Literarisches Reisefieber

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Ursula Kohler

Literarisches Reisefieber

Kreuz und quer durch die Schweiz – zu Fuss und mit dem Velo


FĂźr meine Mutter



Wir danken folgenden Institutionen für die Unterstützung: CASSINELLI-VOGEL-STIFTUNG Ernst Göhner Stiftung Fachstelle Kultur Kanton Zürich Lotteriefonds des Kantons Bern Oertli-Stiftung, Zürich Swisslos – Kanton Aargau SWISSLOS / Kulturförderung, Kanton Graubünden

www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2017 Gestaltung und Herstellung: AS Verlag, Urs Bolz, Zürich Korrektorat: Pablo Egger, Speicher Foto Hermann Hesse: Martin Hesse, © 2017, ProLitteris, Zurich Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-63-3 Der AS Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.


Literarisches Reisefieber Ursula Kohler

AS Verlag


INHALT 9 Einleitung 12 Eine Promenade durch altehrwürdige Genfer Quartiere Vieille Ville, Saint-Pierre und Jet d’eau neu erleben Henri-Frédéric Amiel · 20  l  Geschichte eines Tagebuchs · 22 24 Zu Fuss durch das Tal der Künstler und Dichter Von Casaccia auf dem Panoramaweg via Soglio nach Castasegna Silvia Andrea · 30  l  Das eigene Ich und die grosse Welt · 32 34 Auf zeitlosen Wegen zu Bräkers «Einöde» Vom Ricken über die Chrüzegg nach Dreischlatt in Krinau Ulrich Bräker · 44  l  Lebensgeschichte des Armen Mannes im Tockenburg · 46 48 Mit dem Velo auf einem sehr langen Schulweg Auf zwei Rädern von Aarau über Schiltwald nach Sursee Hermann Burger · 54  l  Schilten: Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz · 56 58 Im kleinen Paradies am Genfersee unterwegs Mit dem Velo von Montreux nach Lausanne durchs Lavaux · 58 Anne Cuneo · 64  l  Zaïda · 66 68 Der Besuch der jungen Leute (Beitrag von Chiara Kohler) Auf dem Trans Swiss Trail zum Centre Dürrenmatt Friedrich Dürrenmatt · 74  l  Der Besuch der alten Dame · 76 78 Eine Annäherung an Federspiels Kindheits- und Jugendort Davos Von Davos Laret nach Davos Dorf, Schatzalp und Davos Platz Jürg Federspiel · 84  l  Die Ballade von der Typhoid Mary · 86 88 Auf den Spuren von Otto Frei am Bodensee Eine aussichtsreiche Wanderung rund um Steckborn Otto Frei · 94  l  Bis sich Nacht in die Augen senkt. Die Steckborner Pentalogie · 96 98 Zürich sehen, als wär’s das erste Mal Vom Pfannenstiel übers Erlenbacher Tobel nach Zürich Max Frisch · 106  l  Stiller · 108 110 Auf der Suche nach einer der Lebensstationen Glausers Mit dem Velo von Burgdorf via Oeschberg nach Langenthal Friedrich Glauser · 116  l  Wachtmeister Studer · 118


120 Gotthelfs Emmental rückt mit jedem Schritt näher Von Biglen über Aspiegg nach Lützelflüh Jeremias Gotthelf · 126  l  Geld und Geist · 128 130 Eine aussichtsreiche Annäherung an Weltliteratur Zu Fuss von Figino nach Montagnola Hermann Hesse · 138  l  Siddhartha – eine indische Dichtung · 140 142 Den Meret Oppenheim-Brunnen in Bern erwandern Die Aare entlang mitten ins Zentrum der Bundesstadt Meret Oppenheim · 148  l  Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich · 150 152 Hoch hinauf auf den Berg mit 400 Bergen im Anhang Zu Fuss auf das Aroser Weisshorn Hans Roelli · 158  l  Hier bin ich · 160 162 Mit Velopower zu einem geschichtsträchtigen Dorf Von Brig die Rhone entlang nach Raron und weiter nach Leuk Iris von Roten · 168  l  Frauen im Laufgitter · 170 172 Natur und Stille: Gegenpol eines unruhigen Lebens Von Sils Maria durchs Fextal bis zur Alp Muot Selvas Annemarie Schwarzenbach · 180  l  Das glückliche Tal · 182 184 Auf vielseitigem Reisepfad von der Stadt aufs Land Von Zürich mit dem Schiff und zu Fuss auf den Hirzel Johanna Spyri · 192  l  Heidi · 194 196 Auf der Route 66 zum Kloster Fahr Mit dem Velo von Zürich nach Baden die Limmat entlang Silja Walter · 202  l  Das dreifarbene Meer. Meine Heilsgeschichte – eine Biografie · 204  206 Viel Natur und Kultur auf zwei Rädern Durch die Gorges du Pichoux nach Delémont Lisa Wenger · 212  l  Der Vogel im Käfig · 214 216 Auf verschlungenen Pfaden bis ans «End der Welt» Zu Fuss durch die Twannbachschlucht nach Leubringen Laure Wyss · 224  l  Mutters Geburtstag · 226 228 Anhang Literatur- und Quellenverzeichnis · 228 Bildnachweis · 236 Dank l Autorin · 237 Übersichtskarte · 238


