familie zur Folge hat, aber auch nicht (zwangsläufig) als reine Delegationsaufgabe, die heteronom gerahmt ist, verstanden werden muss, sondern dass es hier um einen aktiven Aneignungsprozess gehen kann, der im günstigen Fall eine sensible Ausbalancierung der unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Anforderungen zur Folge hat. Hier zeigt sich, dass gerade fallrekonstruktiven Forschungsansätze, in denen biographischen Ressourcen ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird, die Möglichkeit innewohnt, Transformationspotenziale zu fassen. Denn gerade in der Biographie laufen die Erfahrungen der verschiedenen Handlungsräume zusammen und werden individuell verarbeitet. Biographie kann somit gleichsam zwischen den Handlungsräumen, in die der/die Jugendliche eingebunden ist, vermitteln. Die Rekonstruktion biographischer Prozesse ermöglicht somit detaillierte Erkenntnisse zu adoleszenten Entwicklungsverläufen und ihrer Einbettung in kollektive Zusammenhänge. So ist – dies zeigt etwa der Fall Beatrice – soziale Ungleichheit ein Thema, das biographisch bedeutsam ist, denn die Erfahrungen der Zugehörigkeit zu einer Minderheit und der Armut stellen das biographische Subjekt vor die Aufgabe, dies lebensgeschichtlich zu verarbeiten. Wie diese Verarbeitung geschieht, kann nicht mit Methoden erfasst werden, die


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vor allem die makrostrukturellen Bedingungen des Handelns erfassen, sondern kann vor allem erfasst werden, indem die biographisch vermittelten Bearbeitungsressourcen rekonstruiert werden. Damit bietet eine fallrekonstruktive Biographieforschung die Möglichkeit einer sinnvollen Ergänzung von Studien, die das Wirksamwerden von Benachteiligung oder die Transformation erfassen, aber in ihrer Komplexität nicht erklären können. Damit ist eine abschließende Bemerkung eingeleitet: Selbstverständlich muss eine Bildungsforschung, die in diesem Sinne in eine empirische Bildungsforschung integriert wird, dualistische Konstruktionen verabschieden, die Lebenslagen einseitig beurteilt. Um ein solches Konzept auszudifferenzieren, wären dabei nicht nur erfolgreich transformative, sondern auch scheiternd transformative Biographien zu rekonstruieren und mit erwartungsgemäßen Biographien zu kontrastieren, um schließlich spezifische Möglichkeitsräume von Bildungsprozessen erfassen zu können.

Literatur Akgün, L. (1993): Psychokulturelle Hintergründe türkischer Jugendlicher der zweiten und dritten Generation. In: Laijos (1993): 55-70 Apitzsch, U. (1999a): Traditionsbildung im Zusammenhang gesellschaftlicher Modernisierungs- und Umbruchsprozesse. In: Apitzsch (1999b): 7-20 Apitzsch, U. (Hrsg.) (1999b): Migration und Traditionsbildung. Opladen: Westdeutscher Verlag Badawia, T. (2002): „Der dritte Stuhl“. Eine Grounded Theory-Studie zum kreativen Umgang bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher mit kultureller Differenz. Frankfurt/M.: IKO Verlag für Interkulturelle Kommunikation Bade, K./Rat für Migration e.V. (Hrsg.) (2001): Integration und Illegalität in Deutschland. Osnabrück: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien Baumert, J./Klieme, E./Neubrand, M./Prenzel, M./Schiefele, U./Schneider, W./Stanat, P./Tillmann, K.-J./Weiß, M. (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich Baumert, J./Schümer, G. (2001): Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb im nationalen Vergleich. In: Baumert et.al. (2001): 159-203 Berenkopf, B. (1984): Kindheit im Kulturkonflikt. Fallstudien über türkische Gastarbeiterkinder. Frankfurt/M.: Extrabuch Berger, P. (Hrsg.) (2005): Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Weinheim: Juventa Bier-Fleiter, C. (Hrsg.) (2001): Familie und öffentliche Erziehung. Aufgaben, Abhängigkeiten und gegenseitige Ansprüche. Opladen: Leske + Budrich Chaidou, A. (1984): Junge Ausländer aus Gastarbeiterfamilien in der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Kriminalität nach offizieller Registrierung und nach ihrer Selbstdarstellung. Frankfurt/M.: Lang Fend, H. (2004): Was stimmt mit den deutschen Bildungssystemen nicht? Wege zur Erklärung von Leistungsunterschieden zwischen Bildungssystemen. In: Schümer et al. (2004): 15-38 Geiersbach, P. (1983): Bruder, muss zusammen Zwiebel und Wasser essen! Eine türkische Familie in Deutschland. Berlin: Dietz


Migration und Bildungsprozess

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Kreativer Umgang mit familialen Ressourcen bei adoleszenten Bildungsmigrantinnen Kreativer Umgang mit familialen Ressourcen

Marga Günther

1.

Einleitung

Jugendliche mit Migrationshintergrund wurden lange Zeit vorwiegend unter dem Gesichtspunkt ihrer Defizite betrachtet (vgl. Radtke 1991), während die Potentiale, die sich gerade aus ihrer spezifischen Lebenssituation ergeben, weniger Beachtung fanden. Der folgende Beitrag schließt an neuere Ansätze der Forschung über jugendliche Migranten an (z.B. Sauter 2000, Pott 2002, Hummrich 2002, Koller et al. 2003) und zeigt die Ressourcen auf, die Bildungsprozesse (vgl. Koller 1999) bei adoleszenten Migranten ermöglichen. Dabei geht es insbesondere um familiale Ressourcen im Hinblick auf die adoleszente Identitätsbildung. Herausgearbeitet wird, wie die innere und äußere Auseinandersetzung mit den Eltern auf die Bewältigung des Migrationsprozesses einwirkt und inwieweit aus dieser Auseinandersetzung Ressourcen für die Abgrenzung von den Eltern und zur Ausbildung eines eigenen Lebensentwurfs mobilisiert werden können. Dieser Aushandlungsprozess wird exemplarisch an zwei Frauen aufgezeigt, die alleine von dem westafrikanischen Guinea nach Deutschland migrieren, um hier ein Studium zu absolvieren. Die Beispiele stammen aus einer empirischen Studie über weibliche und männliche Bildungsmigranten, die die Bewältigung der Migrationssituation aus adoleszenztheoretischer Sicht erforscht. Mit der Auswahl von zwei Frauen aus dieser Untersuchung wurde bewusst auf die geschlechtliche Dimension verzichtet, denn im Vordergrund der Ausführungen stehen der Erwerb der familialen Ressourcen und der Umgang damit. Zunächst wird der konzeptionellen Rahmen aufgezeigt, in dem sich die Untersuchung bewegt und mit dem die familialen Ressourcen erfasst werden. Anschließend werden mit Hilfe dieses Instrumentariums die empirischen Daten an zwei Fallbeispielen aufgeschlüsselt.


122 2.

Marga Günther

Die Situation jugendlicher Migranten – Konzeptioneller Rahmen

2.1. Adoleszenter Umwandlungsprozess Die Adoleszenz ist die Phase im Leben eines Menschen, in der die Auseinandersetzung mit der Herkunftsfamilie eine besondere Bedeutung bekommt. In diesem Prozess findet ein Zusammenspiel von Identifizierung und Abgrenzung von familialen Mustern statt, als deren Ergebnis schließlich die Ausbildung eines eigenen Identitätsentwurfs steht. Grundsätzlich besteht in dieser Auseinandersetzung die Möglichkeit, Neues herauszubilden (vgl. King 2002) wobei die innere Trennung von den Eltern eine besondere Rolle spielt. Denn von adoleszenter Ablösung von der Herkunftsfamilie und der Ausbildung eines individuierten Lebensentwurfs kann erst gesprochen werden, wenn auch eine innere Distanznahme und Auseinandersetzung mit den Lebensentwürfen der Eltern stattfindet. Eine nur räumliche Trennung z. B. zum Zwecke der Berufsausbildung bedingt nicht notwendigerweise auch die innere Trennung. Sie bietet aber häufig gerade den Anlass und die Gelegenheit dazu, sich aus der räumlichen Distanz mit der eigenen Gewordenheit neu zu beschäftigen wie es auch der Begriff ‚Bildungsmoratorium’ ausdrückt (vgl. Bosse 2000). Im Prozess der Identitätsbildung werden Fragen virulent wie: Wo komme ich her?, Wer bin ich? und Wer will ich sein? (vgl. King 2000). Diese Fragen tauchen in den verschiedenen Lebensbereichen immer wieder auf, die Adoleszenten setzen sich zu ihnen in Bezug und versuchen zunehmend, eigene Positionen zu finden. Beispielsweise modifizieren sich die Fragen für junge Frauen im Zuge der Entwicklung ihrer geschlechtlichen Identität dann so: Was ist meine Mutter für eine Frau?, Wie fühle ich mich als Frau? und Wie möchte ich als Frau sein?. Dieser Prozess findet nicht losgelöst statt, sondern ist jeweils eingebettet in die realen Bezüge, in denen die Jugendlichen heranwachsen. Hierbei spielen Faktoren wie die soziale Position der Familie, die gesellschaftlichen Bedingungen und die damit verbundenen Möglichkeiten und Spielräume, die von beiden ausgehen eine Rolle. Ein wichtiger Motor für die kritische Auseinandersetzung mit bisher vertrauten Mustern stellen außerfamiliale Bezugspersonen oder Mentoren sowie Gleichaltrige dar, mit denen andere Beziehungsmuster ausprobiert werden können. Inwieweit die Antworten auf die biographischen Fragen eher den familialen und gesellschaftlichen Vorbildern folgen oder die Jugendlichen es schaffen einen neuen Entwurf zu integrieren, ist in hohem Maße davon abhängig, wie eng oder weit die Spielräume gesteckt sind, in denen die adoleszente Auseinandersetzung stattfindet (vgl. King 2002). Hinsichtlich der Geschlechterentwürfe spielt es beispielsweise nicht nur eine Rolle, welche Form von Weiblichkeit die Mutter vorlebt, sondern auch, wie die elterliche Beziehung ausgestaltet ist und


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wie offen oder einschränkend die familiale Haltung hinsichtlich anderer Entwürfe der Tochter ist. Ebenso ist es von Bedeutung, mit welchen gesellschaftlichen und kulturellen Mustern von Weiblichkeit die Adoleszente konfrontiert oder nicht konfrontiert wird. Gibt es alternative Formen von Weiblichkeit, mit denen sie sich identifizieren kann, oder werden abweichende Entwürfe sanktioniert? Der jeweilige Lebensentwurf, den ein Mensch in Auseinandersetzung seiner individuellen Biographie ausbildet, ist somit immer auch ein Resultat seiner lebensgeschichtlich erworbenen familialen und soziostrukturellen Ressourcen.

2.2. Migrationsbedingte Transformation Auch durch Migration wird ein Mensch mit äußeren und inneren Veränderungsprozessen konfrontiert, mit denen er sich auseinandersetzen muss. Die Migrationsforschung um Ursula Apitzsch (1999) versteht den Migrationsprozess grundsätzlich als einen Umwandlungs- und Neubildungsprozess. Durch die Migration wird zunächst eine Verunsicherung der bisherigen sozialen Positionierung provoziert, die eine Neuorientierung und Neuverankerung in der fremden Welt erforderlich macht. Der Verlauf dieses Prozesses wird von dem Zusammenspiel zwischen den äußeren Bedingungen in der Aufnahmegesellschaft mit den inneren biographisch erworbenen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern bestimmt. Entsprechend ihrer biographischen Ressourcen reagieren die Migranten jeweils verschieden zum Beispiel auf Ethnisierungsprozesse. Manche ziehen sich beschämt zurück und meiden entsprechende Kontakte, andere wehren sich offensiv gegen Diskriminierung. Durch Migration kann aber auch eine neue Entscheidungsfreiheit durch einen erweiterten privaten und öffentlichen Status entstehen, wie es Leonie Herwartz-Emden (2003) am Beispiel migrierter Frauen hervorgehoben hat. Der durch Migration vollzogene Umwandlungsprozess kann eine neue Handlungsautonomie bewirken, indem sich die Migranten mit ihren biographischen Strukturen auseinandersetzen, sie in Frage stellen, instrumentalisieren oder auch weiterentwickeln.

2.3. Das Spannungsfeld adoleszenter Migration Jugendliche Migranten befinden sich somit in einem Prozess der doppelten Transformation, wie es King und Schwab (2000) formuliert haben. Dieser wird im Folgenden etwas genauer in den Blick genommen, indem gerade das Ineinandergreifen beider Prozesse vor dem Hintergrund erfolgter Bildungsprozesse


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am Beispiel jugendlicher Migranten analysiert wird. Es wird gezeigt, dass die spezifische Bearbeitung der Migrationssituation immer auch etwas damit zu tun hat, welche adoleszenten Krisen in welcher Art und Weise durch die Migration beeinflusst werden. Dazu ist es hilfreich sich den Themen zu widmen, die im Zuge adoleszenter Migration besonders virulent werden. Zunächst ist hier die Bearbeitung der Themen Trennung und Bindung zu nennen. Die Ablösung von der Herkunftsfamilie spielt in der Adoleszenz eine zentrale Rolle und erfährt durch die Migration eine Verschärfung, da der gleichzeitig einhergehende Rückbindungswunsch, das ‚Auftanken’ in der Familie, durch die reale Entfernung nicht ohne weiteres möglich ist. Die Selbstverankerung in der fremden Kultur ist ohne die Rückbindung an die vertrauten Beziehungen erschwert. Entscheidend in diesem Aneignungsprozess sind die Erfahrungen, die die jugendlichen Migranten hinsichtlich der Aufnahme neuer Beziehungen im Aufnahmeland machen. Je nachdem wie sehr sie sich aufgenommen oder abgewiesen fühlen, kann sich die Bindungssuche in der Migration verstärken oder die Ablösung bewältigt werden (vgl. ebd.). Auch das Gefühl der Fremdheit ist für Adoleszente wie Migranten ein Thema, das bearbeitet werden muss. Die in der Adoleszenz auf psychischer wie physischer Ebene stattfindenden Veränderungen erfahren in der Migration eine Verstärkung durch die realen Fremdheitserlebnisse der neuen Umgebung. Je nachdem, ob die Umwelt eher als abweisend und unzugänglich oder als aufnehmend und wohlwollend erlebt wird, können sich die Empfindungen der Fremdheit sich selbst gegenüber verstärken und bis zu einem Gefühl des Selbstverlustes führen oder abgemildert werden und eine Integration der zunächst fremden Anteile zur Folge haben (vgl. ebd.). Schließlich ist im Zuge adoleszenter Bearbeitung bei Bildungsmigranten immer die räumliche Dimension mit einzubeziehen, die quer zu den anderen Themen liegt. Denn bei der Auseinandersetzung mit einer beruflichen Perspektive, der Partnerwahl, der Ablösung von der Herkunftsfamilie sowie der generellen Frage Wie will ich leben?, müssen sie immer auch die Frage Wo will ich leben? mitbearbeiten. Grundsätzlich wird der Verlauf des Migrationsprozesses von Adoleszenten wesentlich beeinflusst von den jeweiligen kulturell-gesellschaftlichen Konstellationen, in denen sie stattfindet. Wenn das Aufnahmeland potentiell einen erweiterten adoleszenten Entwicklungsspielraum zulässt – weil zum Beispiel hinsichtlich der Weiblichkeitsentwürfe eine breitere Vielfalt gelebt und akzeptiert wird, als dies im Herkunftsland der Migranten der Fall ist – so kann dieser Spielraum gleichzeitig wieder beschränkt werden durch die strukturell vorhandene Diskriminierung, die Migranten oft gerade auf stereotype Geschlechtsrollenmuster festschreibt.


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Die Migration bedeutet für Jugendliche folglich einen erweiterten adoleszenten Möglichkeitsraum, der ihren Entwicklungsprozess entscheidend vorantreiben kann. Wie die individuelle Ausgestaltung dieses Spannungsfeldes in Abhängigkeit von den inneren und äußeren Ressourcen die die Jugendlichen zur Krisenbewältigung mobilisieren können, jeweils aussehen kann, soll nun anhand der Beispiele gezeigt werden.

3.

Fallstudien

Die vorgestellten Fallstudien entstammen der bereits erwähnten Forschungsarbeit, die das Zusammenwirken und Ineinandergreifen des Adoleszenz- und Migrationsprozesses untersucht und in deren Rahmen offene Einzelinterviews mit adoleszenten Bildungsmigranten aus Guinea geführt wurden. Das qualitative Forschungsdesign der Arbeit orientiert sich an der Ethnohermeneutik (Bosse 1998, Bosse/King 1998), die den Grundsätzen einer reflexiven Hermeneutik (King 2004) verpflichtet ist. Im Folgenden werden Laura Baldé und Binta Traoré1 vorgestellt, um an ihrem Beispiel die Mobilisierung von familialen Ressourcen in der Migrationssituation zu verdeutlichen. Sie sind in Guinea aufgewachsen, haben dort ihr Abitur absolviert und sind anschließend zur Aufnahme des Studiums nach Deutschland gekommen. Beide stammen aus Familien, die der Elite ihres Herkunftslandes angehören und über entsprechendes kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital verfügen, welches ihnen erlaubt, ihren Kindern eine höhere Schulbildung sowie ein Auslandsstudium zu ermöglichen. Die desolate politische und wirtschaftliche Lage des Staates Guineas verwehrt den Jugendlichen zunehmend eine berufliche Zukunftsaussicht. Die Migration stellt daher in Guinea, für die Generation der hier vorgestellten Frauen ein erstrebenswertes Gut dar, mit dem sich alle Jugendlichen – entsprechend ihrer Möglichkeiten – mehr oder weniger intensiv auseinandersetzen. Man kann sagen, dass das Auslandsstudium die Gymnasiasten wie ein Sog in ihren Bann zieht, dessen Faszination sie sich schwer entziehen können. Die Gespräche werden zunächst jeweils anhand ihrer zentralen Themen zusammengefasst, um einen Eindruck von den Frauen zu vermitteln. Danach folgt ein Vergleich beider Umgangsweisen hinsichtlich der familialen Ressourcen.

1

Namen und persönliche Daten wurden anonymisiert


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Marga Günther

3.1. Schöpferische Ausgestaltung des adoleszenten Migrationprozesses Laura Baldé ist vierundzwanzig Jahre alt, lebt seit fünf Jahren in Deutschland und studiert Betriebswirtschaft in Eisenach. Am Wochenende besucht sie häufig ihren Freund Martin, der in Halle wohnt. Das Gespräch findet in Martins Wohngemeinschaft statt. In einer langen Eingangserzählung berichtet Laura von ihrer Kindheit, die sie als „sehr beweglich“ beschreibt. Sie sei unehelich geboren, weil die Großeltern die Verbindung ihrer Eltern abgelehnt und ihren Vater ins Ausland geschickt hätten. Ihre Mutter habe es trotz der äußeren Widerstände geschafft, ihr Studium zu beenden und anschließend für ihren Unterhalt selbst zu arbeiten. Später heiratete die Mutter einen anderen Mann, mit dem sie aus beruflichen Gründen mehrmals innerhalb Guineas umgezogen seien. Neben ihren eigenen Kindern, nahmen die Eltern auch Kinder aus der Verwandtschaft auf und bekamen noch einen gemeinsamen Sohn, so dass Laura eines von insgesamt sieben Kindern in der Familie gewesen sei. Sie habe es einerseits genossen, in einer richtigen Familie zu leben, andererseits habe ihr auch die Zuwendung der eher strengen Mutter gefehlt, die sie nun immer teilen musste. Beide Eltern arbeiteten tagsüber und überließen die Kinder dem Hausmädchen und der Köchin. Als Laura etwa fünfzehn Jahre alt war, trennten sich die Eltern und die Mutter zog mit ihr und dem Stiefbruder wieder in die Hauptstadt. Aufgrund der Scheidung habe die Mutter einen sozialen und beruflichen Abstieg erlebt, den auch Laura als ihre Tochter negativ zu spüren bekam, weil einer geschiedenen Frau in Guinea mit Missachtung begegnet wird. Laura beschreibt ihre Mutter als eine starke, kluge und gebildete Frau, die immer ihren Willen durchgesetzt habe. So habe sie schließlich erreicht, dass sie auch nach der Scheidung als allein lebende Frau und Mutter akzeptiert wurde und sich durch ihren Ehrgeiz nach einiger Zeit wieder eine höhere Position erkämpft. Für eine berufliche Fortbildung sei die Mutter ein Jahr lang nach Paris gegangen und habe Laura mit einem Hausmädchen bei den Großeltern in Conakry gelassen. Diese Zeit habe Laura sehr genossen, weil sie erstmals ihr Leben selbständig bestreiten und sehr viel Zeit mit Freunden verbringen konnte. Dass Laura im Ausland studieren soll, sei für die Mutter eine Selbstverständlichkeit gewesen, sie habe auch die Kontakte nach Deutschland organisiert. Laura kannte anfangs niemanden in Deutschland und wohnte zunächst bei einem guineanischen Bekannten. Sie erzählt amüsiert von ihrer ersten Zeit, z. B. dass sie sich geschämt habe, alleine mit einem Mann in einer Wohnung zu leben. Im weiteren Verlauf des Gesprächs berichtet Laura ausführlich über Schwierigkeiten, die sie in Deutschland mit dem Studium und dann mit der Ausländerbehörde hatte. Diese Probleme stehen für sie in Verbindung mit einer heftigen Auseinandersetzung, die sie mit ihrer Mutter gehabt


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habe, weil diese ihr die Liebesbeziehung zu einem guineanischen Mann habe verbieten wollen. Laura habe sich den Verboten der Mutter widersetzt, weil sie der Meinung gewesen sei, nun als Erwachsene selbst über ihr Leben bestimmen zu können. Und als die Mutter ihr gedroht habe, die finanzielle Unterstützung zu verweigern, habe Laura geantwortet: „okay ich probiere das“. Laura sagt, dass dieser Streit für sie „die Gelegenheit“ gewesen sei, sich endlich einmal gegen die Mutter aufzulehnen. Sie beschreibt ihr Gefühl dabei so: „diese Lust einfach einmal Nein zu sagen“. Ein Jahr lang habe sie keinen Kontakt zur Mutter gehabt, sie bereue diese Auseinandersetzung aber nicht. Sie habe zwar Nachteile dadurch gehabt, doch die Vorteile würden überwiegen. Von ihrem damaligen Freund habe sie sich inzwischen getrennt und eine Weile alleine gelebt. Laura erzählt dann von den Problemen, die sie in Folge des Streits mit der Mutter gehabt habe. Ihre Konzentration auf das Studium habe gelitten, weil sie nun ihren Lebensunterhalt selbst verdienen musste. Sie habe darum das Studienfach und den -ort gewechselt und versäumt, dies der Ausländerbehörde mitzuteilen. Diese habe ihr darum die Verlängerung des Visums verweigert. Daraufhin habe Laura mit Unterstützung eines Jurastudenten namens Peter einen Rechtsstreit geführt und schließlich gewonnen. Sie sei Peter sehr dankbar für seine Hilfe, der sich sehr engagiert in das Thema eingearbeitet und dafür kein Geld genommen hätte. Während dieser Zeit habe Laura ihren heutigen Freund Martin kennen gelernt, der ihr auch viel Beistand geleistet habe. Eine Einschränkung ihres Lebens sieht Laura in der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. Sie sei zwar noch nicht körperlich angegriffen worden, wie einige ihrer Freunde, verbal bekomme sie jedoch häufig Sprüche zu hören. Für Laura überwiegen aber die positiven Erfahrungen in Deutschland und sie betont, dass sie auch in Guinea ähnliche Erfahrungen gemacht habe: „man wird nicht von allen gemocht“. Solange es bei den Sprüchen bliebe, könne Laura damit leben. Sie blickt insgesamt auch kritisch auf ihr Heimatland und benennt einige Missstände, die viele Leute dazu bewegen würden, ins Ausland zu gehen. Ihre eigene Zukunft kann Laura noch nicht verorten. Sie setzt sich gerade intensiv damit auseinander, welchen Weg sie beruflich einschlagen soll. Statt nach dem BWL-Studium bei einer Bank zu arbeiten, würde sie viel lieber Lehrerin werden. Gerne würde sie später nach Afrika gehen, nicht unbedingt nach Guinea, ein anderes afrikanisches Land wäre auch akzeptabel. Am Ende des Gesprächs berichtet Laura von Depressionen, mit denen sie seit ihrer Kindheit immer wieder zu kämpfen habe. Laura führt die Ursache der Depressionen auf ihre Kindheit zurück, wo ihr die Mutter sehr gefehlt habe und sie damals ihre Gefühle nicht ausdrücken konnte. Seit sie in Deutschland sei, ginge es ihr diesbezüglich viel besser. Ihr Ex-Freund und Martin haben ihr sehr viel dabei geholfen, diese Stimmungen zu überwinden.


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Der folgende Gesprächsausschnitt veranschaulicht Lauras Auseinandersetzung mit ihrer Mutter. Sie berichtet darin über ihren ersten Besuch in Guinea nach Wiederaufnahme des Kontaktes mit der Mutter. Laura: Ja ich bin wieder da, ich musste wieder dann noch mal alles gehören und . weil ich den ersten Kampf quasi verloren- am Anfang schon verloren habe, ich musste dann noch mal . alles was sie sagt: (mit verstellter, vorwurfsvoller Stimme) ja siehste ich hab, ich hab dir gesagt, (wieder normale Stimme) meine Mutter ist ein bisschen schwer, ein bisschen schwierige Mutter aber. [...] Immer Streit, nicht Streit aber . sie wollte immer was sagen. Ich hab dann, um sie nicht wieder zu sprechen, ich hab auch viel nicht gesagt. [Mhm] Geschwiegen . und geguckt natürlich meine eigenen Sachen gemacht, sie hat das auch bemerkt und dann, sie hat gesagt, wir sollen doch uns unterhalten. [Mhm] Da hat angefangen, dass wir uns so richtig unterhalten haben. Es war schwer aber . [Mhm] richtig so, jeder hat seine Meinung gesagt, ich muss, bin nicht einverstanden, wenn ich nicht einverstanden war und so, das war dann okay. [Mhm] Ja und dann, ich wollte dann meinen . Freund vorstellen (holt Luft) . das war dann schlecht. Das hat wieder Problem, andere Probleme ausgelöst. (ahmt Mutter nach) Das geht nicht . der ist ein Weißer, du musst so schnell wie möglich studieren und zurückkommen. Hier Arbeit bekommen und heiraten. Das geht nicht. [Mhm] Du darfst dort nicht leben das andere wär, das gehört nicht dir. Ich hab gesagt ja, das ist richtig, aber man weiß nie, wo die Liebe hinfällt und wenn wir uns zusammen gefunden haben und der andere. Was willst du? Mit den anderen wolltest du nicht, die wollte, was denkst du, was erwartest du von mir, dass ich da alleine lebe oder? Das geht nicht, das will ich nicht. [Mhm] Ich möchte auch jemanden haben zum Ausgleich. Ich bin auch bloß ein Mensch und kein Kind mehr. [Mhm] (ahmt Mutter nach in leierhafter Stimme) Ja ja, nee, das ist keine Liebe, was weißt du von Liebe, das Wort darfst du nie benutzen (lacht). Das weißt du gar nicht und . das geht nicht. (wieder normale Stimme) Sieht mich, sie sieht in mir immer noch das kleine Kind. [Mhm] Ja . aber dann . war sehr spannend. Die ganze Familie . es war schön, an einer Seite aber andere Seite, sehr viel Spannung auch. Aber ich muss noch mal unbedingt hin .. vielleicht nächstes Mal mit ihm dann. Das wird dann ein Hammer (lacht schallend) ja, das wird dann nicht . schön für mich aber für die dann . ein anderer, weil ich bin dann die erste in der Familie, die andere Weg dann gemacht, das ist (uv) MG: Ja das wird schwer, ne? Laura: Ja . aber . ich schaffe das (lacht)

In dieser Szene wird die Distanznahme Lauras zu ihrer Mutter deutlich, gleichzeitig aber auch der Kampf um Anerkennung durch die Mutter für ihren eigenen Weg. Laura setzt sich reflexiv mit ihrem Verhältnis zur Mutter auseinander und weiß um ihre eigene Stärke, ihren Willen durchzusetzen. Geradezu lustvoll sieht sie den kommenden Schwierigkeiten ins Auge, wenn sie die Auseinandersetzung bei ihrem nächsten Besuch fortsetzen möchte. Sie stellt sich selbst in einen generativen Zusammenhang und weiß, dass ihre Schwierigkeiten auch daher rühren, dass sie einen neuen Lebensentwurf in ihrer Familie hervorbringt. Lauras Reflexionsfähigkeit wird auch in ihrer Erzählung über ihre Freunde sichtbar. Sie sagt, dass sie ganz genau überlege, was sie wem erzähle, denn sie


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könne nicht zu allen Vertrauen haben. Beispielsweise habe sie bei dem Konflikt mit ihrer Mutter gemerkt, dass ihre guineanischen Freunde kein Verständnis für ihren Widerstand gegen die Mutter aufgebracht hätten, weil sie der Meinung seien, dass man den Eltern nicht widersprechen dürfe. Daher sei es besser, ihnen nichts darüber zu erzählen. Ihre Beziehung zu Martin beschreibt Laura sehr positiv. Sie verstünden sich sehr gut, dennoch wüsste sie noch nicht, ob er der richtige Mann sei, um eine Familie zu gründen, denn bisher sehen sie sich nur am Wochenende. Dass sie einmal eine Familie gründen möchte, steht für Laura fest. Der Zeitpunkt verschiebe sich aber – entgegen ihrer ursprünglichen Planung – nach hinten. Zusammenfassend lässt sich das Gespräch mit Laura folgendermaßen analysieren: Lauras bisheriges Leben verlief relativ unstet und war geprägt von Veränderungen, durch die sie sich immer wieder neu verorten musste. Einzige Konstante war die Mutter, die konsequent ihren eigenen Lebensweg verfolgte, auch wenn sie dafür erhebliche Nachteile in Kauf nehmen musste. Laura erlebte ihre Mutter als aktive und durchsetzungsfähige Frau, die sowohl im beruflichen wie im privaten Bereich ihre persönlichen Ziele erreichte. Sie ist einerseits stolz auf ihre Mutter und identifiziert sich mit deren Willensstärke und Handlungsfähigkeit. Andererseits erkennt sie auch, dass die Mutter nicht in der Lage war, Lauras emotionale Bedürfnisse zu befriedigen, weil der berufliche Erfolg stets Vorrang hatte. Noch heute fühlt Laura sich von der Mutter in der Ausgestaltung ihres eigenen Lebens stark eingeschränkt, da die Mutter nur den Studienerfolg ihrer Tochter im Blick hat und ihr daneben wenig Entfaltungsspielraum zubilligt. Im Laufe ihres Adoleszenzprozesses setzt Laura sich intensiv mit ihrem bisherigen Leben auseinander und versucht, anders als die Mutter sowohl den beruflichen Erfolg wie auch ihre emotionalen Anteile in ihren Lebensentwurf zu integrieren. In der Migration erfährt ihre Identitätssuche durch die äußere Trennung von der Mutter und dem erweiterten adoleszenten Möglichkeitsraum in Deutschland einen deutlichen Schub, denn sie kann freier mit verschiedenen Entwürfen von Weiblichkeit experimentieren. Sie überwindet die Schwierigkeiten, mit denen sie in Deutschland konfrontiert ist, aktiv und eignet sich die notwendigen Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben reflexiv an. Dabei stellt die offene Auseinandersetzung mit ihrer willensstarken und durchsetzungsfähigen Mutter eine wichtige Ressource dar, die es Laura ermöglicht auf dem Weg zu ihrem Ziel auch Widrigkeiten zu überwinden beziehungsweise in Kauf zu nehmen. Diese innere Stärke befähigt Laura dazu, einen individuierten Lebensentwurf auszubilden, bei dem nicht nur alte Muster reproduziert werden, sondern Neues entstehen kann.


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3.2. Kompromisshafte Ausgestaltung des adoleszenten Migrationsprozesses Binta Traoré ist siebenundzwanzig Jahre alt, lebt seit vier Jahren in Deutschland und studiert in Darmstadt Internationales Recht. Während der Semesterferien ist Binta täglich bei ihrem Bekannten Mohammed in Frankfurt zu Besuch, da sie in Darmstadt, wo sie seit kurzem wohnt, kaum Kontakt hat. Das Gespräch findet in der Küche des Studentenwohnheims, wo Mohammed wohnt, statt. Zu Beginn des Gesprächs geht Binta sehr kurz auf ihre Kindheit ein, die sie als „sehr schön“ beschreibt, gleichzeitig aber auch betont, dass sie „eigentlich so ein bisschen viele Kinder“ gewesen seien. Dann kommt sie direkt auf ihre Migration zu sprechen, die ihre Eltern zunächst nicht erlauben wollten. Die Familie sei ökonomisch sehr gut abgesichert und die Migration darum nicht notwendig gewesen, außerdem hätten die Eltern nicht gewollt, dass ihre Tochter außerhalb ihrer Kontrolle lebt. Binta habe aber ihren dringlichen Wunsch, im Ausland zu studieren, gegen die Eltern durchgesetzt. Beistand bekam sie dabei von ihrem Onkel, der auch in Deutschland studiert hat. Binta schildert dann, dass sie anfangs große Probleme gehabt habe, sich an die „Lebensweise der Deutschen“ zu gewöhnen. Sie habe anfangs bei einem Freund gewohnt, der tagsüber nicht zu Hause war und sich sehr einsam gefühlt. Binta habe „nur jeden Tag geweint, jeden Tag geweint. Und ich hatte Heimweh, schrecklich Heimweh“. Aus Bintas Schilderungen wird deutlich, dass sie in den ersten Wochen in Deutschland eine heftige psychische Krise durchgemacht hat, weil sie das erste Mal von ihrer Familie getrennt und nicht daran gewöhnt war, alleine zu sein. Ihr Vater habe es in einem Telefongespräch abgelehnt, dass sie nach Guinea zurückkehrt und ihre guineanischen Freunde hätten über sie gelacht, weil sie sich so kindlich verhalten habe. Daraufhin habe Binta beschlossen zu kämpfen. Sie sei zunächst nach Hamburg gezogen, wo auch ihr Bruder lebt und habe dort einen Deutschkurs besucht. Anschließend sei sie auf Drängen ihres Bekannten Mohammed nach Frankfurt gewechselt, wo sie das Studienkolleg besucht habe. Die Prüfungen seien Binta nicht leicht gefallen, doch mit Unterstützung von Mohammed habe sie alle bestanden. Sie berichtet stolz, dass sie anschließend ihr Studium an der Universität aufnehmen konnte. Sie habe sich immer eine deutsche Freundin gewünscht, alle Bemühungen eine zu finden, seien aber erfolglos geblieben. Binta berichtet dann von ihren Schwierigkeiten, die sie mit den Deutschen habe. Anhand der ausführlichen Schilderungen mehrerer negativer Erlebnisse, die sie mit der Ausländerbehörde, dem Studentenwerk und dem Hausmeister des Studentenwohnheims hatte, wird deutlich, wie sehr es Binta verletzt, in Deutschland als Ausländerin abgelehnt zu werden. Binta zieht daraus zunächst den Schluss, dass sie nach Beendigung ihres Studiums in ihr Heimatland zurückkehren möchte. Sie sagt: „Das will ich unbedingt“. Im weiteren Verlauf des Ge-


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sprächs wird jedoch ihre Ambivalenz hinsichtlich ihres Rückkehrwunsches sichtbar. Nach Guinea zurückzukehren würde auch bedeuten, wieder in alte Beziehungsmuster zurückzukehren, die sie heute froh ist, überwunden zu haben. Binta spricht dann von den Vorzügen, die Deutschland gegenüber Guinea habe. Im Gegensatz zu Afrika würden die Kinder hier früh zur Selbständigkeit erzogen, was sie sehr schätze. Sie habe erst hier gelernt, was es heißt selbständig zu sein, weil ihr früher immer die Eltern gesagt hätten, was sie machen soll: Aber jetzt, ich suche mir meine Wohnung selbst, die Wohnung . alles alles und ich lese alle meine Briefe selbst, unterschreibe alles. Und ich weiß jetzt also fast alles, was man mir erklärt. [Mhm] Und ich kann jetzt wo auch, also überall in Deutschland laufen, ohne Probleme. Und ich bin sehr froh darüber wirklich.

Die Aufzählungen solcher einfachen Tätigkeiten, wie Briefe lesen, Briefe unterschreiben und verstehen, was man ihr erklärt, weisen auf ein außerordentliches Maß an Unselbständigkeit hin, in der Binta vor der Ankunft in Deutschland gelebt hat. Indem alle ihre Persönlichkeit betreffenden Angelegenheiten von anderen erledigt wurden, übernahm sie keinerlei Verantwortung für ihr eigenes Leben. Das bedeutet aber nicht, dass Binta nicht versucht hätte, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Ihre Bemühungen wurden jedoch stets von ihren Eltern abgewehrt. Beispielsweise berichtet Binta von einem Ereignis, einige Zeit vor ihrer Ausreise nach Deutschland. Sie habe insgesamt fast ein Jahr lang nichts zu tun gehabt und darum eine Arbeit auf der Messe annehmen wollen. Ihre Mutter sei jedoch dagegen gewesen, weil sie das Geld nicht nötig gehabt habe. Binta habe sich nach langen Diskussionen schließlich durchgesetzt. Der Job habe ihr sehr viel bedeutet, weil sie das erste Mal selbst Geld verdient und dadurch erkannt habe, dass sie in der Lage sei, selbst etwas zu tun. An diese Erfahrung der eigenen Wirkmächtigkeit kann Binta in Deutschland in vielfältiger Weise anschließen, darum schätzt sie die hiesige Gesellschaftsform sehr. Sie weiß heute, dass sie, wäre sie in Guinea geblieben, immer noch von ihren Eltern abhängig wäre, weil es dort selbstverständlich ist, dass die Eltern über alle Lebensbereiche der Kinder bestimmen. Binta blickt heute stolz auf den Entwicklungsprozess, den ihr die Migration ermöglicht hat. Gleichzeitig sieht sie auch ihre eigenen Defizite: Ich bin mir sicher, wenn . wenn ich vor also achtzehn Jahre bis zwanzig Jahre so selbständig mein, meine Eltern mehr selbständig gemacht hätten, dann hätte ich sehr . also besser bis jetzt hätte ich schon was . mein Diplom und alles.

Der Vergleich zwischen Guinea und Deutschland hinsichtlich der Möglichkeiten, ein selbständiges Leben führen zu können, nimmt einen großen Raum innerhalb des Gespräches ein. Auch wenn sie darunter leide, als Schwarze abge-


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lehnt zu werden und keine Freunde unter den Deutschen zu finden, betont Binta immer wieder, wie glücklich sie heute darüber sei, selbständig geworden zu sein. Ihr sei es auch wichtig, diese Selbständigkeit später an ihre Kinder weiterzugeben. Grundsätzlich hat das Thema Familie und Partnerschaft für Binta aktuell wenig Relevanz. Hinsichtlich ihres späteren Mannes sagt sie jedoch, dass sie sich einen Guineaner wünsche, der ebenfalls Migrationserfahrung habe, damit er sie nicht in die traditionelle Frauenrolle dränge. Im Verlauf des Gesprächs wird deutlich, dass Mohammed eine zentrale Rolle für Binta spielt. Er ist einige Jahre älter als sie und ihr nicht nur beim Lernen für Prüfungen eine wichtige moralische Unterstützung. Auch bei den erwähnten Konflikten mit der Ausländerbehörde, dem Hausmeister und dem Studentenwerk hat Binta ihn stets um Hilfe gebeten. Bintas alltägliche Handlungsfähigkeit ist an Mohammed als ihr Ratgeber und Mentor gekoppelt. Über ihre Herkunftsfamilie spricht Binta auch bei Nachfragen auffällig wenig. Die wichtigste Rolle spielt ihr Vater, der viel Geld gehabt habe, immer alles bezahlt habe, wie sie mehrmals betont. Er habe Binta auch stets gesagt, was sie tun soll. Deutlich wird die starke emotionale Beziehung zum Vater, der vor einem halben Jahr gestorben sei. Binta weint, als sie erzählt, dass sie nicht zur Beerdigung fahren konnte, weil sie Prüfungen hatte. Über die Mutter spricht Binta so gut wie gar nicht. Sie sei Hausfrau erklärt sie auf Nachfragen und spricht dann allgemein von der traditionellen Frauenrolle in Guinea, für die es normal sei, die Hausarbeit zu machen, die Kinder zu versorgen und zu pflegen ohne Unterstützung durch den Mann. Hinsichtlich ihrer Träume für ihr Leben betont Binta jedoch unter anderem, dass sie ihre Mutter glücklich machen möchte „wie sie mich glücklich gemacht hat“. Auch ihre Geschwister erwähnt Binta kaum. Über den Bruder, der in Deutschland lebt sagt sie: Als ich in Hamburg war, hat er viel für mich getan. Aber (uv) nein, ich muss weit von hier, da Du, Du machst Dir viel Sorgen um mich. Und ich bin hier, um selbständig zu sein und ich will viel lieber woanders studieren.

Binta fühlt sich offensichtlich dem Bruder verpflichtet, da er ihr in ihrer Krise sehr geholfen hat. Dennoch musste sie sich von ihm lösen, um selbständig werden zu können. Sie vermeidet aber eine offene Konfrontation darüber, wie das Zitat belegt. Binta hat noch keine konkreten Zukunftsperspektiven entwickelt. Gerne würde sie zunächst Praxiserfahrungen in England sammeln und dann europäische Investoren suchen, mit denen sie gemeinsam eine Firma in Guinea aufbauen möchte. Also nicht auf dem Konto von Guinea, sondern auf dem Konto von Europa.


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Binta begründet dies mit der hohen Korruption der Guineaner, mit der diejenigen, die im Ausland studiert haben bei ihrer Rückkehr oft Probleme haben, weil sie sich wünschen, die während ihres Studiums in Europa auch erworbenen demokratischen Grundsätze von Gleichheit und Gerechtigkeit durch ihre Rückkehr nach Guinea transportieren zu können. Dabei sehen sie sich aber mit dem Problem konfrontiert, dass die dort herrschenden Regeln – wie z. B. Korruption – mächtiger sind, als ihr Willen sie zu verändern. Binta hofft, diese Schwierigkeiten überwinden zu können, indem sie gemeinsam mit Europäern nach Guinea zurückkehrt. Offenbar befürchtet sie, sich alleine mit ihren neu erworbenen Werten in Guinea nicht durchsetzen zu können. Eine langfristige Perspektive sieht sie in Deutschland für sich aufgrund ihres Heimwehs nicht. Auf die Frage hin, ob sie ein Vorbild habe, an dem sie sich orientiere, fällt ihr niemand ein. Die Analyse des Gesprächs mit Binta erlaubt folgende Schlussfolgerungen: Bintas Herkunftsfamilie zeichnet sich durch finanzielle und emotionale Überbehütung aus, die ein Autonomiestreben nur den männlichen Mitgliedern zugesteht. Der Vater ist ein erfolgreicher Mann und sowohl auf beruflicher als auch familiärer Ebene zentraler Bestimmungs- und Entscheidungsträger. Das Leben der Mutter bleibt hingegen auf den häuslichen, fürsorglichen und emotionalen Bereich beschränkt, sie stellt keine selbständigen Ansprüche und geht ganz in der Versorgung der Familie auf. Diese Rollenverteilung in der Familie soll auch für die Kinder gelten. In ihrer adoleszenten Auseinandersetzung mit den Eltern strebt Binta für ihren Lebensentwurf eine Integration sowohl der väterlichen als auch der mütterlichen Anteile an. Dabei stößt sie auf den Widerstand der Eltern, die die Freiheit ihrer Tochter begrenzen möchten. Das erkämpfte Einverständnis der Eltern zu ihrer Migration nach Deutschland ist daher von Schuldgefühlen Bintas begleitet, weil eine Abkehr vom mütterlichen Modell von den Eltern eigentlich nicht gewünscht wird. Die Migration bewirkt zunächst einen Einbruch ihres Autonomiestrebens, da Binta in Deutschland von der fremden Lebensweise und deren Anforderungen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu müssen, überwältigt ist und anfangs mit Regression reagiert. Sie hat keine Erfahrung darin, Probleme selbständig zu lösen und ist daher auf Hilfe von außen angewiesen, die sie auch von ihrem Bruder und von Mohammed erhält. Die Aneignung der fremden Lebensweise wird Binta zusätzlich erschwert durch die abweisende Haltung der Deutschen, die sie in ihrer Handlungsfähigkeit eher einschränkt als ermutigt. Binta fehlt ein weibliches Vorbild für ihren von der Mutter abweichenden Lebensentwurf, an dem sie sich orientieren könnte. Obwohl sie alternative Lebensentwürfe anstrebt, kann sie sich diese nur begrenzt aneignen, weil ihr schlechtes Gewissen, die Familie verlassen zu haben, eine offene Auseinandersetzung mit ihren Eltern verhindert. So kann Binta den erweiterten adoleszenten Entwicklungsspielraum in Deutschland nur begrenzt


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ausschöpfen, weil sie sich nicht reflexiv mit den Lebensentwürfen ihrer Eltern auseinandersetzt und daher innerlich an sie gebunden bleibt.

3.3. Vergleich beider Fälle Beide Frauen sehen sich durch die Migration mit neuen, nie da gewesenen Schwierigkeiten in einer fremden Umgebung konfrontiert, die sie alleine und erstmals getrennt von ihrem Herkunftskontext, bewältigen müssen. Während der dadurch hervorgerufenen Krisen findet bei beiden Frauen eine Umstrukturierung ihres Welt- und Selbstverhältnisses im Sinne eines Bildungsprozesses statt. Der Umfang dieser Umstrukturierung gestaltet sich jedoch unterschiedlich, wie die Fallanalysen zeigen. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse kontrastierend diskutiert. Bei Laura wird die Motivation zur Migration von ihrer Mutter geteilt. Die Migration stellt sozusagen eine Fortsetzung des mütterlichen Entwurfs dar, bei dem beruflicher Erfolg durch einen Auslandsaufenthalt erreicht werden soll. Die Förderung der Mutter stellt hier sozusagen eine äußere Ressource dar. Binta hingegen begibt sich mit ihrem Migrationswunsch in Widerspruch zu ihren Eltern. Durch die erfolgreiche Auseinanderssetzung mit ihnen gewinnt sie zwar ein gewisses Maß an innerer Stärke, sich dagegen durchzusetzen. Gleichzeitig entsteht dadurch aber auch ein innerer Konflikt, denn die Durchsetzung ihres Willens bedeutet eine Abkehr von dem elterlichen Modell und weckt Schuldgefühle in ihr. Hinsichtlich des Umgangs mit der Trennung kann Laura an verschiedene Erfahrungen ihres bisherigen Lebens anknüpfen, und verfügt daher über ein gewisses Maß an Ressourcen, zur Bewältigung der durch die Migration vollzogene Trennung von ihrer vertrauten Umgebung. Sie empfindet die Situation, von ihrer Mutter getrennt zu sein eher als eine Herausforderung und will ihr Leben endlich selbst in die Hand nehmen. Sie ist auch in der Lage neue Bindungen einzugehen, mit anderen guineanischen Studenten aber auch mit Deutschen. Dadurch verankert sie sich immer mehr in der neuen Welt. Binta erlebt die Trennung von allen vertrauten Bezügen wesentlich drastischer. Sie verfügt über keinerlei Erfahrungen damit, allein zu sein und reagiert zunächst mit einer psychischen Krise. Durch diese Krise erkennt sie jedoch ihre Bedürfnisse und sucht sich Hilfe durch Anbindung an den Bruder und später an Mohammed. Engere Freundschaften zu Deutschen findet sie jedoch, trotz ihres Wunsches nicht und fühlt sich daher in Deutschland nicht wirklich aufgenommen. Eine innere Ablösung von ihrer Familie wird durch diese Erfahrungen zusätzlich erschwert.


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Mit alltäglichen Diskriminierungserfahrungen als Schwarze in Deutschland geht Laura realistisch um. Sie kann auch hier an ähnliche Erfahrungen in Guinea anknüpfen und akzeptiert sie als einen Bestandteil ihres Lebens in Deutschland. Im Konflikt mit der Ausländerbehörde, die sie ausweisen will, setzt sie sich erfolgreich mit Hilfe eines deutschen Freundes durch. Die Diskriminierungserfahrungen stellen für Binta eine Bedrohung ihres Entwurfes dar und gefährden seinen Erfolg. Denn ihr Adoleszenzprojekt Selbständig zu werden, hängt stark von ihrer Integration in Deutschland ab und wird durch die ständige Konfrontation ihrer Andersartigkeit konterkariert. Aufgrund ihrer schwach ausgebildeten inneren Ressourcen fällt ihr der Umgang mit diesen Zurückweisungen schwerer. Auch hinsichtlich ihrer räumlichen Verortung unterscheiden sich beide Frauen deutlich: Während Laura relativ frei mit den verschiedenen Möglichkeiten jongliert, ob sie ihre Zukunft in einem afrikanischen Land oder in Europa sieht, gibt es für Binta nur die Möglichkeit, nach Guinea zurückzukehren. Die Rückkehr wünscht sie sich jedoch gemeinsam mit Europäern, weil sie fürchtet ihre hier erworbene Selbständigkeit in Guinea alleine nicht ausreichend verteidigen zu können. Lauras streitbare Mutter ermöglicht ihr eine offene Auseinandersetzung über ihre Werte und trägt wesentlich zu Lauras Reflexivität hinsichtlich ihres Lebensentwurfs bei. Einer Ablösung von der Mutter wird so der Weg bereitet. Bintas Familie hingegen verhindert gerade die offene Auseinandersetzung über ihre Werte und ruft bei Binta Schuldgefühle hervor, weil sie sich von der Familie abwendet. Diese Schuldgefühle verhindern eine reflexive Auseinandersetzung und binden sie innerlich weiter an die Familie. Bei Laura bewirkt die Migration aufgrund ihrer inneren und äußeren Ressourcen eine deutliche Erweiterung ihres adoleszenten Entwicklungsspielraums, den sie schöpferisch ausgestalten kann. Durch die Migration gewinnt die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter eine neue Qualität. Im Laufe dieser Auseinandersetzung vollzieht Laura die innere Ablösung von ihrer Mutter und kann ihren eigenen Lebensentwurf durchsetzen. Auch Binta erfährt durch die Migration eine Erweiterung ihres adoleszenten Möglichkeitsraumes. Sie muss sich dafür aber gegen innere und äußere Widerstände durchsetzen und kann aufgrund ihrer fehlenden Ressourcen diesen Spielraum in Deutschland nur begrenzt ausschöpfen. Die Migration führt ihr die eigene Unselbständigkeit drastisch vor Augen und beschränkt eine reflexive Auseinandersetzung mit ihren Eltern, weil sie eher die Anbindung an vertraute Beziehungsmuster provoziert als ihr die innere Ablösung ermöglicht. Ihr Lebensentwurf bleibt daher ein Kompromiss.


136 4.

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Fazit

Die Analyse beider Fälle zeigt die Bedeutung der inneren, in familiären Beziehungsmustern erworbenen Ressourcen und Spielräume und ihre Verknüpfung mit dem sozialen Kontext auf. Gezeigt wurde, dass beide Frauen in der Migration die Chance sehen, sich von den Lebensentwürfen ihrer Mütter zu entfernen, um andere Formen von Weiblichkeit leben zu können. Den durch die Migration erweiterten adoleszenten Spielraum können sie jedoch aufgrund ihrer unterschiedlichen familialen Voraussetzungen nicht in gleicher Weise ausschöpfen. Während in Lauras Fall die Trennung von der Mutter aber auch die Erfahrung struktureller Diskriminierung eher als Herausforderung betrachtet werden und ihre Bewältigung als schöpferischer Prozess angesehen werden kann, stellen im Fall von Binta die äußere Trennung von der Familie und die Diskriminierungserfahrungen in Deutschland eher ein Hindernis im adoleszenten Streben nach Autonomie dar, für deren Überwindung sie wesentlich mehr Energie aufbringen muss und deren Bewältigung daher kompromisshaft bleibt. Maßgeblich für diese unterschiedlichen Bewältigungsstrategien sind die innerfamiliären Spielräume, die bei Laura weiter gesteckt sind und sie daher eine größere innere Sicherheit entwickeln konnte als Binta, die von ihrer Familie kaum einen Raum zur Erprobung ihrer eigenen Vorstellungen erhielt und daher über eine geringere innere Sicherheit verfügt. In beiden Fällen bedeutet die Erfahrung der Migration jedoch einen Gewinn für den adoleszenten Individuierungsprozess, da sich beide Frauen in die Auseinandersetzung ihrem bisherigen Leben in Guinea sowie den davon abweichenden Lebensformen in Deutschland begeben und sich daraus versuchen neu zu positionieren.