Zu Fuss durch das Tal der KĂźnstler und Dichter Von Casaccia auf dem Panoramaweg via Soglio nach Castasegna


Ein Teilstück des Panoramawegs durchs Bergell führt uns zu Highlights und Aussichten – und anschliessend zum einstigen Wohnort von Silvia Andrea. Doch aufgepasst: Der Weg ist kein Spaziergang, dafür ein abwechslungsreicher Wanderweg durch eines der schönsten Schweizer Täler. «Ein Ruck, die Pferde zogen an. In der That wird es dem Reisenden nicht ganz geheuer, wenn er vom Postwagen in die Tiefe blickt, in die er hinuntersteigen soll. Aber bald beruhigt er sich; die Sicherheit und Eleganz, mit der die berggewohnten Pferde die Kehren machen und das gleichmässige Schaukeln des Wagens belehren ihn, dass die rasende Fahrt keine Schwierigkeiten bietet.» Dies schreibt Silvia Andrea in ihrem Werk über das Bergell aus dem Jahr 1901. Eine bessere Einstimmung in das Tal gibt’s nicht. Auch wenn wir heute die Tiefe von Maloja bis Casaccia mit dem Postauto überwinden, kann es uns noch angst und bange werden. Gefühlte 1000 Meter überwindet das Gefährt von Maloja bis zum ersten Bergeller Dorf; in der Tat sind es rund 350 Meter. Doch wer lässt sich nicht gerne mit einem kleinen Schauer bis zum Startpunkt in Casaccia fahren, wo ihn ein schneller Einstieg in den Panoramaweg erwartet. Die erste gute Stunde bis Roticcio ist in einem leichten Abwärts schnell bewältigt. Hoch oben thront die Albigna-Staumauer, die in den 1950er-Jahren erbaut wurde. Passend dazu führt der Weg beim Kraftwerk Löbbia vorbei, wo das gespeicherte Wasser des Albigna-Stausees Strom produziert. Das sogenannte Ausgleichsbecken täuscht mit seiner tiefgrünen Farbe über den Zweck des Wassers hinweg. Kurz nach dem Kraftwerk folgt eine Abzweigung. Von der Haltestelle «Vicosoprano, Nasciarina» gelangt man in fünf Minuten hierher. Eine empfehlenswerte Alternative, in den Panoramaweg einzusteigen. So nahe an öffentlichen Verkehrsmitteln wird er nicht mehr vorbeiführen. Wer hier startet, erspart sich das erste, doch eher unspektakuläre Wegstück. Zwischenverpflegung vom Feinsten Nach Roticcio folgt erst ein steiler Aufstieg durch den Wald, bevor es in einem leichten Auf und Ab weitergeht. Der Weg ist von Steinen durchzogen, die treuen Tourenbegleiter werden immer wieder Der Bergeller Panoramaweg – die Via Panoramica – bei Durbegia Silvia Andrea l 25


mal das Tempo drosseln. Wir überqueren den ersten von zahlreichen Bächen, die folgen werden. Oberhalb Vicosoprano überrascht eine schöne Aussichtsplattform. Bei Durbegia auf 1410 Metern Höhe erwartet uns im Sommer – bei schönem Wetter – eine Überraschung. Das Ristoro Munt Durbegia bietet Getränke, kleine Mahlzeiten, feine Kuchen und eine grandiose Aussicht an. Wir bestellen einen Kaffee und erhalten erst mal eine Tasse mit warmem Wasser. Klar, denkt man, hier oben gibt’s nur Fertigkaffee. Doch weit gefehlt. Die Tasse wird nur für den italienischen Espresso aus dem Kännchen vorgewärmt. Ein herrlicher Ort, direkt vor uns liegt der Pizzo Badile. Weiter geht’s durch den Wald, vorbei an plätschernden Wasserfällen. Der Weg ist mit Natursteinen gepflastert, die immer wieder zu Treppen angelegt sind. Insgesamt steigt man von Durbegia rund 300 Höhenmeter ab bis nach Soglio. Unterwegs erblicken wir die Nossa Donna (la Porta). Die Ruine Castelmur und die Kirche Nossa Donna stehen an der natürlichen Talsperre des Bergells, die Ober- und Unterbergell teilt. Ein malerisches Bergdorf Soglio, das Bergeller Dorf am Hang, überzeugt mit einem intakten Dorfkern. Nach dem Maler Giovanni Segantini ist es die Schwelle zum Paradies, «la soglia del paradiso». Der sonnige Ort mit den verwinkelten Gassen zwischen den Steinhäusern lockt zu Recht Besucherinnen und Besucher an. Bei schönem Wetter auf der Piazza vor dem Palazzo die Tour ausklingen zu lassen, ist verlockend (und auch legitim). Uns lockt hingegen das Grenzdorf Castasegna. Dazu gilt es, den Abstieg durch die Kastanienwälder unter die Füsse zu nehmen. Zwei Highlights bietet die Route auch müden Wanderern an. Ein kleines Strässchen führt direkt zum imposanten Caroggia-Wasserfall, den wir durch einen leicht unheimlichen Tunnel passieren. Der Wanderweg geht im Folgenden mitten durch den privat bewirtschafteten Kastanienwald hindurch. Interessierte finden hier einen Lehrpfad vor. In Castasegna erwartet uns die Villa Garbald, in der Silvia Andrea mit ihrer Familie gelebt hatte. Oben: Blick ins Bergell und auf die Nossa Donna (nicht im Bild) Unten: Im Grenzdorf Castasegna steht die Villa Garbald 26 l Silvia Andrea



Route Start: Casaccia Villaggio (Haltestelle) Ziel: Castasegna Dauer: 5,15 Std. Höhenmeter: 525 m aufwärts, 1286 m abwärts Varianten - Wer bei der Haltestelle «Vicosoprano, Nasciarina» startet, kann die Tour um rund 40 Minuten abkürzen. Nirgends mehr gibt es einen derart kurzen Einstieg in die Route, empfehlenswert. - Mit Start in Vicosoprano dauert die Tour gut 4 Stunden, mit einem einstündigen Aufstieg zum Panoramaweg zu Beginn. - Von Soglio aus sind es immerhin noch 400 Höhenmeter abwärts bis 28 l Silvia Andrea

nach Castasegna. Die Via Panoramica endet offiziell in Soglio. Mit dem Bus via Promontogno dauert die Fahrt von Soglio nach Castasegna 20 Minuten, auf den Fahrplan achten. - Der historische Talweg durchs Bergell ist ebenfalls sehr empfehlenswert und eine lohnenswerte Alternative zum Panoramaweg. Er ist ein Teilstück der ViaSett von Thusis über den Septimerpass ins Bergell bis nach Chiavenna. Von Casaccia führt sie nach Vicosoprano, Stampa, Bondo und Castasegna – ein Dorf schöner als das andere. Der Zweitäger Wer zwei Tage Zeit hat, was fürs Bergell nicht nur wegen der langen Anfahrtswege empfehlenswert ist,


dem sei folgende Variante empfohlen: Am ersten Tag wandert man talabwärts bis nach Castasegna, Einstieg zum Beispiel in Borgonovo. Die Wanderung dauert 2,30 Stunden. Wer geschickt plant, kann es mit einer Führung in der Villa Garbald verbinden. Der Vorteil des Talwegs liegt darin, dass man in jeder Ortschaft zusteigen kann. Nach einer Pause in Castasegna macht man sich gegen Abend in einem einstündigen Aufstieg durch die Kastanienwälder nach Soglio auf. Am nächsten Tag – nach der Übernachtung in

einem der Gasthäuser – geht’s auf dem Panoramaweg zurück, mit verschiedenen Varianten, die Tour zu beenden. Eines ist sicher: Dieser Zweitäger ist abwechslungsreich und bietet viel Natur und Kultur in einem. Adressen auf einen Blick - Villa Garbald: www.garbald.ch - Kastanienwald Castasegna: www.castagneto.ch - Bergell: www.valbregaglia.ch - Centro Giacometti: www.centrogiacometti.ch

Die Villa Garbald Der Bau der Villa Garbald begann im Jahr 1863. Entworfen hat sie der berühmte Architekt Gottfried Semper, dannzumal erster Professor der Bauschule am Eidgenössischen Polytechnikum Zürich, heute ETH. Das Haus wurde erbaut, ohne dass der Architekt je vor Ort gewesen war. Heute wird die Villa von der Stiftung Garbald unterhalten, die das kulturelle Erbe der Familie Garbald pflegt. Die mit dem Turmbau Roccolo von