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Adoleszenz und Flucht – Wie jugendliche Flüchtlinge traumatisierende Erfahrungen bewältigen Adoleszenz und Flucht

Hubertus Adam

1.

Flüchtlingskinder und -jugendliche in Deutschland

Schulen und andere Bildungseinrichtungen, Beratungs- und Behandlungszentren sowie ärztliche und psychotherapeutische Praxen sind immer wieder mit Problemen von Flüchtlingskindern und -jugendlichen konfrontiert, oft ohne auf einen eigentlich notwendigen Erfahrungsaustausch der mit dieser Klienten- bzw. Patientengruppe vertrauten professionellen Helfer zurückgreifen zu können. Die Notwendigkeit einer Unterstützung für diese Kinder und Jugendliche und ist offensichtlich: UNICEF berichtet, dass im Jahre 2000 von 35 Millionen Flüchtlingen weltweit 80% Frauen und Kinder waren (Deutsches Komitee für UNICEF 2001). Wie viele dieser Flüchtlingskinder derzeit in Deutschland leben, ist nicht genau bekannt, da die schwierige Abgrenzung von Migration und Flucht eine Datenerhebung erschwert (Hamburger 2002) und bei der statistischen Erfassung der Zuwanderer Kinder nicht separat aufgeführt werden (Angenendt 2000). In einer UNICEF-Studie schätzt allerdings Angenendt, dass sich im Jahr 1999 220.000 Flüchtlingskinder und -jugendliche in Deutschland befunden haben (Angenendt 2000). Dabei handelt es sich um Kinder im Alter bis zu 18 Jahren, die wegen Krieg, Verfolgung oder Zusammenbrüchen ihrer Ursprungsgesellschaften aus Ländern und Regionen wie Afghanistan, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, West-Afrika oder Südost-Asien geflohen sind. Eine genaue und aktuelle Zahl der unter Umständen schon viele Jahre in Deutschland lebenden Flüchtlingskinder, von denen ein Teil schon die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und nicht mehr von staatlichen Sozialleistungen lebt, liegt aber nicht vor. Diese Kinder und Jugendlichen sind Migranten, wobei Migration ein Oberbegriff für ein breites Spektrum von Bezeichnungen für Ortswechsel ist. Dieses reicht von freiwilliger Wanderung über Flucht vor subjektiv erlebter Bedrohung bis hin zur erzwungenen Flucht. Flucht ist dabei insbesondere durch den demütigenden Zwang zum Ortswechsel gekennzeichnet und hat den ungewollten Abbruch von Beziehungen zur Folge (Brucks 2001). Klare Unterscheidungen zwischen temporärer und definitiver Wanderung oder zwischen Migra-


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tion aus wirtschaftlichen und aus anderen Gründen lassen sich allerdings immer weniger treffen. Pries, der Migrationsprozesse aus soziologischer Sicht untersucht hat, fand, dass diese heute – unter dem Einfluss moderner Verkehrs- und Kommunikationsmittel – anders verlaufen und daher noch schwerer zu erfassen und zu definieren sind als noch vor wenigen Jahren: nicht mehr nach dem Muster: Abreise, Ankunft, Anpassung und evtl. Rückkehr. So genannte „transnationale soziale Räume“ seien dadurch entstanden, dass die Migranten sich – unter anderem via Telefon, Fax, E-Mail, Fernsehen oder Banktransfers – in einem Informationsaustausch und Kommunikationsprozess mit der Herkunftsregion befinden und manche sogar vorübergehend in diese zurückkehren (Pries 1996). Da auch immer bewusste oder unbewusste Rückkehrwünsche, Delegation von Aufgaben an die Nachgeborenen, Hoffnungen und Enttäuschungen eine Rolle spielen, beschäftigen sich Migranten oft lebenslang damit, wohin sie eigentlich gehören und wo sie leben möchten. Die Psychoanalytiker Grinberg und Grinberg (1990: 14) definieren Migration als „den Akt und die Wirkung des Übergangs von einem Land zum anderen mit dem Ziel, sich in diesem niederzulassen“. Durch eine derartige Einbeziehung der Auswirkungen von Migration in eine Definition gewinnen neben der reinen geographischen Veränderung des Wohnortes psychologische und soziologische Prozesse an Bedeutung. Einen prozessorientierten Ansatz der Definition von Migration wählte die aus fünf Sachverständigen bestehende Kommission, die von der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den Auftrag erhalten hatte, für den im Jahr 2000 vorgelegten Sechsten Familienbericht die Situation ausländischer Familien in Deutschland darzustellen. Die Kommission sollte den Entwicklungsprozess in Familien mit internationaler Migrationserfahrung, aber auch die Entwicklung des Verhältnisses zwischen der Aufnahmegesellschaft und diesen Familien untersuchen. Dazu definierte sie Migration als einen sozialen Prozess, dessen Spektrum „von der schrittweisen und unterschiedlich weit gehenden Ausgliederung aus dem Kontext der Herkunftsgesellschaft bis zur ebenfalls unterschiedlich weit reichenden Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft einschließlich aller damit verbundenen sozialen, kulturellen, rechtlichen und politischen Bestimmungsfaktoren und Entwicklungsbedingungen, Begleitumstände und Folgeprobleme“ reicht (Deutscher Bundestag 2000: 16). Diese heute weitgehend akzeptierte Definition von Migration bezieht allerdings die von Grinberg und Grinberg (1990) ebenfalls als wichtig erachteten emotionalen und beziehungsrelevanten Veränderungen des Einzelnen und die dadurch entstehenden Rückwirkungen auf andere nicht mit ein.


Adoleszenz und Flucht

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Wir definieren Flüchtlingskind als ein Kind bis 18 Jahre1, dessen familiäre Biographie durch länger andauernde Mobilität über eine nicht unerhebliche Entfernung gekennzeichnet ist, und das dadurch unter Umständen lebenslang andauernde ambivalente Gefühle hinsichtlich Zugehörigkeit und Rückkehr hat, die entsprechend dem jeweiligen Entwicklungsstadium differieren können. Wenn das Kind oder seine Eltern darüber hinaus Krieg, Bürgerkrieg oder andere Formen „organisierter Gewalt“ erlebt haben, und das Kind oder die Familie aufgrund dessen die angestammte Heimat verlassen mussten, handelt es sich um ein Flüchtlingskind.

2.

Entwicklungsprobleme jugendlicher Flüchtlinge

Alle psychotherapeutischen Schulen, gleich welcher Richtung, weisen heute der frühen Kindheit eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von psychopathologischen Symptomen zu (Resch 1996). Auf jeder Alterstufe muss das Kind/der Jugendliche bestimmte Entwicklungsaufgaben erfüllen. Das Erkennen des biologischen, affektiven, kognitiven und sozialen Entwicklungsstandes sowie der „Konstellation der protektiven Faktoren und Risikofaktoren“ (Resch 1996: 3) ist daher insbesondere zur Einschätzung von Entwicklungschancen und -risiken nach vorheriger Traumatisierung erforderlich. Eventuell entstehende psychopathologische Phänomene bei Kindern müssen auch nach Traumatisierungen als multimodales und multikausales Geschehen interpretiert werden. Ein Kind ist aber den psychosozialen und biologischen Entwicklungseinflüssen nicht nur ausgeliefert, sondern das Kind „erhöht auch durch aktive Wahl und initiativen Zugang die Wahrscheinlichkeit, bestimmten Entwicklungseinflüssen mehr oder weniger ausgesetzt zu sein“ (Resch 1996: 191). Schulkinder, die Krieg, Flucht und Exil erleben, sind ebenso wie Erwachsene in mehreren Rollen gefordert (Straker 1988). Manchmal werden sie trotz ihrer Jugend schon in kriegerische Auseinandersetzungen einbezogen und müssen zum Beispiel in die Schule gehen und kämpfen. Ferner verändern sich durch die Belastungen im Krieg die Rollen innerhalb der Familie. Schon die Schulkinder müssen den abwesenden Vater gerade in den eher patriarchalen Gesellschaften, wie zum Beispiel in Afghanistan, ersetzen. Auch die Mädchen werden in ihrer Rolle als heranwachsende Frau früher und anders gefordert, als es die tradierten Rollenvorstellungen vorschreiben. Zudem sind insbesondere Mädchen 1

Eine genaue Definition, ab wann genau ein Kind ein Jugendlicher wird ist insbesondere vor dem Hintergrund der sehr unterschiedlichen Reifung schwierig. Im Allgemeinen wird ein Kind ab dem Alter von 16 Jahren als „Jugendlicher“ bezeichnet.


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in Kriegsgebieten ständig der Gefahr ausgesetzt, sexuell missbraucht zu werden. Häufig sind aber auch andererseits Kinder in der präpubertären Latenzzeit nahezu symptomfrei. Sie durchlaufen möglicherweise eine unauffällige Entwicklungszeit, auch weil sie kognitiv schon die Belastungen der Eltern, die Sorge um Geschwister und die Zukunft der Familie verstehen, und sich selbst, um das große Ganze nicht zu gefährden, eher zurücknehmen. Die Gefahr liegt darin, dass derartige Versuche von Bewältigung dysfunktional werden können, wenn die nächsten psychischen Entwicklungsschritte anstehen oder größere soziale Veränderungen, wie zum Beispiel bei der Flucht, bis dahin funktionierende Bewältigungsstrategien versagen lassen. Das Erleben der Eltern in der Abhängigkeitsrolle und als nicht mehr unterstützend und schützend kann die weitere Entwicklung der Kinder beeinträchtigen (Kraul/Ratzke/Reich/ Cierpka 2003). In der Adoleszenz interferieren Verantwortung und Fürsorge für die in Gefahr befindliche Familie mit Ablösungswünschen, was dazu führen kann, dass letztere heftige Schuldgefühle verursachen. Die in dieser ambivalenten Situation bei den Jugendlichen oft entstehenden Schuldgefühle werden Ausbruchsschuld genannt (Romer/Haagen/Barkmann/Thomalla/Schulte-Markwort/Riedesser 2004). In Zeiten von Krieg und Verfolgung wird die Adoleszenz kürzer, da die Jugendlichen gezwungen sind, schnell erwachsen zu werden. Aggressive und sexuelle Phantasien gewinnen dramatisch an Realität, wenn die Jugendlichen sexuellen Gewalttaten zuschauen müssen. Phantasie und Realität sind für betroffene Jugendliche wieder nahe beieinander, anstatt zunehmend differenziert zu werden. Erwachsene Vorbilder fehlen oft. Die Jugendlichen, die oft schon in Kämpfe verwickelt worden sind, haben auch gelernt, dass man Gesetze und ethische Normen straflos verletzen darf. Dies kann dazu führen, dass eine Neu- bzw. Reorientierung der Normen und Werte bei einer Rückkehr des Vaters oder später im Exil nicht gelingt und eine Integration dadurch erschwert wird. Jugendliche erleben sich in diesen Situationen der Bedrohung oft als sehr mächtig, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie. Sie schaffen es manchmal als Einzige nach Deutschland zu fliehen, oft auf einem monatelangen Weg durch viele Länder (Adam 2004). Sie sind dabei aber auch gefährdet, im Exil in die Hände von Kriminellen und ins Drogenmilieu zu geraten. Jugendliche sind, wenn sie zuvor eine stabile Kindheit erlebt haben, resistenter gegen Verluste, da ihnen mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen, ihr Schicksal selbst zu beeinflussen. Für sie kann laut Garbarino Krieg auch „Spaß“, das Abenteuer, jung zu sein und auf die Welt losgelassen zu werden, bedeuten, besonders, wenn sie in einer „Sackgassen-Existenz“ gefangen sind oder sich nach Ruhm und Aufregung sehnen (Garbarino/Kostelny/Dubrow 1991).


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Grundsätzlich müssen bei der Beurteilung des Traumas eines Jugendlichen der Stand seiner kognitiven, affektiven, psychosexuellen und sozialen Entwicklung sowie angeborene oder erworbene körperliche Einschränkungen bzw. Ressourcen in die Analyse einbezogen werden. Gelingen erforderliche Anpassungsschritte und Bewältigungsversuche nicht, entstehen Symptome, nach Resch „Residuen, Narben, Sensibilisierungen und übertriebene Erlebnisbereitschaften“ (Resch 1996: 199), die wiederum spezifische Interventionen erforderlich machen. Pynoos, Steinberg und Wraith (1995) schlagen daher ein entwicklungspsychologisches Traumakonzept vor, welches den komplizierten Verlauf der Entwicklungslinien der Kindheit, die Familie und die Situation der Gesellschaft, in der das Kind lebt, berücksichtigt. Sie sind der Auffassung, dass traumatisierende Erfahrungen das Vertrauen des Kindes oder Jugendlichen in „die Welt im Allgemeinen“ und darin, dass seine persönliche Sicherheit und seine psychische Integrität unangetastet bleiben, erschüttern. Diese Erfahrungen können Auswirkungen auf das Selbstkonzept, das individuelle Verhalten und zukünftige Handlungsspielräume haben. Die Autoren meinen, dass ein Kind oder Jugendlicher auf ein belastendes Ereignis, abhängig von der individuellen „Verwundbarkeit und Widerstandskraft“ – die aus der „ecology of the child“ resultieren – mit einer akuten Stressreaktion reagiert. Reichen die Ressourcen zur Bewältigung des Ereignisses dann nicht aus, kann die folgende Entwicklung des Individuums behindert werden. Es können sich innerhalb von Wochen Symptome herausbilden und/oder Störungen der Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen auftreten. Fischer und Riedesser (2003) entwarfen für Belastungen von Kindern verschiedenen Alters und möglichen Folgen davon einen entwicklungspsychologischen Referenzrahmen, der in Abbildung 1 wiedergegeben wird. Die Tabelle bietet die Möglichkeit, die traumatisierenden Erfahrungen dem jeweiligen Fall entsprechend einzutragen und so zur Grundlage des individuellen Vorgehens zu machen.


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Abbildung 1:

Entwicklungspsychologischer Referenzrahmen, modifiziert nach Fischer und Riedesser (2003: 271)

Die Autoren verwenden dabei ein Traumakonzept, nach welchem ein belastendes Ereignis dann zu einem Trauma wird, wenn im subjektiven Erleben eine Diskrepanz zwischen Wahrnehmung der äußeren Bedrohung und der individuellen Fähigkeit, damit umzugehen, festgestellt, und das Selbst- und Weltverständnis des Betroffenen dadurch erschüttert wird. Die Entwicklungskontinuität der betroffenen Person kann durch das traumatisierende Ereignis unterbrochen und ihre Fähigkeit zur Alltagsbewältigung, zur Beziehungsaufnahme und zur Zukunftsplanung zerstört werden (Fischer/Riedesser 2003: 82). Traumatisierende Erfahrungen nehmen – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – Einfluss auf:

neurobiologische Prozesse: zum Teil dauerhafte Veränderungen der Regulation von Neurohormonen (z. B. Katecholamine, Serotonin, Glukokortikoide und endogene Opioide) sowie Veränderungen von Hirnstrukturen mit negativen Effekten auf das Lernen, auf die Fähigkeit, sich an etwas zu gewöhnen, auf die Fähigkeit zur Reizdiskriminierung und auf die Sprachentwicklung (expressiv und rezeptiv);


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3.

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Prozesse der Entwicklung: Beeinflussung der psychomotorischen Entwicklung und der Persönlichkeitsentwicklung; Prozesse in der Gestaltung von Beziehungen: Beeinflussung der Fähigkeit, mit dem Verlust von Beziehungen umzugehen bzw. neue aufzunehmen, der Fähigkeit, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, und der Fähigkeit, Hilfe von anderen anzunehmen; soziokulturelle und politische Prozesse: Effekte auf den Zusammenhalt von Gesellschaften durch ständiges Misstrauen als Folge von Gewaltherrschaft (Atomisierung der Gesellschaft).

Psychische Störungen jugendlicher Migranten und Flüchtlinge

In sozialmedizinischen und sozialpsychiatrischen Untersuchungen, die eher quantitative Methoden anwandten, wurden bei Migranten vorzeitig auftretende körperliche Verschleißerkrankungen, psychosomatische und seelische Leiden sowie familiäre Krisen infolge des mit der Migration verbundenen psychosozialen Stresses gefunden. In einer Studie fanden Sundquist, Bayard-Burfield, Johansson und Johansson (2000), dass ein niedriger „sense of coherence“, eine „schlechte Akkulturation“ und „ökonomische Schwierigkeiten“ Prädiktoren für psychosomatische Beschwerden bei einer großen Gruppe von Migranten in Schweden waren. Bestimmte Risiken kommen auch häufiger und stärker in spezifischen Lebensphasen vor, so wurden Anpassungsschwierigkeiten z.B. auch für Adoleszente festgestellt (Ahearn/Athey 1991). Als Erklärung dafür wird bei den Jugendlichen die Anstrengung des doppelten Übergangs (vom kindlichen ins erwachsene Alter und von einer Kultur in die andere) und bei der Elterngeneration fehlende Flexibilität vermutet. Der mit der Migration verbundene Stress kann also zu psychischen und sozialen Beeinträchtigungen, zu Identitätsproblemen, zu familiären Konflikten sowie zu Arbeits- und Schulschwierigkeiten führen (Berry 1992). Kinder aus zugewanderten Familien sind auch im deutschen Bildungssystem weniger erfolgreich als solche mit deutscher Staatsbürgerschaft (Gogolin/Nauck 2000). Auch aus der deutschen Schulstatistik kann hergeleitet werden, dass seit Jahrzehnten Kinder und Jugendliche mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit – trotz bemerkenswerter Teilerfolge – auch nach einem halben Jahrhundert anhaltender Zuwanderung im deutschen Bildungssystem schlecht abschneiden: „Sie verharren überrepräsentativ in unteren Bildungsstufen, sie verfehlen häufiger selbst den Hauptschulabschluss und bleiben


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überdurchschnittlich oft ohne jede Berufsausbildung“ (Gogolin/Neumann/ Roth 2003). Steinhausen hat 1985 Risiken, denen Zuwandererkinder im deutschsprachigen Raum ausgesetzt sind, aber auch Schutzfaktoren untersucht. Ein Ergebnis der Studie war, dass eher eine gestörte Familiendynamik als sozioökonomische Faktoren psychische Auffälligkeit (mit)verursacht. Sowohl Freitag (2000) als auch Schlüter-Müller (1992) fanden, dass Diskriminierungserfahrungen ein Verstärkungsfaktor für innerfamiliäre Dissonanzen sind. Nach Fonagy, Steele, Higgit und Target (1994) belegen Ergebnisse aus der Forschung zur psychischen Widerstandsfähigkeit von Kindern, dass Belastungs- bzw. Risikofaktoren durch verstärkte elterliche Kontrolle, die den Kontakt mit schädlichen Umgebungsbedingungen vermindert, ausgeglichen werden können ebenso wie durch tragende soziale Netzwerke, wozu zum Beispiel auch die Schule gehören kann. Schlüter-Müller fand darüber hinaus Ressourcen in der religiösen Orientierung von Jugendlichen (Schlüter-Müller 1992). Vergleicht man die Anzahl der Studien zum vorliegenden Thema mit der Anzahl von Publikationen zu anderen kinderpsychiatrischen Fragestellungen, wie etwa der Entstehung und Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen, so muss konstatiert werden, dass trotz des weltweiten Vorkommens von Krieg, Flucht und Exil und trotz der hohen Anzahl der betroffenen Kinder nur wenige Studien, von wenigen Arbeitsgruppen durchgeführt, vorliegen. Statistisch signifikante Aussagen sind noch dazu nur schwer zu machen. Es handelt sich bei den Kindern, die Opfer von Krieg und Flucht wurden und im Exil leben, um eine äußerst heterogene Gruppe, die einer Vielzahl von schwer zu erfassenden zusätzlichen Einflüssen ausgesetzt waren und sind, in Regionen unterschiedlicher Kultur leben oder von dort kommen und mit sehr differenten Methoden untersucht wurden. In einer Übersichtsarbeit zu den empirisch nachweisbaren psychischen Folgen von Krieg und Verfolgung bei Kindern kommen Jensen und Shaw (1993) zu dem Schluss, dass zwar heute als gesichert gelten kann, dass Kriegserlebnisse bei Kindern und Jugendlichen zu psychischen Auffälligkeiten führen, methodisch schwierig sei es aber, die Wirkungsmechanismen statistisch nachzuvollziehen und zu verstehen. Als mögliche Einflussgrößen führen sie neben den durch Krieg und Flucht verursachten Traumata Persönlichkeitsfaktoren der Kinder (z.B. Temperament, Stand der Entwicklung) an, ferner Einflüsse durch die Eltern (z.B. Verlust eines Elternteils, Psychopathologie der Eltern), schließlich die mögliche Gewöhnung an eine durch Krieg veränderte Umwelt (z.B. Arbeitslosigkeit) und andere Faktoren (z.B. Erhöhung der sozialen Kohäsion), die psychische Auffälligkeit verstärken, aber auch bei der Bewältigung der


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Traumata helfen können. In einem neueren Übersichtsartikel weisen Barenbaum, Ruchkin und Schwab-Stone (2004) ferner darauf hin, dass Kinder, die Krieg erlebt haben, eine vulnerable Population darstellen, deren Symptome meist stärker ausgeprägt sind als von Erwachsenen bekannt. Forschungsinteresse weckten insbesondere die kambodschanischen Flüchtlinge, auch Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, während Flüchtlingskinder aus Afghanistan nur in zwei Studien Beachtung fanden. Die am häufigsten gefundenen Störungsbilder bei diesen Flüchtlingsjugendlichen waren die Posttraumatische Belastungsstörung, Depression und andere „emotional and behavioural problems“. Eine Schwierigkeit bei den Studien war die Einschätzung der Symptomatik. Jugendliche Flüchtlinge scheinen ihre Symptome gut verdecken zu können, zeigen oft auch eher internalisierende Symptome und sind nicht unbedingt „nach außen“ auffällig. Viele Fürsorgepersonen nehmen ferner das Leid der Jugendlichen nicht wahr (Locke/Southwick/McCloskey/FernandezEsquer 1996). Ein psychotherapeutisches Problemfeld liegt insbesondere bei den minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen darin, dass oft keine fremdanamnestische Validierung möglich ist. Nicht selten sind die jungen Flüchtlinge dazu gezwungen worden oder fühlen sich aufgrund der sozialrechtlichen Schwierigkeiten dazu genötigt, „Legenden“ anzunehmen. Häufig führt dies dazu, dass enorme psychische Probleme erwachsen können, die nicht selten zu Angstzuständen, Albträumen, sozialem Rückzug oder schweren Depressionen führen können. Auch hier ist eine enge Abstimmung zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie erforderlich, um ein gegenseitiges Ausspielen zu reduzieren (Adam 1999). Die resultierenden psychischen Störungen werden dann durch die Familien, aber auch durch Therapeuten oder Sozialarbeiter mitunter ausschließlich mit den spezifischen Lebensbedingungen in Verbindung gebracht. Die beim Erstkontakt zum Psychotherapeuten eingebrachten Themen sind unserer Erfahrung nach aber vielfach Eintrittsthemen, denen die Darstellung individueller bzw. familiärer Konflikte und Schwierigkeiten folgt. Therapeutischem Fachpersonal, insbesondere aber auch Institutionen wird im Sinne einer psychischen Abwehrreaktion auf die eigene Ohnmacht, die äußere Welt ändern zu können, von den Flüchtlingsjugendlichen eine verführerische Omnipotenz zugeschrieben. Dies kann dazu verleiten, gravierende Probleme und Konflikte zu übersehen und den Betroffenen ein unzureichendes Angebot, wie eine sozialpsychiatrische Kurzintervention, anzubieten. Flüchtlingsjugendliche können also alle bekannten kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbilder entwickeln, unabhängig davon, ob sie sich noch an die auslösenden Ereignisse erinnern oder gar im Exil geboren wurden. Wie man


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aus den Erfahrungen mit dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg weiß, können sich die Traumata auch auf die nächste Generation auswirken und bei dieser Symptome verursachen (Bar-On 1996). Psychische Symptome können einerseits als umfangreiche Abwehr- und Bewältigungsmechanismen des durch traumatisierende Erfahrungen ins Wanken geratenen Individuums verstanden werden. Auch kann Aggression, Wut und Hass bei der Bewältigung schrecklicher Erfahrungen hilfreich sein. Andererseits kann jedoch durch derartige Verhaltensweisen und Emotionen der Wiederaufbau von Gesellschaften, die durch Krieg, Bürgerkrieg oder ähnliche Formen von Gewalt in ihrer Struktur erschüttert worden sind, erschwert oder unmöglich werden.

4.

Trauma und Versöhnung

Flüchtlingsjugendlichen kommt hier eine besondere Bedeutung zu, sei es im Exil oder, nach einer eventuellen Rückkehr, in ihrem Heimatland. Sie nehmen im Heranwachsen eine wichtige gesellschaftliche Rolle ein und können eine Brücke zwischen den Kulturen bilden oder aber Feindbilder von den Eltern übernehmen und weitergeben. Beratung und Therapie dieser Kinder und ihrer Familien ist daher sowohl individuelle Hilfe als auch Hilfe zur sozialen Rekonstruktion und somit Friedensarbeit. Nach unserer klinischen Erfahrung spielen bei der Bewältigung der Probleme der Flüchtlingsjugendlichen auch die Verarbeitung von Schuld und Hass sowie – besonders wichtig – die Bereitschaft sich mit den Gegnern, aber auch mit sich selbst, zu versöhnen eine sehr wichtige Rolle. Dies bedeutet, dass Kinder sich mit eigenen, manchmal durch magisches Denken entstandenen und sich oft unbewusst festsetzenden Schuldgefühlen auseinandersetzen müssen – z.B. mit dem Gefühl, an den sozialen Schwierigkeiten, der Bedrohung durch Abschiebung oder den eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten der Eltern eine Mitschuld zu tragen, weil sie zu spüren glauben, für ihre Eltern eine zusätzliche Belastung zu den ohnehin schon großen Problemen im Exil zu sein. Jugendliche waren unter Umständen schon selbst in gewalttätige Handlungen während des Krieges oder bei der Flucht verstrickt, aber selbst im Exil geborene Kinder können Schuldgefühle darüber entwickeln, dass sie es sind, die die Erfüllung eines von den Eltern möglicherweise nicht ausgesprochenen Rückkehrwunsches verhindern. Eltern von Flüchtlingskindern sehen in diesen oft „Hoffnungsträger“, an die sie die Erfüllung ihrer Träume und Wünsche delegieren und belasten sie damit, auch wenn den Kindern diese Delegation gar nicht bewusst wird. Diese müssen sich also auf der Entwicklungsstufe, auf der sie sich gerade befinden,


Adoleszenz und Flucht

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mit inneren Konflikten unterschiedlichster Art auseinandersetzten. Bei deren Lösung kann „intrapsychische Versöhnung“ eine wichtige Rolle spielen. Neben dieser beschriebenen „Versöhnung mit sich selbst“ ist aber auch die interpersonelle Versöhnung von großer Bedeutung für die Bewältigung der Traumata und das Leben im Exil oder – im Falle einer eventuellen Rückkehr in das Herkunftsland – die Reintegration dort. Zunächst besteht in vielen Fällen Versöhnungsbedarf innerhalb der Familie: Hier gibt es nicht selten Konflikte mit dem Vater, z.B. wenn dieser während der Flucht nicht dabei war, um die Familie zu schützen, und die Kinder ihm vielleicht ganz konkret – wie im therapeutischen Kontext oft erfahren – vorwerfen, die Familie im Stich gelassen zu haben. Auch die Beziehungen zwischen Geschwistern sind oft mit Vorwürfen und Konflikten belastet, wenn zum Beispiel eine Schwester oder ein Bruder bei den Großeltern in vermeintlicher Sicherheit zurückgelassen worden ist. Die Bedeutung, die solchen Ereignissen und Verhaltensweisen zugeschrieben wird, variiert zwischen den einzelnen Familienmitgliedern oft erheblich. Die Eltern hatten vielleicht versucht, gerade die kleineren zu schützen, oder hatten den größeren schon mehr Eigenständigkeit zugetraut. Die Kinder selbst verstehen das gut gemeinte Handeln der Eltern aber vielleicht ganz anders, sehen darin eine unterschiedliche und damit ungerechte Zuteilung von Gunst und Zuwendung oder gar Bestrafung. Später entstandene Narrative der Familie sind dann oft Ausdruck einer Versöhnung oder gar einer Lösung dieser Konflikte; sie sind Kompromisse, in denen die sehr verschieden erlebten Ereignisse im Krieg und auf der Flucht in einer gemeinsamen Geschichte in Übereinstimmung gebracht werden können. Die Versöhnungsbereitschaft von Flüchtlingskindern hat letztlich auch eine gesellschaftliche Bedeutung. Sie sind direkt oder indirekt Opfer von Krieg gewesen und leiden über viele Jahre an den Folgen. Ihre Beziehungsfähigkeit, die Fähigkeit, wieder Vertrauen zu anderen Menschen zu gewinnen, ist erschüttert. Wenn sie trotzdem in der Lage sind, sich besonnen mit denjenigen, sie sie selbst oder die Eltern bedroht haben, auseinanderzusetzen, nicht den Hass zur Handlungsmaxime werden lassen, sondern sich sowohl innerlich mit den ehemaligen Gegnern versöhnen als auf diese zugehen, können sie, wenn sie im Exil bleiben, eine wichtige Brücke zu ihren Herkunftsregionen bilden. Aber auch wenn sie in ihr Heimatland zurückkehren, können die Versöhnungsbereiten dort eine wichtige Rolle spielen: Sie gehören dort dann zur Nachkriegsgeneration und können aufgrund ihrer Erfahrungen und ihrer Haltung – eventuell in wichtigen gesellschaftlichen und politischen Positionen – Bedeutendes zur Gestaltung des Wiederaufbaus beitragen, nicht zuletzt dadurch, dass sie den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen. Dazu ist es einerseits erforderlich, eigene Kriegserlebnisse


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Hubertus Adam

bzw. die der Eltern differenziert durchzuarbeiten. Andererseits muss die Frage der Mittäterschaft, die Rolle der Zivilisten, die der Soldaten und die Rolle der Kriegsverbrecher erörtert werden. So können in der Summation der intrapsychischen und interpersonellen Versöhnungsprozesse schließlich gesellschaftspolitische Prozesse wie „Runde Tische“, die es z.B. auch im ehemaligen Jugoslawien gegeben hat, gelingen. Wir definieren dabei Versöhnung als die prozesshafte Wende zu einer beiderseitigen oder allseitigen, dauerhaften Grundhaltung des gegenseitigen Vertrauens. Sie manifestiert sich auf der intrapsychischen, interpersonalen und soziokulturellen Ebene,

geht einher mit einem Wandel von Emotionen wie Hass und Rachewunsch zu Respekt und Empathie, impliziert die Bereitschaft zur konstruktiven Konfliktlösung und zum (Wieder-)Aufbau der zerbrochenen Beziehung und erfordert die Entwicklung neuer Einstellungen gegenüber der eigenen Rolle im Konflikt, gegenüber dem Feind und der eigenen Gesellschaft.

Nach den klinischen Erfahrungen in Hamburg befinden sich viele der Flüchtlingsjugendlichen in einer „intrapsychischen Zwischenwelt“ (Adam 1999: 321). Sie wollen sich in Deutschland niederlassen und haben Hoffnungen in die Migration bzw. Flucht gesetzt. Sie sind jedoch oft nicht in der Lage, die vorgefundenen Lebensbedingungen so für sich zu nutzen, dass sie für sich eine Perspektive erkennen können. Eine freiwillige Rückkehr ist ebenfalls meist nicht möglich, da die herrschenden sozioökonomischen Bedingungen in den Herkunftsländern unter Umständen dramatisch schlechter sind als in Deutschland. Die oben genannten Bedingungen für Versöhnung sind oft noch nicht gegeben. Flüchtlingseltern, aber auch ihre Kinder schwanken zwischen dem Wunsch in die Heimat zurückzukehren, aber wegen der Umstände dort nicht zu können, und dem Wunsch in Deutschland zu bleiben, aber keine Perspektive erkennen zu können. Diese psychisch schwer zu integrierende Ambivalenz stellt zusätzlich zu denen des Flucht- und Migrationsprozesses eine weitere Belastung dar. Die Kinder entwickeln oft Gefühle wie Scham und Schuld, fragen sich, warum gerade sie die Heimat verlassen mussten, welche Aufgaben auf sie zukommen und ob sie den Anforderungen gerecht werden können. Eine intrafamiliäre Kommunikation ist darüber aber meist nicht möglich, da die Eltern mit ihren eigenen seelischen Problemen belastet sind. Wut und Hass entstehen so nicht gegenüber dem ehemaligen Gegner, wenn dieser denn als solcher überhaupt genau zu benennen ist. Kinder und Jugendliche sind unbewusst auch wütend auf


Adoleszenz und Flucht

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Geschwister und auf die Eltern, von denen sie sich nicht ausreichend verstanden fühlen. Ein besonderes Problem dabei ist, dass aggressive Gefühle gegenüber der Familie nicht geäußert werden können. Nicht nur aus Gefühlen der Abhängigkeit oder Loyalität gegenüber Eltern oder Geschwistern heraus, sondern vorwiegend aus dem Wunsch heraus, die eigene Familie nicht erneut zu belasten, sie zu schonen und nicht den „Finger in die Wunde“ der Flucht zu legen. Den nachvollziehbaren Gefühlen von Wut und Hass stehen aber auch Wünsche nach der Wiederherstellung einer angemessenen Beziehung zu Angehörigen, Freunden und auch „der Heimat“ entgegen, oft auch der Wunsch nach tatsächlicher Versöhnung im oben dargestellten Sinn. Diese Wünsche sind ebenfalls oft tief verborgen; meist werden sie, falls dennoch geäußert, von den Angehörigen nicht verstanden oder erscheinen diesen politisch unangebracht. Viele Eltern z.B. von kosovarischen, aber auch von afghanischen Kindern sind gegen eventuelle Versöhnungswünsche ihrer Kinder, weil sie ihre Feindbilder nicht aufgeben können. Viele der seit 1945 geführten Kriege sind, wie die in Ex-Jugoslawien, größtenteils Gewaltanwendungen, an denen sowohl staatliche als auch private, internationale wie nationale, regionale wie lokale Kriegsparteien auf unterschiedliche Weise beteiligt sein können. Hinzu kommt heute die internationale Bedrohung durch terroristische Netzwerke. Die Debatte über geeignete Reaktionen zeigt eine beängstigende Unzulänglichkeit traditioneller politischer Lösungsansätze. Es wird deutlich, dass nach neuen Problemlösestrategien gesucht werden muss, die eine besonnene Haltung fernab von gängigen Rache- und Vergeltungsmustern („Auge um Auge“) erfordern. Hier liegt es nahe, psychotherapeutische Erfahrungen mit Kindern und Eltern, die Opfer solcher Konflikte waren, in derartige Strategien einzubeziehen, denn diese Menschen könnten bei der Überwindung von Gräben helfen. Besonders in gesellschaftlichen Konfliktkonstellationen, in denen die Menschen, zum Teil sogar innerhalb der Familie, der Verwandtschaft oder der Nachbarschaft, einander Unrecht, Gewalt und Demütigung zugefügt haben, erschweren Hass und Rachsucht einen friedlichen Wiederaufbau von familiären, gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen. Es müssen sich daher die Konzepte zur Prävention und zur Herbeiführung und Bewahrung von Frieden ändern und auch psychotherapeutische Interventionen auf individueller und familiärer Ebene einbezogen werden.


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Adoleszenz und Flucht

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Adoleszente Generationenbeziehungen in Migrantenfamilien als Untersuchungsgegenstand. Theoretische Ansätze und methodische Perspektiven Adoleszente Generationenbeziehungen in Migrantenfamilien

Wassilios Baros

1.

Einleitung

Bei der Thematisierung von Lebenslagen Jugendlicher mit Migrationshintergrund war man in der Migrationsforschung lange Zeit stark dazu geneigt, den ‚Kulturkonflikt’ als Interpretationsfolie für deren Probleme in der Aufnahmegesellschaft zu verwenden. Die Beschreibung und Analyse von adoleszenten Generationenbeziehungen verlief meist nach einem immer wiederkehrenden Erklärungsmuster: Die zentrale konfliktauslösende Konstellation bestehe darin, dass zwischen Elternhaus und deutscher Umgebung differente, miteinander unvereinbare Erwartungshaltungen vorliegen (Kulturdifferenz). Die daraus resultierende Folge für die Jugendlichen: Orientierungskrisen, Hilflosigkeit, Störungen in deren psychosozialen Entwicklung, etc. Vor knapp 25 Jahren äußerte Georgios Tsiakalos (1982: 31) seine Kritik an der Migrationsforschung mit folgenden Worten: „Würde man die von den Sozialwissenschaften erfasste Migrantenwelt mit der ganzen realen Welt gleichsetzen, dürften nur wenige der Migranten noch am Leben sein“. Seine Formulierungen bezogen sich auf die Einseitigkeit und die Defizitorientierung in der Sozialforschung bei der ‚Beschäftigung’ mit Migrant(inn)en. Einseitigkeit und Defizitorientierung, die sich auch in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion bemerkbar machen: Jetzt in universalistischen Forderungen umhüllt (vgl. hierzu den Satz „Alles für die Bildung“ bei Esser 2004: 210), ist die Defizitorientierung nicht offenkundig, weil sie mit Verweis auf die nicht erbrachten Bildungsinvestitionen von Migrant(inn)en recht subtil transportiert wird (vgl. Baros 2006). Meine erste These ist: Begrenzt sich Migrationsforschung auf eine bestimmte, vordefinierte wissenschaftlich konstruierte Wirklichkeit, verschließt sie sich nicht nur der Vielfalt und Dynamik des Lebens in der Migration sondern auch der individuellen Verschiedenheiten von Lebensentwürfen und Lebensorientierungen der Migrant(innen). Meine zweite These ist: Einseitigkeit bei


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der Erkenntnisgewinnung in der Migrationsforschung entsteht durch methodisch bedingte Verkürzungen, die eine angemessene Rekonstruktion der je individuellen Handlungsprämissen und subjektiven Handlungsgründe der Migrant(inn)en nicht zulassen. Der vorliegende Beitrag gliedert sich in zwei Teilen: Zunächst werden theoretische Ansätze zur Thematisierung von Familien in der Migration in groben Zügen dargestellt und im Hinblick auf ihre Möglichkeiten und Grenzen zur Beschreibung und Analyse von innerfamiliären Beziehungen diskutiert. Im Anschluss daran werden Bausteine einer subjektbezogenen empirischen Migrationsforschung vorgestellt und die Relevanz dieses Ansatzes für die Untersuchung adoleszenter Generationenbeziehungen im Kontext von Migration aufgezeigt.

2. 2.1.

Theoretische Ansätze zu Familien in der Migration Modernisierungstheoretischer Ansatz

In modernisierungstheoretischen Ansätzen wird von einem zwischen der gesellschaftlichen Struktur des Herkunftslandes und der deutschen Gesellschaft bestehenden Modernisierungsgefälle ausgegangen. Der Beschreibung migrationsbedingter Veränderungen werden zwei extreme Vorstellungen über die Art der familialen Organisation und Struktur zugrunde gelegt: Dem Bild der traditionell-patriarchalischen Struktur von Migrantenfamilien wird die Vorstellung einer urbanen bzw. modernen deutschen Familie gegenübergestellt. Migrantenfamilien befänden sich in einem Wandlungsprozess, der durch zunehmende Urbanisierung, Industrialisierung und Modernisierung bedingt sei. In diesem Sinne beschleunigten Modernisierungsprozesse auch Veränderungen in der Familienstruktur. Charakteristisch für einige Arbeiten im Sinne modernisierungstheoretischer Ansätze (z.B. Pfluger-Schindlbeck 1989; Schiffauer 1991; Lanfranchi 1993a; Lauth-Bacas 1994; kritisch: Bukow/Llaryora 1988) ist, dass sie die dynamische Veränderung von Kultur im Migrationsprozess deutlich hervorheben. Dabei stehen Formulierungen wie ‚kultureller Transformationsprozess’, ‚Neubewertung und Akzentverschiebung von Bedeutungen’, ‚veränderte kulturelle Praxis’ etc. im Vordergrund. Es ist von einer ‚doppelgleisigen Strategie’ die Rede, wonach Migrant(inn)en je nach Interessenlage dem einen oder dem anderen Handlungssystem folgten. Ihre zunehmende Einbettung in die Migrationssubkultur wird als Möglichkeit zur Entfaltung von Handlungs- und Entscheidungsräumen


Adoleszente Generationenbeziehungen in Migrantenfamilien

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betrachtet und nicht als Resultat misslungener Integration weginterpretiert. Das wesentliche Verdienst von Forschungsarbeiten im Sinne modernisierungstheoretischer Argumentation besteht in folgenden Punkten:

Sie stellen heraus, dass es sich bei scheinbar traditionaler Handlungsorientierung der Migranten(inn)en oft um eine zwar gleich artikulierte, jedoch von den Betroffenen unterschiedlich gewertete Alltagspraxis handelt. Sie eröffnen eine analytische Perspektive zur Erfassung des je persönlichen Sinns, welchen Migranteneltern und -jugendliche mit kulturellen Bedeutungen und Traditionen verbinden.

Dennoch: Eignet sich Kultur als Kategorie – auch wenn in dynamischem Sinne aufgefasst als Ergebnis und als fortlaufender Prozess der aktiven Auseinandersetzung des Subjekts mit einer sich wandelnden Umwelt, als Produktionsmoment der menschlichen Vergesellschaftung, als Modus der Sinnsuche – eignet sich also Kultur als Kategorie zur Analyse der Situation von Migrant(inn)en? Im Sinne einer Auffassung von Kultur als bestimmendem und vermittelndem Element zwischen dem Subjekt und seinen Lebensbedingungen erscheint das Subjekt insofern nach wie vor als abhängige Größe der veränderten Lebensbedingungen in der Migration, als die Sichtweisen und Aktivitäten des Einzelnen zum größten Teil aus den kulturellen Bedeutungskonstellationen interpretiert werden, wobei das Subjekt selbst in seinen Intentionen, subjektiven und objektiven Lebensinteressen weitgehend unberücksichtigt bleibt (vgl. Holzkamp 1996). An einer Kulturauffassung als Vermittlungsebene zwischen Individuum und Gesellschaft ist ebenfalls kritisch anzumerken, dass die Handlungen der Migrant(inn)en mit Bezug auf die Bedeutungen nicht ausreichend erklärt werden könnten, selbst wenn Bedeutungen lediglich als gesellschaftlich produzierte sachlich-soziale Handlungsmöglichkeiten begriffen würden. Denn „aus bloßen Möglichkeiten geht nämlich keineswegs auch schon hervor, wie das jeweilige Individuum sie denn nun tatsächlich in reale Handlungen umsetzen wird“ (ebd.: 53 f.). Welche aus den potentiell vorhandenen und aus einer bestimmten Bedeutungskonstellation sich ergebenden Optionen das Individuum wähle, lasse sich aus dem Bedeutungsbegriff und der Kultur als Vermittlungsebene zwischen Struktur und Subjekt nicht ableiten. In seiner methodischen Kritik an modernisierungstheoretisch orientierten Studien spricht Bommes (1994: 218 f.) von „Selbsterzeugung der untersuchten Realität“ durch die methodische Vorgehensweise dieser Untersuchungen. So wird Kultur als Realität der Migrant(inn)en zirkulär erforscht und gleichzeitig wird die Beobachtung von Kultur als Kategorie für die wissenschaftliche Ana-


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lyse übernommen. Diese Problematik wird deutlich an der qualitativen Studie von Lanfranchi (1993) zum Einfluss von Migration auf die innerfamiliäre Beziehungsstruktur und den Schulerfolg von Kindern aus süditalienischen Migrantenfamilien. Ein Beispiel dafür, wie sich modernisierungstheoretische Deutungsmuster dafür eignen, den hermeneutischen Zirkel ‚elegant‘ zu unterbrechen und markante Ergebnisse zu liefern. Ergebnisse, die zum einen nicht zwingend Gefahr laufen, einen all zu statischen Kulturbegriff zu suggerieren, und zum anderen die Komplexität auf solch eine Weise reduzieren, so dass das Endprodukt nach Außen hin nicht als Reduktion erscheint. Durch das Konzept der ‚Immigrantenfamilie im Aufbau von Übergangswirklichkeiten’ (vgl. Lanfranchi 1993b: 188) wird versucht, das in der Migrationsforschung weit verbreitete Bild von Migrantenkindern, die ‚zwischen den Kulturen hin- und herpendeln’ zu korrigieren. Theoretisch interessant an dieser Studie ist die Analyse von subjektiven Wirklichkeitskonstrukten und deren Bedeutung für die Situationsbewältigung von Migrant(inn)en. Wirklichkeitskonstrukte werden jedoch nicht in ihrer sozialen Vermitteltheit, sondern lediglich durch biographische Aspekte zu erklären versucht: Die in dem bipolaren Schema ‚Tradition-Moderne’ dargestellten Unterschiede bezüglich Bewältigungsstrategien und Verhalten zwischen beiden extremen Familientypen (‚traditional-vorwärtsgewandte’ und ‚traditional-sklerotisierte’ Familien) erscheinen jedoch als Folge gegebener, durch die jeweilige Familiengeschichte bedingter systemimmanenter Eigenschaften. Im Hinblick auf die zu erbringenden Transformationsleistungen wird im Grunde zwischen dazu ‚fähigen’ und ‚nicht fähigen’ Familien unterschieden (Lanfranchi 1993b: 188). Somit wird der Blickwinkel auf allgemein formulierte, scheinbar universelle Forderungen nach zu erbringenden Transformationsleistungen gelenkt. Die konkreten Handlungsintentionen und subjektiven Lebensinteressen der Betroffenen fallen der methodisch diktierten Programmatik (objektive Hermeneutik) zum Opfer (vgl. Reetz 2006).

2.2.

Handlungstheoretischer Ansatz (rational-choice)

Der individualistische Erklärungsansatz (Nauck 1989; 1990; 1994; Nauck/Özel 1986) untersucht in kritischer Abgrenzung gegenüber modernisierungstheoretischen Ansätzen den Wandel von Erziehungsvorstellungen und Sozialisationspraktiken in Migrantenfamilien anhand von Wert-Erwartungs-Theorien. Dieses Modell erhebt den Anspruch, eine „explizite, allgemeine und prinzipiell voll-


Adoleszente Generationenbeziehungen in Migrantenfamilien

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ständige Erklärung individuellen Handelns“ zu konzipieren, „die sich wesentlich auf die ‚situationsrationale’ Bewertung von Handlungskonsequenzen durch die jeweiligen Akteure unter je variierenden ‚kontextuellen’ Handbedingungen stützt“ (Nauck/Özel 1986: 285). Theoretisch bezieht sich dieser Ansatz neben Ressourcentheorien auf rational-choice Modelle, wonach Individuen unzählige Entscheidungen fällen, um ihre Kosten zu minimieren und dadurch den größtmöglichen Gewinn zu erzielen. Erziehungsvorstellungen von Migranteneltern werden unter Einbeziehung der Variable ‚utilitaristische Nutzenerwartungen’ erklärt und analysiert. Utilitaristische Nutzenerwartungen seien vom weiteren ökologischen und sozialen Kontext abhängig, in dem sich die Familie befinde. Die zentrale Hypothese dieses Ansatzes könnte wie folgt formuliert werden: Vermindert der sozialökologische Kontext die Investitionskosten für Kinder und stellt Opportunitäten für ökonomische Beiträge von Seiten der Kinder bereit, hat dies eine Steigerung der ökonomisch-utilitaristischen Erwartungen der Eltern an ihre Kinder zur Folge. Stellt jedoch die unmittelbare Umgebung keine Infrastruktur für die Versorgung der Kinder zur Verfügung, dann hat dies eine Steigerung der psychologischen Kosten zur Folge. Ökonomisch-utilitaristische Nutzenerwartungen würden in diesem Sinne eher durch großräumige sozialökologische Kontexte beeinflusst; psychologische Nutzenerwartungen seien überwiegend von kleinräumigen Kontexten abhängig. Das Erziehungsverhalten in Einwandererfamilien wird als vielschichtiges Verhalten beschrieben, welches sowohl durch autoritäre als auch durch permissive Elemente charakterisiert sei. Die außerordentlich hohen Mobilitätsaspirationen Jugendlicher werden im Zusammenhang mit den hohen Leistungserwartungen der Elterngeneration erklärt. Hohe Mobilitätsaspirationen stellten dabei eine modernisierte Form ökonomisch-utilitaristischer Nutzenerwartungen dar. Bezüglich der innerfamiliären Interaktion und der Beziehung der Familienmitglieder untereinander wird u.a. festgestellt, dass

die ökonomisch-utilitaristische Bedeutung von Kindern mit rigiden Sozialisationspraktiken und Erziehungseinstellungen einhergeht; dies sei auch dann der Fall, wenn die Kinder bereits das Adoleszenzalter erreicht hätten. psychologische Nutzenerwartungen mit größerer Selbständigkeit, Individualismus, Unabhängigkeit und der Förderung von Selbstvertrauen als Erziehungszielen bzw. einer Zunahme von Permissivität in den elterlichen Erziehungspraktiken, einhergehen.


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Konfliktpotentiale in der Familie aus enttäuschten utilitaristischen Erwartungen seitens der Eltern resultieren.

Der individualistische Erklärungsansatz bildet insofern eine alternative Erklärungsvariante zur Untersuchung von Migrantenfamilien, als er

dem unmittelbaren Kontext der Migration eine im Vergleich zu anderen Ansätzen größere Bedeutung einräumt. durch Einbeziehung handlungstheoretischer Ansätze sich gegenüber solchen Argumentationsmustern abgrenzt, die auf einem statischen Kulturbegriff beruhen. die allgemeinen Milieubedingungen (z.B. die Opportunitätsstruktur des sozial-ökologischen Kontextes und die objektiven Handlungsalternativen) sowie die Verhaltensweisen der Migrant(inn)en empirisch erfasst.

Den mechanistisch-deterministischen Einfluss der sozialen Bedingungen (Ressourcen) auf das Verhalten von Migrant(inn)en versucht der individualistische Erklärungsansatz durch den Einsatz von rational-choice-Ansätzen zu umgehen. Es handelt sich, so könnte man meinen, um einen Versuch, handlungsrelevante Aspekte der Situation von Migrant(inn)en bzw. Prämissen für ihr Handeln zu definieren, um auf diese Weise bei den vorgenommenen Erklärungen auch subjektiven Handlungsmomenten gerecht zu werden. Dieser stößt jedoch an seine Grenzen, wenn der Versuch unternommen wird, eine „explizite, allgemeine und prinzipiell vollständige Erklärung individuellen Handelns“ (Nauck/Özel 1986: 285) zu erarbeiten, und zwar aus folgenden Gründen: Wert-Erwartungs-Theorien liegt ein Handlungsbegriff zugrunde, der die Absichtlichkeit bzw. den zweckrationalen Charakter des Handelns stark hervorhebt. Durch die Rezeption eines engen Handlungsbegriffs erscheinen zwar Erklärungen rationaler Entscheidungen von Migrant(inn)en „einfach“, wie Nauck/Özel (1986: 287) nachdrücklich betonen. Die Annahmen über rationale Entscheidungen in Wert-Erwartungs-Theorien und im individualistischen Erklärungsansatz können jedoch nur Teildimensionen möglicher subjektiver Handlungsgründe der Migrant(inn)en erfassen. Der konkrete subjektive Kontext, in dem bestimmte Handlungsalternativen ihre besondere Bedeutung für die Subjekte erhalten, wird aus der Analyse ausgeblendet bzw. nur noch im Zusammenhang mit einzelnen unabhängigen Forschungsvariablen untersucht. Milieubedingungen (Opportunitätsstrukturen des sozial-ökologischen Kontexte; individuelle Alternativen) scheinen im individualistischen Erklärungsansatz entweder direkt oder aber durch den rational-choice-Ansatz vermittelt auf


Adoleszente Generationenbeziehungen in Migrantenfamilien

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das Verhalten der Migranteneltern bzw. deren Nutzenerwartungen einzuwirken. Dabei werden aber die Vermittlungsebenen zwischen sozialem und ökologischem Milieu einerseits und menschlichem Verhalten andererseits nicht berücksichtigt. Anders ausgedrückt: Auf der Basis allgemeiner Milieubedingungen bzw. Situationen und/oder mit Hilfe von Wert-Erwartungs-Ansätzen auf die Handlungen von Personen zu schließen, greift zu kurz.1:Welche der allgemeinen Milieubedingungen tatsächlich zur Situation für die Migrant(inn)en werden und welche Aspekte ihrer Situation für sie aus ihrer Perspektive und gemäß ihren subjektiven Lebensinteressen handlungsrelevant sind, kann im Rahmen dieses Ansatzes nicht erfasst werden.

3.

Methodische Perspektiven für die Erforschung von adoleszenten Generationenbeziehungen im Migrationskontext

Wenn man sich die Entwicklung der Forschung über Adoleszenz und Migration innerhalb der Erziehungswissenschaft und der Soziologie während der letzen dreißig Jahre anschaut, so kann einem nicht verborgen bleiben, dass in neuerer Zeit Forschungsarbeiten vorliegen, die sich um eine differenzierte Verknüpfung adoleszenz- und migrationstheoretischer Perspektiven bemühen. Es wird u.a. darauf hingewiesen, dass

1

innerfamiliäre Konflikte häufig mit den für die Familienmitgliedern erfahrbaren Benachteiligungen sozialer, rechtlicher und politischer Art zusammen hängen (Herwartz-Emden 1997); die Analyse der Qualität von adoleszenten Möglichkeits- und Entwicklungsspielräumen im Kontext von Migration immer im Zusammenhang mit

In der ersten Variante (mechanistisches Einwirken von Milieubedingungen auf menschliches Verhalten) könnte man von einer unvermittelten bzw. deterministischen Einwirkung objektiver Verhältnisse auf menschliche Subjektivität sprechen. In der zweiten Variante (Einschub von Wert-Erwartungstheorien als Verbindungsglieder zwischen Milieubedingungen und Verhalten) könnte man im Fall einer empirischen Prüfung zentraler Sätze des Wert-ErwartungsAnsatzes von einer unzulässigen Vernachlässigung des Aspekts der Rationalität des Handelns aus der Sicht des Handelnden sprechen. Selbst wenn zentrale Annahmen des WertErwartungs-Ansatzes innerhalb des individualistischen Erklärungskonzepts nicht unmittelbar empirisch überprüft würden, sondern in Form genereller, auf einem eng gefassten Intentionalitäts- und Handlungsbegriff beruhenden Rationalitätsunterstellungen eine Vermittlungsfunktion zwischen Milieubedingungen und Verhalten einnähmen, gälte immer noch der Einwand einer erheblichen, unstatthaften Verkürzung der vielschichtigen potenziellen Handlungskonstellationen.


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einer Rekonstruktion der gesellschaftlichen Bedingungen und sozialen Ungleichheitsstrukturen des Aufnahmelandes erfolgen soll (King 2005: 61). Für Jugendliche mit Migrationshintergrund markieren die Themen Migration und Adoleszenz eine doppelte Transformationsanforderung (King 2005: 58 ff.): sie stellen Aufgaben dar, die mit Prozessen von Trennung und Umgestaltung einhergehen. Besonders die persönliche, familiäre und intergenerationale Verarbeitung und Gestaltung der Migration stellt alle Familienmitglieder vor vielfältige Herausforderungen: im Hinblick auf die Bedeutung der Migration, die Erfahrungen in der Aufnahmegesellschaft, das Verhältnis von Anerkennungs- und Diskriminierungserfahrungen und die Evaluation des familiären Migrationsprojekts. Daraus leiten sich für empirische Untersuchungen wichtige Fragen ab: Welche Bedingungen beeinflussen die familiäre Bewältigung der mit Migration und Adoleszenz verbundenen Transformationsanforderungen? Wie werden Migrationserfahrungen in den adoleszenten Entwicklungsprozessen verarbeitet? Nach welchen Regeln konstruieren Jugendliche und ihre Eltern ihre subjektive Wirklichkeit und wie bewältigen sie mit Hilfe dieser subjektiven Wirklichkeitskonstrukte ihre Lebenssituation in der Migration? Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen für die Familienmitglieder in der Migration und welches sind dabei ihre handlungsleitenden subjektiven Lebensinteressen? Für eine systematische Erfassung von Handlungsmöglichkeiten, aber auch von Handlungsbehinderungen, Ambivalenzen sowie Zwängen, mit denen Adoleszenten konfrontiert sind, ist ein „ganzheitlicher Zugriff“ (Herwartz-Emden 1997) erforderlich. Dabei ist die Gesamtheit des Migrationsprozesses als Generationenerfahrung in der Familie genau zu analysieren. Daraus ergeben sich besondere methodische Anforderungen für die Migrationsforschung. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird im Folgenden eine möglichst kurze zusammenfassende Darstellung eines methodischen Zugangs zu der komplexen Thematik ‚Adoleszenz und Familie in der Migration’ gegeben, wobei diese Darstellung zwar als Vorbereitung für die weiteren Ausführungen hilfreich sein soll, dennoch in diesem Rahmen keinesfalls ein vollständiges Bild des hier vorgeschlagenen methodischen Ansatzes liefern kann. Zum einen soll das analytische Potenzial der Konzeption von Familie als soziokultureller ‚Lebenswelt’ skizziert werden. Zum anderen soll erläutert werden, warum für eine differenzierte Erfassung und Analyse von Handlungsräumen und adoleszenten Transformationsprozessen ein methodischer Ansatz erforderlich ist, der einen empirischen Zugang zu subjektiven Handlungsprämissen und Lebensinteressen sowie Lebensorientie-


Adoleszente Generationenbeziehungen in Migrantenfamilien

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rungen von Menschen mit Migrationshintergrund (Adoleszenten und ihren Eltern) ermöglicht.

3.1.

Familie als soziokulturelle Lebenswelt

Mit der Einführung des Begriffs ‚Lebenswelt’ rückt die unmittelbare Lebenssituation der Migrant(inn)en ins Zentrum der Analyse. Familie ist zu verstehen als eine wesentliche Konstellation sozialer Beziehungen, als eine „psychosoziale Organisation“ (Hess/Handel 1975; 1980), als eine vielschichtige „soziokulturelle Lebenswelt“ (Schütz 1971), die sich von anderen Lebenswelten durch gemeinsame Alltagspraxis, durch die für sie typische Realitätskonstruktion, durch typische Lebensformen und -orientierungen unterscheidet (Bösel 1980). Familie als soziale Lebenswelt bildet sich im Interaktionsprozess der Familienmitglieder. Die Rolle des Individuums begrenzt sich nicht nur auf das Praktizieren von festgelegten bzw. sozial determinierten normativen Rollenanweisungen, sondern realisiert sich in der prozesshaften Interdependenz zwischen biographisch gewonnenen Deutungs- und Handlungsmustern einerseits und der aktiven Auseinandersetzung mit der inner- und außerfamiliären Umwelt andererseits (Buchholz 1984). Die Betrachtung der Familie als eine Lebenswelt bedeutet keineswegs, dass sie im Gegensatz zu gesellschaftlichen Systemen als abstrakte Einheit aufzufassen ist. Auch darf Familie als Lebenswelt nicht strukturanalytisch im Rahmen einer statischen Person-Umwelt-Relation verstanden werden. Markard (1990) bemerkt, dass selbst bei neueren Modellen der sog. Ökopsychologie PersonUmwelt-Verhältnisse als Abhängigkeit menschlichen Verhaltens von bestimmten Umweltbedingungen oder als Wechselwirkung zwischen beiden definiert werden. Familie als Lebenswelt ist als (re-)produziertes Vermittlungselement zwischen Individuum und Gesellschaft zu verstehen. Im Lebensweltansatz ist das Moment der gesellschaftlichen historischen Explikation von Handlungsmöglichkeiten vorhanden, und zwar in der Form der sprachlichen und sozialen Bedingtheit der gesellschaftlichen Vermitteltheit von Möglichkeitsräumen, wie sie bei A. Schütz expliziert werden. Wichtig für Analysen adoleszenter Generationenbeziehungen in Migrantenfamilien ist, dass Analysen nicht auf der Ebene eines bloßen Verstehens von Sinndeutungs- und Sinnsetzungsvorgängen stehen bleiben dürfen. Vielmehr sollen Erziehungsmethoden, Kommunikations- und Interaktionsmuster sowie Konfliktbewältigungsstrategien in Migrantenfamilien auch hinsichtlich ihrer


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nicht-intendierten Wirkungen, also hinsichtlich ihrer objektiven Logik für die Beteiligten und ihr Interaktionsgefüge diskutiert werden und nicht im Sinne eines relativ geschlossenen Familienbeziehungsgefüges als natürlich bestehend und daher als für die Stabilität des Systems funktional ‚weginterpretiert’ werden (vgl. Auernheimer 1994: 36).

3.2.

Subjektwissenschaftlich-interpretativer Forschungsansatz

Einen empirischen Zugang zu der Frage nach der Vermittlung zwischen (objektseitig definierten) Randbedingungen und (subjektseitig definierten) Prämissen menschlichen Handelns (in der Migration) ermöglicht der subjektwissenschaftlich-interpretative Ansatz (Kempf 1992). Der Analysefokus liegt auf jenen konkreten Zusammenhängen und Kontexten, in denen menschliche Tätigkeiten stehen, und unter denen die Personen ihre jeweiligen Handlungsvorsätze subjektiv als vernünftige Konsequenz ableiten. Für empirische Forschung in diesem Sinne bedeutet es, dass eine einfache Beschreibung individueller Subjektivität nur den ersten Schritt des Interpretationsprozesses darstellen kann. Darüber hinaus wird analysiert, „wie individuelle Subjektivität gesellschaftlich hervorgebracht wird“ (Kempf 1998: 105). Gesellschaftlich vermittelte Subjektivität bedeutet hier zweierlei: zum einen, dass das Bewusstsein kein Abbild des Realen darstellt, und dass das Reale nicht die willkürliche Konstruktion des Bewusstseins ist. Zum anderen, dass die Diskrepanz zwischen Sein und BewusstSein nicht einfach auf einem Irrtum der Subjekte beruht, sondern gesellschaftlich bedingte Abwehrprozesse beinhaltet. Bei der Rekonstruktion gesellschaftlich hervorgebrachter Subjektivität stehen die Problematisierung subjektiver Formen der Realitätsbewältigung (wie Rationalisierungen, Verdrängungen, Abwehrmechanismen etc.) und ihre Funktion für den einzelnen im Vordergrund. Diese Problematiken erfassen und verdeutlichen Erfahrungen und Erlebnisstrukturen des Individuums, sowie „Selbsttäuschungen in Richtung auf die meinem Handeln zugrundeliegenden Konflikte, widerstreitenden Interessen und Bedürfnisstrukturen“ (Maiers 1994: 68). Ist man in der Migrationsforschung bemüht, kulturelle Relevanzen für individuelle Identitätsentwürfe (vgl. Auernheimer 2002) herauszuarbeiten, so ist man gleichzeitig bei der Frage der Lebensorientierungen von Migrant(inn)en angelangt. Lebensorientierungen (Kempf 1987: 193) als Bestandteile der subjektiven Realität der Individuen können weder direkt abgefragt, noch dürfen sie kontextunabhängig mit Hilfe abstrakter Interpretationsschemata (Kulturdifferenz, Tradition – Moderne etc.) und in Absehung des jeweils konkreten Sinnzu-


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sammenhangs – in welchem sich individuelles Handeln und Erleben konkret konstituieren – gedeutet werden. Die Erfassung von Lebensorientierungen bedarf vielmehr eines eigenen Interpretationsprozesses, in dessen Rahmen jene Bedeutungen expliziert werden, welche die Migrant(inn)en bestimmten Er-fahrungen, Ereignissen, Situationen, Sachverhalten etc. verleihen. Aufgabe einer subjektbezogenen empirischen Migrationsforschung ist es, Verstehensprozesse in Gang zu setzen und voranzutreiben, die nicht zu verwechseln sind mit ‚Fremdverstehen’ oder ‚kultureller Sensibilität’. Es geht vielmehr darum, den Migrant(inn)en bei ihren Handlungen ‚Vernunft’ im weitesten Sinne zu unterstellen, d.h. sie als Subjekte ihres Handelns zu verstehen. Im Fokus stehen die Handlungsprämissen, Intentionen und Situationsbeurteilungen der Subjekte und nicht die fremdgesetzten Bedingungen für ihr Verhalten. Gegenstand einer subjektbezogenen empirischen Migrationsforschung sind die Lebensbedingungen der Migrant(inn)en, wie sie sie erfahren. Die zu gewinnenden Forschungsergebnisse sind Aussagen über erfahrene Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen im Migrationskontext. Von diesen methodologischen Kerngedanken ausgehend stellt das Verfahren der ‚Sozialpsychologischen Rekonstruktion’ (Kempf/Baumgärtner 1996; Kempf/Baros/Regener 2000; Baros/Reetz 2002) ein konkretes forschungsmethodisches Vorgehen zur empirischen Untersuchung subjektwissenschaftlicher Fragestellungen. Textanalyse im Sinne der Sozialpsychologischen Rekonstruktion erfolgt auf verschiedenen, systematisch aufeinander aufbauenden Ebenen der Verständnisbildung (logisches, psychologisches und soziologisches Verstehen) und kann grundsätzlich auf jede Art von Kommunikation angewendet werden kann.2 Durch die Berücksichtigung der interaktiven Dynamik und des latenten Gehaltes der Kommunikation stellt ‚Sozialpsychologische Rekonstruktion’ eine methodische Innovation gegenüber gängigen Verfahren der Textinterpretation dar, die in interkulturellen Studien nur begrenzt einsetzbar sind: Während die beschreibende Vorgehensweise zur Erfassung manifester Kommunikationsinhalte (z.B. Mayring 1993) eine Entsprechung zwischen Sprache und 2

In Anlehnung an Watzlawick u.a. (1967) wird zwischen folgenden Aspekten menschlicher Kommunikation unterschieden: Der Report-Aspekt bezieht sich auf die Frage nach dem Informationsgehalt einer Aussage. Der Parade-Aspekt beantwortet die Frage nach der Reaktion, die der Sender durch seine Mitteilung provozieren möchte. Der Command-Aspekt sucht eine Antwort auf die Frage, wie eine Mitteilung aufzunehmen ist. Ferner werden in Übereinstimmung mit Schulz von Thun (1981) der Selbst-Manifestationsaspekt und der Beziehungsaspekt der Kommunikation hervorgehoben: Der Selbst-Manifestationsaspekt bezieht sich auf die Frage, was der Sprecher mit seiner Äußerung über sich selbst aussagt. Der Beziehungsaspekt betrifft die Frage, was eine konkrete Äußerung über die Beziehung der Gesprächspartner zueinander aussagt.


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Weltanschauung unterstellt und dadurch mögliche Differenzen zwischen Sprache und veränderter Lebenspraxis in der Migration nicht erfassen kann (Auernheimer 1994), geht man bei der Analyse latenter, in den manifesten Inhalten des Textes verborgener Sinnstrukturen (Oevermann et. al. 1983) von gemeinsam geteilten Interpretationshorizonten aus und kann den Besonderheiten einer interkulturellen Forschungskonstellation3 nicht gerecht werden. Die Bedeutung und Funktion eines Textes wird in der ‚Sozialpsychologischen Rekonstruktion’ in Relation zu den Interaktionskontexten und zu den Handlungsbeteiligten bestimmt. Der Interviewtext wird nicht nur als eine Informationsquelle über forschungsrelevante Themenbereiche verstanden, sondern auch als Materialisierung eines Aushandlungsprozesses über Identitäten zwischen den im Gespräch Beteiligten. ‚Identität’ meint hier die Art und Weise, wie sich die Handelnden in der Welt orientieren, d.h. wie sie ihre (soziale) Wirklichkeit konstruieren, von welcher sie selbst ein Teil sind (vgl. Kempf/Baumgärtner 1996: 3). Dem Gedanken eines materialistischen Konstruktivismus (Keupp 1992: 39) folgend, wird davon ausgegangen, dass sich die Regeln zur Konstruktion der subjektiven Wirklichkeit seitens der Individuen keineswegs beliebig konstituieren, sondern in den sozialen Gegebenheiten selbst verankert sind. Die Analyse zielt darauf ab, durch Erfassung des latenten Gehaltes der Kommunikation die (impliziten) Regeln herauszuarbeiten, nach welchen die durch den Text repräsentierte Konstruktion subjektiver Wirklichkeit erfolgt. Die Herausarbeitung dieser Regeln, nach denen die Betroffenen ihre Wirklichkeit konstruieren, ermöglicht die Formulierung von Hypothesen im Hinblick auf die Art und Weise, wie Migrant(inn)en mittels dieser Wirklichkeitskonstruktion ihre Entfrem3

Methodisch relevante Besonderheiten in Migrationsstudien zeigen sich sowohl in interkulturellen Interviews (asymmetrische Argumentationsverläufe und adressatenspezifische Kommunikation aufgrund kultureller Differenzen im Denken, Handeln und Fühlen und/oder in Folge eines Machtgefälles im Verhältnis von Mehrheit und Minderheit) (vgl. Herwartz-Emden 2000), als auch in Forschungskonstellationen, in denen Interviewte und Interviewer(innen) der gleichen Ethnizität angehören (Fraternisierungseffekt): Die Interviewten identifizieren das ‚ethnisch Gleiche’ und gehen von einem mit dem Interviewer gemeinsam geteilten Interpretationshorizont aus. Sie setzen beide Seiten verbindende Kulturstandards („scripts“) voraus (Auernheimer 2004: 624). Allein aufgrund der manifesten Gemeinsamkeiten (Sprache, Migrationsgeschichte im selben Land, Wissen über Kulturmuster im Herkunftsland) zwischen den Akteuren wird eine Rahmung der Situation (Bateson 1972a; Goffman 1974) hergestellt und dadurch werden bestimmte Normalitätserwartungen an die Gesprächssituation markiert. Der Fraternisierungseffekt ist interessengeleitet und geht häufig mit der Affirmationserwartung seitens der Interviewten einher, dass das Gegenüber die eigenen Sorgen teilt und ihnen dabei mit Verständnis begegnet. Es entsteht ein ‚Wir-Gefühl’, in Folge dessen kulturelle Selbstverortungen und Stereotypen leichter begründet bzw. rechtfertigt werden können.


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dungsproblematik4 bewältigen. Die argumentative Überprüfung der abgeleiteten Hypothesen und Interpretationen erfolgt aufgrund von Theorien, die den Charakter „universell anwendbarer methodischer Prinzipien“ (Kempf 1992: 103) haben. Empirische Anwendungen der ‚Sozialpsychologischen Rekonstruktion’ in der Migrationsforschung liegen bisher vor in Studien zur subjektiven Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen in der Migration (Baros/Reetz 2002), in der Erforschung von Ursachen und Bewältigungsformen des schulischen Misserfolgs von Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund (Reetz 2006), in Untersuchungen über krisenhafte Übergangssituationen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Übergang Schule – Beruf (Baros 2004), sowie in Analysen adoleszenter Generationenbeziehungen in Migrantenfamilien (Baros 2001).

3.3.

Fallbeispiel

Ausgehend vom Datenmaterial und den Ergebnissen der letzt genannten Studie (Baros 2001) beleuchten folgende Ausführungen am Fallbeispiel einer griechischen Migrantenfamilie die Frage nach Auswirkungen von Migration und individueller Verarbeitung von Migrationserfahrung auf die adoleszenten Entwicklungsräume und Generationenbeziehungen. Unter Beachtung der jeweiligen Kommunikationsdynamik werden latente Bedeutungen erfasst und die Regeln herausgearbeitet, nach denen die Familienmitglieder (hier: Andreas und seine Eltern) ihre subjektive Wirklichkeit konstruieren und dadurch individuell ihre Migrationssituation bewältigen. Durch Analyse des exterritorialisierten Gehaltes der Kommunikation können die ‚abgewehrten’ Themen (z.B. die Widersprüchlichkeit ihrer Migrationssituation) erfasst werden. Der Vater (Herr C) emigrierte im Alter von 23 nach Deutschland. Die Mutter (Frau C) wanderte mit 22 Jahren aus. Beide haben vor ihrer Auswanderung die Erfahrung der Binnenmigration gemacht. In der Anfangszeit arbeitete Frau C als Stationshilfe in einem Krankenhaus, wobei sie gleichzeitig intensiv Deutsch am Goethe-Institut lernte. Ein Jahr nach ihrem Umzug nach Deutschland begann sie ihre Ausbildung als Physiotherapeutin und arbeitete danach 4

Der Terminus Entfremdung beschreibt den dialektischen Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft, demzufolge die subjektive Logik des Handelns mit ihrer gesellschaftlichen Logik nicht deckungsgleich ist (Sève 1972). Menschliches Handeln hat nicht nur die damit intendierten Wirkungen, sondern oft eine Vielzahl an Nebenfolgen, die so weder gewollt noch vorhergesehen sind und vom Standpunkt des Subjektes oft nicht einmal erkannt werden (können).


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jahrelang als Krankengymnastin. Herr C hatte ähnlich wie seine Frau bereits in Griechenland das Gymnasium absolviert und fing unmittelbar nach seiner Emigration ein Studium als Bauingenieur an. Nach seinem Ingenieurstudium arbeitete er drei Jahre lang an verschiedenen Bauprojekten. Einige Jahre später gab er seine Berufstätigkeit als Bauingenieur auf, um mit seiner Frau eine eigene Gaststätte zu gründen. Die Arbeit im eigenen Unternehmen sei zum einen noch einträglicher, zum anderen sei sie aber auch deshalb von Vorteil, weil man sich als Eltern zweier adoleszenter Söhne mehr um diese kümmern könne, wenn der Arbeitsplatz in unmittelbarer Nähe der Wohnung liege. Andreas (16 J.) und Michalis (12 J.) – die zunächst die deutsche Schule besucht hatten – wechselten zum Zeitpunkt der Untersuchung die griechische Schule und erhielten zusätzlich Nachhilfeunterricht in der Muttersprache. Trotz aller Bemühungen fiel Andreas durch den plötzlichen Schulwechsel in seinen Leistungen ab und entsprach daher nicht ohne weiteres den Lernanforderungen des griechischen Lyzeums. Aus dem ersten und zweiten Auswertungsschritt (Lesen der Texte; Berücksichtigung sekundärer verbaler Kommunikationselemente zur Erhellung des Command-Aspekts des internen Kontextes der Kommunikation; kontextuelle Analyse der Gesprächssituation zur Erfassung von Interessen und Intentionen der Kommunikationspartner im Gesprächskontext) entstand über die Familie C folgendes Bild: Nach anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten fügten sich Herr und Frau C recht schnell in die neuen Lebensverhältnisse ein. Herr C beschreibt in seiner Erzählung sehr lebhaft und detailreich seine bisherigen positiven Erfahrungen mit Deutschen. Die aus ihrer täglichen Arbeit im Gasthaus erzielten Ersparnisse investieren die Eltern in Immobilien in Deutschland. Das bezeichnen sie als finanzielle Absicherung für die Zukunft. Sie geben an, dass sie in den letzten Jahren einen hohen finanziellen Status erreicht hätten. Darauf seien ihre Söhne besonders stolz. Die Zufriedenheit mit ihrer finanziellen Situation spiegelt sich auch in jenen Aussagen wieder, in denen sie ihre bisherige Laufbahn mit Lebensläufen ihrer Bekannten in Griechenland vergleichen. Letztere seien mit ihrem Leben eher unzufrieden, sie hätten keine Zukunftspläne mehr. Sie thematisieren ihre Wohnsituation, die sie insofern als günstig bezeichnen, als ihre Wohnung in einem Stadtteil liegt, in dem vorwiegend deutsche Mittel- und Oberschichtsfamilien wohnen; dies sei nicht zuletzt auch für die soziale Entwicklung der Kinder förderlich. Ihre eigene Arbeitssituation beschreiben Herr und Frau C dennoch als besonders belastend. Sie planen eine baldige Rückkehr nach Griechenland. Nach der Rückkehr möchten sie ihre in Deutschland gewonnenen beruflichen Kennt-


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nisse und Erfahrungen auch dort einsetzen und sich wieder in das Beziehungsgefüge ihres Verwandtenkreises und der Dorfgemeinschaft eingliedern. Bezüglich auf die adoleszenten Generationenbeziehungen ist festzuhalten: die Eltern erleben die Beziehung zu ihrem Sohn durch eine kulturelle Distanz gefährdet. Herr C: "Wir wollen auf jeden Fall nach Griechenland zurück. Wenn Andreas länger hier in Deutschland bleibt, wird er zum Deutschen“.

Autonomiebestrebungen ihres Sohnes interpretieren die Eltern als Imitieren des Verhaltens deutscher Jugendlicher und stehen ihnen ablehnend gegenüberstehen. Frau C: "Andreas sagt, er möchte mal später ausziehen. Uns macht es traurig (…) Er will es so, wie die anderen Kinder es machen. Sie werden mit 18 volljährig und gehen jobben.“

Andreas nimmt den Konflikt völlig anders wahr: die Argumente seiner Eltern erlebt er als fremdgesetzte Forderungen und wehrt sich dagegen. In seiner Widerstandshaltung sieht er ein Mittel für die Verwirklichung seiner Autonomiebestrebungen. Andreas: „Ich meine, ich hab´ hier viele Freiheiten. Aber das Thema (…) von Zuhause auszuziehen. Tja, würde ich nicht machen. Dafür braucht man auch viel Geld. Hier geht´s mir ganz gut“. Quatsch. Natürlich, wenn ich später studieren werde, muss ich ja, aber jetzt auf gar keinen Fall (lachend). Ich ärgere mich nur, wenn sie so stur sind und so tun, als wüssten sie alles besser."

Die Satz-für-Satz-Analyse unter Report-, Command- und Parade-Aspekt und die Sequenzanalyse der elterlichen Aussagen im dritten Auswertungsschritt ergab folgendes Bild: Die Eltern sehen im Migrationskontext keine Möglichkeit zur Intensivierung des Familienlebens (Frau C: „Ich sehe hier keine Möglichkeit, die Kinder zu ändern. Wir sollen uns keinen Illusionen mehr hingeben. Sollen wir etwa die deutsche Gesellschaft ändern, weil wir zwei Kinder haben, die wir griechisch erziehen wollen?“). Sie hoffen, das in der Migration versäumte und inzwischen stark idealisierte Familienleben nach einer Rückkehr in Griechenland nachholen zu können. In ihren Erziehungsvorstellungen gehen sie davon aus, dass der Charakter des Sohnes prinzipiell jederzeit veränderbar und von den Eltern neu zu prägen sei. Die Erziehungsaufgabe der Eltern bestehe darin, die Persönlichkeit ihrer ‚unmündigen’ Kinder zu formen und ihr Verhalten durch ständigen Einfluss zu kontrollieren.


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In den Äußerungen der Familienmitglieder hätte man genügend Indizien finden können, die auf eine Orientierung an traditionellen Handlungsmustern schließen lassen. Man könnte ferner im Sinne modernisierungstheoretischer Ansätze die Kulturalisierung von Familienkonflikten seitens der Eltern etwa damit erklären, dass die Familie in der Migration nicht die erforderlichen kulturellen Transformationsleistungen erbracht habe und daher das für eine konstruktive Lösung von Konflikten notwendige Potenzial nicht besitzt. Bei der Analyse des latenten Gehaltes der Aussagen konnten die (impliziten) Regeln herausgearbeitet werden, nach denen die Konstruktion der subjektiven Wirklichkeit durch die Eltern erfolgt: Ein Moment der Thematisierungsabwehr in den Selbstauslegungen der Eltern wurde darin gesehen, dass sie Aspekte der bisherigen innerfamiliären Kommunikationsstruktur als mögliche Ursachen für die von ihnen perzipierte Distanz in der Beziehung zu ihrem Sohn zunächst ausblenden. Zwischen den Zeilen wird erkennbar, dass sie das Kommunikationsproblem im Grunde dadurch bedingt sehen, dass sie bislang keine Zeit für den Aufbau einer zufriedenstellenden und kommunikationsreichen Familieninteraktion investiert hätten: Überdurchschnittlicher finanzieller Besitz ist für die Eltern nicht nur erstrebenswertes, sondern auch permanentes, sich (völlig) verselbständigendes Ziel, so dass sie das Leben in der Gegenwart opfern. Das Familienleben erscheint dabei als das natürliche Opfer ihrer Anstrengungen für die Verwirklichung ihrer materiellen Pläne und die Beziehungsdistanz zu Sohn stellt eine unabwendbare Folge ihrer Lebensbedingungen in der Migration. Mit ähnlichen Schwierigkeiten seien schließlich viele Migranteneltern konfrontiert. Zur Relativierung des belastenden Charakters der Gesamtproblematik heben die Eltern weiterhin die Richtigkeit ihrer bisherigen Handlungsprioritäten unter der Prämisse ‚materielle Absicherung’ hervor. So bilde die Vernachlässigung des Familienlebens und der weitgehende Verzicht auf eine intensive und anregende innerfamiliäre Kommunikation eine objektive Notwendigkeit für das Erreichen dieses Zieles; die daraus resultierenden negativen Konsequenzen für das Familienklima hätten sie von Anfang an in Erwägung gezogen und einkalkuliert. Die gegenwärtige Vernachlässigung des Familienlebens zugunsten materieller Prioritäten erscheint den Eltern deshalb nicht als verwerflich, da sie von einer grundsätzlichen Beeinflussbarkeit/Formbarkeit der Persönlichkeit ihres Sohnes ausgehen. Unter dieser Perspektive erleben sie ihre aktuelle Unzufriedenheit mit dem Familienleben als weniger belastend, da sie die von ihnen gewünschten intensiven innerfamiliären Kommunikationsstrukturen nach einer Rückkehr (wieder-)herstellen können.


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Zur Überprüfung dieser Interpretationen wurde ein zweites hermeneutisches Feld eingeführt. In die Analyse wurden Aussagen der Familienmitglieder aus weiteren Gesprächen mit einbezogen, die im Abstand von 3 Monaten erfolgten. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Parade-Aspekt5 der analysierten Kommunikationen. Durch systematisch-vergleichende Analyse der zu unterschiedlichen Zeitpunkten produzierten Texte aus getrennten durchgeführten partnerzentrierten Interviews mit den Familienmitgliedern konnten Verschiebungen der thematischen Relevanzen, Interpretations- sowie Motivationsrelevanzen (Wiedemann 1989) seitens der Gesprächspartner erfasst werden (Parade-Aspekt der Kommunikation) und dadurch mögliche Gründe der Thematisierungsabwehr zugänglich gemacht werden. Die verschiedenen Interviewtexte können gegenseitig als externe Kontexte für die Analyse des exterritorialisierten Gehaltes der Kommunikation methodisch genutzt werden. In diesem Analyseschritt konnten folgende Aspekte herausgearbeitet werden: In ihren alltäglichen Praktiken haben Herr und Frau C traditionelle Werte und Normen annulliert. Traditionelle Praktiken im außerfamiliären Kontext haben für sie an Relevanz verloren. Herr C kritisiert mehrfach jene griechischen Migranten, die trotz ihres langen Aufenthaltes in Deutschland im Ghetto lebten und sich nicht integrierten. Diese Migranten hätten sich in ihrer Sichtweise kaum entwickelt. Sie verträten überholte traditionelle Vorstellungen, ihre Lebensorientierung und ihre Einstellung zur Kindererziehung sei mit den aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen nicht in Einklang zu bringen. Nach der erneuten Analyse des Materials unter psychologischem und soziologischem Aspekt kann aus der Erstinterpretation, den Aufzeichnungen von weiteren Untersuchungszeitpunkten, den Relativierungen im zweiten hermeneutischen Feld und der kontextuellen Analyse folgende Thesen festgehalten werden: Der Rückgriff auf ein traditionelles Verständnis von Solidarität zwischen den Generationen ermöglicht den Eltern offensichtlich den Aufbau einer auf der Unterscheidung zwischen griechischer und deutscher Mentalität beruhenden Argumentationsstruktur zur Erklärung der Beziehungsdistanz zu seinem Sohn. Durch die Definition der innerfamiliären Beziehungsstörungen als vorübergehende Entwicklungsphase, die nach erfolgreicher Heimkehr überwunden werden könne, entziehen sich die Eltern ferner einer kritischen Überprüfung ihrer zentralen Handlungsprämisse, nämlich jahrelang mit allen Mitteln auf die Erreichung eines ansehnlichen materiellen Erfolgs hinzuarbeiten. Ihre Unzufriedenheit mit der eigenen Elternrolle in der Migration versuchen die Eltern durch

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Vgl. Fn. 2


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Rekurs auf ein traditionelles Erziehungsverständnis und auf ethnisch-kulturelle Argumentationsmuster zu bewältigen. Der subjektive Wert dieser Konfliktdeutung für die Eltern liegt vermutlich darin, dass sie durch diese Externalisierung des Konflikts einer Reflexion über tieferliegende Konfliktursachen aus dem Wege gehen und auf diese Weise ihre objektive Entfremdungsproblematik bewältigen. Dies stellt einen möglichen Grund für die Thematisierungsabwehr dar. Selbst die Erweiterung des externen Kontextes durch Berücksichtigung der Interaktion zwischen Texten (kontextuelle Analyse) reicht nicht aus, um den sekundären Gewinn herauszuarbeiten, den die Eltern aus dieser Thematisierungsabwehr für ihre Situationsbewältigung ziehen. Einen Schritt weiter führt die Fokussierung auf die Gründe der Thematisierungsabwehr, die im Zusammenhang mit der aktuellen Situationsbewältigung der Eltern zu betrachtet sind. Die damit aufgeworfene Frage nach dem sekundären Gewinn aus der Thematisierungsabwehr erfordert eine umfassende Kontexterweiterung in Richtung auf die Untersuchung der aktuellen Lebenspraxis der Subjekte. Es ist zu untersuchen, inwieweit sich die im Zusammenhang mit dem latenten Gehalt der Kommunikation herausgearbeiteten Regeln der subjektiven Wirklichkeitskonstruktion auch in anderen Bereichen der aktuellen Lebenspraxis der Subjekte als Bestandteile ihrer Realitätsbewältigung wiederfinden. Als Ergebnis der Analyse kann folgende Hypothese6 formuliert werden: Die objektive Entfremdungsproblematik der Eltern besteht im Widerspruch zwischen elterlichem Streben nach überdurchschnittlichem materiellen Besitz und Validierung des Migrationsprojekts durch das, was den Kinder ermöglicht wurde, einerseits (subjektive Logik des Handelns) – und der immer geringer werdenden Teilhabe an den Lebensumständen ihrer Kinder (Fehlen anregender innerfamiliärer Interaktionen wegen Zeitmangels, Unzufriedenheit etc.) andererseits (objektive Logik des Handelns). Diese Widersprüche ihrer Lebenssituation werden von Eltern ausgeblendet: Dies dient ihnen offensichtlich zur Aufrechterhaltung der Vorstellung einer absoluten individuellen Kontrolle über ihre eigenen Lebensbedingungen im Migrationskontext sowie der mit dieser Vorstellung einhergehenden Zufriedenheit. Darin dürfte auch der sekundäre Gewinn zu sehen sein, den die Migranten aus der Thematisierungs-Abwehr beziehen. Das Fallbeispiel zeigt, dass innerfamiliäre Belastungen und Konflikte eng mit dem Migrantendasein der Familienmitglieder zusammenhängen. Die Tatsache, dass Migranteneltern ihre gesellschaftlich bedingten Widersprüche in ihrer 6

Im Rahmen subjektwissenschaftlicher Erklärungen sind Handlungsgründe wissenschaftlich zugänglich, d.h. Hypothesen über Handlungsprämissen können an der Empirie falsifiziert, jedoch nie endgültig verifiziert werden (vgl. Kempf 1998)


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jeweiligen Lebenssituation durch Bewältigungsformen zu lösen versuchen, die von ihrem Standpunkt her gut begründete Antworten darstellen, in Wirklichkeit jedoch häufig zu einer (permanenten) Reproduktion ihrer Problemlage führen, stellt die Nebenfolge ihrer subjektiven Strategien dar. Die migrationsspezifische Dimension adoleszenter Entwicklungskonflikte besteht darin, dass genau diese Nebenfolgen des elterlichen Verhaltens für die Adoleszenten in der Familie zu Bedingungen/Prämissen werden, unter denen sie ihre Handlungsfähigkeit zu entfalten haben. Die Tatsache, dass beide Seiten aufgrund der Perspektivendivergenz die den Handlungen des Gegenübers zugrundeliegenden Intentionen nicht kennen, führt dazu, dass sie ihre eigenen Interessen gefährdet sehen und versuchen, diese vermeintliche Gefahr abzuwehren. Andreas kann die mit der Migrationssituation verbundene objektive Entfremdungsproblematik der Eltern und deren subjektive Mechanismen zu ihrer Bewältigung (Kulturalisierung innerfamiliärer Konflikte; Heimkehr als Problemregulierung) nicht nachvollziehen. Und umgekehrt: Während Andreas durch sein Verhalten versucht, Freiräume zu gewinnen und Selbständigkeit zu erlangen, erleben die Eltern die Autonomiebestrebungen ihres Sohnes insofern als Gefahr, als dadurch jene Maßstäbe in Frage gestellt werden, an denen sie ihr Migrationsprojekt validieren.

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Spontane Bildungsprozesse im Kontext von Adoleszenz und Migration Arnd-Michael Nohl

I. Aus spontanem Handeln kann Bildung werden. In der Spontaneität des Handelns bricht das Neue in das Leben ein, schafft sich seinen Raum, wird von anderen respektiert und von den Betroffenen reflektiert. So kommt ein Bildungsprozess in Gang, der nachhaltige und tiefgreifende Veränderungen der Lebensorientierungen von Menschen zeitigt. Diese transformativen Bildungsprozesse lassen sich unterscheiden von Lernprozessen, bei denen Wissen und Können innerhalb gegebener Lebensorientierungen erworben werden.1 Spontane Bildungsprozesse finden sich bei den unterschiedlichsten Menschen: Älteren und Jüngeren, Männern und Frauen, Akademiker(inne)n und Arbeiter(inne)n, Migranten und Einheimischen (vgl. Nohl 2006a). Möchte man spontane Bildungsprozesse im Kontext von Adoleszenz und Migration untersuchen, so rücken die Migrantenjugendlichen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Es wäre allerdings problematisch, würde man die spontanen Bildungsverläufe dieser Personengruppe für sich, d. h. isoliert von anderen Untersuchungspersonen, betrachten und von den so erzielten empirischen Ergebnissen aus unmittelbar auf Adoleszenz- und Migrationsspezifisches schließen. Denn dann wäre man vor einem essentialistischen Fehlschluss, der von den Migrantenjugendlichen unmittelbar zum Adoleszenz- und Migrationskontext führt, nicht gefeit. Nur weil etwas bei Migrantenjugendlichen empirisch rekonstruiert wurde, ist es mitnichten sogleich als adoleszenz- oder migrationsspezifisch zu bezeichnen. Empirische Einblicke in den Kontext von Adoleszenz und Migration ermöglicht vielmehr die komparative Analyse mit Untersuchungspersonen, die sich hinsichtlich des Lebensalters bzw. der Migration von den Migrantenjugendlichen unterscheiden: Im Vergleich mit anderen Lebensaltern wird das Adoleszenzspezifische empirisch deutlich, im Vergleich mit Einheimischen der Migrationskontext. 1

Zu transformativen Bildungsprozessen vgl. zuerst: Marotzki 1990. Siehe auch Koller 1999.


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Mit dieser komparativen Vorgehensweise stütze ich mich auf die dokumentarische Methode, die Ralf Bohnsack auf der Basis der Arbeiten des Wissenssoziologen Karl Mannheim entwickelt hat (vgl. Bohnsack 2003 u. Bohnsack/NetwigGesemann/Nohl 2001). In der dokumentarischen Methode werden mehrere Einzelfälle von Beginn der Auswertung an miteinander verglichen und auf diese Weise Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen herausgearbeitet. Zum Beispiel rekonstruiert man, wie eine mehreren Fällen gemeinsame Problemstellung – etwa die Adoleszenzkrise – bewältigt wird. Innerhalb der Gemeinsamkeit der Problemstellung können sich dann zwischen den Fällen wiederum Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen. Diese sind dann der Ausgangspunkt einer Typenbildung, in der Typisches, d. h. Spezifisches etwa für die Adoleszenz oder für die Migration, empirisch aufgezeigt wird. Da solche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich nie auf eine Dimension beschränken – z.B. nie alleine in der adoleszenzspezifischen Dimension liegen, sondern weitere Dimensionen umfassen, wie etwa die Migration – lassen sich in mehreren Dimensionen Typen bilden. In der empirischen Untersuchung, auf die sich dieser Beitrag stützt (vgl. Nohl 2006a), wurden narrative, biographisch angelegte Interviews (vgl. Schütze 1983) mit Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts, Schulabschlusses und Migrationshintergrundes geführt und mit der dokumentarischen Methode vergleichend und typisierend ausgewertet (vgl. dazu Nohl 2006b). Im Zentrum der Typenbildung stand zunächst der phasenhafte Ablauf des Bildungsprozesses. Diese Phasen des Bildungsprozesses werden von lebensalterstypischen Aspekten überlagert, wie sich im Vergleich der Personen unterschiedlichen Alters (Jugend, Lebensmitte, höheres Alter) zeigen lässt. Treten hier gerade die adoleszenzspezifischen Aspekte der spontanen Bildungsprozesse zu Tage, so geht es im Vergleich zwischen Einheimischen und Migranten dann darum, die Migrationslagerung, d. h. den für Migranten spezifischen Raum möglicher Erfahrungen (vgl. Nohl 2001: 31ff.), herauszuarbeiten. Im Folgenden gebe ich zunächst einen Überblick über die Vorgeschichte und Phasen des spontanen Bildungsprozesses, wie ich sie bei allen untersuchten Personen herausgearbeitet habe (II.). Dies bildet den Hintergrund, vor dem ich – entlang der Bildungsphasen – die Lebensgeschichte eines Migrantenjugendlichen rekonstruieren und sie auf ihre adoleszenz- und migrationstypischen Erfahrungen hin untersuchen kann (III.-VIII.). Der Kontext von Adoleszenz und Migration in diesem spontanen Bildungsprozess wird abschließend zusammengefasst (IX.).2 2

Für ihre wertvolle Hilfe bei der Kürzung dieses Aufsatzes danke ich Meike Prediger.


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II. Bevor ich die Phasen der von mir rekonstruierten spontanen Bildungsprozesse darstellen kann, möchte ich die typischen Erfahrungskonstellationen herausarbeiten, die den Bildungsgeschichten vorausgehen. Bei den Erwachsenen in der Lebensmitte finden sich problematische Erfahrungen der Ausgrenzung aus oder Abgrenzung von institutionalisierten Ablaufmustern der Berufsbiographie (vgl. zum Begriff: Schütze 1994), die schon in der Jugend begannen. Keine der drei untersuchten Personen konnte sich mit der Erstausbildung identifizieren, so dass sie diesen beruflichen Werdegang jeweils sehr schnell abbrachen. Bei den Jugendlichen des Samples liegen Erfahrungen milieuspezifischer Desintegration vor, die zumeist weit zurückliegen und schon in der Kindheit ihren Anfang nahmen. Hierzu gehören politische Diskriminierung, familiale Probleme, der Generationenkonflikt, aber auch Erfahrungen der Migrationslagerung. Während in der Jugend und in der Lebensmitte diese krisenhaften Erfahrungen lange vor dem Bildungsprozess angesiedelt sind, ist nur bei den Seniorinnen eine akute Lebenskrise zu Beginn des Bildungsprozesses zu verzeichnen: Sie fallen allesamt nach dem Ende der Berufs- und Familienzeit in ein „Loch“, wie eine von ihnen es nennt. Mit den milieuspezifischen Desintegrationserfahrungen, den Aus- und Abgrenzungserfahrungen aus den institutionalisierten Ablaufmustern wie auch den akuten Lebenskrisen lässt sich das empirisch aufzeigen, was von den Protagonisten einer Theorie transformativer Bildungsprozesse häufig als Auflösung tradierter Wissensbestände und angestammter Milieus bezeichnet und als Ausgangspunkt von Bildungsprozessen gesehen wird (vgl. Peukert 2000; Marotzki 1990), ohne aber – gerade auf dem von ihnen eingenommenen Niveau der Generalisierung – empirisch herausgearbeitet werden zu können. Bei den Jugendlichen in besonderem Maße, aber auch bei den Erwachsenen in der Lebensmitte und im höheren Alter, dokumentiert sich empirisch eine derartige Auflösung tradierter Milieus wie auch ein Herausfallen aus institutionalisierten Ablaufmustern der Biographie. Diese Auflösung von tradierten Wissensbeständen und Milieus stellt allerdings nur den Hintergrund, gewissermaßen eine der Bedingungen der Möglichkeit, nicht aber den Beginn von Bildungsprozessen dar. Der Bildungsprozess beginnt keineswegs mit einer Krisenbearbeitung, sondern mit spontanem Handeln. Sieben Phasen des Bildungsprozesses lassen sich aus den lebensgeschichtlichen Stegreiferzählungen herausarbeiten. Zunächst berichten die von mir befragten Personen davon, wie sie eines Tages etwas gesehen, entdeckt oder ge-


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macht haben, ohne dass sie dies geplant oder gar damit eine biographische Orientierung verbunden hätten. Dies können die ersten Breakdance-Bewegungen oder die erste Begegnung mit Rockmusik sein; es kann sich aber auch um die erste Beobachtung der handwerklichen Technik des Filzens handeln oder – wie dies charakteristisch für die von mir untersuchten Seniorinnen ist – um den (alten) Computer, den man unverhofft von den Kindern geschenkt bekommt. Dies ist die Phase des ersten spontanen Handelns. Ein 35jähriger Mann beispielsweise, der später eine Samba-Percussion-Schule gründen sollte, ist zehn Jahre zuvor während eines Stadtbummels zufällig an einer Samba-Gruppe vorbeigelaufen:3 „Naja ich würd sagen da ist das jetzt gar nich so spektakulär, ich hab die nur einfach gesehn die Sambagruppe und das war also in dem Moment wo ich die gesehn und gehört hab eh und auch gesehn hab wie die sich bewegen, (da) war mir ja selber nich klar dass ich acht Jahre später selber ne davon leben werde, und irgendwie zehn Jahre später da selber jetz ne Existenz gründe ne, mit relativ viel Geld auch, so ich hab die halt gesehn und wusste das will ich auch machen. Das iss irgendwie total toll, em das is da passiert was ne, das is richtich mächtig das is laut, das ist irgendwie rhythmisch ne, und war halt kam halt in dem Moment wie vom andern Stern.“

An einer anderen Stelle im Interview spricht er davon, dass der Samba „einfach ganz gut reingeknallt“ und ihn „sofort ergriffen“ habe. In diesen Zitaten wird die Melange von Kontingenz und Sensibilität, wie sie für spontanes Handeln charakteristisch ist, sehr deutlich: Es geht nicht nur um die kontingente Bedingung des Handelns – dass dort, wo der junge Mann vorbeiläuft, gerade eine Sambagruppe spielt. Zur Spontaneität gehört notwendiger Weise auch die spezifische Sensibilität des jungen Mannes, der durch diese Musik „sofort ergriffen“ wird. Das spontane Handeln ist unmittelbar; es liegt eine derart enge Verbindung von Subjekt und Objekt vor, dass zwischen ihnen auf Seiten des Akteurs nicht differenziert wird. Wie sich in den empirischen Analysen zeigen wird, lässt sich die Unmittelbarkeit der Spontaneität empirisch unterschiedlich ausbuchstabieren: Vom bloßen Fehlen (biographischer) Reflexion über das Verschwimmen der Grenze zwischen Subjekt und Objekt der Handlung bis hin zur Affizierung und Steigerung im spontanen Handeln. Zugleich wird mit dem spontanen Handeln etwas Neues eingeführt. Spontanes Handeln ist mithin innovativ und unmittelbar.

3

Dieses Transkript ist wie alle nachfolgenden stark vereinfacht; in seiner Originalfassung und seinem Kontext findet es sich in Nohl 2006a, Kap. 2.


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In den empirisch untersuchten Bildungsprozessen schließt sich nun eine sehr kurze Phase der unspezifischen Reflexion an. In dieser Phase wird den Jugendlichen, Erwachsenen und Seniorinnen nur klar, dass es sich hier um eine für sie interessante Handlungspraxis dreht, der sie jedoch noch keine biographische Bedeutung zumessen. Es kommt in dieser Phase darauf an, ob das spontan eingeführte neue Handeln als Differenz zum Alten erfahren wird. Aus den lebensgeschichtlichen Erzählungen lässt sich nun die Phase des Erkundens und Lernens rekonstruieren. Ich betone hierbei das Explorative, denn meinen Untersuchungspersonen ist in diesem Moment ihres Lebensablaufs noch nicht klar, was sie überhaupt lernen, warum sie es lernen und wie sie es lernen sollen – denn es ist ihnen ja fremd. Sie tasten sich voran, nutzen soziale Vorbilder, lernen autodidaktisch und aus Fehlern. Im Anschluss an die Erkundungsphase schildern die Erzähler/innen zumeist erste Präsentationen ihrer neu gewonnenen Fähigkeiten gegenüber anderen Menschen. Es kann sich hier um die eigenen Kinder handeln, aber auch um ein (halb-) öffentliches Publikum oder um erste Auftraggeber für Grafikdesignarbeiten. Diese Phase der ersten gesellschaftlichen Bewährung ist für die Bildungsprozesse von großer Bedeutung, denn anhand der Reaktionen ihrer Gegenüber gewinnt die eigene neue Tätigkeit an Relevanz. Im Lichte der Reaktion der anderen wird aus dem eher beiläufigen spontanen Handeln ein signifikantes. An die gesellschaftliche Bewährung schließt sich eine Phase des zweiten spontanen Handelns an. In dieser Bildungsphase bewegen sich die Personen bereits im zuvor gefundenen Medium des Handelns. Das heißt, wer zuerst Breakdance machte, führt dies nun fort; wer Puppen aus Filz baute, beginnt nun spontan, diese zu verkaufen; wer den Computer geschenkt bekam, entdeckt in der Phase des zweiten spontanen Handelns das Internet oder die dort ebenfalls mit dem neuen Medium experimentierenden Mitseniorinnen. Wie schon in der Phase der ersten Spontaneität zeichnet sich auch hier das Handeln dadurch aus, dass es einer Planung und eines biographischen Horizonts entbehrt. Vielmehr lassen sich – auch in der narrativen Darstellung – häufig gar nicht der Träger und die Bedingungen des Handelns unterscheiden. Die Musik ergreift einen, man „ist“ beim Breakdance „in einer anderen Dimension“, man ist von der Betrachtung des Internet „fasziniert“. Hier wird zugleich deutlich, dass die spontane Handlungspraxis die Personen affiziert und begeistert, ihnen einen emotional-körperlichen Glückszustand ermöglicht. Die neue Handlungspraxis wird nun zu einem zentralen Tätigkeitsbereich in ihrem Leben, innerhalb dessen sich neue Lebensorientierungen entfalten. Sich in die spontane Handlungspraxis hineinzusteigern, hängt mit der Erfahrung existentieller Bedrängnis oder Umbrüche zusammen. In unterschiedli-


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chem Ausmaß durchleben die untersuchten Personen in dieser Phase persönliche Lebenskrisen, schwierige Situationen und Existenzängste. Je stärker die Phase des zweiten spontanen Handelns mit einer Krise verbunden ist, desto intensiver, fokussierter und vor allem kollektiver wird die Spontaneität. In dieser Hinsicht zeigen sich dann auch Besonderheiten der Adoleszenz (s. u.). Im Anschluss an die Phase des zweiten spontanen Handelns gelangen die untersuchten Personen ausnahmslos in eine Phase der zweiten gesellschaftlichen Bewährung. Die mittlerweile zentral gewordenen, spontan gefundenen Handlungspraktiken sind in dieser Bildungsphase der Reaktion durch die Gesellschaftsmitglieder ausgesetzt. Diese umfassen dann nicht mehr nur enge Verwandte und Bekannte, sondern auch solche Gesellschaftsmitglieder, die den Sich-Bildenden fremd sind (z.B. das Breakdance-Publikum, die Kunden der Samba-Schule oder die anderen Internetuser). Wo sich die spontan gefundene Handlungspraxis nun auch gegenüber den generalisierten anderen (G. H. Mead) positiv bewähren kann, kommt es zu einer Konsolidierung des Bildungsprozesses. Dieser spontane Bildungsprozess mündet in der biographischen Selbstreflexion. Die Jugendlichen, Erwachsenen und Seniorinnen konstatieren nun, dass sie sich sehr verändert hätten, dass sich ihr Leben gewandelt habe, dass sie biographische „Brüche“ durchlaufen hätten: So ist aus der arbeitslosen Verkäuferin eine Grafikdesignerin geworden, die in ihrer selbständigen Arbeit Beruf und Familie, Arbeits- und Lebensort integrieren kann. Oder die zuvor angesichts ihrer Pensionierung verzweifelte Managerin hat im Internet für sich eine neue Welt entdeckt, in der sie aufgeht. Und der Jugendliche, der im Zentrum meiner weiteren Ausführungen stehen wird, hat sich vom Kleinkriminellen zum anerkannten Breakdancer mit neuen Lebensperspektiven gewandelt.

III. Vor dem Hintergrund dieser Phasentypik möchte ich mich nun diesem jungen Breakdancer widmen, dessen Eltern nach Deutschland eingewandert sind und dem ich den Namen Deniz gegeben habe. Für die komparative Analyse wurde zudem ein zweiter Fall eines weiteren Migrantenjugendlichen („Bahri“) genutzt, auf den in diesem Artikel aufgrund von Platzmangel jedoch nicht eingegangen werden kann (siehe aber Nohl 2006a, Kap. 4). Da zur Rekonstruktion der Phasentypik höchst unterschiedliche Fälle – vor allem Einheimische und Menschen unterschiedlichen Lebensalters – herangezogen wurden, lassen sich nun vor dem Vergleichshorizont dieser allen Fällen gemeinsamen Phasentypik auch die ado-


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leszenzspezifischen Besonderheiten in den Bildungsprozessen sowie die Migrationslagerung analysieren. Deniz’ Eltern sind aus der Türkei nach Deutschland eingewandert. Deniz wurde ca. 1978 geboren. Nachdem sein Vater des Landes verwiesen worden war, lebte er mit seiner Mutter und seinen Brüdern in einem Innenstadtbezirk Berlins weiter. Dort besuchte er den Kindergarten sowie die Grund- und Gesamtschule, wo er dann auch seinen Realschulabschluss machen sollte. Betrachtet man die Vorgeschichte der spontanen Bildungsprozesse, die Deniz durchlaufen wird, so werden hier Eigenheiten deutlich, die sich – gerade im Vergleich mit seinen einheimischen Altersgenossen – als Besonderheiten der Migrationslagerung erweisen: Deniz erfährt die Gesellschaft und seine Familie als zwei einander entgegen gesetzte Sphären, zwischen denen es kaum Kommunikation gibt. Er gibt an, schon im Kindergarten, erst recht aber in der Schule auf sich alleine gestellt gewesen zu sein. Umgekehrt ist für ihn der Besuch des Lehrers im Elternhaus eine große Ausnahme. Elternhaus und Schule bzw. innere (familiale) und äußere (gesellschaftliche) Sphäre sind in seiner Erfahrung weitgehend voneinander getrennt. In der Gruppendiskussion mit Deniz und seinen Freunden bringt einer der Jugendlichen diese Sphärentrennung auf den Punkt: „man ist zu Hause ganz anders, als man draußen ist“, heißt es dort. Im Anschluss hieran ergänzt Deniz: „ja zu Hause, die haben von gar nichts ne Ahnung“, und schreibt dies der „alten Denkweise“ ihrer Eltern zu. Es macht Deniz’ zentrale Lebensproblematik aus, dass er selbst die innere und die äußere Sphäre miteinander verknüpfen muss; eine Erfahrung, die er mit seinen Altersgenossen mit Migrationshintergrund teilt (vgl. hierzu Bohnsack/Nohl 1998; Nohl 2001). Schon vor Beginn des Bildungsprozesses zeichnen sich in der biographischen Erzählung also Erfahrungen ab, die spezifisch für die Migrationslagerung von Jugendlichen sind. Denn sie impliziert, dass Deniz sich nicht an den Lebensweisen seiner Eltern orientieren kann, wenn er eine Position innerhalb der Gesellschaft finden möchte. Die Tradierung der elterlichen Lebensweise ist unter diesen Bedingungen der Migration nicht möglich; Deniz muss selbst nach angemessenen Lebensorientierungen suchen – dies macht seine migrationsspezifische Desintegrationserfahrung aus. Mit dieser migrationsspezifischen Erfahrung ist also eine Bedingung der Möglichkeit jenes Suchprozesses geschaffen, der so charakteristisch für den Bildungsprozess der Jugendlichen ist. Bei den von mir untersuchten einheimischen Jugendlichen finden sich jedoch ebenfalls Desintegrationserfahrungen. Auch bei ihnen lösen sich tradierte Milieus auf, auch sie können nicht mehr auf die Lebensentwürfe und Gewohnheiten ihrer Eltern zurückgreifen. In Bezug auf den spontanen Bildungsprozess


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sind diese Desintegrationserfahrungen der Einheimischen der Migrationslagerung von Deniz funktional äquivalent. Und wenn man noch weiter ausgreift und die Betrachtung auf die Erwachsenen in der Lebensmitte und die Seniorinnen ausweitet, zeigt sich: Die Migrationslagerung ist eine Variante, mit der sich Menschen aus den Selbstverständlichkeiten des Tradierten und Gegebenen herauslösen und somit eine gewisse ‚Lockerung’ erfahren. Die Migrationslagerung ist insofern eine von mehreren möglichen Bedingungen der Möglichkeit von spontanen Bildungsprozessen. In spontanen Bildungsverläufen lassen sich mithin migrationsspezifische Elemente entdecken, ohne dass dies hieße, diese Bildungsprozesse seien spezifisch für Migranten.

IV. Adoleszenzspezifische Besonderheiten finden sich zu Beginn des Bildungsprozesses, in der Phase ersten spontanen Handelns. Es ist der Beginn der Adoleszenz, in den die ersten von den Jugendlichen erzählten spontanen Handlungspraktiken fallen. In ihren Schilderungen dokumentiert sich, dass diese Handlungen zunächst eher beiläufig und spontan begonnen haben, vor allem aber ohne mit einer biographischen Orientierung verknüpft zu sein. Für Deniz ist der Breakdance das Medium, innerhalb dessen sich sein spontanes Handeln entfaltet. Einer der Orte, an dem er unverhofft mit dem Breakdance in Berührung kommt, ist die „Kirchendisco“, eine von der Kirchengemeinde organisierte Tanzveranstaltung. Er beobachtet hier andere Kinder bzw. Jugendliche und macht dann einfach mit. Diese ersten spontanen Handlungen werden von Deniz – wie von anderen Jugendlichen – nur sehr kurz und ohne biographische Sinnstiftungen reflektiert (Phase der unspezifischen Reflexion). Da dies etwa der Zeitpunkt ist, zu dem ich Deniz und seine Freunde erstmals kennen lernte, konnte ich diese ersten Übungen beobachten. Mit dem Breakdance-Outfit (Kapuzenjacke, Wollmütze) bekleidet, wiederholten die Jugendlichen immer wieder dieselben Übungen und arbeiteten sich allmählich von den einfachen Breakdance-Schritten zu ersten Powermoves – Kopfkreiseln (Headspins) etc. – vor. Dabei leiteten sie sich untereinander an oder suchten die Unterstützung älterer, erfahrener Jugendlicher. Auf diese Weise lernt Deniz den Breakdance.


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V. Im Anschluss an die Phasen des ersten spontanen Handelns und dessen unspezifischer Reflexion finden wir eine Phase des Erkundens und Lernens. Dann findet Deniz die Gelegenheit, sich und seine Breakdance-Künste auf einer „Tanzveranstaltung“ auf dem „Kudamm“ in Berlin in einer jugendlichen Öffentlichkeit zu zeigen. Er will an einer „ganz eh große[n] Tanzveranstaltung“ teilnehmen; dies gelingt ihm jedoch nur unter Schwierigkeiten, da er von den „Älteren“ und den „Veranstaltern“ zurückgewiesen wird. Auch wenn der Anlass seiner Motivation die ausgelobten Preise gewesen sein mögen, ist sein Erfolg nicht nur das Resultat großer Anstrengung, sondern auch der Tatsache, dass Deniz „richtig abgegangen“ ist und sein Breakdance eine eigene, nicht mehr reflexiv gesteuerte Dynamik und Impulsivität entfaltet hat. Deniz’ Handlungspraxis bewährt sich hier vor den Zuschauerreihen, die „ganz voll“ waren, und vor allem deshalb, weil diese Zuschauer gesehen haben, „so was für ein Kleiner schon drauf hat“. Diese gesellschaftliche Bewährung vollzieht sich trotz andersgearteter Erwartungen der Gesellschaftsmitglieder, denn: „keiner konnte es glauben“. Nach dieser Phase der ersten gesellschaftlichen Bewährung wird für Deniz das Tanzen zu einer wichtigen Handlungspraxis. Das „Feeling“, das sein Sieg hervorruft, lässt den Preis an Relevanz verlieren, denn nun wird aus dem Tanzen, das zuvor keine weitere Bedeutung für Deniz hatte, eine relevante Tätigkeit, der er regelmäßig nachgeht. Deniz trainiert fortan trotz „Verletzung“ und anderen Hindernissen weiter, ohne dass damit eine explizite biographische Relevanz verbunden wäre. In der Phase der ersten gesellschaftlichen Bewährung kann – wie gerade auch bei dem zweiten untersuchten, hier aber nicht dargestellten Migrantenjugendlichen („Bahri“) deutlich wird – keineswegs von einer einfachen Verstärkung oder Bestätigung der spontanen Handlungspraktiken ausgegangen werden. Der Zusammenhang zwischen spontaner Handlung und gesellschaftlicher Reaktion ist komplizierter und bezieht sich zuvorderst auf die Bedeutungskonstitution des Handelns überhaupt. Im Lichte der (positiven oder negativen) Reaktion von Gesellschaftsmitgliedern wird dem Jugendlichen deutlich, dass sein neues Handeln überhaupt relevant ist. Die Frage, ob das Handeln als gut oder schlecht angesehen wird, muss damit nicht unbedingt verknüpft sein. Wir haben es hier offenbar mit einer adoleszenzspezifischen Besonderheit zu tun, da wir bei den Erwachsenen in der Lebensmitte und den Seniorinnen eine ganz andere Ausprägung dieser Bildungsphase finden. Denn bei diesen ist es sehr wohl von Bedeutung, dass die Reaktionen der Gesellschaft auf die spon-


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tane Handlungspraxis positiv ausfallen. Demgegenüber kann das jugendliche Handeln durch negative gesellschaftliche Reaktionen sogar noch an Momentum gewinnen. Adoleszenzspezifisch ist allerdings auch, dass sich bei Deniz wie bei seinen einheimischen Altersgenossen sich die spontanen Handlungspraktiken zunächst noch vor allem im Sinnhorizont einer eigenen, jugendspezifischen Rationalität (etwa der Breakdance-„Tanzveranstaltung“) bewegen. Dies ist sicherlich einer der Gründe dafür, dass ihnen noch keine Langfristigkeit biographischer Orientierungen zukommt. Denn um eine Signifikanz für biographische Orientierungen zu erlangen, müssten die spontanen Handlungspraktiken sich nicht nur innerhalb der Jugendszene, sondern auch in weiteren gesellschaftlichen Zusammenhängen über die Jugend(phase) hinaus bewähren. Solange aber die Jugendlichen ihre spontanen Handlungspraktiken nur im Rahmen einer jugendspezifischen Öffentlichkeit positiv zu bewähren vermögen, ist noch nicht sicher, ob die spontanen Handlungspraktiken mit dem Ende der Jugendphase (und deren eigener Rationalität) nicht ebenfalls aufhören. Hierauf wird in der Jugendforschung mit dem Konzept der ‚Episodalität jugendlicher Handlungsweisen’ (vgl. Thrasher 1963) Bezug genommen. Erst die Bewährung in der weiteren, gesellschaftlichen Öffentlichkeit kann eine biographische, nämlich letztlich auf die Eigenpositionierung innerhalb der Gesellschaft bezogene, Orientierung gewährleisten.

VI. In der Phase des zweiten spontanen Handelns beginnt die neue Handlungspraxis eine tiefgreifendere, biographische Bedeutung zu gewinnen. Denn hier ist sie nicht mehr nur eine möglicherweise episodale, beiläufige Praxis, sondern sie entfaltet sich im Kontext existentieller Bedrängnis. Im Gegensatz zu den anderen Altersgruppen hängt bei den Jugendlichen diese existentielle Bedrängnis zuvorderst mit der Adoleszenzkrise zusammen. Deniz lernt eine Gruppe von Jugendlichen kennen, zu denen auch Tänzer gehören. Mit dieser Peergroup ‚katapultiert’ sich Deniz, nunmehr 17 Jahre alt, im ästhetisch-artistischen Tanzen in eine „andere Dimension“, wie er in der Gruppendiskussion mit seinen Freunden schildert. Deniz: Abitur, nein also ich bin z-Zeit arbeitslos, weil ich keinen Job gefunden habe, also ich war auch zu faul Bewerbungen zu schreiben, und beim Tanzen vergisst man halt alles so. Man konzentriert sich auf das Tanzen, ist einer in einer anderen Dimension irgendwie, und durch dieses eh verdient man auch sein Geld ab und zu.


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Die Spontaneität des Tanzens dokumentiert sich in dieser Darstellung nicht nur darin, dass dessen Handlungsfolgen nicht antizipiert werden; auch wird in dieser Handlungspraxis die Unterscheidung zwischen Handlungsträger und -bedingungen schwierig: Deniz bringt sich nicht mit dem Mittel des Tanzens ‚in eine andere Dimension’, sondern „ist“ bereits in ihr. Dabei ist Deniz stark an dieses spontane Handeln affiziert, das darüber hinaus gegenüber fremden Handlungserwartungen abgegrenzt wird. Denn mit dem Tanzen „vergisst“, d.h. suspendiert Deniz die in einer Berufsbiographie implizierten gesellschaftlichen Normalitätserwartungen, von deren institutionalisierten Ablaufmustern er sich ohnehin abgrenzt. Diese Phase der Spontaneität fällt zusammen mit existentieller Bedrängnis, nämlich einer Krisenphase der Adoleszenz, in der sich Deniz und seine Freunde im Alter von durchschnittlich 17 Jahren befinden. Der Alltag der Arbeit und Arbeitslosigkeit wird für sie in diesem Lebensabschnitt zum Problem, er ist „wirklich scheiße“, wie einer von Deniz’ Freunden bekundet (ausführlich dazu: Nohl 2001: 119ff.). Aus diesem Problem können sich die Jugendlichen im Tanzen quasi ‚herauskatapultieren’. Das Tanzen dient damit einerseits der episodalen Negation des Alltags- und Arbeitslebens und seiner Sinnhaftigkeit, insofern es nur eine Episode im Tagesablauf darstellt, d. h. auf den Abend und das Wochenende beschränkt ist. Andererseits gewinnt das Tanzen eine eigene‚ ‚andere’ biographische Qualität, auf die auch anhand des Verdienstes hingewiesen wird. Gleichwohl ist die biographische Bedeutung des Tanzens für Deniz und seine Freunde zum damaligen Zeitpunkt noch nicht festgelegt. Sie probieren in dieser Phase des zweiten spontanen Handelns noch unterschiedliche Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung aus. Neben einem Beruf als „Tänzer“ stehen hier weitgehend unvermittelt die Betätigung als „Dieb“ oder „Dealer“. Die Phase des zweiten spontanen Handelns ist bei den Jugendlichen kollektiv strukturiert. Es kommt im Zuge dieser Phase zur Bildung einer Gruppe von Gleichaltrigen. Deren spontane, d. h. nicht-geplanten, nicht-intentional herbeigeführten Handlungen sind, wie geschildert, bei diesen Jugendlichen weitgehend kollektiv strukturiert und lassen sich somit auch als „Aktionismen“ bezeichnen (Bohnsack et al. 1995). In der Phase des zweiten spontanen Handelns bewegt sich der Aktionismus innerhalb der Bahnen eines bereits zuvor eingespurten Mediums, sei dies der Breakdance oder etwas anderes. Dabei kommt in allen Fällen, die mit Bildungsprozessen verbunden sind, dem spontanen Handeln eine neue Bedeutung zu: War zuvor noch das spontane Handeln eher beiläufig und ohne einen biographischen Sinn, so wird es hier zur zentralen, biographisch relevanten Tätigkeit,


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ohne dass über deren biographischen Sinn endgültig entschieden wäre. Diese hohe Relevanz des Aktionismus ist mit zwei Funktionen verknüpft: Erstens rückt der Aktionismus deshalb in das Zentrum der Aufmerksamkeit, weil er den Jugendlichen eine Alternative zu den (berufs-) biographischen Erwartungen der Gesellschaft (und teilweise auch der Eltern) bietet, die innerhalb der Adoleszenzkrise als besonders prolematisch empfunden werden. Der Aktionismus wird zum Medium der Ablehnung gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen (insbesondere solcher in Bezug auf die Schule und den Beruf), ohne dass dies den Jugendlichen selbst unbedingt bewusst würde. Hier ist zum einen die rein zeitliche Okkupation durch den Aktionismus zu nennen, die die Schule und den Beruf in den Hintergrund drängen. Zum anderen – und dies ist ungleich wichtiger keimen im Aktionismus aber auch Elemente einer neuen biographischen Orientierung auf, die jenseits institutionalisierter Bahnen einer Berufsbiographie liegen. Zweitens konstituiert sich im Aktionismus nunmehr aus dem zuvor lose kollektiv strukturierten spontanen Handeln die feste Struktur einer Gruppe. Die Konstitution einer Gruppe – und im weiteren Sinne eines Milieus – setzt an Gemeinsamkeiten der Erfahrung (auch jenen der Migrationslagerung und der Adoleszenz) an. Diese Kollektivität des spontanen Handelns unterscheidet die Jugendlichen in dieser Phase deutlich von den 35jährigen Erwachsenen und den Seniorinnen. Diese beiden Funktionen des Aktionismus müssen auch im Lichte der Migrationslagerung bzw. der migrationsspezifischen Erfahrung der Sphärendifferenz gesehen werden, die die Adoleszenzkrise der Migrantenjugendlichen überlappt. Die Jugendlichen grenzen sich nicht nur von den gesellschaftlichen Normalitätserwartungen und der mit ihnen implizierten Sozialität (z. B. der institutionalisierten Ablaufmuster einer Berufsbiographie) ab, sondern zudem auch von den in ihrer Herkunftsfamilie und ethnischen community herrschenden Normalitätserwartungen und Formen der Sozialität. Zugleich erfahren die Jugendlichen, dass es zwischen ihren Familien und der Aufnahmegesellschaft kaum Kommunikation gibt. Es obliegt – gerade in der schwierigen Adoleszenzkrise – allein den Jugendlichen, zwischen der inneren Sphäre der Familie und der äußeren Sphäre der Gesellschaft zu vermitteln. Die Jugendlichen bewältigen dieses – in der Adoleszenz immer bedrängendere – Problem, indem sie strikt zwischen innerer und äußerer Sphäre trennen. Diese Sphärendifferenz und -trennung findet sich nicht nur in Deniz’ Peergroup, sondern kennzeichnet (in unterschiedlichen Ausprägungen) auch die anderen Angehörigen von Deniz’ Migrationsgeneration (vgl. Bohnsack/Nohl 1998 und Nohl 2001). Deniz und seine


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Freunde suchen jenseits der Grenze, die sie zur inneren und äußeren Sphäre ziehen, im Aktionismus nach eigenständigen Lebensorientierungen.

VII. Nun kommt es zu einer Phase der zweiten gesellschaftlichen Bewährung. Diese ist bei den Jugendlichen unmittelbar mit ihren Aktionismen verknüpft. Ähnlich wie schon in der Phase der ersten gesellschaftlichen Bewährung ist hier nicht per se davon auszugehen, dass die Aktionismen gesellschaftliche Anerkennung finden; vielmehr wird in den narrativen Interviews deutlich, dass die Jugendlichen ihre Aktionismen nun der Bewertung durch Gesellschaftsmitglieder ausgesetzt sehen und darum kämpfen müssen, von jenen Anerkennung zu erfahren. Dies gelingt nicht überall. In der Gruppendiskussion mit Deniz und seinen Freunden deutet sich an, dass die kriminalisierungsfähigen Aktionismen der Diebstähle und des Dealens, von denen die Jugendlichen immer wieder berichtet haben, sich in der Gesellschaft nicht bewähren. Deniz berichtet hier zum einen von den Konflikten mit den gesellschaftlichen Instanzen sozialer Kontrolle wie der Polizei („Akte“); zum anderen nimmt er wahr, dass diese Sanktionen die Möglichkeiten seiner weiteren Berufsbiographie einschränken werden. Sein Wunsch, „Tänzer“ zu werden, steht auch in diesem Zusammenhang des Scheiterns anderer Aktionismen in der Phase zweiter gesellschaftlicher Bewährung. Im Unterschied zum kriminalisierungsfähigen Handeln wird in der Gruppendiskussion mit dem Tanzteam, das von Deniz gegründet wurde, deutlich, dass die Jugendlichen für ihren ästhetisch-artistischen Aktionismus des Breakdance hohe öffentliche Anerkennung erhalten und ihn entsprechend professionalisieren. Deniz beschäftigt sich im folgenden Abschnitt zunächst mit dem Vorwurf, der Breakdance sei „kommerziell“ geworden: Deniz: Hier und das mit dem kommerziell Werden das äh entwickelt sich mit der Zeit. Wenn man an einer Sache kleben bleibt und hängen bleibt das kommt dann automatisch wenn man das Ding durchzieht, kommt automatisch auch Aufträge weil zum Beispiel wenn wir jetzt eh so zu Wettkämpfen gehn und da die Jungs burnen, und da den ersten machen Deutscher Meister werden Berliner Meister werden mit Europa-Meister werden, das spricht sich natürlich rum, und somit kriegen wir auch die Auftritte weil da sind ja auch viele Leute, die uns sozusagen in Anführungsstrichen begehren so. Ehrlich jetzt. Und so kommt man dann halt immer weiter.

Anlässlich der Kommerzialisierungsvorwürfe expliziert Deniz die Genese der Professionalisierung. Auch in dieser Schilderung dokumentiert sich, dass der


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Breakdance und seine Professionalisierung keineswegs aus einer (zweck-)rationalen Planung heraus entstehen, sondern „automatisch“ erfolgen. Es ist die hohe affektive Bindung an den Breakdance, die mit Hingabe („kleben“) und Obsession verknüpft ist, welche die Jugendlichen zum Erfolg führt. Deniz reflektiert hier auf den Übergang von der Phase des zweiten spontanen Handelns, in der bereits eine feste Bindung an den Aktionismus vorhanden ist (ohne aber eine klare biographische Perspektive zu zeitigen), hin zur Phase der zweiten gesellschaftlichen Bewährung. Letztere wird in ihren Details erläutert: An ihrem Anfang steht der Erfolg innerhalb der Breakdance-Szene, nämlich bei „Wettkämpfen“. Hieran schließt die Bekanntheit außerhalb der Szene an („spricht sich natürlich rum“), mit der sich auch „bezahlte Auftritte“ einstellen. Wie in der teilnehmenden Beobachtung herausgefunden werden konnte, wurden Deniz und seine Freunde auch zu Auftritten im Ausland eingeladen und landeten zudem auf den Titelseiten bildungsbürgerlicher Zeitungsbeilagen (vgl. Nohl 2001: 207ff.).

VIII. Am Ende des Bildungsprozesses von Deniz steht die biographische Selbstreflexion: Deniz: Für die Zukunft denk hab ich viele Sachen mir vorgenommen, als erstes überhaupt nich a- also abheben weil ich bin immer noch der gleiche Mensch und ich versuche meine Ziele erstmal zu erreichen so. Es könnte auch sein so dass dieser ganze Trubel auch bald vorbei is abber das juckt mich dann gar nich. Würde mich gar nicht intressiern; weil ich zieh sowieso durch was ich immer hatte, und wenn der ganze Breakdance-Jubel dann aus is, dann gelten wir als Kunst; dann können wir auch so irgendwelche Sachen erreichen.

Trotz des mittlerweile erreichten Erfolgs hat Deniz weiterhin „viele Sachen“ geplant. Sein biographischer Entwurf ist in seiner Allgemeinheit noch nicht vollständig enaktiert und obsolet; er hält an ihm fest und will nicht „abheben“. Letztendlich baut Deniz‘ Zukunftsplanung auf dem Strukturprinzip seiner Lebensgeschichte auf, dessen er sich in dem biographischen Interview immer wieder vergewissert hat: „ich zieh sowieso durch was ich immer hatte“. Seine biographischen Zukunftspläne konzentrieren sich darauf, „irgendwelche Sachen erreichen“ zu wollen. Die Zukunft ist also, trotz oder gerade wegen des durchlaufenen Bildungsprozesses, offen und kontingent. Deniz hat mit seinem Bildungsprozess nicht nur die Adoleszenzkrise überwunden, sondern zugleich die migrationsspezifischen Orientierungsprobleme


Spontane Bildungsprozesse im Kontext von Adoleszenz und Migration

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bewältigt: Er schafft sich – im Rahmen des neu entstandenen Milieus der Breakdancer – eine ganz eigenständige, sozusagen eine dritte Sphäre jenseits der Vorgaben und Zielvorstellungen innerhalb der Gesellschaft mit ihren Institutionen biographischer Ablaufmuster (äußere Sphäre) wie auch jenseits seiner Herkunftsfamilie (innere Sphäre). Diese dritte Sphäre ist der Keim neuer Milieus, deren Handlungspraxis wesentlich an der Lebensgeschichte von Deniz anknüpft.

IX. Abschließend möchte ich die Ergebnisse meiner empirischen Untersuchung zusammenfassen und nochmals auf die Frage eingehen, in welchem Zusammenhang Bildung, Adoleszenz und Migration stehen. Der Anlage meiner empirischen Untersuchung entsprechend lässt sich dieser Zusammenhang insbesondere im Rahmen der Phasentypik des Bildungsprozesses herausarbeiten. Wohlgemerkt beruht diese Phasentypik nicht lediglich auf der Analyse der narrativen Interviews mit den Jugendlichen, sondern auch auf der Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Erzählungen von Seniorinnen und Erwachsenen in der Lebensmitte. Die Bedeutung der Migrationslagerung lässt sich aus der Vorgeschichte des Bildungsprozesses herausarbeiten. Deniz weist – ebenso wie der in diesem Aufsatz nicht weiter erörterte Fall des Migrantenjugendlichen „Bahri“ – migrationsspezifische Desintegrationserfahrungen, jene der Sphärendifferenz, auf. Vergleicht man die Jugendlichen mit Migrationshintergrund mit jenen Jugendlichen, die als einheimisch gelten können, so zeigt sich, dass die Sphärendifferenz nur eine spezifische Ausprägung von allgemeinen Desintegrationserfahrungen ist. Bei den einheimischen Jugendlichen finden sich nämlich ebenfalls Desintegrationserfahrungen als eine Bedingung der Möglichkeit von spontanen Bildungsprozessen. Doch sind es hier eben keine migrationsspezifischen, sondern funktional äquivalente andere Desintegrationserfahrungen, etwa Erfahrungen des Hinausfallens aus und der Auflösung von tradierten Milieus. Öffnet man die Perspektive noch weiter und betrachtet auch die Bildungsprozesse der Erwachsenen in der Lebensmitte und der Seniorinnen, wird dort die Distanz zu institutionalisierten Ablaufmustern der Berufsbiographie, zu schulischen und beruflichen Vorgaben, zum zentralen Moment der Vorgeschichte von Bildungsprozessen. Altersübergreifend kann also davon gesprochen werden, dass die untersuchten Bildungsprozesse durch eine gewisse Lockerung von alten, tradierten Bindungen möglich werden. Für derartige Lockerungen finden sich dann


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unterschiedliche funktionale Äquivalenzen, seien dies die Desintegrationserfahrungen der einheimischen Jugendlichen, die Migrationserfahrungen der Migrantenjugendlichen oder die Distanz zu institutionalisierten Ablaufmustern der Berufsbiographie bei den 35jährigen Erwachsenen. Wird die Migrationslagerung vor allem im Vorfeld des Bildungsprozesses relevant, so fällt der Bildungsvorgang unmittelbar in die Adoleszenzphase der Jugendlichen. Anhand der empirischen Untersuchung wurde sichtbar, dass die Jugendlichen – dies gilt nicht nur für Deniz, sondern auch für die einheimischen Jugendlichen – zu Beginn ihrer Adoleszenzentwicklung sich noch ganz beiläufig auf die handlungspraktische Suche nach Neuem begeben. Dies ist die Phase ersten spontanen Handelns, in der sie sich auf neue Praktiken einlassen, ohne ihnen viele Gedanken und viel Gewicht in ihrem Leben beizumessen. Die Adoleszenz, dies wird hier deutlich, ist durch eine gewisse Offenheit gegenüber Neuem gekennzeichnet. Eine besondere Steigerung erfährt das spontane Handeln dann zum Höhepunkt der Adoleszenzkrise, in der Phase zweiten spontanen Handelns. Hier, in der Krise der Adoleszenz, werden andere, alte Handlungspraktiken gestoppt und es entsteht ein Freiraum für das vordem noch beiläufige spontane Handeln. Dass diese Phase ganz stark durch kollektives Handeln in der Peergroup, in der Gleichaltrigengruppe, strukturiert ist, wird im Rahmen der Jugendforschung nicht weiter überraschen. Schon Frederic Thrasher (1963) hat in den 1920er Jahren die Jugendphase und die Jugendclique als ein „interstitial phenomenon“, als ein Zwischenphänomen zwischen Familie und Gesellschaft, zwischen Kindheit und Erwachsenenleben bezeichnet. Aus diesem Zwischenphänomen des spontanen Handelns kann nur dann etwas dauerhaftes Neues werden, wenn die spontane Handlungspraxis sich gesellschaftlich bewährt. In der Phase zweiter gesellschaftlicher Bewährung kommt es darauf an, ob die Jugendlichen an dieser Bewährungsanforderung scheitern oder es ihnen gelingt, ihrem spontanen Handeln eine gewisse Dauerhaftigkeit zu verleihen. Erst die Bewährung in der weiteren, gesellschaftlichen Öffentlichkeit kann eine biographische, nämlich letztlich auf die Eigenpositionierung innerhalb der Gesellschaft bezogene Orientierung gewährleisten und damit das in der Adoleszenz entstandene Neue auch zu Innovation in der Gesellschaft werden lassen (vgl. King 2002). Hiermit lösen sich die spontanen Bildungsprozesse vom Besonderen der Adoleszenz und Migrationslagerung ab und können zum Allgemeinen der Gesellschaft werden.


Spontane Bildungsprozesse im Kontext von Adoleszenz und Migration

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Literatur Bohnsack, R. (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. Opladen: Leske + Budrich Bohnsack, R./Loos, P./Schäffer, B./Städtler, K./Wild, B. (1995): Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe. Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen. Opladen: Leske + Budrich Bohnsack, R./Nentwig-Gesemann, I./Nohl, A.-M. (2001) (Hrsg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich Bohnsack, R./Nohl, A.-M. (1998): Adoleszenz und Migration. Empirische Zugänge einer praxeologisch fundierten Wissenssoziologie. In: Bohnsack, R./Marotzki, W. (1998): 260-282 Bohnsack, R./Marotzki, W. (Hrsg.) (1998): Biographieforschung und Kulturanalyse. Transdisziplinäre Zugänge qualitativer Forschung. Opladen: Leske + Budrich King, V. (2002): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Kokemohr, R./Koller, H.-C. (1994) (Hrsg.): Lebensgeschichte als Text. Weinheim: Deutscher Studien Verlag Koller, H.-C. (1999): Bildung und Widerstreit. München: Fink Marotzki, W. (1990): Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Weinheim: Deutscher Studien Verlag Nohl, A.-M. (2001): Migration und Differenzerfahrung. Junge Einheimische und Migranten im rekonstruktiven Milieuvergleich. Opladen: Leske + Budrich Nohl, A.-M. (2006a): Bildung und Spontaneität – Phasen von Wandlungsprozessen in drei Lebensaltern. Empirische Rekonstruktionen und pragmatistische Reflexionen. Opladen: Budrich Nohl, A.-M. (2006b): Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften Peukert, H. (2000): Reflexionen über die Zukunft von Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik 46, 507-524 Schütze, F. (1983): Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 13, 283-293 Schütze, F. (1994): Das Paradoxe in Felix‘ Leben als Ausdruck eines „wilden“ Wandlungsprozesses. In: Kokemohr/Koller (1994): 13-60 Thrasher, F. M. (1963): The Gang. Chicago: Chicago University Press



Doppelter Abschied. Zur Verschränkung adoleszenz- und migrationsspezifischer Bildungsprozesse am Beispiel von Lena Goreliks Roman „Meine weißen Nächte“ Doppelter Abschied

Hans-Christoph Koller

„Alle haben eine Party bekommen, nur ich nicht. Die andern feiern sogar mehrere Partys, aber ich bin ja die Kleine, und meine Mutter erklärt mir, daß es zu anstrengend wäre, noch etwas für mich zu organisieren. Meine zwei besten Freundinnen dürfen bei mir übernachten, ein letztes Mal, das ist Aufregung genug. Es sind Abschiedspartys, der Abschied ist für immer, denken wir in diesem Moment. Wir wandern von Sankt Petersburg nach Deutschland aus.“ (Gorelik 2004: 7)

Mit diesen Sätzen beginnt Lena Goreliks Roman „Meine weißen Nächte“, der aus der Ich-Perspektive die Erfahrungen einer jungen Frau beschreibt, die im Alter von elf Jahren zusammen mit ihrer Familie aus Russland nach Deutschland gekommen ist, mittlerweile 23 Jahre alt ist, in München studiert und einen deutschen Freund hat. Den Beginn des Romans bildet eine Abschiedsszene: die Ausreise aus Russland, die von der Protagonistin als „Abschied für immer“ erlebt wird. Zugleich schwingt in der „Aufregung“ des Abschiednehmens etwas von der Aufbruchstimmung mit, die mit der Ausreise verbunden ist. Ähnliches gilt für einen anderen Abschied, von dem in diesem Roman die Rede ist – den Abschied von der Kindheit, der ja ebenfalls ein Aufbruch ist, weil er bedeutet, nicht mehr „die Kleine“ zu sein, die noch keine Partys bekommt. Es ist dieser doppelte und auf komplexe Weise miteinander verknüpfte Abschied, der Goreliks Roman im Kontext der Frage nach dem Zusammenhang von Adoleszenz, Migration und Bildung interessant macht. Welche Bedeutung, so wird im Folgenden gefragt, kommt der wechselseitigen Überlagerung oder Verschränkung von Adoleszenz- und Migrationserfahrungen im Blick auf Bildungsprozesse Heranwachsender zu, die wie die Ich-Erzählerin dieses Romans beide Arten von Abschied bzw. Aufbruch gleichzeitig erleben? Um dieser Frage nachzugehen, ist es erforderlich, zunächst das theoretische Verständnis der zentralen Begriffe Bildung, Adoleszenz und Migration darzustellen, das den folgenden Überlegungen zugrunde liegt (1.). Im zweiten Teil des Beitrags sollen diese theoretischen Konzepte dann am Beispiel des genann-


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ten Romans entfaltet und dabei gleichsam ‚empirisch‘ angereichert bzw. weiterentwickelt werden (2.).

1.

Theoretische Überlegungen zum Verhältnis von Adoleszenz, Migration und Bildung

1.1. Bildung Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist eine bestimmte Fassung des Bildungsbegriffs, die auf Rainer Kokemohr zurück geht und Bildung als einen Prozess grundlegender Transformationen der Art und Weise versteht, in der Menschen sich zur Welt und zu sich selbst verhalten (vgl. Kokemohr 2006). Dabei wird angenommen, dass Bildung im Sinne solcher Transformationen sich immer dann vollzieht (oder besser: vollziehen kann), wenn Menschen Erfahrungen machen, zu deren Bewältigung ihre bisherigen Mittel und Möglichkeiten nicht ausreichen. Bildungsprozesse bestehen diesem Verständnis zufolge also in der Entstehung neuer grundlegender Formen oder Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses in Auseinandersetzung mit Problemen, zu deren Bearbeitung die Figuren des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht geeignet sind. Aus Raumgründen verzichte ich darauf, ausführlicher zu begründen, in welchem Verhältnis dieser Begriff von Bildung zur bildungstheoretischen Tradition steht – es wäre einen eigenen Beitrag wert, darzulegen, inwiefern diese Auffassung etwa an die Bildungs- und Sprachtheorie Humboldts anschließt bzw. inwiefern sie darüber hinaus geht (vgl. dazu Koller 2005). An dieser Stelle sei nur zweierlei hervorgehoben: ein theoriestrategischer Vorteil und ein offenes Problem dieser Auffassung. In theoriestrategischer Hinsicht erlaubt es diese Fassung des Bildungsbegriffs, eine Abgrenzung zwischen Bildung und der bloßen Aneignung von Wissen vorzunehmen. Bildungsprozesse unterscheiden sich diesem Verständnis zufolge von einfachen Lernprozessen dadurch, dass es darin nicht nur um die Aufnahme oder Aneignung neuer Informationen geht, sondern um eine Veränderung der Art und Weise, in der solche Informationen verarbeitet werden. Bildungsprozesse im Sinne einer Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses können mithin als eine Art höherstufiger Lernprozesse aufgefasst werden, bei denen auch der Umgang mit Wissen sich in fundamentaler Weise verändert. Neben diesem theoriestrategischen Vorteil weist das skizzierte Bildungsverständnis jedoch auch eine Reihe von Problemen auf, zu denen u.a. die Frage nach den normativen Implikationen einer solchen Auffassung gehört. Der


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skizzierte Begriff von Bildung besagt nämlich zunächst nur, dass Bildungsprozesse transformatorischen bzw. innovatorischen Charakter haben, also dass in ihnen Welt- und Selbstverhältnisse sich grundlegend ändern und neue Figuren, neue Welt- und Selbstentwürfe hervorgebracht werden. Es handelt sich mithin eher um einen deskriptiven als um einen normativen Begriff von Bildung, insofern er keine weiteren Kriterien darüber enthält, welcher Art diese Transformationen sein und welche Richtung sie einschlagen sollen. Es wäre ebenfalls ein eigener Beitrag nötig, um zu diskutieren, ob diese eher deskriptive Fassung ausreicht oder ob zusätzliche Kriterien erforderlich sind, um den Bildungsbegriff in seiner klassischen Funktion als zentrale Orientierungskategorie für pädagogisches Handeln verwenden zu können (vgl. dazu ebenfalls Koller 2005). Vorläufig mag hier die These genügen, dass angesichts immer rascheren gesellschaftlichen Wandels und einer immer komplexer werdenden Welt Menschen häufiger mit Problemen konfrontiert werden, zu deren Bearbeitung ihre bisherigen Möglichkeiten nicht mehr ausreichen, und dass deshalb Bildungsprozesse im skizzierten Sinne unabhängig von der Frage ihrer genaueren Ausgestaltung auf jeden Fall notwendig sind. Geht man von dem skizzierten Verständnis von Bildung aus, so stellen sich mindestens drei Fragen, die eine auszuarbeitende Theorie solcher transformatorischer Bildungsprozesse beantworten müsste. Erstens wäre zu klären, wie sich die neuartigen Erfahrungen, die hier als Anlass oder Herausforderung für Bildungsprozesse aufgefasst werden, theoretisch genauer bestimmen lassen. Gibt es – etwa im Zusammenhang mit gesellschaftlichen und historischen Konstellationen – typische Herausforderungen, deren Bearbeitung Bildungsprozesse erforderlich macht oder zumindest nahe legt? Zweitens wäre zu fragen, welche begrifflichen Konzepte geeignet sind, um die Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses von Subjekten, als deren Transformation Bildung hier verstanden wird, theoretisch zu erfassen. Und drittens gilt es zu erörtern, wie die Prozesse der Transformation solcher Welt- und Selbstverhältnisse näher zu beschreiben sind, aus denen Bildung diesem Verständnis nach besteht. Dabei wäre neben den Verlaufsformen und Bedingungen solcher Bildungsprozesse vor allem die Frage zu untersuchen, wie im Zuge von Transformationen Neues entsteht, wie also neue Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses hervorgebracht werden, die nicht einfach aus den bisherigen Figuren ableitbar sind. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht vor allem die Auseinandersetzung mit der ersten Frage, also damit, was als Anlass für Bildungsprozesse im skizzierten Sinn gelten kann. Die zentrale These lautet, dass sowohl Adoleszenz als auch Migration solche Anlässe sein können und dass deshalb Adoleszenz unter den


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Bedingungen von Migration eine doppelte Herausforderung für Bildungsprozesse im skizzierten Sinn darstellt.

1.2. Adoleszenz Der Begriff der Adoleszenz ist im Anschluss an Vera King nicht einfach nur in zeitlicher Hinsicht als Bezeichnung einer Altersgruppe oder einer Lebensphase zu verstehen, sondern dient vielmehr zur Erfassung eines „psychosozialen Möglichkeitsraums“, der inhaltlich durch bestimmte Herausforderungen und Chancen näher charakterisiert werden kann (vgl. zum Folgenden King 2002). Was mit dem Terminus „psychosozialer Möglichkeitsraum“ gemeint ist, lässt sich am besten durch einen Vergleich mit Statuspassagen in traditionalen Gesellschaften erläutern. Dort wird der Übergang vom Status des Kindes zu dem des Erwachsenen in gleichsam punktförmig verdichteter Form als so genannter „Initiationsritus“ vollzogen, d.h. in einem meist religiös überformten Ritual, in dem die Jugendlichen eines bestimmten Alters feierlich in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen werden. Auch wenn es in modernen Gesellschaften noch Schwundformen solcher Initiationsriten gibt, kann man doch sagen, dass dieser Übergang sich heute in einem sehr viel längeren Prozess vollzieht und eine eigene Lebensphase umfasst, eben die Adoleszenz, die eine Art Moratorium oder Schwebezustand darstellt, in dem man weder zu den Kindern noch zu den Erwachsenen gehört, und die zugleich (und darin besteht das entscheidend Neue) Spielräume für eigene Experimente und damit ganz neue Herausforderungen, Chancen und Risiken bietet. Einen wichtigen Anlass für die Eröffnung dieses Möglichkeitsraums stellen körperliche Veränderungen dar, also das Größenwachstum, der Verlust kindlicher Körperformen und der Eintritt der Geschlechtsreife mit allen ihren Begleiterscheinungen. Aber die Veränderungen beschränken sich nicht darauf, sondern betreffen insbesondere psychische und soziale Aspekte. Die Experimente, die den Möglichkeitsraum der Adoleszenz charakterisieren, umfassen u.a. den Abschied von kindlichen Verhaltensweisen, Beziehungsmustern und Selbstbildern, das Ringen um neue Formen der Beziehung zu Eltern und Erwachsenen, die Hinwendung zu außerfamiliären Liebesobjekten und das Experimentieren mit gleich- und andersgeschlechtlichen Beziehungen, das Ausprobieren und experimentelle Überschreiten von Grenzen sowie das Experimentieren mit eigenen kreativen Potenzialen, die Entwicklung eigener Wertvorstellungen sowie moralischer, politischer und religiöser Orientierungen und schließlich die Entwicklung eines eigenen Selbstbildes, einer eigenen personalen, sozialen und geschlechtlichen Identität.


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Adoleszenz in diesem Sinne lässt sich im Anschluss an das zuvor Gesagte als Anlass für Bildungsprozesse verstehen, da es bei den die Adoleszenz kennzeichnenden Veränderungen um Herausforderungen geht, die das bisherige Welt- und Selbstverhältnis Heranwachsender in Frage stellen, und da es sich bei jenem Möglichkeitsraum um ein Feld handelt, in dem potentiell Neues entstehen kann: neue Orientierungen, neue Entwürfe von Welt und Selbst bzw. neue Figuren des Welt- und Selbstbezugs. Adoleszenz hat dabei eine Weichen stellende Funktion im Blick auf die weitere psychische und soziale Entwicklung der Individuen, aber auch auf die gesellschaftliche Entwicklung des Geschlechter- und des Generationenverhältnisses. Der Begriff „Möglichkeitsraum“ impliziert nämlich auch, dass es sich bei jenen Experimenten um eine Möglichkeit handelt, die realisiert werden kann oder eben auch nicht. Zu fragen ist deshalb, welche Bedingungen ausschlaggebend sind für den Verlauf der Adoleszenz und d.h. für die Nutzung bzw. die Einschränkung adoleszenter Möglichkeitsräume. Folgt man Vera King, so ist dabei entscheidend, dass in modernen Gesellschaften die Chancen für die Nutzung solcher Möglichkeitsräume sozial ungleich verteilt sind. Auch dies lässt sich am besten durch einen Blick in die Geschichte verdeutlichen. Adoleszenz als ein psychosoziales Moratorium war nämlich auch in modernen Gesellschaften keineswegs von Anfang an für alle Heranwachsenden eine Selbstverständlichkeit, sondern unterlag klassen- und geschlechtspezifischen Restriktionen. Zunächst war dieser Möglichkeitsraum nur den Jugendlichen des Bürgertums und auch unter ihnen nur den Jungen vorbehalten. Erst seit er im Laufe des 20. Jahrhunderts auch auf Mädchen und Jugendliche aus unteren sozialen Schichten ausgedehnt wurde, kann man von einer verallgemeinerten, universalen Adoleszenz für alle Heranwachsenden sprechen. Und auch heute noch gibt es beträchtliche Einschränkungen jener Möglichkeitsräume, die vor allem etwas damit zu tun haben, auf welche Ressourcen Jugendliche bei der Verarbeitung der Transformationsherausforderungen zurückgreifen können, mit denen sie im Laufe der Adoleszenz konfrontiert werden.

1.3. Migration Eine Form sozialer Ungleichheit betrifft Jugendliche mit Migrationshintergrund. Betrachtet man die ungleiche Verteilung individueller und gesellschaftlicher Ressourcen aus der Perspektive Bourdieus (vgl. Bourdieu 1992a), so kann man sagen, dass Migrantenjugendliche aus unterschiedlichen Gründen nicht im selben Maße über gesellschaftlich anerkanntes soziales und kulturelles Kapital


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verfügen wie die einheimischen Heranwachsenden. Das hat – so steht zu vermuten – auch Auswirkungen auf den Verlauf ihrer Adoleszenz. Dazu kommt, dass Migration (seien es nun eigene Migrationserfahrungen oder die Erfahrungen, die die Eltern mit Migration gemacht haben) für Jugendliche eine Reihe besonderer Herausforderungen mit sich bringt. Migration ist in der Regel verbunden mit einem weitgehenden Wandel des soziokulturellen Umfeldes, dem Verlust sozialer Bindungen und Traditionen, der Entwertung mitgebrachter Ressourcen (wie z.B. der Sprachkenntnisse und beruflicher Qualifikationen), einschneidenden Fremdheits- bzw. Differenzerfahrungen sowie Erfahrungen der Ausgrenzung und Diskriminierung in rechtlicher, politischer und ökonomischer Hinsicht. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, von wem und in welchem Alter Migration als Veränderung des Lebensmittelpunkts vollzogen bzw. erlebt wird, also ob die Jugendlichen selbst (in der Regel mit ihren Eltern) migriert sind, oder ob sie bereits in der Aufnahmegesellschaft geboren sind und „nur“ die Folgen der Migration ihrer Eltern oder gar Großeltern erleben. Doch unabhängig davon, welche Differenzierungen hier vorzunehmen sind, können die mit Migration verbundenen Erfahrungen und Bedingungen im Sinne des eingangs skizzierten Bildungsbegriffs ebenfalls als Herausforderungen für Bildungsprozesse verstanden werden, d.h. als Anlass zur Infragestellung und zur Transformationen grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses. Das lässt sich etwa am Beispiel der Erfahrung von Fremdheit verdeutlichen, die mit Bernhard Waldenfels als eine Erfahrung zu begreifen ist, bei der etwas sich zeigt, indem es sich entzieht, bei der ein Subjekt also mit etwas konfrontiert wird, was sich mit den Mitteln seines bisherigen Denkens und Wahrnehmens nicht erfassen lässt, was sich der Subsumtion unter die Figuren seines bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses widersetzt (vgl. Waldenfels 1997a und Kokemohr 2006). Fremdheitserfahrung in diesem Sinne stellt dabei ebenfalls einen „Möglichkeitsraum“ für die Entstehung neuer Orientierungen dar, nämlich die Herausforderung zur Suche nach einer neuen Ordnung, in die sich die fremdartigen Erfahrungen einfügen lassen. Dabei ist es wichtig, sich klar zu machen, dass diese Herausforderung selbstverständlich nicht nur für die Migranten gilt, sondern genauso für die ‚einheimischen‘ Mitglieder der Aufnahmegesellschaft. Entscheidend für unser Thema ist nun die These, dass Adoleszenz und Migration insofern ein kompliziertes Amalgam bilden, als sich die migrationsspezifischen Herausforderungen mit den Herausforderungen der Adoleszenz überlagern und so dazu führen können, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund ihre Adoleszenz unter ganz besonderen Bedingungen erleben. Im Blick auf die Untersuchung konkreter Einzelfälle ergibt sich daraus eine Reihe von Fragen, die im Folgenden am Beispiel von Goreliks Roman diskutiert werden sollen. In


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einem ersten Schritt ist dabei zu fragen, welche Erfahrungen Migrantenjugendliche im Verlauf ihrer Adoleszenz machen und welche Rolle dabei jeweils die oben beschriebenen adoleszenz- und migrationsspezifischen Herausforderungen spielen, also die Veränderungen des kindlichen Selbstbildes, die Ablösung von den Eltern oder die Ausbildung einer eigenen Identität usw. auf der einen, der Wandel des soziokulturellen Umfelds, Diskriminierungs-, Fremdheits- und Differenzerfahrungen auf der anderen Seite. Besonderes Augenmerk wäre dabei auf die Frage zu legen, wie sich beide Arten von Herausforderungen überlagern und wechselseitig beeinflussen. Im zweiten Schritt geht es um die Identifizierung der Formen oder Strategien, mit denen Migrantenjugendliche solche Erfahrungen be- oder verarbeiten, sowie um die Frage, inwiefern diese Strategien als Nutzung des adoleszenten Möglichkeitsraums gedeutet werden können. Dazu ist es freilich erforderlich, zu klären, welche Spielräume den Jugendlichen überhaupt zur Verfügung stehen bzw. mit welchen Einschränkungen dieses Möglichkeitsraums sie konfrontiert werden. Und schließlich ist in einem dritten Schritt zu fragen, inwiefern es bei der Bearbeitung adoleszenz- und migrationsspezifischer Erfahrungen zu Bildungsprozessen im Sinne der Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses kommt und welche förderlichen oder behindernden Bedingungen dafür ausschlaggebend sind.

2.

Zur Verschränkung adoleszenz- und migrationsspezifischer Bildungsprozesse in Lena Goreliks Roman „Meine weißen Nächte“

Geht man davon aus, dass Bildungsprozesse im skizzierten Sinn weder direkt beobachtet noch mit Hilfe standardisierter Erhebungsverfahren objektivierend erfasst werden können, so ist der Versuch der Entwicklung einer empirisch gehaltvollen Theorie solcher Bildungsprozesse auf möglichst konkrete und detaillierte Beschreibungen biographischer Verläufe aus der Perspektive Heranwachsender selbst angewiesen. Solche Beschreibungen sind umso geeigneter zur Erforschung von Bildungsprozessen, je genauer und differenzierter sie individuelle Erfahrungen, intersubjektive Konstellationen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen schildern. Eine mögliche Quelle solcher ‚dichter‘ Beschreibungen stellen Texte der erzählenden Literatur dar (vgl. dazu auch Koller/Rieger-Ladich 2005), sofern sie wie Goreliks Roman trotz ihres fiktionalen Charakters eine mögliche individuelle und soziale Realität zum Gegenstand haben. Literarische Texte sind dabei aufgrund ihrer sprachlichen Differenziertheit oft genauer, detaillierter und nuancierter als die in der qualitativen Sozialforschung verwendeten Dokumente (von den Daten standardisierter Er-


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hebungsverfahren ganz zu schweigen). Gegenüber autobiographischen Stegreiferzählungen etwa, wie sie mittels narrativer Interviews erhoben werden, zeichnen sie sich zwar durch ein geringeres Maß an Spontaneität aus, doch wird dieser Nachteil dadurch wettgemacht, dass sie oft ‚dichtere‘, reichhaltigere und vielschichtigere Beschreibungen enthalten als die in Interviews erhobenen Narrationen. Dazu kommt, dass ihre sprachliche und literarische Konstruiertheit offener zu Tage tritt und deshalb leichter zum Gegenstand der Analyse gemacht werden kann als bei den vermeintlich ‚authentischen‘, faktisch aber doch auch bestimmten Darstellungskonventionen verpflichteten Stegreiferzählungen. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der 2004 erschienene Roman „Meine weißen Nächte“ von Lena Gorelik im Mittelpunkt einer Fallstudie stehen, die das Ziel verfolgt, die im ersten Teil dargestellten theoretischen Überlegungen mit einem konkreten Beispiel zu konfrontieren und so ‚empirisch‘ anzureichern bzw. weiterzuentwickeln. Dieser Roman beschreibt in Ich-Form die Erfahrungen einer jungen Frau namens Anja, die 1992 im Alter von elf Jahren zusammen mit ihren Eltern, ihrer Großmutter und ihrem sieben Jahre älteren Bruder nach Deutschland gekommen ist. Die Romanhandlung wechselt im Wesentlichen zwischen zwei Zeitebenen, nämlich der Erzählgegenwart, in die Protagonistin 23 Jahre alt ist, in München Soziologie studiert, mit ihrem Freund Jan zusammenlebt und eine Affäre mit ihrem Exfreund Ilja hat, sowie der Zeit vor zwölf Jahren, als Anja mit ihren Eltern aus Russland ausreist und in Deutschland erste Erfahrungen in einem Wohnheim für Asylbewerber und „Kontingentflüchtlinge“ sammelt.1 Dazu kommen als dritte Zeitebene Erinnerungen der Erzählerin an die Zeit in Russland vor der Ausreise – wie z.B. an das Schlangestehen für Lebensmittel, an erste Veränderungen im Zuge der Perestroika, an den wachsenden Einfluss westlicher Konsumgüter sowie an den „staatliche[n], von oben verordnete[n] Antisemitismus“ (91), der ein wesentliches Motiv der Ausreise darstellt.

2.1. Adoleszenzspezifische Erfahrungen Viele Erfahrungen, die in dem Roman beschrieben werden, lassen sich zunächst ohne große Mühe als adoleszenzspezifische begreifen. So ist ein großer Teil der 46 meist kurzen Kapitel der Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunfts1

Der rechtliche Status von Anja und ihren Familienmitgliedern wird im Roman als der russisch-jüdischer „Kontingentflüchtlinge mit unbefristeter Aufenthaltsgenehmigung“ beschrieben (Gorelik 2004: 19; der Roman wird im Folgenden nur unter Angabe der Seitenzahlen zitiert).


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familie, den Eltern, dem Bruder und der Großmutter gewidmet. Eine Art running gag des Romans sind etwa die ständigen Telefonanrufe der Mutter, die auch ihre 23-jährige Tochter noch täglich anruft, um zu fragen, ob sie zu Mittag gegessen habe, um daran zu erinnern, dass sie sich gut ernähren müsse, oder auch nur, um ihr gute Nacht zu wünschen. Die Ich-Erzählerin berichtet darüber mit einer Mischung aus Genervtheit und Belustigung, die zwischen dem Aufbegehren gegen die mütterliche Bevormundung und einer gelassenironischen Haltung schwankt. Man kann das als eine typische Form der Ablösung von der eigenen Herkunftsfamilie ansehen wie auch die Bemerkung über den Vater am Steuer, dem Anja am liebsten die Autoschlüssel aus der Hand nehmen würde, um selber zu fahren, worauf sie freilich verzichtet, um dem Vater, der der Auffassung ist, „Töchter fahren nicht besser Auto als Väter“ (67), diese Kränkung zu ersparen. Und auch der dramatischste Strang der Erzählung, die Dreiecksgeschichte zwischen Anja, ihrem Freund Jan und ihrem Exfreund Ilja, lässt sich unschwer als adoleszenzspezifische Konstellation begreifen, in der eine junge Frau dabei ist, sich über sich selbst, ihre Wünsche und Bedürfnisse an eine Liebesbeziehung Klarheit zu verschaffen. Lange Zeit kann sich Anja nicht entscheiden zwischen Jan, dem Chemiker, der überaus fürsorglich, aber ganz und gar unromantisch ist, und Ilja, ihrem gutaussehend-charmanten, aber unzuverlässigen Exfreund, in den sie einmal unsterblich verliebt war und der nun nach längerer Zeit plötzlich wieder in ihrem Leben auftaucht und alte Gefühle in ihr wachruft. Mit ihm, der als Reiseführer für russische Reisegruppen arbeitet, verbringt sie ein aufregendes Wochenende in Paris, kehrt aber am Ende dann doch zu Jan zurück. Die Episoden dieses Erzählstrangs lassen sich verstehen als eine Art Experimentieren mit Beziehungen im „Möglichkeitsraum“ der Adoleszenz. „Ich saß neben mir und glaubte nicht, was ich da tat“ (232), heißt es zum Beispiel an einer Stelle, als die Erzählerin Ilja küsst und ihre Gewissensbisse wegen Jan für eine kurze Zeit vergisst. Die Darstellung der zeitweiligen Dreiecksgeschichte verweist darauf, wie wichtig es für Anja ist, sich über eigene Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle klar zu werden. So scheint die Ich-Erzählerin nach dem ParisWochenende mit Ilja nicht genau zu wissen, was ihr das größere Problem ist: „Warum habe ich ihn geküsst?“ oder „Warum habe ich nicht mit ihm geschlafen?“ (219) Und in Bezug auf Jan dreht sich alles um die Frage, was eine Beziehung aushalten kann und ob bzw. wie viel sie ihm von der Affäre erzählen muss. Auch wenn die Lösung am Ende des Romans nicht ganz frei von Kitsch und klischeehaften Formulierungen ist – nach guten Ratschlägen wie „Irgendwann wird dein Herz dir sagen, was du willst“ (266) kehrt Anja zu Jan zurück –


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bleibt als Fazit doch, dass die Protagonistin den Möglichkeitsraum Adoleszenz nutzt, um im Labyrinth erotischer Beziehungen ihren eigenen Weg zu finden.

2.2. Migrationsspezifische Erfahrungen Im Blick auf unser Thema wichtig ist nun, dass diese adoleszenztypischen Erfahrungen im Romangeschehen deutlich überlagert werden durch migrationsspezifische Faktoren. So betrifft die Ablösung von den Eltern eben nicht nur deren Rolle als Eltern, sondern hat – zumindest aus der Perspektive der IchErzählerin – auch etwas zu tun mit ihrer kulturellen Herkunft bzw. mit dem Umstand, dass die Eltern für Anja gewissermaßen ihre eigenen russischen Wurzeln verkörpern. So beginnt das Kapitel über die ständigen Telefonanrufe der Mutter mit den Sätzen „Russische Mütter sind eine Spezies für sich. Besonders schlimm sind russisch-jüdische Mütter“ (30). Und auch die adoleszenztypische Erfahrung, dass Anja bestimmte Verhaltensweisen ihres Vaters als peinlich empfindet, ist soziokulturell überformt, wie etwa in der folgenden Episode deutlich wird: „Wenn meine Eltern Besuch haben und (...) Wodka getrunken wird (oft bringen ihn deutsche Freunde mit), gibt es immer wieder dieselbe Szene zu beobachten: Mein Vater holt Häppchen, deutsche Häppchen, keinen Hering wohlgemerkt, er hat sich sehr angepaßt, er holt Baguettescheiben mit Lachs oder Frischkäse zum Beispiel, stellt das Tablett vor den deutschen Freunden ab und sagt: ‚Nachessen.‘ Nachessen, sonst nichts. Nachessen ist die bestmögliche Übersetzung von ‚Sakuska‘. Alle meine Versuche, ihm zu erklären, daß das erstens unhöflich und wie ein Befehl klingt und es zweitens kein Deutscher versteht, scheitern vergeblich. ‚Nachessen.‘ Auf Russisch heißt es ja auch einfach nur ‚Sakuska‘. (...) ‚Nachessen‘, sagt mein Vater, der sich immer sehr bestimmt anhört und in diesem Moment ganz besonders. Peinliche Stille entsteht. ‚Nachessen‘, wiederholt mein Vater. ‚Was bedeutet Nachessen?‘ fragt endlich jemand. ‚Nach Wodka muß man nachessen. Komm, nachessen‘, erklärt mein Vater verständnislos dreinschauend. Was sind sie nur schwer von Begriff, die Deutschen. Wenn man Wodka trinkt, muß man nachessen. Er nimmt sich ein Häppchen. Schließlich machen es ihm die deutschen Freunde nach. Er guckt zufrieden. Ich renne hinaus.“ (28)

Hier überlagert sich die adoleszenzspezifische Scham der Tochter über die kommunikative Unbeholfenheit des eigenen Vaters mit der migrationsbedingten Konstellation, dass sich im Verhalten des Vaters auch eine kulturelle Differenz artikuliert, die zumindest unterschwellig mit Wertungen der elterlichen kulturellen Tradition als rückständig oder irgendwie veraltet zu tun hat.


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Ähnliches gilt für die Dreiecksgeschichte mit Jan und Ilja. Auch hier vermischen sich auf komplizierte Weise adoleszenz- und migrationsspezifische Aspekte: Anjas Freund Jan ist Deutscher, während Ilja wie sie russischer Herkunft ist. Dabei wirkt die Entgegensetzung von Jan und Ilja zwar gelegentlich etwas kulturalisierend-klischeehaft – hier der unromantische Deutsche, da der leidenschaftlich-romantische Russe. Aber trotz dieser kulturalisierenden Dimension wird an dem Beispiel auch deutlich, dass migrationsspezifische Zugehörigkeitsgefühle nicht nur durch kulturelle Traditionen, sondern auch durch soziale Faktoren bedingt sind. An der Beziehung zu Ilja ist für Anja nämlich neben dessen unwiderstehlichem Charme und blendendem Aussehen mindestens ebenso wichtig, dass Ilja dieselbe Geschichte hat wie sie selbst und viele Erfahrungen mit ihr teilt. Kennen gelernt hat sie ihn im Wohnheim, in dem sie die ersten eineinhalb Jahre in Deutschland verbracht hat, und über seine Entwicklung heißt es: „[G]enauso wie ich hatte er sich zu einem deutschen Jugendlichen entwickelt, der die mittlerweile fernen Erinnerungen an das Wohnheim und Russland irgendwo tief in sich vergrabenen hatte“ (141). Aber auch unabhängig von der Affäre mit Ilja wird im Roman immer wieder deutlich, wie sehr die migrationsspezifischen Erfahrungen nicht nur mit kulturellen Phänomenen, sondern vor allem auch mit gewissermaßen ‚harten‘ sozioökonomischen Fakten zu tun haben. So lebt Anja mit ihrer Familie während der ersten 18 Monte in Deutschland in einem zwölf Quadratmeter großen Wohnheimzimmer, in dem es für die fünf Familienmitglieder nur zwei Stockbetten, eine Matratze sowie Tisch und Schrank gibt. Dusche und Küche teilen sie sich mit 17 anderen russischen Familien (19 f.). Und als die Elfjährige eine Bronchitis bekommt, führt dies zu Auseinandersetzungen mit den Nachbarn, weil die von ihrem nächtlichen Husten gestört werden. Von diesen Wohnverhältnissen betroffen sind z.B. Anjas Kontakte zu Gleichaltrigen. Als ihre Schulfreundin Sandra, bei der sie schon oft zuhause war, immer wieder fragt, wann sie denn einmal bei ihr spielen können, schämt sich Anja, sie mit zu sich ins Wohnheim zu nehmen; und als Sandra dann endlich einmal mitkommt, rennt die Erzählerin mit ihr vor dem eigenen Vater davon, der hilflos mit ansehen muss, wie die eigene Tochter vor ihm Reißaus nimmt. Und noch in der Erzählgegenwart, mit 23 Jahren, möchte Anja nicht, dass ihre Freundin Lara erfährt, wo sie die erste Zeit in Deutschland gewohnt hat: „Ich wurde in Rußland geboren und bin mit elf Jahren nach Deutschland gekommen, das reicht als Info für sie. Ich will nicht über das Wohnheim reden. Das Wohnheim führt zu unangenehmen Fragen. Es setzt mich ab, macht mich von einer russischen Exotin zu einem Fremdkörper, weil doch Wohnheim – und dann auch noch ein Asylantenwohnheim – na ja,


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schon komisch ist. Lara ist in einem wunderschönen Haus am Starnberger See aufgewachsen.“ (18 f.)

Hieran wird im Übrigen deutlich, welche implizite Bedeutung die eingangs kurz skizzierte Erzählweise des Romans hat. Dass die verschiedenen Zeitebenen mitunter unmotiviert ineinander geschachtelt zu sein scheinen, führt vor Augen, wie die Vergangenheit der Ich-Erzählerin in die Erzählgegenwart hineinragt und gleichzeitig doch von ihr draußen gehalten wird.

2.3. Strategien der Erfahrungsverarbeitung Fragt man nun danach, wie die Ich-Erzählerin die von ihr beschriebenen Erfahrungen be- und verarbeitet und inwiefern sie dabei den Möglichkeitsraum Adoleszenz nutzen kann, so zeigt sich als erstes Muster der Erfahrungsverarbeitung eine Art Verweigerungsstrategie (dasselbe Muster begegnet übrigens auch in biographischen Interviews mit Migranten; vgl. Koller 2002). So erklärt die elfjährige Anja ihren Eltern nach schlechten Erfahrungen in der Schule, wo sie anfangs nichts mitbekommt, weil sie die Sprache nicht versteht, von den Mitschülern ausgegrenzt wird und von der Klassenlehrerin keine Unterstützung erfährt, sie wolle zurück nach Russland, und schwänzt drei Tage lang den Unterricht (170 ff.). Eine zweite Verarbeitungsweise, die in verschiedenen Varianten anzutreffen ist, besteht in einer Art Flucht in Phantasiewelten. So ist Anjas Lieblingsspiel in den ersten Monaten ihres Deutschlandaufenthalts, sich vorzustellen, sie wohne anstelle des Wohnheims wie ihre deutschen Schulkameradinnen in einem richtigen Haus, das sie in der Phantasie mit Möbeln aus einem Quelle-Katalog ausstattet (20 f.). Ein anderes Spiel geht so: „Mein Pferd heißt Mona. Sie ist mein Pflegepferd und wunderschön. Mona gehört dem Fuchshof, einem Reitstall, der in der Nähe meiner Grundschule ist. Sie ist dunkelbraun und hat einen schwarzen Schweif. Ich muß Mona pflegen, sie striegeln und ihren Stall sauberhalten, dafür darf ich sie umsonst reiten. Nach einer Weile bin ich richtig gut darin. In der Nähe unseres Wohnheims ist die sogenannte Jugendfarm, eine Reitschule für Kinder. Von unserem Hof aus können wir reitende Kinder sehen, und am Tag der offenen Tür dürfen wir die Pferde streicheln und füttern. Meine Schulfreundinnen nehmen Reitstunden auf der Jugendfarm. Eine von ihnen hat ein Pflegepferd dort. Ich gehe lieber zum Fuchshof, wo Mona lebt. Meistens fahre ich abends mit dem Fahrrad hin, wenn meine Eltern wieder von ihrem Sprachkurs zurück sind und die ganze Familie sich in unser kleines Zimmer drängt. Den anderen Kindern im Wohnheim erzähle ich lieber nicht von Mona. Die Verantwortlichen vom Fuchs-


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hof können es nicht leiden, wenn zu viele in den Ställen herumwuseln. Nicht einmal Ilja, der ja mein bester Freund ist, weiß etwas von meiner Mona. Für mich ist Mona das wunderschönste Pferd auf der Welt, viel schöner als die Pferde auf der Jugendfarm. Mona ist eine Betonröhre auf unserem Schulhof.“ (133 f.)

Erst der letzte Satz verrät, dass es sich bei der ganzen Passage um einen Tagtraum handelt, und dass das Pferd Mona, das Anja pflegt und das sie dafür umsonst reiten darf, in Wirklichkeit nur eine Betonröhre auf dem Schulhof ist. Doch der dem Vorbild der Klassenkameradinnen nachgebildete Tagtraum hilft der Elfjährigen offenbar dabei, die Enge des Wohnheims und den Neid auf die Schulfreundin zu ertragen. Eine dritte Strategie besteht in der Anpassung der Erzählerin an ihre deutsche Umgebung. Als sie nach den ersten Sommerferien in der Schule allmählich besser zurechtkommt und auch Anschluss bei ihren deutschen Klassenkameradinnen findet, beginnt sie, sich für ihre russischen Wohnheimfreundinnen zu schämen. Und auf der Ebene der Erzählgegenwart heißt es, Russland sei für die 23-jährige nur noch „eine ferne Erinnerung“, ihr Russisch sei mit zahlreichen deutschen Begriffen gespickt, und ohne die täglichen Anrufe der Mutter würde sie die russische Sprache noch viel schneller vergessen (42). Zu Russen pflegt Anja ein ambivalentes Verhältnis – wie z.B. bei der Parisreise mit Ilja deutlich wird, der eine Gruppe von Exilrussen durch die Stadt führt und über Anja sagt, sie mache den Eindruck, als wolle sie „auf Teufel komm raus unrussisch sein“ (194 f.). Dass Anja auf der Reise nach Paris dann aber trotz anfänglichen Unbehagens das russische „Mitternachtsessen“ (195) im Bus genießt, lässt sich ist als eine vierte Verarbeitungsweise interpretieren, nämlich als eine Art Experimentieren mit der eigenen Situation zwischen russischer Vergangenheit und deutscher Gegenwart. Ein anderes Beispiel dafür stellt Anjas Verhalten auf einer Party dar, wo sie mit einem jungen Mann flirtet, der aber schlagartig seine Attraktivität einbüßt, als er auf ihre Bemerkung, dass sie in Russland geboren sei, mit dem obligatorischen „Eeeecht?“ reagiert, als sei sie eine Außerirdische, und sofort die die üblichen Fragen stellt, nämlich „ob man Wodka schon zum Mittagessen trinkt“ und „ob alle Russen Wodka trinken“ (25 f.). Anja lässt dem jungen Mann seine klischeehaften Vorstellungen und erklärt den Lesern lapidar, sie wolle keinem das Bild der Russen nehmen, „die mit Ohrenklappenmützen eine Flasche nach der anderen leeren“ (27). Im Smalltalk mit ihrem Partygesprächspartner bestätigt sie ironisch dessen Gerede über einen James-BondFilm, in dem die Russen wie immer die Bösen sind, mit dem Satz, „Ja, so sind sie, die Russen“ – nur um den jungen Mann dann einfach stehen zu lassen.


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Das verrät mehr Souveränität und Selbstbewusstsein, als es in ähnlichen Situationen ihre Landsleute an den Tag legen, von denen die Erzählerin einmal sagt, dass sie in Konfliktfällen zu der Ansicht neigen: „Wir sind selbst schuld, die Deutschen wissen es besser, wir sind nur Ausländer“ (169). Es ist vor allem diese vierte Strategie der Erfahrungsverarbeitung, die sich im Sinne der eingangs skizzierten Überlegungen als Bildungsprozess verstehen lässt, da sie die anfängliche Alternative zwischen Verweigerung oder Flucht in die Phantasie auf der einen und bloßer Anpassung auf der anderen Seite überwindet und ein neues, verändertes Welt- und Selbstverhältnis eröffnet. Das wirft die abschließende Frage auf, was solche Bildungsprozesse ermöglicht und was sie verhindert?

2.4. Bedingungen adoleszenter Bildungsprozesse im Kontext von Migration Über weite Strecken und vom Ende her gesehen wirkt Goreliks Roman wie eine ungebrochene Erfolgsstory. Anja hat es geschafft, sie besitzt Abitur und Studienplatz, ist fest integriert in die deutsche Gesellschaft und hat beste Aussichten auf eine Karriere. Fragt man nach den Bedingungen, die diesen Erfolg möglich gemacht haben, so lassen sich unter Rückgriff auf Bourdieus Konzeption des kulturellen und sozialen Kapitals folgende Faktoren benennen (vgl. Bourdieu 1992a). Da ist zunächst einmal das kulturelle Kapital von Anjas Eltern, die beide über eine Ausbildung als Ingenieure verfügen. In Deutschland erfährt dieses kulturelle Kapital zwar wie im Falle vieler Migranten insofern eine Entwertung, als der Vater nach eineinhalb Jahren Suche nur eine Stelle als Elektrotechniker findet und auch die Mutter nach einer Umschulung nur als Buchhalterin arbeitet. Aber das Geld, das sie damit verdienen, erlaubt es ihnen immerhin, das Wohnheim zu verlassen und eine eigene Mietwohnung zu beziehen. Dort bekommt nicht nur die Familie ein eigenes Bad, sondern auch Anja ein Zimmer für sich allein und kann nun endlich ihre „neuen Freunde aus dem Gymnasium“ nach Hause einladen. „Ab da wird alles gut“, heißt es lapidar (261), und man kann sich ausmalen, was gewesen wäre, wenn die Eltern über keine entsprechende Ausbildung verfügt hätten. Ein weiterer Faktor, der zum erfolgreichen Verlauf von Anjas Adoleszenz beiträgt, ist das soziale Kapital, das ihre Eltern im Laufe des Aufenthalts in Deutschland erwerben. Für die Eltern wird Deutschland „langsam, aber sicher zur Heimat“ (257), und zwar durch deutsche Freunde, die sie im Wohnheim kennen lernen – Menschen, die sich ehrenamtlich für Kontingentflüchtlinge einsetzen, wie z.B. ein pensionierter Jurist, der Anjas Großmutter und einer


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anderen alten Frau Deutschunterricht gibt und sich mit Anjas Vater anfreundet, oder eine Lehrerin, die Anja Förderunterricht gibt, sie zuhause besucht und darüber eine Freundschaft mit Anjas Mutter anknüpft. Und auch Anja selbst erfährt Unterstützung durch wohlwollende Mitglieder der Aufnahmegesellschaft – wie etwa durch Christa, eine junge Frau, die einige Wohnheimkinder zu sich auf einen Bauernhof einlädt und dort mit Unmengen von Kartoffeln verköstigt, und der Anja das erste Schaumbad ihres Lebens verdankt, von dessen Existenz sie bisher nur aus Hollywoodfilmen wusste (vgl. 125 ff.). Am wichtigsten jedoch im Blick auf den erfolgreichen Verlauf ihrer Bildungskarriere sind wohl die Erfahrungen, die Anja in der Schule macht. Davon ist in dem Roman vor allem in zwei sehr gegensätzlichen Kapiteln die Rede. Im ersten werden Anjas Erfahrungen in den ersten Wochen nach der Übersiedlung geschildert, als sie auf Wunsch der Mutter schon nach wenigen Tagen aus der Förderklasse in eine normale vierte Klasse kommt. Dort heißt es: „Frau Kraus [die Klassenlehrerin; Anm. H.-C.K.] setzt mich an einen Mädchentisch. Sie stellt mich der Klasse nicht vor, erklärt nicht, woher ich komme, auch nicht, daß ich erst seit zwei Wochen in Deutschland lebe. Die Mädchen an meinem Tisch schauen neugierig zu mir herüber, und ich linse in ihre Hefte, um zu verstehen, welches Fach wir gerade haben. In der ersten Pause fallen die Mädchen über mich her, wollen wissen, wie ich heiße und wieso ich am Ende des Schuljahres in ihre Klasse komme, und stellen mir weitere tausend Fragen, die ich nicht verstehe. Ich brauche sehr lange für jede einzelne Antwort, und als sie merken, daß man sich mit mir nicht einfach unterhalten kann, wenden sie sich gelangweilt ab. In den darauffolgenden Pausen starre ich angestrengt auf meine Bücher (...) und tue so, als ob es mir nichts ausmachen würde, alleine am Tisch zu sitzen. Wenn meine Mitschüler ihre Sachen packen, um das Klassenzimmer zu wechseln, folge ich ihnen. So finde ich nach und nach raus, daß Werkunterricht in einem anderen Raum stattfindet und dienstags und donnerstags jeweils in der letzten Stunde ist. In meinen Stundenplan schreibe ich neben die schwer entzifferbaren Namen Erklärungen, auf Russisch. So steht neben Heimat- und Sachkunde ‚gelbe Hefte‘ und neben Religion ‚nur die Hälfte der Klasse‘. In meinem Zeugnis, das keine Noten beinhaltet, weil ich nur drei Wochen vom Schuljahr mitbekomme, wird später zu lesen sein: ‚Anja äußert sich mündlich nicht und antwortet nur nach ausdrücklicher Aufforderung‘ und: ‚Im Zahlenrechnen hat Anja keine Schwierigkeiten, eingekleidete Aufgaben versteht sie nicht immer.‘ Ich hasse jeden einzelnen Tag in der Schule.“ (171 f.)

Das zeigt, welche Faktoren als hinderlich für Bildungsprozesse sowohl im formalen als auch in dem hier entwickelten inhaltlichen Sinn betrachtet werden können. Hinderlich wirkt hier vor allem das Fehlen jeder Unterstützung durch die Klassenlehrerin, sei es im Blick auf einfache Informationen, sei es im Blick auf die Kontakte zu den Klassenkameradinnen. Das (vorläufige) Ergebnis liegt nahe: Nach drei Wochen plädiert die Lehrerin für Anjas Rückkehr in die Förderklasse. Da Anjas Mutter aber darauf beharrt, dass ihre Tochter es in der Re-


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gelklasse schaffen werde, muss Anja die vierte Klasse (die sie in Russland bereits absolviert hat) wiederholen. Über gegenteilige, positive Bedingungen berichtet dann ein späteres Kapitel, in dem von Anjas Erfahrungen in der neuen Klasse die Rede ist, in die sie nach den ersten Sommerferien zurückversetzt wird. Der neue Klassenlehrer, Herr Wolf, erklärt den anderen Kindern, dass Anja aus Russland komme und noch nicht so gut deutsch könne. Er setzt Anja an einen Tisch mit anderen ausländischen Mädchen, darunter einer Russin, die für sie übersetzen kann. Während des Schuljahrs lässt Herr Wolf die Kinder bunte Schals aus so vielen verschiedenen Farben stricken, wie es Schüler in der Klasse gibt. Weil Anja in Mathe besser ist als die anderen, wird sie zur „Matheexpertin“ erklärt (228). Und als sie beim Vorrechnen an der Tafel zwar richtig rechnet, aber das Ergebnis falsch ausspricht, sagt er: „Anja muß das noch lernen. Wir werden ihr helfen, die Zahlen auszusprechen, und sie wird uns helfen, rechnen zu lernen.“ (227) Nach dem Unterricht fragt Herr Wolf sie, was sie gerne mache, und als sie sagt, sie lese gerne Bücher, schlägt er ihr vor, eine Geschichte über Sankt Petersburg zu schreiben und mit drei anderen Mädchen einen Schreibklub zu gründen. Die Geschichte, die Anja dann schreibt, heißt wie der Roman „Meine weißen Nächte“ und ist gewissermaßen ihr Zugang zur deutschen Sprache. Daraus wird ersichtlich, welche Bedingungen für eine erfolgreiche Verarbeitung von Migrationserfahrungen günstig sind. Im Falle Anjas gehören dazu u.a. die Anerkennung der tatsächlich vorhandenen Vielfalt (die der bunte Schal symbolisiert, den jedes Kind am Ende des Schuljahrs bekommt), die Anerkennung mitgebrachter Fähigkeiten (wie der Mathekenntnisse Anjas und ihrer Freude am Lesen) sowie die Unterstützung bei der Integration in die Klasse und beim Aufholen der fehlenden Sprachkompetenz. Das stimmt optimistisch und klingt relativ einfach, vielleicht zu einfach. Anderseits ist dem Roman zugute zu halten, dass er die Schwierigkeiten nicht völlig verschweigt. Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, was hätte passieren können, wenn Anja nicht auf Herrn Wolf gestoßen wäre, sondern in der Klasse mit Frau Krause als Klassenlehrerin hätte bleiben müssen. Und es gibt Details der Erzählung, die dem optimistischen Schluss einen anderen, skeptischeren Faden einweben, der darauf verweist, dass auch in Anjas Fall Chancen und Risiken nah beieinander liegen und dass der Zwischenraum vielleicht gar nicht so groß ist, der ihre Geschichte von anderen Biographien und Adoleszenzverläufen trennt. Dazu zählt z.B. eine kleine, zunächst ganz unscheinbare Anekdote aus der Beschreibung der Ausreise nach Deutschland: Auf der Fahrt von Sankt Petersburg nach Baden-Württemberg macht die Familie einen Zwischenstopp auf dem


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Bahnhof in Berlin. Wie es das Klischee will, führt der erste Einkauf im Westen an einen Obststand: „Wir kaufen Bananen, sechs Stück, ein halber Monatslohn. Ich kriege die erste. Schäle sie ganz vorsichtig – da fällt sie herunter. Meine Banane fällt auf den dreckigen Asphalt. Meine erste deutsche Banane, ich heule und traue mich gar nicht, meine Familie anzusehen. Sie haben bestimmt unser ganzes Geld ausgegeben, und ich lasse sie fallen. Ich höre gar nicht auf zu heulen. Sie schieben mir die anderen Bananen hin, aber ich will keine mehr. Ich habe sie nicht verdient.“ (82)

Die Höhe der familiären Erwartungen und die Höhe des Preises, den die Ausreise kostet, bestimmen auch die potentielle Fallhöhe adoleszenter Entwicklungsprozesse. Ein normales kindliches bzw. jugendliches Missgeschick kann auf diese Weise zur Katastrophe werden. Würde sich die Haltung verfestigen, die Anja hier einnimmt („Ich habe sie nicht verdient“), und von der Banane auf anderes wie z.B. den eigenen Bildungserfolg übertragen, wäre ihre Geschichte vermutlich anders ausgegangen.

Literatur Bourdieu, P. (1992a): Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. In: Bourdieu (1992b): 49-75 Bourdieu, P. (1992b): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA Gorelik, L. (2004): Meine weißen Nächte. Roman. München: SchirmerGraf King, V. (2002): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Opladen: Leske + Budrich Kokemohr, R. (2006): Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Fremden. Annäherungen an eine Bildungsprozesstheorie. In: Koller et al. (2006) Koller, H.-C. (2002): Bildung und kulturelle Differenz. Zur Erforschung biographischer Bildungsprozesse von MigrantInnen. In: Kraul/Marotzki (2002): 92-116 Koller, H.-C. (2005): Bildung (an) der Universität? Zur Bedeutung des Bildungsbegriffs für Hochschulpolitik und Universitätsreform. In: Liesner/Sanders (2005): 79-100 Koller, H.-C./Marotzki, W./Sanders, O. (Hrsg.) (2006): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Bielefeld: transcript (im Erscheinen) Koller, H.-C./Rieger-Ladich, M. (Hrsg.) (2005): Grenzgänge. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane. Bielefeld: transcript Kraul, M./Marotzki, W. (Hrsg.) (2002): Biographische Arbeit. Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. Opladen: Leske + Budrich Liesner, A./Sanders, O. (Hrsg.) (2005): Bildung der Universität. Beiträge zum Reformdiskurs. Bielefeld: transcript Waldenfels, B. (1997a): Fremderfahrung und Fremdanspruch. In: Waldenfels (1997b): 16-53 Waldenfels, B. (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp



Zuweisung geschlechtlicher und ethnischer Zugehörigkeiten im Schulalltag Martina Weber

In diesem Beitrag wird der Einfluss von Zuweisungen geschlechts- und ethnizitätsbezogener Zugehörigkeiten auf Bildungschancen erörtert. Zunächst wird der Ertrag sozialwissenschaftlicher Debatten über die Konstruktion von Geschlecht und Ethnizität in Bildungsprozessen kritisch in knapper Form zusammengefasst. Anschließend wird an einem empirischen Fallbeispiel exemplarisch rekonstruiert, wie mit den Kategorien Geschlecht und Ethnizität verbundenes Alltagswissen schulische Interaktionen strukturiert. Schließlich wird ebenfalls an einem empirischen Beispiel die Möglichkeit ausgelotet, soziale Kategorisierungen im Schulalltag zu dekonstruieren.

1.

Das Postulat der Chancengleichheit

Die umfassenden Bildungsreformen in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960/70er Jahren zielten auf den Abbau sozialer Ungleichheiten durch eine höhere Quote qualifizierter Bildungsabschlüsse sozialstrukturell benachteiligter Gruppen. Kennzeichen dieser Zielgruppen wurden im Anschluss an Ralf Dahrendorf (1966) in dem griffigen Schlagwort des „katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ zusammengefasst. Gesamtschulen, Unterhaltszuschüsse nach dem BAföG oder die flächendeckende Einführung der Koedukation markieren Bestrebungen, den Zugang zu weiterführender Bildung nicht vom Einfluss sozialer Merkmale abhängig zu machen, sondern von den Schulleistungen. Der Abbau von Bildungsbenachteiligungen gelang allerdings nur teilweise. Noch immer sind Bildungsabschlüsse und Einkommen der Eltern in hohem Maße Ausschlag gebend für Bildungserfolge der Kinder. Dies widerspricht dem Selbstverständnis des Bildungswesens, es verteile Zertifikate allein nach dem Prinzip der persönlichen Leistungsfähigkeit von Schüler(inne)n (vgl. Solga 2005). Die meritokratische Logik des reformierten Schulwesens mit ihrem Postulat der Gleichbehandlung aller schaffte die Prinzipien ständischer Vererbung von Privilegien im Bildungswesen nicht ab, bewirkte aber, dass diese durch die Ideologie der „natürlichen Begabung“ (vgl. Bourdieu/Passeron 1971) diskreter


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wirksam sind: „Die Taxonomie, welche die schulische Wahrnehmung praktisch strukturiert und ihr Ausdruck verleiht, ist eine neutralisierte und unkenntliche, d.h. euphemisierte Form der herrschenden Taxonomie. Sie ist der Hierarchie der Eigenschaften entsprechend organisiert, die gemeinhin den Beherrschten (‚den einfachen Leuten’), den Inhabern der mittleren (‚kleinbürgerlichen’) Positionen und den Herrschenden zugeschrieben werden“ (Bourdieu 2004: 54). Im Bezug auf Mädchen waren die Bildungsreformen erfolgreicher. Mädchen haben ihren damaligen Rückstand zu Jungen aufgeholt, erzielen mittlerweile sogar die besseren formalen Schulerfolge. Daraus werden inzwischen Überlegungen abgeleitet, ob vielleicht Jungen die neuen Benachteiligten im Bildungswesen seien (vgl. Dannenböck/Meidiger 2003; Diefenbach/Klein 2002). Gleichwohl geriet die Koedukation kurz nach ihrer flächendeckenden Einführung in die Kritik.

1.1. Debatten über Mädchen In zahlreichen Untersuchungen der sich seit Ende der 1970er Jahren in Korrespondenz zur Frauenbewegung etablierenden feministischen Schulforschung konnte gezeigt werden, dass Bildungsbenachteiligungen von Mädchen allein durch den gemeinsamen Unterricht mit Jungen nicht aufgehoben wurden (Überblick u.a. in: Kreienbaum/Urbaniak 2006): Interaktionen des Unterrichts, Curricula und Unterrichtsmedien orientierten sich eher an Jungen und männlichen Lebenswelten. Die Studien der Koedukationsforschung kamen zu dem Ergebnis, dass der „heimliche Lehrplan der Geschlechtererziehung“ die Benachteiligung von Mädchen perpetuierte. Aus dieser Kritik an der Koedukation wurden Überlegungen für spezielle Bildungsangebote und Fördermaßnahmen abgeleitet, die parteilich für Mädchen seien, indem sie solche Bildungszugänge berücksichtigen und wertschätzen sollten, die als mädchenspezifische identifiziert wurden. Diese Forschungsrichtung trug zum Abbau der Benachteiligung von Mädchen bei: In der Folgezeit wurden Schulbücher und Curricula überarbeitet und Lehrer(innen) in ihrer Aus- und Weiterbildung für Geschlechterdiskriminierungen sensibilisiert. Allerdings ergibt sich aus heutiger Sicht das Problem der mit dieser Perspektive auf geschlechtsspezifische Bildungszugänge verbundenen Betonung und Fixierung von Geschlechterunterschieden, indem „eine solche Dramatisierung von Geschlecht zu einer Illusio der Ungleichheit beiträgt, die statt der beabsichtigten Aufhebung von Benachteiligungen zu einer Reproduktion von Geschlechterungleichheiten führt“ (Faulstich-Wieland 2006). Unter „Dramatisierung von Geschlecht“ sind im Anschluss an Erving Goffmans


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(2003) Theatermetaphern Inszenierungen von Geschlechtszugehörigkeit zu verstehen, die Geschlechtsunterschiede in Interaktionen aufrufen und sozial relevant machen (als Beispiel nennt Goffman Höflichkeitsregeln, wie den Vortritt für Frauen beim Betreten von Räumen). Bezogen auf die ältere Koedukationsforschung lässt sich eine solche Dramatisierung von Geschlecht erkennen, wenn z. B. eine generelle Technikdistanz von Mädchen diagnostiziert wurde und durch Kursangebote exklusiv für Mädchen mit einer „mädchenspezifischen Fachdidaktik“ überwunden werden sollte. Solche Perspektiven bergen das Risiko, symbolische Gleichheit durch symbolische Ungleichheit zu ersetzen. Stärker verallgemeinert kann resümiert werden, dass die gesellschaftspolitischen Bemühungen des Feminismus seit den 1970er Jahren dazu führten, den Anspruch von Frauen auf Gleichberechtigung mit Männern als legitim im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Maßnahmen wie die Einrichtung von Frauenbeauftragtenbüros in Verwaltungen und Unternehmen förderten die Teilhabe von Frauen in der öffentlichen Sphäre. Die Berücksichtigung besonderer Belange und Lebenswelten von Frauen ging allerdings – quasi als Dialektik der Aufklärung – mit einer Verfestigung von Geschlechterunterscheidungen einher und mit einer Fixierung von Geschlechterstereotypen im Common Sense. Traditionelle Vorstellungen z.B. von der Fürsorglichkeit von Frauen perpetuierten sich in Beschreibungen eines „weiblichen Führungsstils“.

1.2. Debatten über „die anderen“ Mädchen Eine höhere öffentliche Wertschätzung weiblicher Lebenswelten und Ressourcen bezog sich allerdings nicht auf alle Frauen, Unterprivilegierte blieben ausgeschlossen. Insbesondere in der öffentlichen Rede über Migrantinnen aus der Türkei wurden Geschlechterpraktiken als problematisch markiert. Feministisch inspirierte Publikationen über die unterdrückten Türkinnen in Deutschland erzielten teilweise hohe Auflagen (z.B. Baumgartner-Karabak/Landesberger 1978) und verbreiteten Bilder von bedauernswerten Frauen aus einer rückständigen Gesellschaft. Auch Praxisprojekte der Frauenbewegung stützten dieses Bild mit sozialpädagogischen Fallberichten (vor allem um die Anträge auf öffentliche Finanzierung zu begründen). Speziell für Mädchen der zweiten »türkischen« Einwanderergeneration wurde angenommen, dass ihre Identitätsentwicklung problematisch verliefe (vgl. die zusammenfassende Betrachtung dieser Literatur bei Schepker/Eberding 1996; Weber 1999). In der Grundannahme wird davon ausgegangen, dass sich die Mädchen an den Weiblichkeitsbildern der westlichen Moderne orientierten,


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ihnen dabei aber ein rigider Traditionalismus ihrer Eltern entgegenstünde. Das Resultat liege darin, dass die Mädchen von ihren Eltern daran gehindert würden, ihren Emanzipationswünschen entsprechend zu leben. Dies verwickele die Mädchen in einen Widerspruch zwischen dem Kontakt mit dem liberalen deutschen Umfeld einerseits, das ihnen in der Schule begegne, und den Anforderungen ihres Elternhauses andererseits. Die Auswirkung sei, dass die Mädchen in einen schweren Identitätskonflikt, den so genannten „Kulturkonflikt“ gerieten. Innerhalb feministischer Debatten wurde diese Perspektive inzwischen als „weiß, westlich-christlich und mittelschichtsorientiert“ selbstkritisch reflektiert (z.B. Gümen 1993, Kalpaka/Räthzel 1985). Auch liegen inzwischen vielfältige Forschungsergebnisse vor, die zeigen, dass sich die Lebensstile von Migrant(inn)en in den gegenwärtigen Prozessen der Individualisierung ebenso pluralisieren wie die der übrigen Gesellschaftsmitglieder auch. Im Common Sense sind solche Beurteilungsmaßstäbe allerdings noch immer populär. Alltagstheorien von pädagogisch Professionellen sind davon nicht ausgenommen (vgl. Weber 2005).

2.

Dramatisierung ethnischer und geschlechtlicher Differenzen

Die hier vorgestellten empirischen Ausschnitte sind dem Fundus des empirischen Materials entnommen, das für die Studie „Heterogenität im Schulalltag“ (Weber 2003) erhoben wurde. Das Design soll hier zunächst knapp skizziert werden. Die Leitfrage war, in welcher Weise die Kategorien Ethnizität und Geschlecht in der Konstruktion des »türkischen Mädchens« diskursiv verknüpft werden. Das besondere Augenmerk lag auf dem Beitrag solcher Zuschreibungen zu sozialen Positionierungen von Schülerinnen als Bedingung von Bildungserfolg bzw. –misserfolg. Die Erhebung wurde über ein Schuljahr hinweg im 12. und 13. Jahrgang in gymnasialen Oberstufen an vier verschiedenen Schulen bzw. drei verschiedenen Schulformen (Gymnasium, Gesamtschule, Aufbaugymnasium) in einer westdeutschen Großstadt durchgeführt. Die Datenbasis bilden transkribierte Interviews mit Schülerinnen und ihren Lehrkräften, Unterrichtsbeobachtungen, Feldnotizen, Auswertung von Unterrichtsdokumenten und Interviews mit Schulleitungspersonal. Dabei wurden die Instrumente konzentrisch um die Schülerinnen gruppiert: Ausgangspunkt an den jeweiligen Schulen war ein Interview mit einer Schülerin, die Erfahrungen als ‚türkisches’ Mädchen gemacht hatte. Danach wurde sie in den Unterricht begleitet; zunächst wurde in jedem ihrer Fä-


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cher hospitiert und möglichst alle ihre Lehrer(innen) wurden interviewt. Anschließend fand eine mehrwöchige Hospitation in drei ausgewählten Fächern statt, mit diesen Lehrer(inne)n wurde ein zweites vertiefendes Interview geführt. Den Schlusspunkt der Erhebung an einer Schule bildete ein Interview mit einer Lehrkraft aus der Schulleitung. Das folgende Beispiel stammt aus dem Interview mit Frau Abeling, einer Deutschlehrerin an einem Aufbaugymnasium. Sie beginnt mit der Problematisierung ihrer Begegnung mit einer Schülerin ihres Leistungskurses in einem zwölften Jahrgang, die inzwischen den Kurs verlassen hat. Dabei werden geschlechtliche und ethnische Zugehörigkeiten hervorgehoben: „A: Und dann war da noch Aydan. Aydan war für mich so am schwersten, und das war eine Türkin, die auch Kopftuch trägt. Also ich will mal so sagen, die Türkinnen, die Kopftuch tragen, und jetzt unsere pakistanischen Mädchen, das sind Welten. I: Was meinen Sie damit? A: Das sind Welten in der Fähigkeit, den Anforderungen der Schule Folge zu leisten, sowohl von der Bereitschaft als auch von den Fähigkeiten, so weit ich das beobachtet habe bisher. I: Woran liegt das? A: Keine Ahnung, woran das liegt. Ich habe im Vorsemester auch noch eine Türkin, die Kopftuch trägt. Die scheint mir aber auch etwas heller zu sein, was das auch immer ist. Also da über Intelligenz Aussagen zu machen, das mag ich nicht tun, das kann ich nicht tun. Weil ich weiß auch nicht, wie stark die eingeschränkt werden zu Hause, und manchmal sind sie auch so jung, da sind dann so große Altersunterschiede, da kann man natürlich auch nicht sagen, dass ein sechzehn- oder siebzehnjähriges Mädchen so frei sein muss wie eine, die neunzehn und zwanzig ist, also das kann ich einfach so nicht absehen, ne?“

Frau Abeling hatte, wie sie sagt, Schwierigkeiten mit Aydan und stellt diese in einen zunächst diffusen Zusammenhang mit einem Kopftuch. Im nächsten Satz abstrahiert sie von Aydan und formuliert Gemeinsamkeiten mit zwei Schülerinnen pakistanischer Herkunft (die ebenfalls ein Kopftuch tragen). Die Verbindung deutet sie vorerst nur an: „das sind Welten“ und erklärt diese Umschreibung auf Nachfrage mit ihrer Beobachtung von Auffälligkeiten in den Schulleistungen bei Schülerinnen mit Kopftuch. Dafür macht die Lehrerin zwei Aspekte aus: Diese Mädchen hätten weniger Fähigkeiten als andere, den Anforderungen der Schule zu genügen, und zeigten zudem weniger Bereitschaft, sich für die Schule anzustrengen. Auf erneute Nachfrage führt sie zur Erläuterung ein weiteres Beispiel einer Schülerin mit Kopftuch aus dem elften Jahrgang ein und deutet im folgenden Satz eine mögliche Erklärung für mangelnde Schulleistungen solcher Schülerinnen an, indem sie erwägt, dass eine Gemeinsamkeit dieser Mädchen in geringeren geistigen Fähigkeiten liegen könnte und die Elftklässlerin als Ausnahme vorstellt: „Die scheint mir aber auch etwas heller zu sein, was das auch immer ist“. Über das, was es sein könnte, gibt der nächste Satz Auf-


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schluss, in dem von Intelligenz die Rede ist. Gleichzeitig wird die eben angedeutete Vermutung, dass Mädchen, die ein Kopftuch tragen, weniger „intelligent“ seien, wieder zurückgenommen. Nun wird als weiterer möglicher Einflussfaktor auf Schulleistungen das Ausmaß an persönlicher Freiheit von Schülerinnen erwogen, die aufgrund des häuslichen Umfeldes eingeschränkt sein könnte oder bei manchen Mädchen aufgrund ihres jugendlichen Alters. Frau Abeling benennt nicht explizit, welchen Zusammenhang mit dem Kopftuch sie hier sieht, vermutlich bezieht sie sich auf verbreitete Annahmen, dass gerade muslimische Mädchen besonderen Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterliegen. Wenig später im Interview kommt die Lehrerin konkreter auf Aydan zu sprechen, nachdem sie zuvor ihre Schwierigkeiten mit den beiden Schülerinnen pakistanischer Herkunft geschildert hatte, die im wesentlichen darin bestanden, dass diese auf einer Kursreise besondere Bedingungen für die Verrichtung ihrer Gebete gefordert hätten. „A: Da sind die türkischen Mädchen etwas anpassungsbereiter, aber vielleicht sind sie zu angepasst, auch zu Hause zu so viel Anpassung gezwungen, dass es ihnen dann nicht gelingt, hier genügend Eigenständigkeit zu entwickeln. Also die mögen sich dann vielleicht auf bestimmte Dinge oder können sich auf bestimmte Dinge nicht einlassen. Wir haben in diesem Kurs Reden gehalten, die haben eigenständig Reden vorbereitet, und sie haben sie gehalten am Redepult, und das macht man dann so thematisch, ich habe dann gesagt, irgendwie ist es ja auch nahe daran, bereitet eine Abiturrede vor. Kriegte ich zwar viel Kritik, wir sind noch nicht im Abitur und können das ja noch gar nicht fühlen und so. Ich sagte, relativ könnt Ihr das aber doch, und das geht am ehesten. Und da hat ein Mädchen mit einem Kopftuch [Aydan, M.W.] eine Rede gehalten, so nach dem Tenor, also die Schule nimmt mir meine Freizeit, also mein privates Glück, so nach dem Tenor, also ich muss so viel für die Schule arbeiten, ich habe für nichts anderes mehr Zeit, ich werde hier gequält. Und die Schüler, die dann nachgefragt haben, warum machst du das denn, darauf kommt dann auch keine Antwort. Also, warum sie denn hier auf der Schule ist und nicht etwas anderes tut. Das war dann offensichtlich vielleicht die einzige Möglichkeit sich vor Verheiratetwerden oder so etwas zu schützen.“

Frau Abeling leitet die Erzählung mit ihrem Eindruck ein, dass „die türkischen Mädchen etwas anpassungsbereiter“ als die Mädchen pakistanischer Herkunft seien. Das für die türkischen Mädchen positiv ausfallende Urteil wird sogleich eingeschränkt, sie seien zu angepasst, dahinter wird ein repressives Elternhaus vermutet. Deshalb gelänge es diesen Mädchen nicht, Eigenständigkeit zu entwickeln, die Voraussetzung dafür sei, sich „auf bestimmte Dinge“ einzulassen. Welche Dinge damit gemeint sein könnten, schildert Frau Abeling in der folgenden Episode aus ihrem Deutschkurs. Sie habe den Schüler(inne)n die Aufgabe gestellt, Abiturreden zu schreiben. Aydan, die hier nicht namentlich genannt, sondern nur durch das Merkmal Kopftuch charakterisiert wird, habe in ihrer


Zuweisung geschlechtlicher und ethnischer Zugehörigkeiten im Schulalltag

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Rede herausgestellt, dass die Schule mit ihren Anforderungen so viel Zeit absorbiere, dass sie in ihrer Lebensgestaltung sehr eingeschränkt und deshalb unglücklich sei. Die Mitschüler hätten daraufhin gefragt, warum sie dennoch zur Schule komme, aber keine Antwort erhalten. Der Satz, mit dem Frau Abeling die Schilderung dieser Episode beendet, ist in diesem Kontext überraschend: „Das war dann offensichtlich vielleicht die einzige Möglichkeit sich vor Verheiratetwerden oder so etwas zu schützen.“ Diese weitreichende Schlussfolgerung der Lehrerin, dass der Schulbesuch dem Schutz vor einer arrangierten Ehe dienen soll, lässt sich aus dem, was sie zuvor aus der Rede wiedergegeben hatte, nicht erklären. Die Dramatisierung anhand äußerlicher Merkmale durch Kleidung wird hier deutlich: Sowohl die Rede als auch die Reaktion der Mitschüler könnten, so wie sie von der Lehrerin geschildert werden, von irgendeinem Schüler oder einer Schülerin gleich welcher Herkunft stammen. Die Offensichtlichkeit eines Zusammenhangs zu geschlechtlicher und ethnischer Zugehörigkeit, die Frau Abeling konstatiert, ist aus ihrem Bericht nicht gegeben. Der folgende Auszug aus Aydans Rede (die mir nach dem Interview in Kopie von Frau Abeling ausgehändigt wurde) lässt die Dramatisierung sowohl ethnisch-kultureller als auch geschlechtlicher Zugehörigkeiten in der Wahrnehmung der Lehrerin noch deutlicher hervortreten: „Ich und einige Freunde mußten die 11. Klasse wiederholen. Dieses Mal hatte ich einen guten Anfang gemacht, es lief alles gut und ich kam in die 12. Klasse. Ich hatte mich sehr auf die Versetzung gefreut. Danach ging es allerdings wieder weiter wie vorher. Der ständige Raumwechsel hat mich sehr geärgert. Ich habe mich oft in einem Labyrinth gefunden, wo ich nicht wußte in welchem Raum ich Unterricht habe. Die ständig zunehmenden Hausaufgaben, die kein Ende nehmen wollten, haben mir meine Freizeit gestohlen. Das wurde in der 13. Klasse besser. Da mußte ich zwar auch oft bis in die Nacht Hausaufgaben machen, aber ich konnte wenigstens am nächsten Morgen ausschlafen, weil ich fast immer zur 3. Stunde Unterricht hatte. Aber sie, die meisten Lehrer, haben ihren Unterrichtsstoff durchgezogen und haben dabei ihre Schüler, also uns ganz vergessen. [...] Die ältesten Lehrer hier an der Schule waren die schlimmsten. Sie wollten immer, daß wir brav zuhören und ihnen nicht widersprechen. Wir wurden von ihnen gezwungen, daß wir leise sind und mußten unsere Meinung für uns selbst behalten.“

Die Geschlechtszugehörigkeit der Autorin wird nur an einer Stelle in dem Einleitungssatz der Rede beiläufig erwähnt (vollständiger Abdruck des Textes: Weber 2003: 291 f.), er lautet: „Ich bin ausgewählt worden heute Abend die Rede zu halten, da ich mit meinen 16 Jahren die jüngste Schülerin auf dieser Schule bin, die ihr Abitur gemacht hat.“


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Die Rede von Belastungen im Schulalltag, auf die die Lehrerin sich im Interview bezieht, gibt keine Hinweise darauf, dass eine Geschlechtszugehörigkeit bedeutsam gemacht wird. Ethnische Zugehörigkeit wird an keiner Stelle des Textes erwähnt. Das Kopftuch scheint für die Lehrerin ein so relevantes Symbol zu sein, dass es ihre Wahrnehmung der Schülerin Aydan dominiert. Diese beklagt in der Rede Orientierungsprobleme im Schulhaus durch eine schlechte Raumverwaltung, mangelnde Freizeit durch ein zu großes Hausaufgabenpensum, mangelnde pädagogische Zuwendung durch eine Fixierung der Lehrenden auf den Unterrichtsstoff und autoritäres sowie undemokratisches Verhalten älterer Lehrender. Frau Abeling nimmt eine geringe Bildungsaspiration Aydans wahr, sie interpretiert, dass der Schülerin außerschulische Belange wichtiger seien als Hausaufgaben. Die Diskrepanz, die sich daraus ergibt, dass Aydan dennoch schulischen Anforderungen nachzukommen sucht und das Abitur anstrebt, löst die Lehrerin durch ihre Annahme auf, dass sich die Schülerin einer von den Eltern arrangierten Ehe durch den Schulbesuch entziehen möchte. Der Lehrerin soll hier nicht ein absichtsvolles (oder gar bösartiges) Missverstehen unterstellt werden. An dem Beispiel soll verdeutlicht werden, dass der dominante gesellschaftliche Diskurs über Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund unreflektiert schulische Beurteilungen vorstrukturiert.

3.

Die Macht des Diskurses

Geschlechtliche und ethnische Merkmale werden in der Interaktion zwischen Frau Abeling und Aydan nicht unmittelbar aufgerufen: In der Rede beschreibt jemand aus der Gruppe der Lernenden persönliche Schulerfahrungen, die nur beiläufig geschlechtlich und gar nicht ethnisch markiert werden. Die Interpretation der Rede als Erfahrung einer Türkin ist eine konstruktive Leistung, die das Kopftuch als visuelles Symbol in den Vordergrund rückt und für die Interaktion relevant macht. Die diskursiven Implikationen des Kopftuchs rufen soziale Mitgliedschaften auf: Die Trägerin des Kopftuchs ist weiblich und unterscheidet sich von Jungen. Die Trägerin des Kopftuchs ist türkisch und unterscheidet sich von anderen Mädchen. Diese Zuweisung geschlechtlicher und ethnischer Zugehörigkeiten schafft einen Rahmen, durch den die Lehrerin diese Episode im Deutschunterricht wahrnimmt und interpretiert. Der Mensch, der die Abiturrede verfasst hat, wird nicht als das Individuum Aydan gesehen, auch nicht als ein Mädchen oder (institutionenspezifisch) als Schülerin, sondern als „das türkische Mädchen“, das ein bestimmtes Skript hat, in dem Verhaltensmöglichkeiten durch ethnisch codierte Geschlechterzuordnungen festgelegt sind.


Zuweisung geschlechtlicher und ethnischer Zugehörigkeiten im Schulalltag

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Die sozialen Klassifizierungen „türkisch“ und „weiblich“ strukturieren in einer Verschränkung Frau Abelings Leistungsbeurteilungen. Die in ihren Augen problematische Abiturrede Aydans dient als Beispielerzählung für ein geringes Leistungsvermögen von Mädchen, die ein Kopftuch tragen. Mit ihrem Verdacht, die meisten dieser Mädchen seien weniger „helle“ als andere und mit ihrer Gewissheit, ihnen mangele es an intellektueller Beweglichkeit, steht sie nicht allein. Solcher Art Leistungsbeurteilungen durch die ethnische Zuordnung als „türkisch“ und daraus abgeleiteten Konstruktionen differenter Geschlechterpraktiken sind dominant in den meisten der (insgesamt über 60) für die Studie erhobenen Interviews mit Lehrer(inne)n: Als „türkisch“ markierte geschlechtliche Lebensstile werden auf vielfältige Weise als schwerwiegendes Bildungshindernis in der gymnasialen Oberstufe angenommen; am Symbol des Kopftuchs werden vor allem Defizite intellektueller Offenheit konstatiert (vgl. Weber 2003: 133 ff. und 174 ff.). Die von Frau Abeling geäußerte Sicht, Mädchen mit einem Kopftuch seien nicht in der Lage „genügend Eigenständigkeit zu entwickeln“ ist nur ein Beispiel unter vielen ähnlichen. Ein solches Urteil ist allerdings weitreichend, denn im Fach Deutsch ist eigenständiges Denken – wie in anderen Schlüsselfächern auch – eine grundlegende Anforderung für ein Abitur. Lehrer(innen) sind Gatekeeper für Bildungszertifikate und exekutieren die Allokationsfunktion von Schule. Die Zuweisung ethnischer und geschlechtlicher Zugehörigkeiten und darauf basierende Differenzkonstruktionen erweisen sich, indem sie als dysfunktional für den Erwerb höherer Bildungszertifikate bewertet werden, als weitere Spielart der Transformation ererbten Kapitals in schulisches Kapital, auch hier zeigt sich (noch einmal Bourdieu 2004: 54): „eine neutralisierte und unkenntliche, d.h. euphemisierte Form der herrschenden Taxonomie“.

4.

Entdramatisierung ethnischer und geschlechtlicher Differenzen

Gleichwohl ist der Diskurs nicht „Schicksal“ der Akteure. Die Entdramatisierung von Differenz im Sinne eines Ruhenlassens von geschlechtlichen und ethnischen Unterscheidungen ist denkbar. Dies bedeutet nicht, dass soziale Differenzen zum Verschwinden gebracht werden, sondern dass soziale Klassifikationen übersehen werden. Angesichts ihrer objektiven Bedeutung in der symbolischen Ordnung können sie nicht vergessen werden, „Übersehen“ ist ein aktiver Akt und ebenso wie das Betonen eine konstruktive Leistung. Der folgende Auszug aus dem Interview mit dem Gymnasiallehrer Herrn Kühnert ist ein Beispiel für Entdramatisierung von Geschlecht und Ethnizität im


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Schulunterricht. Auch in dieser Erzählung aus dem Fach Philosophie in der zwölften Jahrgangsstufe ist eine Schülerin mit Kopftuch die Protagonistin: „K: Meliha ist ein herziges Kind. Sie ist religiös erzogen, wirklich in einem positiven Sinne religiös, und sie lebt, was sie sagt, und sie taktiert nicht, und ihr ist das auch egal, welchen Erfolg sie hat, sie will eine gute, brave Tochter ihres Vaters sein. Der Vater ist wohl ein ganz großes Vorbild, sie schwärmt für ihn und die ganzen Geschwister, der Bruder ist Imam. Das ist ein Mensch, sagen wir einmal, dem taktische Erwägungen völlig fremd sind, der aus einer Mitte heraus lebt und der sich, wenn er sich denn öffnet und Vertrauen fasst, also von dem man ungeheuer viel auch haben kann, Anregungen. Ich informiere mich, ich habe nicht viel Ahnung vom Imam, er ist informiert beispielsweise über islamic banking solche Sachen. Das passt ja gerade in unser Thema vom vorigen Semester, da haben wir über Arbeit und Arbeitslosigkeit und Arbeit auch in der philosophischen Bedeutung für das Menschsein gesprochen. Da kamen wir auch auf die Zinsproblematik, und da haben wir gesagt, weiß jemand etwas vom islamic banking und Meliha, ja, ja, mein Bruder, der kann darüber einen Vortrag halten. Ich sage, komm ((lacht)). Und dann ist der Bruder gekommen, noch mit einem Studenten der Volkswirtschaftslehre, und die beiden haben uns dann erklärt, wie das funktioniert mit dem islamic banking, das war sehr interessant.“

Die Beschreibung der Schülerin Meliha greift nicht auf die gängigen Annahmen über Mädchen mit Kopftuch zurück. Hier werden diskursive Klassifikationen „übersehen“. Eine ethnische und nationale Herkunft wird nicht benannt. Das Geschlecht wird durch das Personalpronomen „sie“ markiert, das im Wechsel mit geschlechtsneutralen Bezeichnungen als „Kind“ und „Mensch“ verwendet wird. Verhaltens- und Persönlichkeitseigenheiten werden nicht als geschlechtsspezifische markiert. Meliha wird als religiös, geradlinig und familiär eingebunden beschrieben. Der Vater wird als Autorität für die Tochter charakterisiert, ohne Mutmaßungen über herkunftskulturelle Zusammenhänge. Die gesamte Beschreibung Melihas und ihres familiären Umfelds handelt von Personen und deren Beziehungen. Auch die Einladung an Melihas Bruder wird nicht an den Vertreter einer sozialen Gruppe adressiert, sondern an den Fachmann für Zinsproblematik, der durch seine beruflichen Fachkenntnisse als Imam qualifiziert ist. Insbesondere hier zeigt sich, dass der dominante Diskurs über Muslime türkischer Herkunft ausgesetzt wird: Es ist ungewöhnlich, wenn muslimische Migrant(inn)en zum Schulunterricht eingeladen werden – und zwar nicht als Anschauungsobjekte kultureller Eigenarten, sondern als gleichberechtigte Expert(inn)en für die Lösung eines Problems der Allgemeinheit.


Zuweisung geschlechtlicher und ethnischer Zugehörigkeiten im Schulalltag

5.

223

Fazit

Die Dramatisierung geschlechtlicher und ethnischer Differenzen fixiert sozialstrukturelle Klassifizierungen und leistet einen subtilen Beitrag zur Bildungsbenachteiligung allochthoner Schüler(innen). Daraus begründet sich ein Plädoyer für die Entdramatisierung als ein „Übersehen“ ethnischer und geschlechtlicher Zugehörigkeiten in schulischen Interaktionen. Doch Entdramatisierung allein greift zu kurz. Machtverhältnisse machen nicht vor der Schultür Halt; die sozialen Kategorien Geschlecht und Ethnizität sind Bestandteil der sozialen Ordnung und damit der ungleichen Verteilung sozialer Ressourcen. Diesen Zusammenhang auszublenden hätte ebenfalls eine Verfestigung von (Bildungs-)Benachteiligung zur Folge. Notwendig ist eine reflexive Pädagogik, die einerseits in entdramatisierender Weise nicht per se geschlechtliche und ethnische Besonderheiten unterstellt, aber andererseits in dramatisierender Weise sensibel bleibt für soziale Besonderungen aufgrund ethnischer und geschlechtlicher Zuordnungen. Die Forderung nach einer solchen Reflexivität richtet sich nicht nur an die pädagogischen Praktiker(innen) in Schulen und anderen Lernorten, sondern ebenso an die Planenden und Durchführenden in der Aus- und Weiterbildung sowie nicht zuletzt an die Forschenden, die erziehungswissenschaftliche Wissensbestände produzieren.

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Martina Weber

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Über die Entfaltung von Ressourcen in der Ortslosigkeit. Jugendliche in transnationalen sozialen Räumen Entfaltung von Ressourcen in der Ortslosigkeit

Ingrid Gogolin

1.

Azizas Lied

„Kendi Yolun – Dein eigener Weg“ ist ein Musikstück übertitelt. Die Interpretin dieses Stückes heißt Aziza A. Eine Strophe des Textes lautet wie folgt: Die Gesellschaft macht Dir Probleme? Kümmere Dich nicht darum, Du bist dunkel und schön. Du fragst Dich, welcher Weg richtig ist? Du wirst ihn finden, Du bist dunkel und schön. Du tanzt zwischen der alten und der neuen Welt. Du kämpfst dafür, zu leben, wie es Dir gefällt. Es ist anders, von dort zu kommen und hier geboren zu sein, es jedem recht zu machen und trotzdem frei zu sein.

Aziza A. ist eine Berlinerin: Sie ist in Berlin geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Sie liebt diese Stadt, wie sie in einem Interview sagte, weil sie hier ihre Bildung, ihre Karriere, ihre Freuden und ihre Katastrophen erlebt hat. Azizas Lied liefert eine treffende – beim Hören der Melodie noch intensivere – bildersprachliche Beschreibung für spezifische Modi der Entfaltung von Ressourcen von Jugendlichen in der Einwanderungsgesellschaft, und Ortslosigkeit spielt dabei eine Rolle. Dies möchte ich in meinem Beitrag ein wenig genauer erläutern. Zu diesem Zweck werde ich zunächst den Fall einer jungen Frau an der Schwelle zum Beruf vorstellen, die ihre speziellen Wege dabei geht, sich eine berufliche Zukunft zu erobern. Sodann werde ich diesen Fall in Beobachtungen der Migrationsforschung einbetten, die unter dem Stichwort der Transnationalität stehen.


226 2.

Ingrid Gogolin

Es ist anders, von dort zu kommen und hier geboren zu sein, es jedem recht zu machen und trotzdem frei zu sein.

Aziza A. singt den Text ihres Liedes in zwei Sprachen – Türkisch und Deutsch; zuweilen mischen sich beide. Musikalisch passt ihr Lied zum wörtlichen Paradoxon wie das Tüpfelchen auf dem i – „Von dort zu kommen und hier geboren zu sein“: Der strenge Rhythmus des Hip-Hop ist eine harmonische Verbindung eingegangen mit den fließenden Klängen einer traditionellen türkischen Musik; in der Stimme der Sängerin ist der raue, entschlossene Sound der hiesigen Großstadtjugend ebenso glaubwürdig präsent wie die jubelnden oder klagenden Töne aus dem fernen Anatolien. Genau dies – das ineinander fließende Verwenden mehrerer Sprachen, die einander teilweise überlagernden, überlappenden sprachlichen und kulturellen Traditionen und ihre Verschmelzung zu etwas Neuem – kennzeichnet sprachliche und kulturelle Praxis von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die im Kontext transnationaler sozialer Räume leben. In unserer Forschung haben wir1 uns vor allem der Frage zugewendet, ob und wie die gelebte Mehrsprachigkeit von Jugendlichen aus zugewanderten Familien hier im Einwanderungsland ‚kapitalisiert’ werden kann – also zu öffentlichem Ansehen, zu anerkannter Legitimität, zu materieller Verwertbarkeit für den persönlichen Lebensweg gelangen kann. Diese Frage stellt sich uns vor dem Hintergrund, dass in der Gesellschaft, in der wir leben, die historisch überkommene Grundüberzeugung vorherrscht, allein Einsprachigkeit sei der Normalfall menschlicher Sprachigkeit. Einsprachigkeit wird sowohl im Hinblick auf den einzelnen Menschen als Normalfall angenommen als auch in gesellschaftlicher Hinsicht; zumindest gilt dies auf dem Territorium des Nationalstaates klassischer Prägung (vgl. Gogolin 1994). Aus dieser Grundüberzeugung heraus werden die Maßstäbe dafür gewonnen, Sprachkönnen und Sprachpraxis von Menschen zu beurteilen (was nicht selten ein Werturteil über den ganzen Menschen einschließt) sowie den ‚Marktwert’ (sensu Bourdieu; vgl. dens. 1990) des sprachlichen Vermögens zu bestimmen. In der historischen Lage, in der wir sind, ist die hierzulande als legitim geltende Sprache das Deutsche, und ein Leben, das in der einen Sprache Deutsch geführt wird, gilt als das normale Leben. Andere Sprachen auf deutschem Boden bekommen unter bestimmten Umständen Teile von Legitimität zuerkannt. Dies geschieht beispielsweise dadurch,

1

Gemeint ist hier das Team des Instituts für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft in der Universität Hamburg, dem ich angehöre. Mein Beitrag stützt sich unter anderem auf die Dissertation von Sara Fürstenau (vgl. dies. 2004), die in diesem Institut entstanden ist.


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dass sie in den Kanon der Schulfremdsprachen aufgenommen sind und das Bildungswesen ihre Beherrschung evaluiert und zertifiziert. Die Sprachen Zugewanderter hierzulande aber unterliegen üblicherweise nicht diesen traditionellen legitimierenden, markwerterhöhenden Mechanismen. Das Verfügen über sie oder ihre Verwendung wird in der Öffentlichkeit zuweilen angefeindet, meist mindestens gering geschätzt. Das öffentliche deutsche Bildungswesen hat für den Ausbau und die Pflege dieser Sprachen in der Gemeinschaft ihrer Sprecher kaum Verantwortung übernommen. Sie sind nur in ausgewählten Regionen sowie einigen Schulformen und -typen als ‚schulisches Sonderangebot’ vorfindlich – und zwar als Sonderangebot von geringem Wert, weil es sich meist nur an Nichtdeutsche richtet, also nicht den Status eines allgemeinen Bildungsangebots besitzt. Der Mechanismus der Legitimierung durch ein offizielles, anerkanntes Bildungszertifikat greift also nicht. Man kann die Sprachen Zugewanderter daher als auf deutschem Boden illegitime Sprachen bezeichnen, und die Praxis, sie alltäglich neben oder zusammen mit dem Deutschen zu gebrauchen, als illegitimen Sprachgebrauch. In dieser Weise kann die sprachlich-kulturelle Sphäre in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland beschrieben werden. Zugleich aber – und dafür ist Azizas Lied ein Beispiel – sind in der deutschen Öffentlichkeit Zeichen dafür zu finden, dass diese sprachlich-kulturelle Konstitution nur eine Facette der sprachlichen Wirklichkeit darstellt. Daneben hat sich eine Vervielfachung mehrsprachiger Lebenspraxis hierzulande entwickelt, die unter anderem auf Migration zurückgeht. Ob diese eine Veränderung von sprachlichen Grundüberzeugungen und Sprachpraktiken anbahnt, die dahin geht, dass (eines schönen Tages) Mehrsprachigkeit als legitime Kompetenz und Praxis anerkannt wird – das ist freilich offen. Eine Untersuchung, in der diese Frage verfolgt wurde, ist die bereits erwähnte Dissertation von Sara Fürstenau. Sie hat Jugendliche portugiesischer Herkunft, die in Hamburg leben, nach ihren Erfahrungen mit Möglichkeiten befragt, aus ihrer portugiesisch-deutschen Zweisprachigkeit Kapital zu schlagen. Der Fokus dabei lag auf dem Übergang in das Berufsleben (Fürstenau 2004). Die Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche einer der befragten Jugendlichen stelle ich mit der freundlichen Erlaubnis der Autorin hier als Fall vor. Er lässt sich – so meinen wir – als ein Beispiel dafür lesen, dass die traditionell an Nationalstaatlichkeit gebundene Legitimierung von Sprachpraxis, die der bourdieusche Ansatz nahe legt, durch das Entstehen von ‚transnationalen sozialen Räumen’ Konkurrenz erhalten könnte. Hier nämlich sind die sprachlichen Praktiken Zugewanderter, die im nationalstaatlichen Kontext als illegitim gelten, die Voraussetzung für die Möglichkeit des Zugangs und der Teilhabe.


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Ingrid Gogolin

Der Fall von Claudia

Claudia gehört zu den 27 von Sara Fürstenau befragten Jugendlichen aus Hamburg, in deren Familien das Portugiesische neben dem Deutschen eine Rolle spielt. Leitende Fragen ihrer Untersuchung waren, welche Rolle das ist und welche Erfahrungen, Hoffnungen und Wünsche die Jugendlichen mit ihrer familialen Zweisprachigkeit verbinden. Insbesondere interessierte, zu erfahren, wie sich die familial angeeigneten, aber nicht durch ein Zertifikat aus der Regelschule im Status abgesicherten Sprachkompetenzen an der Schwelle des Übergangs von der Schule in den Beruf auswirken: ob sie sich auszahlen oder eher nicht. Claudia wurde zweimal befragt. Sie war bei der Durchführung des ersten Interviews 16 Jahre alt; sie selbst, ihre um zwei Jahre ältere Schwester und ihr vier Jahre älterer Bruder waren in Hamburg geboren und aufgewachsen. Die Sommerferien hat die Familie regelmäßig in Portugal verbracht. Claudias ältere Schwester hatte in Deutschland die 10. Klasse abgeschlossen und war dann nach Portugal gegangen, um dort weiter zur Schule zu gehen und zu studieren. Claudia selbst hat zehn Jahre portugiesischen Nachmittagsunterricht in Hamburg besucht – eine Schule neben der Schule. Damit ist Claudia übrigens kein Sonderfall: eine Vorstudie zu Fürstenaus Untersuchung, in der ca. 200 portugiesischsprachige und ca. 500 polnischsprachige Jugendliche in Hamburg befragt wurden, ergab, dass etwa zwei Drittel von ihnen den portugiesischen bzw. polnischen Sprachunterricht besucht hatten, der außerhalb der Regelschule – in beiden Fällen unterstützt von der jeweiligen katholischen Gemeinde – angeboten wird. Claudia berichtet in ihrem Interview, dass für sie sowohl das Deutsche als auch die Herkunftssprache der Familie von großer Bedeutung seien. Das Portugiesische habe mit dem Älterwerden sogar an Wichtigkeit gewonnen. Aber sie beschreibt ihre Zweisprachigkeit nicht als zwei getrennte Sprachfähigkeiten; vielmehr zeichnet sie ihren sprachlichen Alltag als ein ‚sprachliches Grenzgängertum’ – als Praxis, in der das Portugiesische und das Deutsche einander begegnen, ergänzen, durchdringen und zuweilen überlagern. Beide Sprachen können bei der Realisierung kommunikativer Absichten zusammenwirken, sich vermischen und neue, ‚hybride’ Ausdrucksformen erzeugen, deren hauptsächlicher Geltungsbereich die Gemeinschaft der Gewanderten ist. Für Claudia erfüllen ihre beiden Lebenssprachen unterschiedliche Kommunikationswünsche; so schildert sie beispielsweise: C: Am liebsten spreche ich Deutsch, wenn ich herumschreie, also wenn ich richtig aggressiv bin und so. Dann spreche ich lieber Deutsch, weil das viel schneller geht. Und wenn ich Briefe


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schreibe, schreibe ich auf Deutsch. Bloß denken tue ich auf Portugiesisch, es ist total lustig. Denken auf Portugiesisch und portugiesisch reden tue ich eigentlich nur innerhalb der Familie. Unter Freunden spreche ich lieber Deutsch.

Dabei ist sie sich der spezifischen Form ihrer Mehrsprachigkeit durchaus bewusst. Sie vergleicht zum Beispiel ihr eigenes Portugiesisch mit dem ihrer Schwester, die in Portugal lebt: C: Also meine Schwester hört sich schon so ein bisschen intellektueller an. Manchmal sagt sie irgendwelche Begriffe und ich weiß nicht, was sie jetzt meint. Also das merkt man auf jeden Fall, weil sie jetzt schon zwei Jahre dort lebt. Ich kenne das ja nur unter den Portugiesen hier, und da spricht man halt das, was man kennt.

Die Konsequenzen, die die spezifischen Umstände ihres Erwerbs und des üblichen Gebrauchs des Portugiesischen, das sie in Hamburg als ‚Migrantensprache’ (Gogolin 1988) erworben hat, für die Gestalt ihres portugiesischen Sprachbesitzes haben, sind ihr also klar. Aber sie hat auch erfahren, dass sie damit eine ausbaufähige Grundlage besitzt, um – wie die große Schwester – auch auf ein anderes Niveau (eine ‚intellektuellere Sprache’) zu kommen. Claudia hat eine positive Bewertung der familialen Zweisprachigkeit in der Schule erfahren – dies allerdings ist eine zweischneidige Geschichte, die hier ausdrücklich erwähnt sei. An die Bewertung ihrer lebensweltlichen Sprachfähigkeiten durch Lehrerinnen und Lehrer hat sie positive Erinnerungen: I: Haben sich Deine Lehrer dafür interessiert, dass Du eigentlich zweisprachig bist? C: Ja, doch, also was heißt interessiert? Die reden schon darüber, weil ich ja halt auch im Französischen und Englischen gut bin. Und dann sagen sie: ‚Oh, ist toll, wenn man so viele Sprachen so gut beherrscht’. Das ist bei den meisten Portugiesen, also überhaupt bei den meisten Ausländern so, die mehrere Sprachen und nicht nur ihre eigene Sprache gut beherrschen. Besser als die Deutschen, das ist irgendwie so. Also im Englischen zum Beispiel bin ich momentan die Beste aus der Klasse. Ich weiß auch nicht, aber der Lehrer meint, dass ich halt auch Portugiesisch kann und so auf Deutsch sprechen kann. Und die finden das einfach toll.

Claudia fühlt sich also von ihren Lehrkräften als Mehrsprachige anerkannt und hat sogar den Eindruck gewonnen, vor Jugendlichen aus nichtgewanderten Familien einen Vorteil zu haben. Bei genauerem Hinsehen allerdings wird deutlich, dass sie die Anerkennung ihrer sprachlichen Fähigkeiten nur unter ganz bestimmten Bedingungen erhalten hat: Sie erzielte gute Leistungen auch in den ‚legitimen’ Schulfremdsprachen Englisch und Französisch. Ihre Formulierung impliziert, dass darin vielleicht sogar der eigentliche Grund für die positive Bewertung ihrer von zu Hause aus mitgebrachten sprachlichen Fähigkeiten


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durch Lehrerinnen und Lehrer zu sehen sein könnte: ‚Die reden schon darüber, weil ich ja halt auch im Französischen und Englischen gut bin.’ Öffnet also Lernerfolg in den ‚legitimen Sprachen’, oder möglicherweise genereller: in den ‚wichtigen’ Schulfächern, die Tür dafür, dass auch ‚illegitimes’ sprachliches Können und Wissen nicht geringgeschätzt wird? Ein anderer Modus der Aufwertung der lebensweltlichen Kompetenzen spricht aus folgender Erinnerung Claudias: C: Früher war ich auf dem Gymnasium, da hatte ich einen Lehrer, der hat Portugiesisch gelernt, und der hat dann auch mit uns im Unterricht immer Portugiesisch gesprochen. Momentan ist der ein Jahr in Portugal, der hat sich halt ein Jahr Urlaub genommen. Und der fand das dann immer so toll, und das war auch immer schön, mit dem in Pausen Portugiesisch zu schnacken. [...] Es war ganz schön, weil man ihm selbst auch noch ein bisschen beibringen konnte, weil er das nicht perfekt beherrscht.[...] Ja, das hat Spaß gebracht, ihm Portugiesisch beizubringen.

Das eigene Bestreben des Lehrers, die portugiesische Sprache zu lernen, hat in diesem Falle eine Aufwertung von Claudias Sprachkönnen mit sich gebracht. Seine Wertschätzung ihrer Portugiesischkenntnisse war nach Claudias Erinnerung vor allem dadurch genährt, dass er Portugal als ein attraktives Urlaubsland kannte und schätzte, er also selbst angenehme Erinnerungen und einen praktischen Verwertungszweck mit seinen und ihren Kompetenzen verbinden konnte. Vielleicht ist dies – die praktische Verwertbarkeit für die Angehörigen der Majorität, womöglich noch in positiv besetztem Kontext – eine weitere Bedingung für die Legitimierung der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit von Migranten. Kommen wir zu Claudias Erfahrungen mit Bewerbungen und der Berufseinmündung. Sie hatte sich vor allem für die Ausbildungsberufe Hotelfachfrau und Reisebürokauffrau interessiert – durchaus im Bewusstsein des Umstands, dass Portugal in Deutschland als ein beliebtes Urlaubsland gilt. Claudia konnte also hoffen, aufgrund ihrer Herkunft als ‚Expertin’ für das Urlaubsland zu gelten. Die Kapitalisierung der familialen sprachlich-kulturellen Kompetenzen würde in diesem Fall auf einer ‚ethnischen Ressource’ beruhen, die speziell Migranten zur Verfügung steht. Aber Claudia hatte keinen Erfolg mit dem Einsatz dieser Ressource. Ihre Bewerbungen waren erfolglos. Zwar wurden ihre ‚ethnischen Ressourcen’ in Bewerbungsgesprächen mit Wohlwollen betrachtet, aber sie verhalfen ihr zunächst nicht zum gewünschten Berufseinstieg. Claudia resignierte jedoch nicht. Sie meldete sich zunächst bei einer Schule an, in der sie im Anschluss an den Realschulabschluss eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin beginnen konnte. Bevor sie aber ihre Absicht, eine weitere Schulausbildung in Hamburg aufzunehmen, in die Tat umsetzte,


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entschied sie sich anders. Sie wollte dem Vorbild ihrer Schwester folgen und zunächst in Portugal weiter zur Schule zu gehen. Ihr Vorsatz war, die portugiesische Oberstufe bis zur Klasse 12 zu besuchen, da sie so die Voraussetzung dafür erhalten würde, später in Portugal auch studieren zu können. Sie verfolgte mithin ihr Ziel auf einem anderen Weg weiter, ebenfalls auf ihre lebensweltlichen sprachlichen Ressourcen gestützt. Zwar hatte sie bis zu ihrem Realschulabschluss immer in Hamburg gelebt. Aber sie war zugleich über verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen in ein transnationales Migrantennetzwerk eingebunden. Jeder Sommerurlaub in Portugal bedeutete für sie, Freunde und Verwandte zu treffen, für die die Mobilität zwischen Portugal und anderen Ländern ebenfalls zur Lebensnormalität gehörte. Claudia pflegt Kontakte mit portugiesischen Migrantinnen und Migranten, die irgendwo in Deutschland wohnen – aber außerdem in der Schweiz, in Frankreich, in Brasilien. Unter ihren in Portugal lebenden Kontaktpersonen waren reichlich solche, die anderswo gelebt hatten, aber wieder nach Portugal gezogen waren. In Claudias gewohnter Umgebung ist es also durchaus üblich, einen oder mehrere Wechsel des Lebensorts zu vollziehen. Für ihr eigenes Leben kann sie sich durchaus eine Kapitalisierung ihrer Mehrsprachigkeit vorstellen, die voraussetzt, dass sie an einem anderen Ort leben muss. Mit dem Wechsel des Lebensorts ändern sich für Claudia die sprachlichen Marktverhältnisse, in denen sie ihr lebensweltliches Kapital einsetzt. Das Ansehen des Deutschen in Portugal überragt das Ansehen des Portugiesischen in Deutschland bei weitem. Deutsch ist die Sprache eines reicheren, einflussreichen Landes, wichtig für die Geschicke der Europäischen Union – und so weiter. In Portugal also ist ihr Deutsch ein wertvolles zusätzliches Sprachkapital. Es ist gesegnet mit Legitimität durch das Zertifikat der Schule in Deutschland. Zugleich ist in Portugal ihr Portugiesisch, ungeachtet des vorerst nicht verfügbaren Zertifikats, in den Status der legitimen Sprache gehoben: es ist schließlich die herrschende Nationalsprache. Wenn Claudia ihre Schulbesuchswünsche realisiert, wird sie zusätzlich eine offizielle Legitimierung ihrer lebensweltlich erworbenen Portugiesischkenntnisse erhalten. Damit wiederum wird ihr Portugiesisch an Wert gewinnen – auch beispielsweise für ein (Arbeits-)Leben außerhalb Portugals.

4.

Transnationales Leben

Soweit Claudias Erinnerungen, Hoffnungen, Wünsche. Wir wissen nicht, ob sie ihre Pläne verwirklichen konnte. Aber wir wissen, dass sie kein Einzelfall ist.


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Fälle wie der ihre entstammen der Beobachtung transnationaler Lebensweisen, die im Kontext von grenzüberschreitenden Migrationen zunehmen. Auf Forschung zu diesem Thema will ich nachfolgend noch eingehen. Grenzüberschreitende Wanderung – so besagt es diese Forschung – wird heute seltener als in der Geschichte als ein einmaliger und abgeschlossener Prozess vollzogen. Vielmehr halten Migranten auf vielfältige Weise die Verbindungen zur Region der Herkunft, zu Menschen und Institutionen dort offen – einschließlich der wiederholten zeitweisen Lebensführung im Gebiet der Auswanderung. Prinzipiell ist an diesen Beobachtungen nichts Neues. Auch in der länger zurückliegenden Geschichte sind Migrationsbewegungen keine Einbahnstraßen gewesen. Sie erfolgen zwar – vereinfacht gesprochen – meist von unsicheren in (etwas) sicherere Regionen und von wenig Erwerbs- und Lebenschancen bietenden Orten an solche, von denen sich die Migrantinnen oder Migranten bessere wirtschaftliche, politische, kulturelle und/oder soziale Möglichkeiten erhoffen. Aber schon bei den großen europäischen Auswanderungsbewegungen im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung, also im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, migrierte etwa ein Viertel bis ein Drittel der Ausgewanderten wieder in die Herkunftsregionen zurück. Am Beginn des 21. Jahrhunderts aber – vor dem Hintergrund komplexer Globalisierungsprozesse, immer leistungsfähigerer Kommunikations- und Transporttechnologien – ist das internationale Migrationsgeschehen mit dem ‚klassischen’ Modell einmaliger, unidirektionaler Ortswechsel immer weniger zu erklären. Vielmehr handelt es sich bei Migrationsprojekten zunehmend um iterative und rekursive kollektive Prozesse, an denen Personengruppen, Haushalte und Organisationen in komplexen Migrationsnetzwerken und im Rahmen historisch gewachsener institutioneller Migrationssysteme beteiligt sind. Im Zusammenhang dieses vielschichtigen Migrationsgeschehens können sich die Migrationsziele und -perspektiven im Zeitverlauf stark verändern. In der Regel werden auch die Regionen, aus denen und in die viele Menschen wandern, tiefgehend und nachhaltig von den Wanderungsprozessen umgestaltet. Wo eine kritische Masse an Migrantinnen und Migranten zwischen Herkunftsund Ankunftsregionen häufiger hin- und herpendelt, entstehen dauerhafte transnationale Verflechtungsbeziehungen. Diese können aus regelmäßigen saisonalen Pendelwanderungen bestehen – Beispiele dafür kennen wir etwa zwischen Polen und Deutschland (Gartenarbeiten, Altenpflege, Obst-, Spargel- und Weinernte). Solche Beziehungen nehmen vielfach große Festigkeit und Bedeutung an, so dass die Haushaltsökonomien in den Herkunftsregionen durch remittances – also z.B. Geldüberweisungen von den Gewanderten – unterstützt werden. Komplementär dazu wären die Leistungserstellungsprozesse in den Ankunftsregio-


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nen, z.B. aufgrund von Arbeitskräfteknappheit für landwirtschaftlicher Betriebe oder der Bezahlbarkeit persönlicher Dienstleistungen, ohne die Pendelwanderungen nicht mehr überlebensfähig. Es kann sich bei den transnationalen Verflechtungsbeziehungen aber auch um dauerhafte und sehr komplexe arbeitsteilige transnationale Sozialräume handeln (Pries 1998). In diesem Fall finden nicht nur Wechsel von einem sozialräumlichen und geographisch-physischen ‚Behälter’ in einen anderen statt. Vielmehr sind die subjektiven Selbst- und Fremdverortungen der Menschen und ihre tatsächlichen Positionssequenzen in einem pluri-lokalen und transnationalen Raum aufgespannt. Inzwischen werden in der soziologischen Migrationsforschung vier Typen von Migration identifiziert, die sich systematisch nach der jeweiligen Ausformung des Verhältnisses zum Herkunfts- und zum Ankunftsland, nach den dominanten Migrationsgründen und dem für die Migrationsentscheidungen relevanten Zeithorizont unterscheiden lassen.

Verhältnis zur Herkunftsregion

Verhältnis zur Hauptmigrations- Zeithorizont für Ankunftsregion grund/ -umstand Migration

Emigration/ Immigration

Rückbezug/ Abschied nehmen

Integration/ Neue Heimat

Wirtschaftliche/ Sozial-kulturelle

Unbefristet/ Langfristig

RückkehrMigration

Dauerbezug/ Identität wahren

Differenz/ ‚Gastland’

Wirtschaftliche/ Politische

Befristet/ Kurzfristig

DiasporaMigration

Dauerbezug als ‚Gelobtes Land’

Differenz/ Erleidensraum

Relig./politische, Organisationale

Befristet, Kurz-/ Mittelfristig

Transmigration

Ambivalent/ Gemengelage

Ambivalent/ Gemengelage

Wirtschaftliche/ Organisationale

Unbestimmt/ Sequentiell

Tabelle 1: Vier Idealtypen von Migranten (Quelle: Gogolin/Pries 2004: 9) Der erste Migrations-Typus ist die Emigration bzw. Immigration. Hierbei richten sich die Migranten auf Dauer in dem Ankunftsland ein, unterhalten zwar noch Kontakte zur ihrem Herkunftsland, integrieren und assimilieren sich aber schrittweise als Eingewanderte – vielleicht auch erst über mehrere Generationen – in die dortige Gesellschaft. Diese Form wird vielfach als der Idealtypus von Migration betrachtet (z.B. Esser 1980; 1999). Ein Beispiel hierfür sind die nach dem und als Folge des Zweiten Weltkrieg(s) – vor allem aus Osteuropa – in die BRD und die DDR, vornehmlich als Vertriebene, Zugewanderten, die etwa ein


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Viertel der Gesamtbevölkerung der beiden damaligen deutschen Staaten ausmachten (14,5 Mio. Menschen; vgl. Herbert 1986). Die zweite Form der Wanderung besteht in der Rückkehr-Migration. Hierunter ist der zeitlich befristete Landeswechsel, etwa zum Zwecke des Gelderwerbs zu verstehen, verbunden mit der Rückkehr in die Heimat nach einer mehr oder weniger ausgedehnten Periode des Aufenthalts. Der Begriff des ‚Gastarbeiters’ und die darin implizierte Idee eines ‚Gastaufenthaltes’ entsprechen diesem Typus. Der dritte Typus internationaler Migration wird als Diaspora-Migration bezeichnet. Hier ist die Wanderung in erster Linie religiös bzw. durch starke loyalitäts- und organisationale Abhängigkeitsbeziehungen bestimmt (wie z.B. bei Kirchen, diplomatischen Korps, transnationalen Unternehmen, internationalen Stiftungen etc.). Migranten dieses Typs richten sich physisch-räumlich und vielleicht auch wirtschaftlich in der Ankunftsregion ein, integrieren sich aber nur bis zu einem gewissen Grade sozial und politisch in der Ankunftsgesellschaft. Gleichzeitig und auf Dauer werden starke sozial-kulturelle Bindungen zum Herkunftsland bzw. zur internationalen ‚Mutterorganisation’ behalten. Dieser Migrations-Typus ist nicht ausschließlich, meistens auch nicht vorrangig als Arbeitswanderung anzusehen, weil die für ihn typischen Ortsveränderungen häufig durch Flucht, Vertreibung, Gesinnungsentscheidung oder ‚Entsendung’ verursacht sind. Der vierte Idealtypus internationaler Migration ist die Transmigration, von der im Zusammenhang mit Claudias Fall schon die Rede war. Dieser Typus zeichnet sich dadurch aus, dass der Wechsel zwischen verschiedenen Lebensorten in unterschiedlichen Ländern kein singulärer Vorgang ist, sondern zum Normalzustand wird. Der alltagsweltliche Sozialraum der Transmigranten spannt sich pluri-lokal über Ländergrenzen hinweg zwischen verschiedenen Orten auf. Das Verhältnis zwischen Herkunfts- und Ankunftsregion wird durch die Herausbildung von auf Dauer angelegten transnationalen Sozialräumen gestaltet. Diese Sozialräume fallen nicht mit einheitlichen Flächenräumen zusammen, wie im Falle der Emigranten/Immigranten (Ankunftsland) und der Rückkehr-Migranten (Herkunftsland). Sie sind auch nicht ein flächenräumlich zersplittertes und verteiltes System von Diaspora, die durch den einheitsstiftenden Rückbezug auf ein ‚gelobtes Land’ oder eine gemeinsame ‚Heimat’ zusammengehalten werden. Vielmehr sind diese transnationalen Sozialräume als multiple, durchaus widersprüchliche und spannungsgeladene Konstruktionen zu verstehen, in denen Identifikation mit und sozialstrukturelle Elemente von Herkunfts- und Ankunftsregion zugleich eine Rolle spielen.


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Als aktive soziale Akteure bilden Transmigranten neue kulturelle Muster und Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung heraus. Im Gegensatz zu klassischen Immigranten oder Einwanderern, die sich über mehrere Generationen in die Aufnahmegesellschaft assimilieren bzw. integrieren oder aber als Rückkehrer dauerhaft in die Herkunftsregion zurückkehren, positionieren sich Transmigranten in beiden (oder allgemein: mehreren) Regionen und Plätzen gleichzeitig (Goebel/Pries 2003; Portes/Rumbaut 2001). Die subjektiven SelbstVerortungen gestalten sich als „Sowohl-als-auch-Identitäten“. Nicht ‚zwischen den Kulturen’ bewegen sich Transmigranten, sondern sie bilden transnationale Sozialräume als neue soziale Alltags- und Lebenswelten quer zu der Ankunftsund der Herkunftsgesellschaft aus. Es entwickeln sich komplexe und dauerhafte soziale Verflechtungsbeziehungen. Diese beinhalten Alltagspraktiken, Symbolsysteme und soziale Artefakte, deren Bedeutungs- und Sinngehalt für die Handelnden selbst funktional ist – von der umgebenden ‚sesshaften’ Gesellschaft aber möglicherweise als unpassend, als Integrationshemmnis gedeutet wird. Eine beliebte pädagogische Formel für die Charakterisierung von Jugendlichen wie Aziza A. oder Claudia ist es, dass sie ‚zwischen den Kulturen’ leben – verstanden als: sie gehören nirgends hin. Anders gelesen als mit der Grundvorstellung, dass einzig ein sesshaftes, monolingual gelebtes und auf ‚eine Kultur’ orientiertes Leben normal sei, offenbart sich aber in Beispielen wie denen der beiden jungen Frauen hier eine kraftvolle Form der Lebensgestaltung und Ressourcenentfaltung für ein Leben unter Unsicherheit. Da zunehmend dies das normale Leben ist, sollte sich auch die pädagogische Forschung die Beschäftigung damit nicht länger entgehen lassen.


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Adoleszenz und Migration. Zur Bedeutung von Zugehörigkeitsordnungen Adoleszenz und Migration

Paul Mecheril/Britta Hoffarth

Experimentieren im Möglichkeitsraum Adoleszenz Bild und Begriff des Raumes spielen sozialwissenschaftlich insbesondere dann eine Rolle, wenn Situiertheit und Verfasstheit des Subjekts in es gleichsam umgebenden und durchziehenden Orientierungsmustern zum Thema wird. Die Raummetapher – die wir hier auf ein Phänomen beziehen, das zunächst dem irreversiblen Lauf der biographischen Zeit zuzugehören scheint – zielt darauf, die Kontextualität sozialer Phänomene zur Geltung zu bringen, sie zumindest zu markieren. Soziale Räume sind sozial konstruierte Phänomene, sie sind Resultat kooperativer und kompetitiver Prozesse symbolischer Zuschreibungen, entstehen aus Prozessen der Bedeutungszuweisung, die von den Akteuren eines sozialen Raumes vorgenommen werden. Der (Zeit-)Raum Adoleszenz entsteht (immer wieder neu), weil in diesem Raum Handelnde sich selbst als in diesem Raum Handelnde verstehen, entwerfen und thematisieren. In den Zeitraum der Adoleszenz ist die Adoleszenz nun aber (mindestens) ein zweites Mal als Raum des Möglichen und Nicht-Möglichen eingelassen. Distanzierung von der Familie, Ausprobieren alternativer Lebens- und Beziehungsformen, Wirksamkeitserfahrungen, in denen sich in einer ganz neuen, wenn auch zuweilen ungelenken Weise ein Gespür – Erleben wie Stil – für sich selbst herausbildet, die Erfahrung von Grenzen, deren Überschreitungen, ihre Inszenierungen, soziale, leibliche Erstmaligkeiten, die in einen anderen eigenen Körper, in andere eigene Gesten und ein anderes (Selbst-)Wissen einführen – die Aufzählung, die wir hier abbrechen, ist bekannt: „Adoleszente Individuierung benötigt (...) Spiel und Risiko, benötigt das Austesten und Überschreiten von Grenzen, das Experimentieren mit den eigenen kreativen Potentialen“ (Winkler 2005: 30). Adoleszenz, so heißt es in einem von Arnold, Eysenck und Meili herausgegebenen Lexikon der Psychologie (1980: 22), ist die „Periode der Nachpubertät, in der sich die personale Selbstverantwortung zu festigen beginnt. (...) Symptomatisch für diese Phase der Entwicklung ist das Streben nach Freiheit. (...)“.


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Paul Mecheril/Britta Hoffarth

Eine genaue Auseinandersetzung mit diesen und verwandten Auffassungen und vorliegenden theoretischen Explikationen wäre unseres Erachtens sinnvoll als eine Kritik des Adoleszenzbegriffs anzulegen und würde zumindest drei Aspekte problematisieren: Kritik des quasi-organische Abläufe suggerierenden Entwicklungs- und Phasenbegriffs; Kritik der normierenden Wirkung von Konzepten, die die allgemeine Erfordernis der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben hypostasieren; Kritik der differenz-, kontext- und variantennivellierenden Konsequenz von universellen Phasenkonzepten. Zwar vor dem Hintergrund dieser Kritik, diese gleichwohl überspringend verstehen wir hier „Adoleszenz“ als Bezeichnung weniger eines Lebensabschnittes als vielmehr eines Lebenszusammenhangs, in dem Einzelnen die intensive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zu sich selbst nahe gelegt ist, ein Selbstbezug, der sich im Verhältnis zu relevanten sozialen Kontexten ereignet. Die Entkoppelung von Adoleszenz und Lebensabschnitt ist an kultur- und gesellschaftsspezifische Prozesse der Enttraditionalisierung, Pluralisierung und Individualisierung gebunden; sie muss freilich als relative Entkopplung (und relative Kopplung) verstanden werden, da ein bestimmter Lebensabschnitt kulturell (etwa medial) auch weiterhin in besonderer Weise mit adoleszenten Bedeutungen und Zuschreibungen befrachtet wird. Der Raum der Adoleszenz zeichnet sich insofern nicht nur dadurch aus, dass in ihm Probe- und Als-obHandlungen möglich sind, ein Raum zugestandener Versuchsweisen, ein Tentamen, sondern dass diese Handlungen gewissermaßen erforderlich sind, um von Adoleszenz sprechen zu können. Eine Kultur, die den adoleszenten Raum kennt, ist darauf angewiesen, dass die als adoleszent Geltenden sich probend, ungelenk, unmäßig, übersteigert, irrend und stümpernd, kurz: adoleszent verhalten, ansonsten wäre die Differenz zwischen Adoleszenz und Nicht-Adoleszenz hinfällig. Dass unter Bedingungen von Pluralisierung und Destandardisierung das, was jeweils als „ungelenk“ und „gelenk“, also als „adoleszent“ und sein Anderes gilt, unklar und vielfältig geworden ist, ändert nichts daran, dass es praktisch bedeutsame Vorstellungen über Vorläufigkeit, Individuation etc. geben muss, um überhaupt von Adoleszenz sprechen zu können. So können letztlich zwei Adoleszenzbegriffe unterschieden werden. Zum einen stellt Adoleszenz einen Erfahrungs- und Möglichkeitsraum der „individuierenden“ Verhältnissetzungen dar, der nicht notwendig und allein auf die gemeinhin als „adoleszent“ geltende biographische Periode beschränkt ist. Zum anderen ist „Adoleszenz“ eine kulturelle Konstruktion biographischer Periodizität, die nicht determinierend, aber wirkmächtig ist und Handlungsweisen, Selbstverständnisse, Deutungs-, Legitimierungs- und Plausibilisierungsmuster differentiell beeinflusst: Gewisse Flausen, eine für andere wahrnehmbare und


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womöglich praktisch relevante Unstetheit wird eine fünfzigjährige Frau ungleich schwerer sozial verständlich machen können als eine Sechzehnjährige. Adoleszenz ist ein von einer bestimmten Phase im Lebenslauf relativ unabhängiger Lebenszusammenhang, für den komplexe Relationierungen in signifikanter und irgendwie übersteigerter Weise kennzeichnend sind: ich setze mich in ein kognitives, affektives, leibliches, symbolisches, ästhetisches Verhältnis zu mir selbst, indem ich mich in ein Verhältnis zu politischen, kulturellen, sozialen Kontexten setze, vice versa; ich werde in ein Verhältnis zu politischen, kulturellen, sozialen Kontexten gesetzt, indem ich in ein kognitives, affektives, leibliches, symbolisches, ästhetisches Verhältnis zu mir selbst gesetzt werde, vice versa. Wir gehen insofern davon aus, dass das kulturelle Artefakt „Adoleszenz“ sich in besonderer Weise durch Bildungsprozesse, für die ja Verhältnissetzungen der angesprochenen Art konstitutiv sind, auszeichnet. Wer, wie wir, einen Adoleszenzbegriff präferiert, der non-normativ ist, wird Adoleszenz deshalb nicht nur weniger eng an festgelegte Lebensabschnitte binden, sondern auch nicht ausschließen, dass es biographisch-diachron möglich ist, aus adulten in adoleszente „Zustände“ zu übersetzen und wird schließlich Adoleszenz (synchron) als kontextspezifisch möglichen, also bedingten Zustand „übersteigerter Verhältnissetzung“ fassen. Der Adoleszent ist Akteur seiner Lebenswelt, seine Teilhabe an sozialen Kontexten artikuliert sich über eine aktive Gestaltung und Auseinandersetzung mit ihren Grenzen und Möglichkeiten. Der von dieser Selbst-Tätigkeit strukturierte Prozess der Individuation steht in einem Verhältnis wechselseitiger Ergänzung zu Bedingungen der Generativität und ist damit auch an die Ausgestaltung generationaler Ordnung gebunden. Generativität kann verstanden werden „als dialektisches Komplement der adoleszenten Individuation“ (King 2004: 11), sie bezeichnet die „Gesamtheit der zur Verfügung stehenden oder gestellten Haltungen und Ressourcen“ wie auch „die im Prozess der Individuation zu erringende Position und Fähigkeit der Wirkmächtigkeit“ (ebd.: 13). Der hier bedeutsame Begriff von Adoleszenz vereint damit sowohl die alltagsweltlichen Bedingungen der Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten, als auch den – nicht allein auf einen Lebensabschnitt beschränkten – Prozess des Erarbeitens gesellschaftlicher Position und Teilhabe in immer auch intergenerationaler Hinsicht. Allerdings gehen wir davon aus, dass die durch das Überschreiten und Einhalten von Grenzen gewonnene Position des und der Einzelnen im Kontext eines gesellschaftlichen Zusammenhangs kontingent ist; dies bedeutet zweierlei: es musste so nicht kommen (wobei es freilich erklärbar ist, warum es gerade so gekommen ist) und es kann sich verändern, wodurch die Position prekär, also widerrufbar wird.


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In einem chemischen Experiment werden verschiedene Elemente gemischt und ihre gemeinsame Reaktion im Hinblick auf die Verifizierung oder Falsifizierung einer zuvor erstellten Hypothese beobachtet. Das psychologische Experiment ist eine kontrollierte Untersuchungsmethode, bei welcher unter ebenso systematischen wie manipulativen Bedingungen das Verhalten nicht von Handlungssubjekten, wohl aber von Versuchspersonen beobachtet wird. Bedingungen, die als bekannt gelten, stellen hier unabhängige Variablen dar und unbekannte Reaktionen heißen abhängige Variablen. Im Unterschied hierzu verläuft das soziale Experimentieren der Adoleszenz, insbesondere unter Bedingungen posttraditionaler und im Hinblick auf intergenerationale Traditionen vervielfältigter und beschleunigter Gesellschaften, nicht methodisch strukturiert und ist für die Experimentierenden in der Regel geprägt dadurch, dass sämtliche „Variablen“ abhängige und die Umstände des Experimentierens im Sinne von Vorhersagbarkeit eher unkontrollierbar sind. Im Zuge dieses alltagsweltlichen Experimentierens unter Außerlaborbedingungen finden Lernprozesse statt, die für den Prozess der Individuation und Generativität konstitutiv sind: aus der versuchsweisen Erprobung von Handlungsweisen und der Erfahrung von Grenzen und Möglichkeiten einer Situation ergeben sich in einer durchaus auch kognitiven, wohl aber in erster Linie leiblichen und verleiblichenden Weise Konsequenzen für weitere Handlungen, Orientierungen, Selbst- und Weltverhältnisse. Dieser (Bildungs-)Prozess gestaltet sich wesentlich weniger zielgerichtet als der in den Büchern beschriebene Prototyp des wissenschaftlichen Experiments und ist gekennzeichnet von (notwendiger) Risikobereitschaft, einem hohen Einsatz und der Herausforderung, mit einem möglichen Scheitern – das sich nicht vorhersagen lässt, wohl aber individuell und situativ interpretierbar ist – umgehen zu können. Fehler zu machen, konventionale, gesetzliche und moralische Grenzen zu erfahren, bedeutet nicht allein das Risiko, sich selbst zu schwächen oder zu verletzen, sondern birgt auch die Chance, sich gegenüber sozialen Regeln zu positionieren, indem diese bestätigt und alternative Les- und Handlungsarten entwickelt werden. Das soziale Experimentieren der Noch-nicht-Erwachsenen und Nichtmehr-Erwachsenen (und Bald-wieder-Erwachsenen) kann beschrieben werden als Prozess, der von der ausgeprägten Bereitschaft strukturiert wird, sich auf das dialektische Wechselspiel von Wissen und Nicht-Wissen, von kulturell Vertrautem und Unvertrautem, von sozialer Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit einzulassen, dieses Spiel selbst zu gestalten und in der Gestaltung dieses Spiels sich selbst sozial und gesellschaftlich zu erfahren. Die Erfahrungsräume der Adoleszenz sind, anders als es der romantische Jugendfilm und zuweilen auch das retrograde Phantasma des eigenen Heran-


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wachsens suggerieren1, nicht frei oder leer, ihre Begrenzungen, wie schon die Raum-Metapher anzeigt, sind für die in ihnen handelnden und dadurch zu Subjekten werdenden Individuen real spürbar. Diese Räume sind strukturiert durch soziale Ordnungen der Zugehörigkeit und ihre Regeln. Das Experimentieren in ihnen unterliegt damit Beschränkungen: etwa durch das Generationenverhältnis vorgegeben, durch Regeln der Schule und des Schulsystems oder durch den Code bestimmter (jugend-)kultureller Gruppen. Das Erleben und das (Wieder-)Erzählen dieser Beschränkungen und Grenzen sowie die sich darin und daraus ergebende eigene Positionierung formieren sich als Erfahrung des Subjekts. „Erfahrung“ kann pragmatistisch verstanden werden als sich im Kontext von Handlungsvollzügen ergebende, nicht epiphänomenale, sondern für Handlungen konstitutive Bedeutungszuschreibung und Repräsentation. Erfahrungen sind mit John Dewey (2000) weder aktiv noch passiv, sondern ergeben sich als Verschränkung von „Tun“ und „Erleiden“: „Wir wirken auf den Gegenstand ein, und der Gegenstand wirkt auf uns zurück (...)“ (ebd.: 186). Aushandelnde Interaktionen mit Peers, mit anderen NichtErwachsenen führen in Auseinandersetzung mit plausiblen Autoritäten, also Personen, die im Beziehungskontext des und der Nicht-Erwachsenen eine Vertrauens- und/oder Respektsposition einnehmen, dazu, dass eigene Handlungsstile und –praxen entwickelt werden. Alltägliche Handlungs- und Kommunikationsabläufe, das problemlose Bewegen in der gewohnten Umwelt und ihre ungebrochene Erfahrung, die Symbiose von Erfahrung und Gegenstand, ihre Ungeschiedenheit werden von Dewey als „primary experience“ bezeichnet. Diese Erfahrung wird jedoch prekär, sobald Situationen sich als problematisch erweisen, das heißt, sobald scheinbar zuverlässige Deutungsmuster nicht mehr als Basis erprobter Handlungsweisen dienen können. Prozesse der Reflexion ermöglichen in dieser neuen Situation, Konkretes zu abstrahieren, für fragliche Aspekte der Situation, etwa die Konsequenzen des eigenen Handelns, einen Rahmen zu konstruieren, der mögliche Konsequenzen auf eine überschaubare Anzahl reduziert und damit vorübergehende Handlungsfähigkeit gestattet. Diese Re- und Neu-Konstruktion von Bedeutung fasst Dewey im Begriff der „secondary experience“ (vgl. Neubert 2004). In diesem Moment der Reflektion des eigenen Handelns sowie seiner Konsequenzen und der Entwicklung neuer Bedeutung liegt ein zentraler Angelpunkt adoleszenter Kreativität und Veränderung. Individuelle Repräsentationen dieses 1

Wie bei retrograd aus einem Verb oder Adjektiv gebildeten Substantiven, die den Eindruck erwecken, die Grundlage des betreffenden Verbs oder Adjektivs zu sein z. B. Kauf aus kaufen, Blödsinn aus blödsinnig (wir halten uns hier eng an den „Duden“), verschiebt und verdreht das retrograde Phantasma das Verhältnis von Ermöglichungsbedingung und Effekt.


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Veränderns, wie Narrationen, Erinnerungen, Selbst- und Welt-Konzepte, strukturieren sich einerseits in der Dialektik von (riskanter) Aktion und (reflektierter) Konsequenz des experimentellen „Durchschreitens“ des Erfahrungs- und Möglichkeitsraums. Doch wirksames Handeln, emotionale Partizipation und Repräsentation von Veränderung (Differenz) und Gleichbleiben (Identität) werden zugleich durch das bestimmte Geordnet-Sein sozialer Kontexte geformt, die den Möglichkeitsraum der Adoleszenz vor dem Hintergrund beispielsweise gesellschaftlicher Konzeptionen von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit strukturieren. Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit2 Zugehörigkeitsordnungen subjektivieren Tülay: Ich versuche seit Monaten meine Aufenthaltserlaubnis zu kriegen. Ich kriege dauernd immer nur zwei Jahre, nur zwei Jahres, obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin. Sven: Mhm. Tülay: Schon mit dem Aufenthalt das ist wichtig, das wär für mich, wenn ich das kriege. Sven: Ja, da war ja die schlimme Geschichte mit Canar, die abgeschoben wurde... Tülay: Ja, ja Sven: Ich glaub, da wird auch ein Schock versetzt, das war schon ziemlich schlimm. Tülay: Ich hab auch ziemlich Angst davor, daß ich jetzt mit meinem unbefristeten Aufenthalt, daß da was passieren könnte, ja ich weiß ja auch nicht mehr wo ich hingehöre! Wenn ich in meine Heimat geh, bin ich ja auch fremd, ne. (Kurzes Schweigen) (Sauter 2000: 186)

Migration konturiert und rekonturiert das Bekannte und das Bestehende. In politischen und alltagsweltlichen Auseinandersetzungen um das Thema Migration geht es immer um die Frage, wie und wo ein nationalstaatlicher Kontext seine Grenze festlegen und wie er innerhalb dieser Grenze mit Differenz, Heterogenität und Ungleichheit umgehen will. Migration problematisiert Grenzen. Dies sind nicht so sehr die konkreten territorialen Grenzen, sondern eher symbolische Grenzen der Zugehörigkeit. Durch Migration wird die Frage der Zugehörigkeit – nicht nur die der sogenannten Migrantinnen und Migranten – individuell, sozial und auch gesellschaftlich zum Thema, da durch Migration eine Diffe2

Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf theoretischen und empirischen Studien zu natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsverhältnissen, welche durch einen prekären Status gekennzeichnet sind, der aus dem in der deutschen Migrationsgesellschaft eine „normale Unnormalität“ beschreibenden Fall von Mehrfachzugehörigkeit resultiert (Mecheril 2003).


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renzlinie problematisiert wird, die zu den grundlegendsten gesellschaftlichen Unterscheidungen gehört, die das „Innen“ von dem „Außen“ scheidet. Migration ist somit nicht angemessen allein als Prozess des Überschreitens von Grenzen beschrieben, sondern ein Phänomen, das die Thematisierung und Problematisierung von Grenzen zwischen „Innen“ und „Außen“ und zwischen „Wir“ und „Nicht-Wir“ nach sich zieht und damit sowohl die Infragestellung einer fundamentalen Unterscheidung gesellschaftlicher Ordnung vornimmt als auch ihre Stärkung. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum Erfahrungen und Phänomene der Zugehörigkeit gegenwärtig von Bedeutung sind: Unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen der Irritation von Zugehörigkeitsverhältnissen wird Zugehörigkeit – als Topos wie als Erfahrung – zum Thema. Wir sprechen über Zugehörigkeiten, weil Zugehörigkeit zum Problem geworden ist – individuell und überindividuell. Noch klarer, als man dies bei Dewey nachlesen kann, müssen wir „Erfahrungen“ als Phänomene verstehen, die in einem strikten Sinne aus sozialen, sprachlich-kulturellen und politischen Kontexten resultieren. Erfahrungen existieren nicht an sich und nicht für sich, sondern sind in einer umfassenden Weise in diskursive Zusammenhänge eingebettet und werden in diesen Kontexten hervorgebracht. Mit diesem Hinweis spielen wir nicht auf jenes in der Allgemeinen Psychologie geläufige Verständnis an, das „Erfahrung“ als „Erlebnis plus Bedeutung“ versteht. Eher geht es uns hier darum, Erfahrungen, seien diese nun vorsprachlicher (z.B. Aufmerksamkeitsänderungen, Orientierungsreaktionen, intensive „unmittelbare“ Empfindungen, Affekte) oder sprachlicher (z.B. Tagebuchaufzeichnungen, narrative Mitteilungen, „subjektiv“ theoretische Ausführungen) Art, in einem radikalen Sinne kulturalistisch, das heißt, als aus Strukturen resultierend zur Geltung zu bringen, die bestimmte Bedeutungszuschreibungen und Praxisformen ermöglichen, andere verhindern. Adoleszente Erfahrungen in der Migrationsgesellschaft werden nicht allein, aber in einer bedeutsamen Weise von Zugehörigkeitsordnungen strukturiert. Einige dieser Ordnungen, die auf Grund ihrer grundlegenden sozialen, politischen und individuellen Bedeutung als fundamental bezeichnet werden können – Gender, race, Klasse – finden die Adoleszenten nicht nur vor, sie sind mit ihnen bereits vertraut, weil es sich um Ordnungen handelt, die biographisch früh strukturierend auf Erfahrungen, Verständnisweisen und Praxisformen wirken. Die sozialisierende Wirkung von Zugehörigkeitsordnungen besteht darin, dass sie Selbstverständnisse praktisch, also kognitiv-explizit, aber noch viel entscheidender sinnlich-leiblich vermitteln, in denen sich soziale Positionen und Lagerungen spiegeln, so wie sie ein Verständnis der sozialen Welt vermitteln, in


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dem sich die eigene Stellung in ihr darstellt. Zugehörigkeitsordnungen sind Ordnungen hegemonialer Differenz, in ihnen wird folgenreich unterschieden, in ihnen lernt man sich kennen, in ihnen bilden sich Routinen des Körpers, der Sprache, des Denkens aus, die den eigenen Platz in einer sicher nicht starren, aber gut gesicherten Reihe von hierarchisch gegliederten Positionen wiedergeben. Das Zusammenspiel der Zugehörigkeitsordnungen könnte in dem (im Übrigen das menschliche Vorstellungsvermögen überschreitenden) Bild eines mehrdimensionalen Raumes gesellschaftlicher Ungleichheit und Ungerechtigkeit wiedergegeben werden. Gender, Klasse, race stellen Dimensionen der Ungleichheit und Differenz dar3, die Interessen, Temperamente, Identitäten einer jeden Person berühren: (Fundamentale) Zugehörigkeitsordnungen subjektivieren. Da es im Diskurs über Adoleszenz nicht unüblich ist, mit der Vokabel „Identität“ zu operieren, da als wesentliche Aufgabe der Adoleszenz gar die Entwicklung einer „Ich-Identität“ prominent bezeichnet worden ist (Erikson 1985), wollen wir kurz darauf aufmerksam machen, was dafür spricht, Adoleszenz hier zugehörigkeitstheoretisch und nicht identitätstheoretisch zu untersuchen. „Identität“ ist eine (sozial-)psychologische Kategorie, mit der nach der Angemessenheit individueller Lebensentwürfe vor dem Hintergrund biographisch nahe gelegter individueller Vermögen und sozialer Rahmenbedingungen gefragt wird. Es gibt – aus der Perspektive des Individuums, aber auch aus der des relevanten sozialen Kontextes festgestellt – gelingende und misslingende Formen von Identität, unerfreuliche Antworten auf die „Wer bin ich?“-Frage. „Zugehörigkeit“ hingegen kennzeichnet deutlich klarer als der Identitätsbegriff eine Relation, allgemein, wir beschränken uns auf „soziale Zugehörigkeit“, die Relation zwischen einem Individuum und einem sozialen Kontext, in dem Praxen und Konzepte der Unterscheidung von „zugehörig“ und „nichtzugehörig“ konstitutiv für den Kontext sind. Im Zugehörigkeitsbegriff wird das Verhältnis von Individuum und sozialem Kontext fokussiert, im Identitätsbegriff vorrangig die zwar sozial vermittelten, dennoch individuell zu verantwortenden Fähigkeiten des Individuums. Dieses hat bekanntermaßen die von George Herbert Mead aufgezeigte Paradoxie des „Sei wie keine andere“ und „Sei wie alle 3

Weitere wichtige Dimensionen wären: sexuelle Orientierung, körperlich-intellektueller Normalitätsstatus ... Mit anderen Worten: die Untersuchung der Frage, welche Zugehörigkeitsordnungen unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen fundamentale Ordnungen bezeichnen, wie es sich mit der Verwandtschaft und Besonderheit ihrer Operationsmodi verhält, worin die Spezifität der subjektivierenden Wirkung der jeweiligen Zugehörigkeitsordnung besteht etc., kann hier nicht geleistet werden, sie bedarf einer anderen Zeit und eines anderen Rahmens.


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anderen“ praktisch, aber auch kognitiv-emotional zu balancieren und darzustellen. Identität ist dem Individuum nicht gegeben, sondern „aufgegeben“ (Böhme 1996), sie muss geleistet und behauptet werden. Und dazu bedarf es bestimmter zwar sozial vermittelter, aber letztlich doch vorrangig auf der Ebene des Individuums thematisierter Identitätsbehauptungsfähigkeiten, wie etwa „Empathie“, „Rollendistanz“, „Ambiguitätstoleranz“ und „Identitätsdarstellungskompetenz“ (Krappmann 1973). Mit dem Identitätsbegriff wird gefragt, wie Individuen personale Kohärenz, Kontinuität und Konsistenz herstellen oder mit Inkohärenz, Diskontinuität und Inkonsistenz umgehen bzw. produktiv umgehen können. Beim Zugehörigkeitsbegriff wird gefragt, unter welchen sozialen, politischen und gesellschaftlichen und von diesen vermittelten individuellen Bedingungen Individuen sich selbst als einem Kontext zugehörig verstehen, erkennen und achten können. Zugehörigkeitserfahrungen sind Phänomene, in denen die Einzelne ihre Position in einem sozialen Zusammenhang und darüber vermittelt sich selbst erfährt. Für die Zugehörigkeitsdimension, die in der Regel angesprochen ist, wenn über die mit Migrationsphänomenen einhergehende Irritation von Zugehörigkeitsverhältnissen nachgedacht wird, finden sich häufig Bezeichnungen wie „ethnische“ oder „kulturelle“ Zugehörigkeit. Wir wählen den Ausdruck natioethno-kulturelle Zugehörigkeit (genauer Mecheril 2003, Kap. IV). In einer analytisch unterscheidenden Einstellung (also unter künstlicher Absehung von weiteren Zugehörigkeitsdimensionen und der Komplexität ihres Zusammenwirkens) soll diese den Erfahrungs- und Möglichkeitsraum Adoleszenter in der Migrationsgesellschaft strukturierende Zugehörigkeitsdimension genauer betrachtet werden.

Mitgliedschaft, Wirksamkeit und Verbundenheit Obwohl Bezeichnungen wie „türkisch“, „italienisch“, „deutsch“, „arabisch“ alltägliche Bezeichnungen und geläufige Praxen der Unterscheidung sind, werden sie in ihrer Bedeutung unklar, sobald gefragt wird, was sie eigentlich genau unterscheiden. In der alltäglichen Verwendung solcher Bezeichnungen sind sehr unterschiedliche Ideen, nicht immer in gleicher Weise, miteinander verbunden, vermischt und ineinander verschränkt. „Deutsch“ etwa weist auf ein bestimmtes geographisches Gebiet hin, auf eine politische Ordnung, eine Sprache; das Wort weist zuweilen auf eine Lebensform oder eine Gruppe von Lebensformen hin, die in einer Art Familienähnlichkeit verbunden scheinen, und zeigt einen sozialen und gemeinschaftlichen Zusammenhang an, dem man nicht allein aufgrund


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eines Zertifikates, sondern in einer wie auch immer „tiefer“ reichenden Weise zugehört. Der Ausdruck „deutsch“ ist überbestimmt, diffus und unscharf – die Bezeichnung „natio-ethno-kulturell“ bringt dies zum Ausdruck. Sie ruft in Erinnerung, dass die sozialen Zugehörigkeitsordnungen, für die Phänomene der Migration bedeutsam sind, von einer unbestimmten „Wir“-Einheit strukturiert werden. Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitskontexte sind – um es aus der Perspektive des und der Einzelnen zu formulieren – faktische und imaginäre Räume, die den Einzelnen nicht gegenübergestellt sind, in denen sie vielmehr ein handlungsrelevantes Verständnis ihrer selbst erlernen und praktizieren. In natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitserfahrungen setzen sich Individuen in ein Verhältnis zu natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskontexten und werden in diesen Erfahrungen in ein Verhältnis zu diesen symbolischen und imaginierten Kontexten mit territorialer Referenz gesetzt. Aus dem dialektischen Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdrelationierung, den positiven wie negativen Zugehörigkeitserfahrungen, dem Verhältnis und Profil bejahender und verneinender Zugehörigkeitserfahrungen bilden sich übergeordnete Strukturen der Kenntnis, des Handelns und Befindens aus, in denen die Einzelnen ihren kontextspezifischen Zugehörigkeitsstatus verstehen. Zugehörigkeitserfahrungen formieren Zugehörigkeitsverständnisse. Zugehörigkeitsverständnisse bezeichnen emotionale, epistemische und praktisch-leibliche Muster, die situative Zugehörigkeitserfahrungen zusammenfassen, abstrahieren und verdichten. Diese Muster werden durch positive und negative Erfahrungen strukturiert, zugleich strukturieren sie Zugehörigkeitserfahrungen. Zugehörigkeitsverständnisse sind Selektions- und Konstruktionsschemata. Sie arrangieren Erfahrungen und ordnen ihnen jeweilige Bedeutung im Gesamtzusammenhang der individuellen Zugehörigkeit zu. Besonders im als adoleszent geltenden und/oder als adoleszent beschreibbaren Erfahrungs- und Entwicklungsraum, in dem die Aushandlung von sozialen Zugehörigkeiten einen zentralen Aspekt bezeichnet, bilden sich aus Erfahrungen der Zugehörigkeit sowie der Nicht-Zugehörigkeit auf Zugehörigkeit bezogene Verständnisse aus. Auf der – nicht abgeschlossenen und stets in Wandlung befindlichen, dennoch soziale Beziehungen gestaltenden – Grundlage dieser Zugehörigkeitsverständnisse bewegen und verstehen sich Individuen in sozialen Kontexten und ermöglichen dadurch weitere Zugehörigkeitserfahrungen. Das Verhältnis, das ein Individuum zu einem Zugehörigkeitskontext einnimmt, ist von dem Verhältnis abhängig, das gewissermaßen der Zugehörigkeitskontext zum Individuum einnimmt und ihm mittels der Widerständigkeit sozialer Vorgaben, mittels alltäglicher Erfahrungen und daraus resultierender


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Erwartungen anzeigt. Zugehörigkeitsverständnisse sind aktive Positionierungsund Depositionierungsakte, welche von der Struktur des sozialen Feldes, in dem die Akte situiert sind, durchzogen sind. Subjektive Zugehörigkeitsverständnisse verweisen auf Verhältnisse, in denen sich Individuen in Relation zu sozialen Kontexten verstehen. Die Verhältnisse entstehen im Lichte der Verständnisse „anderer“. Sichtweisen konkreter anderer innerhalb und außerhalb des Zugehörigkeitskontextes, die direkt oder indirekt Auskunft über die Zugehörigkeit einer Person geben, ebenso wie die erwartbare, bestätigte und imaginierte Auskunft generalisierter anderer, konstituieren das je eigene Zugehörigkeitsverständnis. Im Feld der zugehörigkeitsrelevanten Stellungnahmen anderer, einer Geste, einer Frage („Wo kommst Du her?“), einer Bemerkung („Du sprichst aber gut Deutsch“) entwickelt sich das strukturierte und strukturierende Muster der je eigenen Zugehörigkeitsstellung. Zugehörigkeitserfahrungen, aus denen sich natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsverständnisse bilden, sind nur denkbar, weil es eine politische, interaktive und semantische Ordnung natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit gibt. Ohne (Zugehörigkeits-)Ordnung keine (Zugehörigkeits-)Erfahrungen. Um die analytischen Elemente der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung näher zu bestimmen, macht es Sinn, in einer idealtypischen Einstellung nach den Bedingungen zu fragen, unter denen sich Menschen einem natio-ethno-kulturellen Kontext als fraglos zugehörig beschreiben. Menschen tun dies, wenn sie sich selbst als symbolisches Mitglied des Kontextes erkennen und von bedeutsamen Anderen als Mitglied erkannt werden, wenn sie in dem Kontext in einer ihnen gemäßen Weise habituell wirksam und schließlich an den Kontext lebensgeschichtlich gebunden sind. Symbolische Mitgliedschaft, habituelle Wirksamkeit und biographisierende Verbundenheit sind mithin die Konstitute fragloser natioethno-kultureller Zugehörigkeit (ausführlich Mecheril 2003: 118-251). Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen operieren somit mit Vorstellungen und Regeln, die Mitgliedschaft, Wirksamkeit und Verbundenheit betreffen und regulieren. Konzepte, die Mitgliedschaft, Wirksamkeit und Verbundenheit in einem Zugehörigkeitskontext dominant regulieren, haben disziplinierende und subjektivierende Funktionen. Mitgliedschaftskonzepte regeln, wer zugehörig ist und wer nicht. „Aufenthaltserlaubnis“, die Tülay immer nur für zwei Jahre erhält (s.o.; Sauter 2000), ist eine formelle Mitgliedschaftspraxis; die häufig an Menschen mit nicht verhüllbarem Migrationshintergrund gerichtete Frage, woher sie kämen, eine informelle Praxis der Kommunikation über Mitgliedschaft sowie die performative Iteration und Validierung des dominanten Mitgliedschaftskonzeptes. Eine wichtige Voraussetzung dessen, dass Menschen sich sozialen Kontexten fraglos zugehörig verstehen, besteht darin, dass sie nach


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ihrem eigenen Verständnis und nach dem bedeutsamer anderer Mitglied dieses Zusammenhangs sind. Zugehörigkeit setzt den symbolischen Einbezug in ein Wir auf formeller und informeller Ebene voraus. Um von fragloser Zugehörigkeit zu sprechen, reicht diese symbolische Einbezogenheit freilich nicht aus. Ihren alltagsweltlichen Sinn gewinnt Mitgliedschaft dadurch, dass bestimmte Formen von Partizipation und Praxis zugestanden, andere verhindert werden (habituelle Wirksamkeit). Jeder Zugehörigkeitsraum ist ein hegemonialer Wirksamkeitsraum. In diesem Raum entwickelte und in diesen Raum eingebrachte habituelle Wirksamkeitsvermögen Einzelner bestätigen die Zugehörigkeit oder die Nicht-Zugehörigkeit des und der Einzelnen. Nehmen wir das Beispiel Sprache: Das Vermögen zu sprechen ist nicht hinlänglich erfasst, wenn man lediglich fragt, ob jemand eine Sprache spricht. Unter Bedingungen monolingualistischer Gesellschaften, solchen Gesellschaften, für die das weitgehend für legitim gehaltene Vorherrschen einer Sprache kennzeichnend ist, wird von konkreten Sprecherinnen noch etwas anderes verlangt. Sie sind gehalten, jene Sprache zu sprechen, die in einem gesellschaftlichen Kontext die dominante Sprachweise darstellt – sei es in der diskursiven Konzeptionalisierung als Verkehrssprache oder Nationalsprache. Aus diesem Grund heißt es mit Bezug auf Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund, selbst in wissenschaftlichen Studien, nicht selten, ihr „Sprachvermögen“ sei gering. Dass damit nicht Sprachkompetenz an sich, sondern das Vermögen dieser Schüler, die legitime Sprache zu sprechen, gemeint ist, wird unterschlagen und so werden Machtverhältnisse bekräftigt. „Sprachinkompetenz“ ist, in einem totalen Sinn, zumeist nicht gegeben; allerdings nimmt unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit und Bilingualität die Anzahl der Sprachpraxen und -verständnisse zu, die von der dominanten Sprache abweichen und für die ein Verhältnis zwischen Sprechvermögen und vorherrschender Sprache charakteristisch ist, in dem erfahrene und zugeschriebene Fraglichkeit bedeutsam ist. Die Wirksamkeitsanforderung, die legitime oder eine anerkannte Sprache (Bourdieu 2005) in mehrsprachigen Gesellschaften zu sprechen, verlangt somit einen doppelten Selektionsschritt und die mit diesen „Wahlen“ (die keine sind) verbundene Ausbildung eines Habitus (Produkt und Zeichen der Zugehörigkeit): Wahl und Erwerb einer oder, in monolingualistisch orientierten Gesellschaften wie Deutschland, der legitimen Sprache sowie Wahl und Erwerb der legitimen Sprechweise der legitimen Sprache (genauer Mecheril/Quehl 2006a). Das dritte analytische Element der Zugehörigkeitsordnung, Verbundenheit, bringt zum Ausdruck, dass das im Begriff der Zugehörigkeit bedachte Verhältnis zwischen Individuum und Kontext nicht allein eine optionale Beziehung darstellt, sondern auch ein Verhältnis, das durch Bindungen ermöglicht wird


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und sich in Verbundenheiten konkretisiert. Ralf Dahrendorf hat herausgestellt, dass Lebenschancen eine Funktion von Optionen und Ligaturen sind. Letztere versteht er als „tiefe kulturelle Bindungen, die Menschen in die Lage versetzen, ihren Weg durch die Welt der Optionen zu finden“ (Dahrendorf 1995: 423). Natio-ethno-kulturelle Verbundenheit beschreibt ähnliche Zusammenhänge; allerdings nicht in der Beschränkung auf „tiefe kulturelle Bindungen“, sondern umfassender, da sie, neben emotionaler Bindung, Aspekte moralischer Verpflichtung, kognitiv-praktischer Vertrautheit und materieller Gebundenheit einschließt. Die durch Verbundenheit ermöglichte zugehörigkeitskontextuelle Positionierung eines Individuums ist ein zeitlich strukturiertes Phänomen. Natioethno-kulturelle Verbundenheit einer Person bringt zum Ausdruck, dass sie sich auf den Zugehörigkeitskontext eingelassen hat und dass sie in den Zugehörigkeitskontext gewissermaßen eingelassen wurde. Diese Prozesse sind an Vorgaben der Verbundenheitskonzepte geknüpft. Verbundenheit ist der Zugehörigkeitsaspekt, in dem angezeigt wird, dass natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit die und den Einzelnen in einem Verhältnis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Kontext bestimmt. Im Kontext experimentellen adoleszenten Lernens stellen soziale (hier: natio-ethno-kulturelle) Mitgliedschaft, Wirksamkeit und Verbundenheit analytische Grundmomente der Dialektik von Bewegung und Positionierung dar, die den Prozess, sich eine Subjekt-Position anzueignen, lenken und durchkreuzen. Als Mitglied eines natio-ethno-kulturellen Kontextes identifizierbar zu sein, in dem Kontext handlungsfähig zu sein, repräsentativ für diesen Kontext und in ihm fraglos sprechen und sozial erkannt und anerkannt handeln zu dürfen, sowie die Einschreibung dieser Praxen in die eigene Lebensgeschichte und ihre affektiv-symbolische und eigensinnige „Ladung“ mit Bedeutung sind zentrale Momente der Subjektivierung unter Bedingungen einer Migrationsgesellschaft.

Die unterscheidende Macht der Zugehörigkeit „Ja, ich war fast immer nur mit Deutschen zusammen, zum Spielen, aber auch bei den Hausaufgaben und zum Lernen. Das hat mir sehr geholfen. Ich konnte zwar gut Deutsch sprechen, aber in der Schule, mit dem Schreiben und mit der Grammatik, war das dann doch erst einmal sehr schwer. Nach dem ersten Schuljahr haben die Lehrer dann empfohlen, daß ich in den Schulkindergarten gehen sollte, um die Lücken aufzuholen. Im Kindergarten war ich nämlich nicht, denn meine Eltern wußten ja nicht, daß so etwas nützlich sein kann. (...) Ich bin nach der zehnten Klasse von der Hauptschule auf das Gymnasium gewechselt. Und nach der zwölften hätte ich eine Lehrstelle bei der Polizei annehmen können. Nur hätte ich dafür die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben müssen. Und da war mein Vater dagegen, weil ich sonst später Probleme in der Türkei gehabt hätte oder weil die Verwandten etwas da-


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gegen gehabt hätten. Da denkt er doch noch sehr altmodisch. Aber zumindest habe ich es dann durchgesetzt, daß ich trotzdem von der Schule abgehen durfte. Und dann habe ich eben die Lehre als Schneiderin angefangen.“ (Bales/Koyunlu 1996: 100)

Bis zu diesem Punkt haben wir die Ordnung der Zugehörigkeit vor allem als begriffliche Ordnung skizziert. Der Ausdruck „Ordnung der Zugehörigkeit“ hat aber auch jene zweite Bedeutung, dass Zugehörigkeitsordnungen als machtvolle Zusammenhänge zu verstehen sind, die durch eine komplexe Form der Ermöglichung und Reglementierung, der symbolischen, kulturellen, politischen und biographischen Einbeziehung und Ausgrenzung auf den und die Einzelne produktiv Einfluss nehmen, diese konstituieren. Dieser Umstand ist für ein Nachdenken über Adoleszenz von besonderer Bedeutung. Zugehörigkeitsordnungen sind Zusammenhänge und Räume der Produktion von Subjekten.4 Die Zugehörigkeitsordnung kann man als strukturierten und strukturierenden Zusammenhang beschreiben, in dem aus Individuen Subjekte werden. Zugehörigkeitskontexte sind empirische Annäherungen an idealtypische Zusammenhänge, in denen sich Individuen als Gleiche unter Gleichen erfahren (Dimension: Mitgliedschaft), in denen sie Handlungsmächtigkeit entwickeln und einbringen (Dimension: Wirksamkeit) und denen sie schließlich verbunden sein können (Dimension: Verbundenheit). Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit verweist auf Strukturen, in denen symbolische Distinktions- und Klassifikationserfahrungen, Erfahrungen der Handlungsmächtigkeit und Wirksamkeit und auch biographische Erfahrungen der kontextuellen Verortung nahe gelegt sind. Diese Strukturen müssen als machtvolle Strukturen verstanden werden. Mit Bezug auf den Zusammenhang von Zugehörigkeitsordnung und Macht können analytisch drei zentrale Facetten unterschieden werden: Natio-ethnokulturelle Zugehörigkeitsordnungen sind erstens deshalb machtvoll, weil sie in ihrem Einflussbereich Mittel der Disziplinierung, der Habitualisierung und Bindung zur Wirkung bringen. Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen sind zum zweiten in einem migrationsgesellschaftlichen Zusammenhang machtvoll, da diese in der Regel, wie in Deutschland, Dominanzzusammenhänge darstellen, für die charakteristisch ist, dass bestimmte natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten politisch und kulturell gegenüber anderen privilegiert sind. Und schließlich sind natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen machtvoll, weil sie zu jenen Ordnungen gehören, die mit einer exklusiven Logik operieren

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Da das (vor allem schulische) Bildungssystem als nationales Bildungssystem immer ein wichtiges Instrument formeller Zugehörigkeitsarbeit gewesen ist, muss es als signifikante Institution der Produktion zugehöriger und nicht-zugehöriger Subjekte verstanden werden.


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und den Einzelnen auferlegen, sich in dieser ausschließenden Ordnung darzustellen und zu verstehen. Die Zugehörigkeitsordnung kann man als strukturierten und strukturierenden Zusammenhang der differentiellen Subjektivierung beschreiben. Adoleszente Subjektbildung, die sich in einem von Zugehörigkeitsordnungen strukturierten Erfahrungsraum der Optionen und Restriktionen in der Dialektik von Schaffen und Erleiden ereignet, führt zu von der Macht der Zugehörigkeitsordnungen durchsetzten und getragenen Positionierungen. Auf diesen Aspekt wollen wir abschließend eingehen. Interaktive und soziale Positionen, die Einzelne einnehmen und von denen sie gewissermaßen eingenommen werden, sind in einem ethnisierten und rassistischen Raum diskursiver und imaginärer Praxen kontextualisiert. Was wir in sozialen Zusammenhängen für uns und für andere sind, sind wir jeweils auch mit Bezug auf unsere in kontextspezifischen Praxen und Imaginationen bestätigte natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsposition. Hier ist es sinnvoll, zwischen legitimer und nicht-legitimer Zugehörigkeit zu unterscheiden. Dass hierbei die mit Privilegien verknüpfte „legitime“ Zugehörigkeit als solche zumeist gar nicht thematisch wird (weder in adoleszenten oder adulten Selbstverständnissen noch im wissenschaftlichen Diskurs, der sich gerne der „Migranten“ annimmt, selten aber der als Nicht-Migrantinnen Geltenden einer Migrationsgesellschaft), diese Dethematisierung natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit, man könnte auch sagen: dieses systematische Symbiotisch-Bleiben von Erfahrung und Gegenstand, dieses Ausbleiben der „secondary experience“, muss als Bestandteil der Wirkungsweise von Dominanzverhältnissen verstanden werden (wie dies etwa in den Studien zu Critical Whiteness erläutert und untersucht wird; z.B. Eggers et al. 2006). Adoleszente Erfahrungen sind nicht nur von der Differenz legitimer und nicht-legitimer Zugehörigkeit strukturiert, sie ermöglichen Heranwachsenden auch zweierlei. Erstens werden sie vertraut mit der Unterscheidung, um die es hier geht, und zweitens erlernen sie sich selbst im Lichte dieser Unterscheidung – ohne dass ihnen dies bewusst sein muss. Legitime Zugehörigkeit hat in diesem Zusammenhang eine zweifache Bedeutung. Einerseits meint legitime Zugehörigkeit, dass die Einzelne in der natio-ethno-kulturellen Praxis der Fremd- und Selbstpositionierung prinzipiell identifizierbar ist, dass sie kraft einer sozial erkennbaren Zugehörigkeit an der Praxis des Positionierens teilhat. Unter Bedingungen der hierarchischen Anordnung natio-ethno-kultureller Zugehörigkeiten, wie sie in Deutschland gelten, beschreibt legitime Zugehörigkeit weiterhin, dass der Einzelne der anerkannten natio-ethno-kulturellen Gruppe zugehört,


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formell und informell als Mitglied des Kontextes anerkannt wird, im Zugehörigkeitskontext handlungsfähig und an ihn biographisch gebunden ist. Legitime Zugehörigkeit ist Resultat und Anzeichen der kulturellen Beglaubigung von Zugehörigkeit überhaupt und spezifischer der kulturellen Beglaubigung der Zugehörigkeit zu einer oder der anerkannten Gruppe. Unter der zugehörigkeitstheoretischen Perspektive, die hier skizziert wird, wäre nun die empirische Frage interessant, aufgrund welcher kulturellen Praktiken der Beglaubigung (etwa in pädagogischen Zusammenhängen) zwischen „Migranten“ und „Nicht-Migranten“ unterschieden wird, wie Kinder und Jugendliche lernen, sich als „Ausländerin“ oder „Fremde“ zu verstehen und wie in alltäglichen Praxen innerhalb und außerhalb der offiziellen Orte neue, „widerständige“ Formen der Überschreitung der traditionellen Grenzen erprobt und eingeübt werden. Das Zusammenspiel von dominant legitimer und nachrangig illegitimer Zugehörigkeit ist hierbei von besonderer Bedeutung. Die dominante, übergeordnete Zugehörigkeit basiert im Kern auf einem um eine diffuse Norm herum aufgebauten binären Schema. Dominant ist diese Zugehörigkeit, die ein Dazugehören und ein Nicht-Dazugehören und nur diese beiden Möglichkeiten kennt, weil sie durch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher, komplex ineinander greifender Praxen produziert und gesichert wird. Neben alltagsweltlichen Interaktionspraxen sind juristische, institutionelle, etwa bildungsinstitutionelle, oder mediale Produktionen von legitimer natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit bedeutsam. Diese ist in der Regel mit normalbiographischen Vorstellungen und mehr oder weniger festgeschriebenen Normen verbunden, etwa mit der erfolgreichen Abfolge bestimmter Statuspassagen im Bildungssystem oder den Erwartungen an einen akzeptablen („normalen“) Lebenslauf, der bei Bewerbungen vorzulegen ist. Von den Subjekten wird in der Regel nicht nur die formale Einhaltung dieser Normen erwartet, sondern deren aktive und eigensinnige „Ausfüllung“ durch die Übernahme und kommunikative Validierung einer individuellen biographischen Perspektive und deren „Auffüllung“ mit kommunizierbarem Sinn. Neben der dominanten und als legitim geltenden natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit, zu der viele Jugendliche mit Migrationshintergrund in einem prekären Verhältnis der Mitgliedschaft, der Wirksamkeit und der Verbundenheit stehen, ist für viele dieser Jugendlichen ein weiterer – im Rahmen der in Deutschland geltenden natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung nachrangiger – Zugehörigkeitskontext von biographischer Bedeutung. Dieser Kontext ermöglicht Zugehörigkeiten lokaler Ordnung. Unter lokalen Zugehörigkeiten verstehen wir eine Praxis, in der dem Anspruch darauf, dass das, was ich als Konsequenz meiner natio-ethno-kulturellen Positionierung bin, als akzeptabel angesehen und dass diesem Anspruch auf Zugehörigkeit an diesem konkreten


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Ort entsprochen wird (genauer Dausien/Mecheril 2006). Dieser konkrete Ort natio-ethno-kultureller Resonanz kann ein Fußballverein, ein Stadtviertel, eine Clique oder eine Gang sein. Für Deutsche mit Migrationshintergrund gehört es zu gewöhnlichen Erfahrungen, von Deutschen ohne Migrationserfahrung nach der Herkunft gefragt zu werden. Für Menschen, die aufgrund sichtbarer Zeichen aus dem „Wir-Schema“ fallen, gehören Rassismuserfahrungen zum Alltag ihres Lebens in Deutschland. Das Wissen über Gesprächssituationen und über dominante Erwartungen, das Wissen über die Alltäglichkeit des Rassismus ist ein geteiltes soziales Wissen, das in bestimmten lokalen Zusammenhängen, Milieus und Peergroups zum Alltagswissen gehört. Das Gefragtwerden, das Verpflichtetwerden auf eine Migrationsgeschichte, die Rassismuserfahrung und das kritische, zurückweisende, ausweichende, ironische usw. Umgehen mit diesen Situationen sind konstitutive Momente von Zugehörigkeiten, die sich in je spezifischen Kontexten herausbilden. Sie bilden sich heraus als Bestandteile biographischer Erfahrungen, Reflexionen und Praktiken des Umgehens mit diesen Erfahrungen und können insofern als „lokal“ bezeichnet werden, da sie auf konkrete Orte einer sozialen Praxis angewiesen sind. Wichtig ist nun, dass diese lokalen Zugehörigkeiten in einem bestimmten Verhältnis zu dem dominanten Schema stehen, das zwischen legitim zugehörig und nachrangig zugehörig unterscheidet. In den lokalen Zugehörigkeiten wird die dominante Ordnung aufgegriffen, einer Verschiebung und Neubeschreibung unterzogen, sie wird auf Eis gelegt und außer Kraft gesetzt, dekonstruiert und überzeichnet. Sie wird bestätigt und belächelt. Wir können sagen, dass die dominante Nicht-Zugehörigkeit zu lokalen Zugehörigkeiten führt, diese gleichsam aussondert. Auf dieser lokalen Ebene ist ein ganzes Spektrum an Zugehörigkeiten, an kontextspezifischen Erwartungsarealen anzutreffen. Jedoch wird diese Landschaft multipler Erwartungsbereiche zentriert von der dominanten Zugehörigkeitsform und den durch sie strukturierten prekären Zugehörigkeitsverhältnissen. Lokale Zugehörigkeiten konstituieren sich zwar in Abgrenzung zu dominanten Zugehörigkeiten, in der konkreten Herstellung und Performanz als nachrangige Zugehörigkeit jedoch sind sie das Resultat konkreter sozialer Praxis „nachrangiger Subjekte“. Lokale Zugehörigkeiten sind eigensinnig. Sie reiben sich an der dominanten Zugehörigkeit und in dieser Reibung entstehen neue, in ihrer partiellen Subversivität zuweilen widerständige Zugehörigkeiten. Adoleszenz als kulturell ermöglichtes und eingefordertes Experimentieren mit Erfahrungen in einem ermöglichenden und restringierenden Raum, der von Zugehörigkeitsordnungen strukturiert ist, trägt durch seinen experimentellen Charakter


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zu einer Vervielfältigung neuer lokaler Zugehörigkeiten mit natio-ethnokulturellem Index bei. Für diese „neuen“ Zugehörigkeiten, die einiges mit den Differenzphänomenen zu tun haben, für die Stuart Hall den Ausdruck new ethnicities geprägt hat (1994), ist nicht selten eine gewisse natio-ethno-kulturelle Unentscheidbarkeit kennzeichnend, die aus dem Umstand resultiert, dass natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen im Kern mit einer exklusiven Logik operieren. Adoleszente Erfahrungen in Familien, Schulklassen, in Stadtvierteln und Peergroups „mit Migrationshintergrund“ (Deutschland, so könnte man sagen, ist ein Land mit Migrationshintergrund, das Identitätsprobleme hat) sind aber häufig natioethno-kulturell mehrwertig und geraten dadurch mit der offiziellen Zugehörigkeitsordnung, die auf Eindeutigkeit der Mitgliedschaftsverhältnisse (z.B. Klarheit darüber, wer Bürger Deutschlands ist und wer nicht), der Wirksamkeitsverhältnisse (z.B. Klarheit darüber, welche Sprache in deutschen Schulen gesprochen wird und welche nicht) und Verbundenheitsverhältnisse beruht (z.B. Garantie, dass die Deutschen bereit wären, in einen Krieg, den Deutschland führt, zu ziehen oder zumindest die deutsche Fußballnationalmannschaft lauthals zu unterstützen), in ein Spannungsverhältnis. Natio-ethno-kulturell Mehrfachzugehörige sind die im Prinzip Unentscheidbaren, sie sind doppeltes Mitglied, doppelt wirksam und doppelt verbunden, doppeltes Nicht-Mitglied, doppelt nichtwirksam und doppelt unverbunden. Der Doppel-Status der natio-ethnokulturellen Zugehörigkeit „Anderer“, der nicht selten auch ein doppelter Status der Nicht-Zugehörigkeit ist, wird von einer auf die Einwertigkeit sozialer Zugehörigkeit angewiesenen Ordnung hervorgebracht und von dieser Ordnung nicht anerkannt, weil er ihr (modernes) Grundprinzip bedroht. Das Beängstigende an mehrfachzugehörigen Anderen ist ihre promiske Grundstruktur. Sie geben sich mehrfach hin, stehen im Verdacht, sich nicht in der Weise zu beschränken und disziplinieren, wie es Einwertige tun. Hybride beschädigen die Vorstellung, dass alle Disziplin, Affektkontrolle und Bescheidung auf das eine und in dem einen gut und richtig sei. Eine mehrfache und bekannte Einbildung: Den Anderen wird eine Freiheit eingelesen (keine Freiheit des Geistes, eher – rassismusaffin – eine des Leibes und der Affektivität); sie symbolisieren den Überschwang, die Spontaneität, die Bedenkenlosigkeit, die wir uns versagen. Sie sind bigott, beliebig und gleichgültig in der Wahl ihrer Befriedigungsobjekte. Deshalb kann ihnen auch nicht ohne weiteres vertraut werden. Jederzeit sind sie in der Lage, das dünne Band der eingegangenen Verbindung zu zerreißen. Beängstigender aber noch ist, dass sie die dichotome Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Wir und Nicht-Wir, die vor allem durch das Moment der Mitgliedschaft errichtet und garantiert wird, nachhaltig beschädigen. Exklusiv einwertige Verständnisse


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von Zugehörigkeit werden durch hybride Zugehörigkeiten problematisiert. Die Eindeutigkeit der Unterscheidungsmöglichkeit wird in der Migrationsgesellschaft durch diejenigen problematisiert, die sich, ohne dass ein Wille dies hervorgebracht hätte, der Eindeutigkeit entziehen. Sie sind eigentliche NichtMitglieder und eigentlich nicht Mitglieder, aber eigentlich auch nicht NichtMitglieder. Adoleszente „mit Migrationshintergrund“ haben sich auf dieses Wechselspiel von „eigentlich nicht“ und „nicht eigentlich“ einzulassen, weil es aus der Logik des natio-ethno-kulturellen Feldes resultiert, das ihnen eigentümliche Positionen der Nicht-Positioniertheit und paradoxe Habitus der Unzugehörigkeit zugesteht. Das Wissen, dass diesen Positionen und Habitus eine gleichermaßen destruktive wie kreative Kraft innewohnt, lässt uns mit einem pädagogischen Gedanken enden: Pädagogisch macht es Sinn, Zusammenhänge zu schaffen, in denen die Bildungs-Potenziale jener sozialen und personalen Formen zur Geltung kommen, die sich den Ordnungen der Eindeutigkeit nicht fügen. Dies kann sinnvoller Weise aber nur geschehen, wenn die Zugehörigkeitsordnungen selbst zur Disposition stehen und verändert werden: top down und bottom up.

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Integrationspolitik als Rahmen für den bildungspolitischen Umgang mit Heterogenität – das Beispiel Hamburg Bildungspolitischer Umgang mit Heterogenität

Ursula Neumann

Als wir vor Jahren am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg begonnen haben zu diskutieren, was die wichtigsten und vordringlichsten Themen der Lehrerbildung sein müssten, waren wir uns einig über die Bedeutung des Themas „Umgang mit Heterogenität“. Wir sind uns darüber klar, dass das deutsche Bildungswesen nicht in ausreichendem Maße dazu in der Lage ist, die Unterschiedlichkeit der Kinder und Jugendlichen im Hinblick auf ihre soziale, kulturelle und sprachliche Lage sowie die Geschlechterzugehörigkeit angemessen zu berücksichtigen. Dies gilt sowohl für die einzelnen Pädagoginnen und Pädagogen als auch auf struktureller Ebene für das Bildungswesen insgesamt. Ein Bildungssystem, das sich durch eine starke Tendenz zur Segregation auszeichnet, wie das deutsche mit seinen an Begabungsvorstellungen orientierten Schulformen, mit seiner Durchlässigkeit nach unten in Form von Sitzenbleiben und seinem vergleichsweise niedrigen Anteil an Hochschulzugangsberechtigten müsste bildungspolitisch umgesteuert werden, um die Potenziale der Jugendlichen auszuschöpfen und Chancen gerechter zu verteilen. Inhalt des vorliegenden Beitrags ist die Frage, wie bildungspolitisch mit der Heterogenität aufgrund von Migration umgegangen wird. Dabei soll der Zusammenhang mit der allgemeinen Politik, die über viele Jahre in Deutschland bezeichnender Weise „Ausländerpolitik“ hieß und heute Integrationspolitik genannt wird, betrachtet werden. Ich gehe zunächst auf das Scheitern der Schule an den Migrantenkindern ein, charakterisiere anschließend die deutsche Integrationspolitik der Vergangenheit und gehe dabei gelegentlich auf die Situation in Hamburg als Beispiel ein. Abschließend werden einzelne Aspekte der Bildungspolitik im engeren Sinne diskutiert.

1.

Das Scheitern der Schule an den Migrantenkindern

Im Jahr 2001 wurde Deutschland aufgeschreckt von der Nachricht, dass unser selbstgefälliges Bild von der hervorragenden Qualität des deutschen Bildungswesens falsch ist und im internationalen Vergleich hierzulande nur mittelmäßige


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Erfolge erzielt werden. Weil es keine PISA-Ergebnisse für Hamburg gab, konnte hier bis Anfang November 2005 noch gehofft werden, dass Hamburg wenigstens zu den besseren Bundesländern gehören würde. Doch es ist nicht so: Hamburg rangiert am unteren Ende und auch hier gilt das für unsere Frage wichtigste Ergebnis, das auch durch die IGLU-Studie schon bestätigt wurde: Der Zusammenhang zwischen sozialer und sprachlich-kultureller Herkunft mit den erzielten schulischen Leistungen ist in keinem der an den Untersuchungen beteiligten Länder so groß wie in Deutschland. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund werden im deutschen Bildungssystem direkt1 und indirekt (Deutsches PISA-Konsortium 2001: 379) aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt. Zugewanderte leben häufiger als Nichtzugewanderte in prekären ökonomischen Verhältnissen, was im deutschen Schulsystem viel stärker als in anderen den Schulerfolg determiniert. Jugendliche, deren beide Elternteile nicht in Deutschland geboren sind, besuchen zu etwa 50% die Hauptschule; das sind fast doppelt so viele wie andere 15-Jährige, deren Eltern in Deutschland geboren sind. Nur 15% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund besuchen hingegen das Gymnasium, halb so viele wie die Gleichaltrigen mit Eltern aus Deutschland (ebd.: 373). In Hamburg haben fast 40% aller Jugendlichen der PISAStichprobe einen Migrationshintergrund; ihre Verteilung auf die Schulformen ist noch ungünstiger als im deutschen Durchschnitt, soweit man dies an der Staatsangehörigkeit ablesen kann. Die Ergebnisse weisen auf einen Schwachpunkt des deutschen Schulsystems hin, denn ca. 70% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund (in der PISA 2000-Stichprobe) haben ihre gesamte Schulzeit in Deutschland absolviert. Der Grundschule gelingt es bei größerer Heterogenität in der Schülerschaft besser als der Sekundarstufe einen relativ homogenen Leistungsstand der Kinder zu erreichen, wenngleich auch in dieser Stufe schon zum Nachteil der Kinder mit Migrationshintergrund. In der Grundschule ist deren Anteil zwar höher, sie sind aber auch zu einem noch höheren Anteil (75%) in Deutschland geboren. Etwa 90% haben sogar durchgehend die deutsche Schule besucht. Dennoch sind ihre Leistungen in allen getesteten Bereichen, also Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft, geringer als die der Kinder aus Familien ohne Migrationshintergrund. In der PISA-Untersuchung wurden insgesamt 32 Staaten untersucht; die meisten von ihnen müssen mit Heterogenität auf Grund von Migration umgehen. Es lassen sich in allen untersuchten Bildungssystemen Abhängigkeiten zwischen sozialer Lage und den erreichten Fähigkeiten von Schülerinnen und 1

So das Ergebnis der ULME I-Untersuchung (Lehmann et al. 2005).


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Schülern feststellen. Doch ist der Spielraum für die Entkoppelung von sozialer Herkunft und dem Erwerb zentraler Fähigkeiten beträchtlich. Diese These, die wir bereits 2003 in einem Gutachten geäußert haben (Gogolin/Neumann/Roth 2003: 25), wurde 2006 bestätigt, als die Ergebnisse der PISA-Erhebung 2003 in Bezug auf die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im internationalen Vergleich vorgelegt wurden: In einigen Ländern sind die Leistungsunterschiede zwischen einheimischen und eingewanderten Schülerinnen und Schülern gering, vor allem dann, wenn letztere der ‚zweiten Generation’ angehören, also selbst nicht migriert sind. Als einzigem Land von 17 Vergleichsstaaten sind in Deutschland die Erfolge dieser Kinder, die ihr gesamtes Leben und ihre gesamte Schullaufbahn in Deutschland verbracht haben, sogar schlechter als die der Kinder, die selbst eingewandert sind (OECD 2006).

2.

Integrationspolitik als Voraussetzung und Rahmen für Bildungspolitik

Es soll im Folgenden nicht der Frage nachgegangen werden, was Bildungssysteme auszeichnet, die ein höheres Maß an Chancengerechtigkeit verwirklichen, sondern überlegt werden, ob dies nicht auch mit den integrationspolitischen Rahmenbedingungen zusammen hängen kann. Untersuchungsergebnisse in dieser Richtung gibt es weder von Seiten des PISA-Konsortiums noch von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die an IGLU beteiligt sind.2 Einen Hinweis auf solche Zusammenhänge gibt das Beispiel Schweden, ein Land, das bei einer ähnlich strukturierten Schülerschaft im Hinblick auf den Migrationshintergrund und einer ähnlichen Geschichte der Einwanderung, zunächst von ‚Gastarbeitern’, später von Flüchtlingen, wesentlich bessere Ergebnisse in den Untersuchungen erzielt hat. Während Deutschland bei PISA 2000 auf Position 21 und bei IGLU auf Position11 rangiert, erreichten die schwedischen Schüler bei PISA den Rang neun und bei IGLU sogar den ersten Rang. Auch im internationalen Vergleich in PISA 2003 sind die Ergebnisse der Kinder der zweiten Generation fast so hoch wie die der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, während die der ersten Generation ähnlich schlecht wie die Jugendlichen der zweiten Generation in Deutschland abschneiden (OECD 2006: 7, Abb. 2.4a). 2

In den vertiefenden Analysen zu IGLU wurde eine Untersuchung über die Lebens- und Bildungssituation in den sehr leistungsschwachen Ländern Kuwait, Marokko, Kolumbien und Belize vorgelegt, in der die sozioökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen der Schulen sowie das soziökonomische und kulturelle Kapital des familiären Umfeldes der Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt der Analyse stehen. Hierbei spielt auch Mehrsprachigkeit eine Rolle, vgl. Asbrand et al. 2005.


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Welche allgemein politischen Gründe können dafür verantwortlich sein? In Schweden ist seit Beginn der Arbeitsmigration Wert darauf gelegt worden, den Einwanderern Schwedisch als Fremdsprache zu vermitteln. Die neu angeworbenen Arbeiterinnen und Arbeiter erhielten den Unterricht während ihrer Arbeitszeit. Schon darin liegt ein großer Unterschied zu Deutschland, wo das Angebot an kostenlosen Deutschkursen niemals ausreichend war und bis heute nur einen Bruchteil des Bedarfs abdeckt. Hintergrund für diese Divergenz in der Politik war eine unterschiedliche Langzeitperspektive: In Deutschland wurde bis 1973 eine Rotation der ‚Gastarbeiter’ angestrebt, danach die Rückkehrillusion gepflegt. Schweden hat im Gegenteil die Einbürgerung der Arbeitsmigranten und Flüchtlinge gefördert, also Perspektiven eröffnet, nicht Abwehr signalisiert. In der schwedischen Bildungspolitik äußerte sich dies nicht nur in einem systematischen Eingliederungsunterricht für neu einreisende Kinder, sondern auch in der Förderung ihrer Zweisprachigkeit sowohl im Schwedischen als auch in den Herkunftssprachen. Die Kinder haben – in den letzten Jahren unter etwas eingeschränkten Bedingungen – ein Recht auf Unterricht dieser Sprachen. Es werden Lehrerinnen und Lehrer für diese Sprachen ausgebildet, es wird Unterrichtsmaterial entwickelt und Fortbildung organisiert. Die nationale Integrationspolitik Schwedens wirkt sich bis in solche Aspekte der inhaltlichen Gestaltung von Bildung aus. Eine der wenigen Untersuchungen, die Zusammenhänge zwischen nationalen Politiken und interkultureller Bildung untersucht, ist von Werner Schiffauer et al. (2002) vorgelegt worden. Er hat mit Kolleginnen und Kollegen am Beispiel von vier europäischen Staaten, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden, herausgearbeitet, wie in den Schulen dieser Länder eine je nationalspezifisch eingefärbte „Kultur der Zivilgesellschaft“ vermittelt wird, bei der – zumindest normativ – das Recht auf kulturelle und ethnische Differenz eingeschlossen ist. Mit Blick auf Deutschland kommt Schiffauer dabei zu dem Ergebnis, dass sich die Situation hierzulande durch ein bemerkenswertes Fehlen jeglicher konstruktiv formulierter Strategien zur Einbindung der Immigranten auszeichne. „Dieser Ansatz lädt nicht zur Teilhabe ein und hebt auch nicht auf eine politisch formulierte Vision staatsbürgerlicher Integration ab. Zwar ist es in dieser begrifflichen Landschaft schon nicht möglich, ‚deutsche Kultur oder die Zugehörigkeit zum deutschen Volk in positiver Weise zu beschreiben; den anderen und ihren Kulturen wird aber auch keine positive Thematisierung zugestanden. Das Attribut ihrer kulturellen Differenz findet sich durchgängig im Kontext von Defiziten, Diskrepanzen und Problemen. Es sind keinerlei positive Erwartungen daran geknüpft, die Einwanderer könnten mit ihren Kulturen einen gesellschaftlich wertvollen Beitrag leisten. Überdies wird mittels der Gleichung


Bildungspolitischer Umgang mit Heterogenität

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‚Kultur = Mentalität eine Nachhaltigkeit der Differenz unterstellt, die sich gegen prozessuale Vorstellungen von Inklusion sperrt. So grenzt der dominante Diskurs die Deutschen von den Ausländern ab und kategorisiert letztere als undifferenziertes Residualkollektiv. Die Einwanderer befinden sich gewissermaßen in einem begrifflichen Vakuum“ (ebd.: 100). Gänzlich anders ist dies in Frankreich, wo die Bindung an die Republik ein klar hervortretendes Element schulischer Bildung ist. Zeichen von Partikularismus, wie Herkunftssprachen und religiöse Symbole, haben keinen Platz in der Schule. Frankreich verfolgt eine Integrationspolitik, die sich von der deutschen Politik erheblich unterscheidet und zu ganz anderen sozialen Konsequenzen führt; dies haben wir Ende 2005 deutlich vor Augen geführt bekommen. Dass es sich bei den Krawallen der Jugendlichen nicht um ethnische Konflikte, sondern um einen Aufstand gegen die sozialen Verhältnisse handelt, ist nicht zu übersehen. Vermutlich ist die weitgehend fehlende ethnische Aufladung der Konflikte dem republikanischen Modell der Integration Frankreichs geschuldet.

3.

Zum Begriff „Integration“

Der Begriff „Integration“ ist nicht eindeutig und wird sehr unterschiedlich interpretiert.3 Integration wird sowohl als ein individueller Prozess verstanden, der den Zugang zu gesellschaftlichen Positionen beschreibt, als auch als ein Gesellschaftszustand der Stabilität und Konfliktfähigkeit. Bei der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich um einen Staat mit einer relativ geeinten und organisierten Gesellschaft, deren Grundsätze und Regeln auf der Verfassung beruhen, die von der großen Mehrheit der Staatsangehörigen akzeptiert und getragen wird. Das deutsche Grundgesetz garantiert die Menschenwürde und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie die Gleichheit vor dem Gesetz, indem es in Artikel 3 ausdrücklich die Benachteiligung und Bevorzugung aufgrund von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, sowie religiöser und politischer Anschauungen verbietet. Auch wenn im Grundgesetz vom „deutschen Volk“ die Rede ist, definiert sich die Bundesrepublik Deutschland nicht als Abstammungsgemeinschaft, denn „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist (...), wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt (...)“ (Artikel 116, Abs. 1 GG). Enthalten war der völkische Gedanke aber in den Regelungen zum Erwerb dieser Staatsangehörigkeit, dem „jus sanguinis“, auf die Einwanderer auch nach langem Aufenthalt oder trotz Geburt in Deutsch3

Zur Begriffsdiskussion vgl. z.B. Schulte 2002; Geiger 2002; Thränhardt 2001.


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land kein Recht hatten. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz des Jahres 2000 wurde dem eine deutliche Absage erteilt, denn nunmehr besteht beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen das Recht auf Einbürgerung bzw. bei 40% aller von Ausländern in Deutschland geborenen Kinder ein Recht auf die deutsche Staatsangehörigkeit unter (vorläufiger) Hinnahme der Mehrstaatigkeit. Vor diesem Hintergrund sehe ich Integration als die Chance des Einzelnen auf Beteiligung an gesellschaftlichen und politischen Prozessen. Eine ethnische Selbstdefinition (z.B. als Kurde türkischer Herkunft oder als RusslandDeutsche) widerspricht in diesem Verständnis nicht der gesellschaftlichen Integration dieses Menschen, wenn er sich als Teil der Gesellschaft begreift, in der sie oder er lebt; auch der individuelle Sprachgebrauch (z.B. in der Familie türkisch, im Verein kurdisch und am Arbeitsplatz deutsch) stellt keinen Indikator für mangelnde Integration dar. Entscheidend für die Gestaltung der Gesellschaft, für ihre Normen, Werte und Verkehrsformen, ist es jedoch, dass kein Gesellschaftsmitglied systematisch oder prinzipiell von demokratischen Prozessen ausgeschlossen ist. Insofern sind die mangelnden Bemühungen des deutschen Staates, Einwanderer zu Staatsangehörigen zu machen, was sich im vergleichsweise hohen Anteil ausländischer Bevölkerung (ca. 9 %) ausdrückt, hinderlich für den Prozess der Integration, weil auf diese Weise Menschen oft über Jahrzehnte die politische Identifikation mit der deutschen Gesellschaft verweigert wird. Doch auch unterhalb des Wahlrechts ist eine gesellschaftliche und politische Partizipation möglich. Eine nicht repräsentative Mitgliedschaft von Migrantinnen und Migranten in Gremien und Parteien kann daher ebenso als Zeichen bisher nicht ausreichend gelungener Integration gewertet werden wie die fehlende Repräsentanz von nicht-christlichen Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit eines Staates, der sich nicht als laizistisch, sondern als säkular in dem Sinne versteht, dass die Kirchen und Religionen eine definierte Rolle und Mitspracherechte besitzen. Eine öffentlich nicht sichtbare Mehrsprachigkeit, wie sie z.B. in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu beobachten ist, und die Dominanz deutscher Einsprachigkeit in den Bildungsinstitutionen sind Zeichen dafür, dass sich bestimmte ethnische, religiöse und sprachliche Gruppen zu wenig am gesellschaftlichen Prozess beteiligen. Insbesondere die Bildungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund kann als Kennzeichen (benchmark) dafür gelten, in welchem Maß strukturelle Barrieren im Bildungssystem vorliegen, die sozialkulturelle Integration erschweren.4 Integration ist also einerseits als individueller Prozess zu verstehen, der den Zugang zu gesellschaftlichen Positionierungs- und Gestaltungsprozessen sowie 4

Vgl. hierzu die Untersuchungen von Gomolla/Radtke 2002 zur institutionellen Diskriminierung.


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den Erwerb der dafür nötigen Mittel, also Sprache und Bildung als soziales und kulturelles Kapital, beschreibt. In den modernen Einwanderungsgesellschaften müssen wir uns offensichtlich von der Vorstellung verabschieden, dass die Einwanderer spätestens in der dritten Generation ihre mitgebrachten Sprachen ablegen und in die Einsprachigkeit des Aufnahmelandes wechseln. Die Einwanderersprachen haben sich als ausgesprochen vital erwiesen, was mit den heute verfügbaren Kommunikationsmitteln und Reisemöglichkeiten im Unterschied zur Migrationssituation des 19. Jahrhunderts zu tun hat (Fürstenau et al. 2003). Für die politische und gesellschaftliche Partizipation ist heute mindestens Dreisprachigkeit erforderlich: in Deutschland sind dies die Sprache der eigenen ethnischen Community, die deutsche Sprache als Verkehrssprache und Englisch als europäische Verkehrssprache. Auf der anderen Seite kann Integration auch als Gesellschaftszustand verstanden werden, der beschreibt, wie stabil und fähig eine Gesellschaft ist, ihre Konflikte friedlich zu lösen. Dies wäre nicht ein Zustand unverbundenen Nebeneinanders oder herablassender Toleranz, sondern einer gleichberechtigter Beteiligung an Auseinandersetzungen. In der Diskussion um die Interkulturelle Bildung spiegelt sich dieses doppelte Verständnis von Integration wider. Dort werden „Begegnungspädagogische Konzepte“, die sich auf das individuelle Lernen des einzelnen Kindes richten, von „Konfliktpädagogischen Konzepten“ unterschieden, die die Gesellschaft als Ganze im Blick haben.

4.

Charakteristika der Integrationspolitik in Deutschland

Von Beginn der Arbeitsmigration in den 1950er Jahren wurde die Migrationspolitik nahezu ausschließlich als Arbeits- und Wirtschaftspolitik verstanden. Das sog. Rotationsprinzip, nach dem Arbeitskräfte aus dem Ausland möglichst ohne Familienangehörige nur für kurze Zeiträume von ein bis drei Jahren in Deutschland bleiben sollten, wurde mit dem Anwerbestopp 1973 beendet und eine neue Politik der „Konsolidierung und Integration auf Zeit“ begonnen. Der Integration dienen sollten dabei Beratungsangebote, die – von der Bundesregierung finanziert – durch die Wohlfahrtsverbände nationalitätenspezifisch geleistet wurden. Auch wurden in sehr begrenztem Umfang Deutschkurse eingeführt. Eine umfassende und koordinierte Integrationspolitik gab es jedoch auch in der Folge nicht. Dies hat nach Geiger (2002) mit der Tatsache zu tun, „dass es immer eine getrennte Politik gegenüber unterschiedlichen Zuwanderungsgruppen gegeben hat; dies betrifft auch die Art und den Umfang der gesellschaftlichen Integration, die den verschiedenen Gruppen eröffnet wurden“ (ebd.: 1). Die am weitesten ge-


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henden Rechte und Ansprüche auf finanzielle Hilfe, Deutschkurse und Umschulungen hatte die große Gruppe der Aussiedler und Spätaussiedler, was paradoxerweise auch dazu führte, dass ihre wachsenden Integrationsschwierigkeiten lange übersehen wurden. Am anderen Ende der Skala steht die Gruppe der politischen Flüchtlinge, die nicht als Asylberechtigte anerkannt wurden. Ihnen standen und stehen bis heute keine Angebote für Deutschkurse, soziale Beratung oder Anerkennung ihrer beruflichen und sonstigen Bildungsabschlüsse offen. Der Arbeitsmarkt ist ihnen weitgehend verschlossen und der Staat unternimmt alle Anstrengungen, sie abzuschieben. Erst 1978 setzte die damalige SPD-FDPKoalition ein Zeichen für einen grundsätzlichen Wandel in der damals sog. ‚Ausländerpolitik’, indem sie das Amt des Ausländerbeauftragten der Bundesregierung schuf. Heinz Kühn formulierte damals ein viel beachtetes Memorandum, in dem er die Abkehr von dem Gedanken, Deutschland sei kein Einwanderungsland, forderte, sich für Förderprogramme und für ein kommunales Wahlrecht aussprach. Seine erste Forderung wurde erst mit Beginn diesen Jahres 2005 Wirklichkeit, und zwar mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes. Darin wird zum ersten Mal in einem eigenen Abschnitt eine Integrationsförderung formuliert, die sich allerdings in dem Recht der Neueinwanderer auf einen Deutschkurs im Umfang von 600 Stunden und auf eine politische Orientierung in einem Kurs von 30 Stunden erschöpft.5 Interessanterweise spielte in der Debatte um diesen Abschnitt des Gesetzes die Verpflichtung der Einwanderer zur Teilnahme an den Kursen eine größere Rolle als die Tatsache, dass es während 50 Jahren Einwanderungsgeschichte keine Verpflichtung des Staates für die Bereitstellung von solchen Kursen gab. Die dritte Forderung Heinz Kühns, das kommunale Wahlrecht als eine Möglichkeit politischer Partizipation für ausländische Einwanderer zu schaffen, konnte nur für EU-Bürger verwirklicht werden. 1990 beschied das Bundesverfassungsgericht, dass für ein kommunales Wahlrecht entweder die Verfassung geändert oder die Einbürgerung erleichtert werden müsse. Letzteres wurde mit dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz von Januar 2000 umgesetzt.

5.

Eine neue Situation mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005

Auch in der Folge war die Zuwanderungs- und Integrationsgeschichte der Bundesrepublik vor allem durch folgendes gekennzeichnet: „Die Ansammlung von 5

vgl. §§ 43-45 Aufenthaltsgesetz und Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaussiedler (Integrationskursverordnung – IntV) vom 13. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3370).


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bereichsspezifischen, föderal zergliederten und weitgehend unkoordinierten, auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Zuständigkeiten angesiedelten Konzepten. Es fehlte eine übergreifende strategische Ausrichtung, aus der sich Ziele und Maßnamen der dezentral handelnden Akteure ableiten“, so das Resümee der Sachverständigen des Zuwanderungsrats in ihrem Bericht vom vergangenem Jahr (Jahresgutachten 2004 des Zuwanderungsrats: 237). Mit dem Aufenthaltsgesetz, das Teil des neuen Zuwanderungsgesetzes ist, sei ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung getan worden. Der Bund kann nunmehr im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz Exekutivaufgaben im Bereich der Integration übernehmen. So hat er das neue Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geschaffen und ihm die konzeptionelle Arbeit und die damit verbundene Datenerhebung, Forschung und Öffentlichkeitsarbeit übertragen. Auch das Amt der Beauftragten für Migration, Integration und Flüchtlinge, die Nachfolgeinstitution des Ausländerbeauftragten, wurde gesetzlich verankert. Eine Reihe wichtiger Integrationsfragen fällt aber in die Zuständigkeit der Bundesländer bzw. der Städte und Gemeinden im Rahmen ihres Selbstverwaltungsrechts (Art.28 Abs.1 GG). In Hamburg sind die Landes- und die kommunale Ebene aufgrund der Stadtstaatensituation kaum zu unterscheiden. Den Regelungen liegt ein Begriffsverständnis zugrunde, das den einzelnen bzw. die einzelne Migrantin als Adressaten von Integration sieht, nicht die Gesellschaft und ihre Strukturen, die ausgrenzend wirken. Die Integrationsmaßnahmen sind zum einen für Neueinwanderer und solche Migranten vorgesehen, die als ‚Bestandsausländer’ bezeichnet werden, und denen gegenüber es um ‚nachholende Integration’ geht; sie werden vom Bund finanziert. Es gibt nun ein im Zuwanderungsgesetz verankertes Recht auf Integrationskurse bzw. die mit Sanktionen bewehrte Pflicht für Neuzuwanderer, diese Kurse zu besuchen. Die Kurse sollen solche Zuwanderer erreichen, die im Zuge der Familienzusammenführung oder als Spätaussiedler einreisen, sowie Flüchtlinge nach ihrer Anerkennung. Auch in Hamburg erhalten jetzt solche neueinreisenden Erwachsenen maximal 600 Stunden Deutschkurs plus 30 Stunden Orientierungskurs. Die Sprachkurse werden durch freie Träger angeboten, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als Kursträger zugelassen worden sind – das sind z.B. die Volkshochschule oder kommerzielle Sprachschulen. Das Bundesverwaltungsamt entscheidet dabei über die Zulassung von Spätaussiedlern und die Ausländerbehörden über die Zulassung bzw. die Verpflichtung der Neueinreisenden zur Teilnahme. Wer zur Teilnahme berechtigt ist, kann sich selbst aus einer Liste das passende Kursangebot heraussuchen.6 6

Vgl. die Liste der Anbieter in Hamburg: http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/ soziales-familie/zuwanderung/deutschkurse/integrationskursanbieter,property=source.pdf


268 6.

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Bildungspolitik als Integrationspolitik

Bildungspolitik wird als Teil einer allgemeinen Integrationspolitik verstanden. Betrachtet man Bildung als einen Faktor von Integration, so ist zunächst festzustellen, dass Bildung die Angehörigen der autochthonen Bevölkerungsgruppe ebenso wie die der allochthonen dazu befähigen muss und kann, mit den Anforderungen der modernen heterogenen Gesellschaften fertig zu werden. Diese prinzipiell für alle gleiche Aufgabe von Bildung hat in den beiden Bevölkerungsgruppen verschiedene Akzente: Auf Seiten der Migrantenbevölkerung geht es stärker um den Erwerb von Allgemeinbildung und beruflicher Bildung bzw. den gleichberechtigten Zugang dazu. Die ansässige Bevölkerung ist stärker gefordert, die Vielfalt zu akzeptieren und den Umgang mit Differenz zu lernen. Am Beispiel der Sprache lässt sich dies verdeutlichen: Einwandererkinder, die häufig in ihren Familien mit deren Herkunftssprachen aufwachsen, müssen in der Schule einen zielgerichteten und guten Zweitsprachenunterricht erhalten, während die einsprachigen Kinder der Mehrheit anderes lernen müssen: Zum Beispiel es auszuhalten, wenn ihre Mitschülerinnen und Mitschüler in einer anderen Sprache sprechen. Sie müssen den Zugang zu diesen Sprachen erwerben und im Vergleich zwischen den Sprachen die Strukturen der eigenen Sprache erschließen lernen.7 Bildung hat im gesellschaftlichen Integrationsprozess vor allem zwei Funktionen zu erfüllen. Die Bildungssysteme haben einerseits die Aufgabe, zur sozialen Gerechtigkeit beizutragen, indem sie allen Kindern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und ihren kognitiven Voraussetzungen prinzipiell gleiche Bildungschancen eröffnen. Dass dies den Schulsystemen in den europäischen Ländern unterschiedlich gut gelingt, ist spätestens seit den Ergebnissen der internationalen Schulleistungsuntersuchungen klar, den Anspruch haben jedoch alle staatlichen Bildungssysteme. Zur gesellschaftlichen Integration trägt Bildung zweitens bei, indem sie für die optimale Nutzung des Humankapitals sorgt. In Deutschland wird die Leitvorstellung der finnischen Schule häufig als Vorbild zitiert, dass es sich nämlich das Land nicht leisten könne, auch nur ein Kind auf dem Weg zum Schulerfolg zu verlieren. Angesichts der demographischen Entwicklungen in Westeuropa ist dies nach7

Die Debatte Anfang 2006 um die Vereinbarung einer Berliner Schule, dass auf dem gesamten Schulgelände ausschließlich Deutsch gesprochen werden sollte, verdeutlicht, wie konflikthaltig es ist, eine solche Position einzunehmen. Die Befürworter des Verbots der Herkunftssprachen in der Schule begründeten dies mit der Ausgrenzung deutscher (oder anderer) Schüler, nur eine gemeinsame Sprache sei integrationsförderlich. Ihnen wurde entgegengehalten, durch Unterdrückung einer Sprache könne die andere nicht gefördert werden.


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drücklich zu unterstreichen und daher eine Verbesserung der Bildungs chancen sozial benachteiligter Kinder im Interesse der ganzen Gesellschaft unerlässlich. Auf den Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung als Teil des individuellen Integrationsprozesses habe ich schon hingewiesen: Alle Kinder müssen lernen, sich in ihrer Unterschiedlichkeit zu akzeptieren, Gemeinsamkeiten zu entdecken und Konflikte friedlich zu lösen, also ihre sozialen ebenso wie ihre kognitiven Kompetenzen möglichst weit zu entwickeln. Mit Blick auf die Einwanderinnen und Einwanderer kommt noch eine Aufgabe staatlicher Bildung spezieller Art hinzu, um den Integrationsprozess zu fördern. Es müssen Übergänge zwischen dem Bildungssystem, das verlassen wird, und dem aufnehmenden System geschaffen werden, Bildungsabschlüsse anerkannt werden, Sprachen neu gelernt werden und Orientierungswissen im neuen System erworben werden. Seit Anfang der 1970er Jahre wurden Maßnahmen zur Aufnahme zuwandernder Kinder in das deutsche Schulsystem geschaffen: Vorbereitungsklassen zur Vermittlung von Deutschkenntnissen, Muttersprachlicher Ergänzungsunterricht in Zusammenarbeit mit den Konsulaten zunächst zum Erhalt der Rückkehrfähigkeit der Kinder, später zur Bewahrung ihrer ‚kulturellen Identität’, Förderunterricht nach der Aufnahme in die Regelklassen und viele Maßnahmen mehr.8 Die bildungspolitischen Maßnahmen, die der Integration dienen sollten, waren und sind bis heute von der Vorstellung geprägt, dass die Kinder an das bestehende Bildungssystem angepasst werden müssen, das Bildungssystem selbst aber unverändert bleibt. Erst 1996 verständigte sich die KMK auf eine Empfehlung, die weitergehende Konsequenzen zur interkulturellen Bildung und Erziehung mit entsprechenden Änderungen in den Lehrplänen vorsah. Sie war aber in Bezug auf die Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit sehr unverbindlich und ermöglicht den Bundesländern weiterhin, die Herkunftssprachen der Migrantenkinder durch Dritte (wie in Sachsen), durch die Konsulate (wie in Berlin), in eigener Verantwortung (wie in NRW) oder in einer Kombination (wie in Hamburg) zu unterrichten. Mit der Debatte um die Erleichterung von Einbürgerungen 1999/2000 und um das Zuwanderungsgesetz wurden Sinn und Funktion des Muttersprachlichen Unterrichts in Zweifel gezogen und z.B. in Bayern seit 2004 sukzessive abgeschafft. Das wichtigste Argument lautet: Im öffentlichen Interesse liege die Orientierung am deutschen Nationalstaat und seiner demokratischen Verfassung, der Staat habe für die Vermittlung der deutschen Sprache zu sorgen, während mehrsprachige Erziehung – ebenso wie die religiöse Erziehung – der Sphäre des Privaten zuzurechnen sei. Den Unterricht 8

Eine Darstellung dieser Maßnahmen und ihrer Entwicklung im Einzelnen liegt vor in Gogolin/Neumann/Reuter 2001.


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der Herkunftssprachen abzuschaffen nimmt aber zum einen den Kindern und Jugendlichen die Chance, ihr sprachliches und kognitives Potenzial zu entfalten und eine Verbindung zwischen den Sprachen ihres Alltags herzustellen – auch zum Nutzen ihrer Deutschkenntnisse –, es verhindert aber auch die Ausschöpfung dieser Ressourcen für den Staat. Die Debatte um den Unterricht der Herkunftssprachen ist hochgradig symbolisch, denn sprachwissenschaftlich ist weltweit erwiesen, dass solche Modelle sprachlicher Bildung am erfolgreichsten sind, die über einen ausreichend langen Zeitraum bei zweisprachig aufwachsenden Kindern beide Sprache koordiniert unterrichten (Reich/Roth 2002); Nachteile erwachsen ihnen jedenfalls nicht daraus, dass sie den Zugang zur Schriftsprache in mehr als der Verkehrssprache des jeweiligen Landes gewinnen (Söhn 2005). Insgesamt betrachtet hat die Kulturhoheit der Länder einen einheitlichen Umgang mit Heterogenität aufgrund von Migration im Bildungssystem verhindert. Es ist vom Zufall abhängig, ob Kinder Deutsch als Zweitsprache-Unterricht erhalten, ob sie in ihrer Herkunftssprache lesen und schreiben lernen, bei Flüchtlingskindern sogar, ob sie überhaupt zur Schule gehen.9 Dennoch ist keine systematische Differenz zwischen Bundesländern zu erkennen, die lange Zeit von der SPD oder der CDU (bzw. von diesen Parteien dominierten Koalitionen) regiert wurden. In Hamburg ist mit der rot-grünen Regierungskoalition von 1997 und der anschließenden ‚empirischen Wende’, die von der Schulsenatorin Rosemarie Raab eingeleitet wurde, eine Schulpolitik begonnen worden, die sich durch eine stärkere Akzeptanz der Migrantenkinder und ihrer Bildungsansprüche auszeichnete. Zunächst wurde in §3 des Schulgesetzes ein Passus aufgenommen, der die Förderung der Zweisprachigkeit für Migrantenkinder vorsah. Damit wurde zwar noch nicht der allgemeine Wert von Mehrsprachigkeit der deutschen Gesellschaft akzeptiert, wohl aber die Zweisprachigkeit als Ressource der Migrantenbevölkerung definiert. Ausdruck der veränderten Politik waren z.B. die Berücksichtigung der Gruppe der Kinder mit Migrationshintergrund in der Lernausgangslagenuntersuchung LAU (erste Erhebung dieser Längsschnittstudie bereits 1996; vgl. Lehmann/Peek 1997), ein Auftrag zu einem Gutachten über den Forschungsstand zum Spracherwerb unter Migrationsbedingungen (Reich/ Roth 2001), die Stärkung des Herkunftssprachlichen Unterrichts durch Einrichtung von Kursen für weitere Sprachen, vor allem von Flüchtlingen (u.a. Kurdisch, Dari/Farsi, Aramäisch, Romanes), die Fortbildung der darin tätigen Lehr-

9

Zur Frage der Schulpflicht vgl. Neumann et al. 2003; terre des hommes 2005.


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kräfte, die Ausarbeitung von Rahmenrichtlinien, die Anerkennung der Noten des Herkunftssprachlichen Unterrichts als versetzungsrelevant etc. Nach dem Regierungswechsel 2002 wurde der Satz über die Förderung der Zweisprachigkeit im Schulgesetz wieder gestrichen. Zwei weitere Änderungen im Schulgesetz10 deuten die neue Richtung in der schulischen Integrationspolitik an; sie richtet sich auf den Beginn der Bildungslaufbahn. Es wurde die Möglichkeit zur Zurückstellung vom Schulbesuch aufgrund der sprachlichen Entwicklung (§ 38.2) geschaffen und eingeführt, dass Kinder bereits mit viereinhalb Jahren bei der künftigen Grundschule vorgestellt und in einer Untersuchung durch die Schulleiter festgestellt werden soll, ob ein besonderer Förderbedarf – vor allem in Bezug auf die sprachliche Entwicklung – besteht (§ 42.2).

7.

Neuere bildungspolitische Maßnahmen und Tendenzen

Im Folgenden werden einige bildungspolitische Maßnahmen herausgegriffen, um an ihrem Beispiel die Tendenzen der gegenwärtigen Entwicklung zu zeigen. Andere werden nicht genannt, wie z.B. die Förderung der deutschen Sprache als Bildungssprache im Unterricht der Fächer. Auch die wichtigen Bereiche der beruflichen Bildung und die Lehrerbildung werden nicht diskutiert. Die sich dort abzeichnenden Entwicklungen sind Inhalte des BLK-Programms „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund FÖRMIG“, an dem sich von 2004 bis 2008 zehn Bundesländern mit zahlreichen Projekten beteiligen, um die Heterogenität der Schülerschaft besser zu berücksichtigen und die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund zum Schulerfolg zu führen.11

7.1. Sprachstandsdiagnose und Vorschulpädagogik Die Hauptdiskussion in den letzten Jahren, speziell nachdem die PISAErgebnisse vorlagen, drehte sich darum, dass Migrantenkinder schon bei ihrer Einschulung zu wenig Deutsch können, um in der Schule erfolgreich zu sein. 10 11

HmbSG vom 16. April 1997 (HmbGVBl. S. 97), geändert am 27. Juni 2003 (HmbGVBl. S. 177, 228). vgl. zur folgenden Darstellung das Gutachten von Gogolin, Neumann und Roth (2003) sowie das BLK-Programm „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund FörMig“, http://blk-foermig.uni-hamburg.de


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Jahrelang war die Erwartung gepflegt worden, dass ein Kind, das in Deutschland geboren wird und aufwächst, automatisch auch Deutsch lerne. Dies erwies sich als Irrtum; auch nach 50 Jahren Arbeitsmigration legen die meisten Eltern Wert darauf, dass ihre Kinder die Sprache der Familie gut lernen, ehe sie in die Schule kommen. Die Schulverwaltungen mussten daher weiterhin zusätzliche finanzielle Mittel für Förderunterricht in der Grundschule einsetzen. Weil die Nationalität der Kinder inzwischen kein sicherer Hinweis mehr darauf war, ob ein Kind deutsch konnte, begann Berlin als erstes Bundesland einen Sprachtest zu entwickeln, um die Verteilung von zusätzlichen Stundendeputaten für Lehrkräfte an die Schulen zu steuern. Weitere Länder folgten, die Testverfahren entwickelten und zu unterschiedlichen Zwecken nutzten (vgl. Gogolin/Neumann/ Roth 2005). Meist geht der Einsatz von Sprachstandsdiagnoseverfahren mit der Intensivierung der vorschulischen Sprachförderung einher, worunter in der Regel die Vermittlung von mündlichen Deutsch- kenntnissen verstanden wird. Zurzeit wird in fast allen Bundesländern der Übergang vom Elementar- in den Primarbereich so zu gestalten versucht, dass die Kinder systematisch Deutsch lernen. In Hamburg entwickelten Hans Reich und Hans-Joachim Roth das Verfahren HAVAS 5, bei dem die Kinder in Bezug auf ihre sprachliche Entwicklung in Deutsch und ihrer jeweiligen Herkunfts- sprache eingeschätzt werden; es liegen Auswertungsbögen in sieben Sprachen vor. Aufbauend auf der Analyse des Sprachstandes der Kinder und der Entwicklung ihrer Zweisprachigkeit können Förderkonzepte erarbeitet werden, die ihnen individuell gerecht werden und ihre Sprachen als Potenziale bewerten.

7.2. Eltern, Familie und Community Ein Kennzeichen der Bildungssituation von Kindern mit Migrationshintergrund ist die widersprüchliche Situation, dass die Zuwandererfamilien einerseits bestrebt sind, ihr ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital zu vermehren und einen sozialen Aufstieg zu erreichen. Dies äußert sich in hohen Bildungs- und Berufserwartungen an die Kinder. Andererseits sind die Familien aber u.a. aufgrund ihrer schlechten ökonomischen Lage häufig nicht in der Lage, diese Orientierungen auch umzusetzen bzw. angemessene Strategien dafür zu entwickeln. Umgekehrt sind die deutschen Bildungsinstitutionen häufig nicht in der Lage, sich auf die Bedürfnisse der Migrantinnen und Migranten einzustellen. Auch ihnen fehlen Informationen und Strategien im Zugang zu den Migrantencommunities. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Feld von Familie und ethnischer Community die Organisationen und Vereine der Migranten, die zunehmend mit


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Projekten und Medien an die Öffentlichkeit treten. Sie können eine Kommunikationsbrücke bilden und auch zunehmend ein politisch einflussreicher Faktor sein. Pädagogische Projekte, die an dieser Schnittstelle ansetzen, werden immer häufiger, z.B. Deutschkurse für Mütter, deren Kinder eingeschult werden: „Mama lernt Deutsch“ und Programme wie HIPPY oder „familiy literacy“, bei denen Mütter zuhause darin geschult werden, ihre Kinder sprachlich zu fördern.

7.3. Bilinguale Grundschulen Trotz der faktischen Mehrsprachigkeit der deutschen Gesellschaft herrscht in der Öffentlichkeit und in den Schulen ein Habitus von Einsprachigkeit. Die Ressourcen der Kinder in den Sprachen, die sie in ihren Familien erwerben, werden nicht genutzt. Als Schulfremdsprachen werden Sprachen mit hohem sozialen Prestige vermittelt: Englisch, Französisch, Spanisch, auch wieder etwas stärker Latein – nur selten aber Türkisch, Russisch, Polnisch oder Farsi, die häufigsten Einwanderersprachen in Deutschland. Aus der Zeit der Gastarbeiterbeschäftigung stammen noch die Sonderregelungen für den sog. Muttersprachlichen Unterricht, der zusätzlich, meist am Nachmittag erteilt wird. Verantwortlich dafür sind die Konsulate oder die kommunalen Schulbehörden. Eine jüngere Entwicklung stellt die Einrichtung von bilingualen Grundschulen dar. Diese erfordern den Einsatz entsprechend ausgebildeter zweisprachiger Lehrerinnen und Lehrer, die z.T. aufgrund bilateraler Verträge mit den Herkunftsländern der Migranten in den Schulen tätig werden. In solchen Unterrichtsformen, die nach amerikanischem Vorbild als two way models oder dual language programs bezeichnet werden können, werden einsprachig deutsche Kinder und zweisprachige Kinder mit Migrationshintergrund gemeinsam in zwei Sprachen alphabetisiert und unterrichtet. Die erste Grundschule dieser Art ist die deutschitalienische Schule in Wolfsburg, die inzwischen als Gesamtschule bis zum Abitur ausgebaut wurde. Weitere Beispiele für eine solche zweisprachige Erziehung in der Grundschule finden sich in Berlin (Staatliche Europa-Schule Berlin), Köln, Frankfurt und Hamburg.12 Sie zeichnen sich durch eine gleichrangige Vermittlung des schulischen Wissens in Deutsch und einer anderen 12

Sowie einzelne Schulen und Schulzweige in weiteren Städten; vgl. Neumann/Roth 2006. In Berlin sind neun Sprachen an zwölf Standorten, in Hamburg sechs Schulen mit vier Sprachen (Italienisch, Portugiesisch, Spanisch und Türkisch) beteiligt. Zu den Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitung vgl. die Berichte auf der Homepage der Arbeitsstelle Interkulturelle Bildung der Universität Hamburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft (http://www.erzwiss. uni-hamburg.de/Inst02/index02.htm).


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Sprache an Schülerinnen und Schüler aus, von denen die Hälfte diese Sprachen bereits aus ihren Familien mitbringt.

7.4. Interkulturelle Curricula Mit Blick auf die Inhalte der Unterrichtsfächer und ihre Zielsetzungen bildet die bereits erwähnte Empfehlung der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1996 nach wie vor eine Richtschnur, an der sich die länderspezifischen Curricula zunehmend orientieren (vgl. KMK 1996). Die Lehrbuchentwicklung hat dies noch nicht nachvollzogen, im Gegenteil: manchmal konterkariert sie den Geist dieser Richtlinie, indem nicht die Heterogenität der Schülerschaft und die Vielfalt der Perspektiven aufgezeigt wird, sondern ein Kapitel eingefügt wird, das die Minderheitenkinder zu Objekten des Unterrichts macht. Vorzugsweise ist auf den eingefügten Bildern eine Frau mit Kopftuch zu sehen. So werden Stereotype gebildet und verstärkt statt interkulturelle Bildung unterstützt. Es wäre in Deutschland außerordentlich wichtig, dass die Grundsätze dieser Ländervereinbarung über interkulturelle Bildung auch in die Entwicklung nationaler Bildungsstandards eingingen und die Qualitätsentwicklung daran orientiert würde, was aber nicht der Fall ist. Dies belegen Analysen von Lehrplänen verschiedener Bundesländer, deren Ausgangspunkt die Einordnung interkultureller pädagogischer Konzepte zwischen den beiden Polen begegnungspädagogischer und konfliktpädagogischer Perspektiven ist.13 Unter ‚begegnungspädagogischen Konzepten’ interkultureller Bildung werden solche didaktischen Vorstellungen subsumiert, die durch die Begegnung kultureller Ausdrucksformen und Auseinandersetzung mit einer als ‚anders’ definierten Lebensweise und Weltsicht zum Bildungsprozess beitragen. Sie zielen auf das Individuum und seine Haltungen, Handlungen und Reflexionsfähigkeit. ‚Konfliktpädagogische Ansätze’ nehmen eher die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick und zielen auf eine kritische Reflexion des Verhältnisses von Mehrheit und Minderheiten, auf Mechanismen der Diskriminierung und der Konstruktion von ethnisch-kultureller Differenz. Betrachtet man stellvertretend für andere die neueren Lehrpläne bzw. Lehrplanentwürfe in Bayern und Berlin, so kann Folgendes festgestellt werden: Die Texte benennen in der Regel Ziele interkultureller Pädagogik, aber die Struktur des Wissenserwerbs und des Aufbaus von Handlungskompetenz in unterschiedlichen Situationen wird nur unspezifisch erfasst – wenn etwa von der 13

Vgl. Bühler-Otten/Neumann/ Reuter 2000; Neumann/Reuter 2004.


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Begegnung mit dem Anderen eine Klärung des eigenen Standpunkts erwartet wird. Die angestrebten Ergebnisse schließlich sind in der Regel nicht formuliert. So weist der bayerische Katalog des erwünschten „Grundwissens und der Kernkompetenzen“ am Ende der Jahrgangsstufe 9 fast keine interkulturellen Aspekte auf, obwohl solche Ziele und Inhalte zuvor im Lehrplan beschrieben werden. Gleichzeitig zeigte sich aber auch folgendes: Wenn Rahmenpläne zur interkulturellen Erziehung einem Kompetenzmodell folgen, entwickelt dieses offenbar eine dynamische und systematisierende Wirkung für fachbezogene Bildungspläne, wie am Beispiel der gemeinsamen Grundschulpläne für den Sachunterricht und das Fach Deutsch in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Bremen und Brandenburg gezeigt werden konnte. Der schwierige Schritt von der Zielformulierung zur Konkretisierung in Unterrichtsinhalten, -methoden und wissensbasierter Handlungsfähigkeit gelingt dann besser, wenn genauer bestimmt wurde, was unter interkultureller Kompetenz zu verstehen sei. Bedingung für die Etablierung interkultureller Bildung in Lehrplänen und Bildungsstandards ist nach unseren Analysen offenbar:

8.

eine Adressatenorientierung, welche die multikulturelle Schülerschaft ausdrücklich berücksichtigt und positiv als Lernarrangement bewertet, in dem die Verschiedenheit der Ansichten, Fähigkeiten und Positionen zur Ausbildung von Handlungskompetenz beiträgt; ein reflektierter Vergleich nicht von ‚Kulturen’, sondern von Lebensformen, Sprachen, religiösen und weltanschaulichen Einstellungen; eine Orientierung an der Reflexion sowohl gesellschaftlich-historischer als auch individueller Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten; die Bewertung von Heterogenität als normal und die Entwicklung von Kriterien und Testverfahren, mit denen die Zielbestimmungen der interkulturellen Kompetenz praktisch überprüft werden können.

Abschließende Bewertung

Es bestehen ganz offensichtlich Zusammenhänge zwischen den Wirkungen einer allgemeinen Integrationspolitik und der Bildungspolitik, die direkt auf den Umgang mit Heterogenität bezogen ist. Indirekte Zusammenhänge, wie die zwischen der Struktur des Schulsystems – insbesondere seiner Dreigliedrigkeit – und den Bildungserfolgen von Kindern mit Migrationshintergrund wurden hier nicht diskutiert; sie bedürfen weiterer empirischer Analysen, für die mit dem


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KMK-Bildungsbericht 2006 bzw. dem Mikrozensus 2005 erstmals die Grundlagen geschaffen wurden. Folgende Schlussfolgerungen können gezogen werden: 1.

2.

3.

4.

5.

Die Kulturhoheit der Länder hat zu einer Vielfalt von Maßnahmen und Regelungen geführt, die als gemeinsame integrationspolitische Zielrichtung erkennen lassen, dass in erster Linie Anpassungsleistungen von den Migrantenkindern erwartet werden und dem Erwerb der deutschen Sprache die größte Bedeutung zugemessen wird. Bundespolitische Entscheidungen und Diskussionen (z.B. ‚Asylkompromiss’, Zuwanderungsgesetz, Staatsangehörigkeitsgesetz) beeinflussen indirekt die bildungspolitischen Weichenstellungen in den Ländern, obwohl die Kulturhoheit der Länder eine direkte Einflussnahme verhindert. Die politisch nicht gewollte bzw. verleugnete Einwanderung und die damit verbundene Politik der Abwehr besteht gegenüber Flüchtlingen einerseits fort, ist aber ergänzt durch eine Eingliederungspolitik gegenüber den Nachkommen der Gastarbeiter und Aussiedler. Diese Gruppen sind einem erhöhten Anpassungsdruck ausgesetzt, der sich u.a. in der Forderung nach guten Deutschkenntnissen der Kinder bereits vor ihrer Einschulung äußert. Die politischen Ziele können daher mit pädagogischen Zielen in Einklang stehen, zum Beispiel, wenn es um das Deutschlernen von Müttern und Kindern geht. Sie können sie aber auch konterkarieren, wenn zum Beispiel Flüchtlingskinder in der Schule Deutschunterricht erhalten, ihre Herkunftssprachen nicht vermittelt bekommen, aber dennoch keine Bleibeperspektiven besitzen. Der Misserfolg vieler Migrantenjugendliche im deutschen Schulsystem bzw. das Versagen des Systems an diesen Schülerinnen und Schülern hat eine Debatte über die Struktur des Bildungssystems ausgelöst, womit allmählich deutlich wird, dass die Migration eine Veränderung des Bildungswesens in seinem Kern zur Folge haben muss, will Deutschland nicht länger unteres Mittelmaß im internationalen Vergleich sein.


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Literatur Asbrand, B./Lang-Wojtasik, G./Köller, O. (2005): Lesekompetenz in sehr leistungsschwachen Ländern – eine interkulturelle Sekundaranalyse der Leseleistungen in IGLU. In: Bos et al. (2005): 37-79 Bos, W. et al. (Hrsg.) (2003): Erste Ergebnisse aus IGLU. Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann Bos, W. et al. (Hrsg.) (2005): IGLU. Vertiefende Analysen zu Leseverständnis, Rahmenbedingungen und Zusatzstudien, Münster: Waxmann Bühler-Otten, S./Neumann, U./Reuter, L. R. (2000): Interkulturelle Bildung in den Lehrplänen. In: Gogolin/Nauck (2000): 279-319 Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2003): PISA 2000. Ein differenzierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Leske + Budrich Fürstenau, S./Gogolin, I./Ya mur, K. (Hrsg.) (2003): Mehrsprachigkeit in Hamburg. Ergebnisse einer Sprachenerhebung an den Grundschulen in Hamburg. Münster: Waxmann Geiger, K.F. (2002): Das ist wohl kaum ein Neuanfang in der Einwanderungspolitik. Wie Parteien und Regierungen in Deutschland seit Jahrzehnten mit dem Begriff „Integration“ Politik machen. In: Frankfurter Rundschau vom 25.10.2002 Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz). Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages, Drs. 157/02 vom 1.3.02 Gogolin, I./Nauck, B. (Hrsg.) (2000): Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung. Opladen: Leske + Budrich Gogolin, I./Neumann, U./Reuter, L. (Hrsg.) (2001): Schulbildung für Kinder aus Minderheiten 1989-1999. Münster: Waxmann Gogolin, I./Neumann, U./Roth, H.-J. (2003): Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Gutachten für die BLK. Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung, Heft 107, Bonn Gogolin, I./Neumann, U./Roth, H.-J. (Hrsg.) (2005): Sprachdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Münster: Waxmann Gomolla, M./Radtke, F.-O. (2002): Institutionelle Diskriminierung. Opladen: Leske + Budrich Jahresgutachten 2004 des Zuwanderungsrats. http://www.bamf.de/template/zuwanderungsrat/ content_zuwanderungsrat.htm (zuletzt gesehen am 13.11.2005) Kultusministerkonferenz (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder [KMK]) (2004): Empfehlung „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“ vom 25.10.1996, in: KMK-Beschlusssammlung Nr. 671.1. Neuwied: Luchterhand. Neumann, U./Niedrig, H./Schroeder, J./Seukwa, L.H. (Hrsg.) (2002): Wie offen ist der Bildungsmarkt? Rechtliche und symbolische Ausgrenzungen junger afrikanischer Flüchtlinge im Bildungs-, Ausbildungs- und Beschäftigungssystem. Münster: Waxmann Neumann, U./Niedrig, H./Schroeder, J./Seukwa, L.H. (Hrsg.) (2003): Lernen am Rande der Gesellschaft. Bildungsinstitutionen im Spiegel von Flüchtlingsbiographien. Münster: Waxmann Neumann, U./Reuter, L. (2004): Interkulturelle Bildung in den Lehrplänen – neuere Entwicklungen. In: Zeitschrift für Pädagogik 50, 7-21 Neumann, U./Roth, H.-J. (zur Veröffentlichung vorgesehen 2006): Multilingual Primary Schools in Germany – Models and Research. New York: Multilingual Matters


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OECD (2006): Wo haben Schüler mit Migrationshintergrund die größten Erfolgschancen: Eine vergleichende Analyse von Leistung und Engagement in PISA 2003. Kurzzusammenfassung. http://www.pisa.oecd.org/dataoecd/2/57/36665235.pdf (zuletzt gesehen: 15.05.06) Reich, H. H./Roth, H.-J. et al. (2001): Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher. Hamburg (Gutachten für die Behörde für Bildung und Sport, Hamburg) Schiffauer, W./Baumann, G./Kastoryano, R./Vertovec, St. (Hrsg.) (2002): Staat – Schule – Ethnizität. Münster: Waxmann Schulte, A. (2002): Integrations- und Antidiskriminierungspolitik in Einwanderungsgesellschaften: Zwischen Ideal und Wirklichkeit der Demokratie. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung Söhn, J. (2005): Zweisprachiger Schulunterricht für Migrantenkinder. Ergebnisse der Evaluationsforschung zu seinen Auswirkungen aus Zweitspracherwerb und Schulerfolg. Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI). Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Berlin Sozietät „Umgang mit kultureller Heterogenität“ (2003): Reform der Hamburger Lehrerbildung Prioritäres Thema ‚Kulturelle und soziale Heterogenität’ in der Lehrerbildung, Konzeptpapier vom 30.09.2002 terre des hommes Deutschland e.V. (Hrsg. 2005): „Wir bleiben draußen“. Schulpflicht und Schulrecht von Flüchtlingskindern in Deutschland. Osnabrück Thränhardt, D. (2001a): Zuwanderungs- und Integrationspolitik in föderalistischen Ländern. In: Thränhardt (2001b): 15-33 Thränhardt, D. (Hrsg.) (2001b): Studien zu Migration und Minderheiten. Münster: LIT


Die Autorinnen und Autoren Die Autorinnen und Autoren

Adam, Hubertus, Dr. med., Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, psychoanalytischer Paar- und Familientherapeut sowie seit der Gründung 1998 Ärztlicher Leiter der Stefanie Graf Stiftung „Children for Tomorrow“. Dort Aufbau und Leitung kinderpsychotherapeutischer und psychiatrischer Versorgungs- und Ausbildungsprojekte für Kinder als Opfer von Krieg und Verfolgung in Südafrika, Mosambik, Kosovo, Syrien/Jordanien und Hamburg. Baros, Wassilios, Dr. Hochschullehrer (Lecturer) für Interkulturelle Erziehung an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Demokritos Universität (Griechenland) und Lehrbeauftragter an den Universitäten Köln, Bielefeld, Hagen und Osnabrück. Arbeitsschwerpunkte: Interkulturelle Bildung, Qualitative Forschungsmethoden, Friedens- und Konfliktforschung. Carnicer, Javier, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Migration, Jugend, Biografie. Gogolin, Ingrid, Prof. Dr., Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: International vergleichende und interkulturelle Bildungsforschung, Folgen der Migration und Mehrsprachigkeit für Bildung und Erziehung. Günther, Marga, Dr. phil., Dipl.-Sozialarbeiterin und Dipl.-Soziologin, promovierte am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Univ. Frankfurt/M. zum Thema „Adoleszenz-Migration-Geschlecht“. Arbeitsschwerpunkte: Jugend- und Adoleszenztheorien, Migrationstheorien, Methoden und Methodologie hermeneutischer Sozialforschung. Hoffarth, Britta, Dipl. Päd., Lehrbeauftragte an der Universität Bielefeld und freie Journalistin. Arbeitsschwerpunkte: Gender, Differenz und Popkultur.


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Die Autorinnen und Autoren

Hummrich, Merle, Dr. phil., Dipl. Päd., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Arbeitsschwerpunkte: Migrationsforschung, soziale Ungleichheit, pädagogische Generationenbeziehungen, qualitative Schul- und Bildungsforschung. Juhasz, Anne, Prof. Dr. phil., Juniorprofessorin für Qualitative Methoden der Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Migration, soziale Ungleichheit, citizenship und qualitative Sozialforschung. King, Vera, Prof. Dr. phil., Dipl.soc., Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Sozialisationsforschung, Entwicklungs- und Bildungsprozesse insbes. in Jugend und Adoleszenz, Geschlechter- und Generationenbeziehungen; soziale Ungleichheiten. Koller, Hans-Christoph, Prof. Dr. phil., Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Erziehungswissenschaft, Bildungstheorie, Methodologie, qualitative Methoden der Bildungsforschung, insbes. Biografieforschung und interkulturelle Bildungsforschung. Mecheril, Paul, Prof. Dr. phil., Professor am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck. Arbeitsschwerpunkte u.a.: Interkulturelle Erziehungswissenschaft, Cultural Studies, Migrationsforschung, Theorien sozialer Zugehörigkeit. Mey, Eva, Soziologin, Dr. phil., Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern. Forschungsschwerpunkte: Migration, Jugend, Sozialstaat, Biographie. Neumann, Ursula, Prof. Dr., Professorin am Institut für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Forschung und Lehre zur interkulturellen Bildung, u.a. Sozialisation in türkischen Migrantenfamilien, Bildungssituation von Flüchtlingen, Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Reaktionen des Bildungswesens auf Einwanderung.


Die Autorinnen und Autoren

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Nohl, Arnd-Michael, Dr. phil, Professor für Erziehungswissenschaft, insbesondere systematische Pädagogik, an der Helmut Schmidt-Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Jugend- und Migrationsforschung, Allgemeine und interkulturelle Erziehungswissenschaft, qualitative Bildungsforschung. Pott, Andreas, Prof. Dr. phil., Professor für Sozialgeographie an der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Geographische Migrationsforschung, Kulturelle Geographien der (Groß-)Stadt, (Städte-)Tourismus, Soziale Stadtentwicklung, Geographie und Gesellschaftstheorie. Subow, Elvin, Lehramtsstudentin in den Fächern Englisch und Geschichte an der Universität Hamburg und studentische Hilfskraft im Forschungsprojekt „Bildungskarrieren und adoleszente Ablösungsprozesse bei männlichen Jugendlichen aus türkischen Migrantenfamilien“. Weber, Martina, Prof. Dr., derzeit Leitung des Zentrums für Genderforschung, Universität Flensburg. Arbeitsschwerpunkte: Interkulturelle Genderforschung; Ethnographie im Feld schulischer Bildung; Reproduktion sozialer Ungleichheit. Zölch, Janina, Dipl.-Päd., Promovendin, wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem DFG-Projekt „Bildungskarrieren und adoleszente Ablösungsprozesse bei männlichen Jugendlichen aus türkischen Migrantenfamilien“ an der Universität Hamburg.


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