Miller & Maranta erweiterte Villa Garbald ist heute vor allem ein Seminarzentrum. Die ETH und Uni Zürich nutzen den Ort für Retraiten und Tagungen. Weitere Gästegruppen sind willkommen. Wer zur rechten Zeit hier ist, hat die Möglichkeit, an einer öffentlichen Führung teilzunehmen (im Bild die Bibliothek). Alternativ kann eine Privatführung organisiert werden. Informationen dazu finden sich auf der Website www.garbald.ch

Silvia Andrea l 29


Silvia Andrea 1840–1935 Aber – warum wird man Schriftstellerin? Weil das innere Leben von Stürmen durchsetzt ist, die sich Luft machen müssen . . . Die weiten Interessen der Welt, die engen des lieben Ich, alles, was in der Seele lebt und webt, klingt und singt, weint und lacht, ringt nach Ausdruck . . . Aus: Autobiographisches

Als Silvia Andrea hochbetagt mit 95 Jahren stirbt, ist sie eine bekannte Schriftstellerin. Doch ihr widerfährt das Schicksal vieler künstlerisch tätiger Frauen: Ihr Werk und ihre Person geraten schnell in Vergessenheit. Eine vierbändige Edition im Chronos Verlag – von der Fondazione Garbald in Auftrag gegeben – macht glücklicherweise einen Teil der Texte heute wieder zugänglich. Silvia Andrea wird im März 1840 als Johanna Gredig in Zuoz im Oberengadin geboren. Ihre Muttersprache ist Romanisch, «welscher Zunge», wie sie selbst sagt. Durch ihren Vater, der Lehrer in Zuoz ist, lernt sie Deutsch. Ein einziges Jahr nur, im Alter von 14 Jahren, besucht sie die Höhere Töchterschule in Chur. Sie ist sehr belesen und erarbeitet sich vieles im Selbststudium. 1860, da ist Johanna 20 Jahre alt, wird der 32-jährige Zolleinnehmer Agostino Garbald in ihrem Zuhause beherbergt. Johanna und Agostino verlieben sich ineinander, Briefe aus der Verlobungszeit sind noch vorhanden. Sie sind ein Zeugnis dafür, dass Johanna einen Gefährten sucht, der von ihr keine Versenkung in den Hausstand verlangt, sondern ihre Ambitionen, Schriftstellerin zu werden, ernst nimmt. Garbald bestätigt ihr, dass er keine perfekte «Koch-, Waschund Nähmaschine» suche, neben der Arbeit würden sie die Zeit mit «philosophieren, lesen und studieren» verbringen. Am Pfingstsonntag 1861 heiraten Agostino und Johanna, die sich fortan Garbald nennt. 1864 zieht das Ehepaar in eine von Gottfried Semper entworfene Villa im Bergeller Grenzdorf Castasegna. Heute ist die Villa Garbald ein Seminarzentrum und Anziehungspunkt für Literaturund Architekturinteressierte. Der grosse, gut erhaltene Bibliotheksbestand zeugt davon, dass Lesen und Studieren im Alltag des Paares in der Tat einen entsprechenden Stellenwert einnahm. 30 l Silvia Andrea


Drei Kinder und eine Schriftstellerin Das Ehepaar hat drei Kinder, aber erst 16 Jahre nach der Eheschliessung kommt der erste Sohn Andrea auf die Welt, gefolgt von Margherita 1880 und Augusto 1881. Wer davon ausgeht, dass Silvia Andrea vor allem die Zeit vor der Familiengründung für ihre schriftstellerischen Ambitionen nutzte, täuscht sich. Johanna Garbald schreibt (oder publiziert) ihre Bücher offenbar, während sie ihre Kinder grosszieht, unter ihrem Künstlernamen Silvia Andrea. Die erste nachgewiesene Publikation, «Ein Kind des Südens», erscheint 1878 in der Zeitschrift «Der Hausfreund» – ein Jahr nach der Geburt ihres ersten Sohnes. Ab 1879 schreibt sie regelmässig für die Literaturzeitschrift «Helvetia». Ihr erstes Buch, «Erzählungen aus Graubündens Vergangenheit», gibt sie als Selbstverlegerin beim Kommissionsverlag Vogel in Glarus heraus. Es wird gut aufgenommen. Dies ist bei ihrem zweiten Werk, «Faustine», leider nicht der Fall. Auch ihre Version des Wilhelm Tell, die sie 1891 zur Bundesfeier schreibt und im Huber Verlag erscheint, kommt Silvia Andrea beim Publikum nicht an. Offenbar stiessen die «hinzugefügten» Frauenfiguren auf keine Akzeptanz. Mehr Erfolg hat ihr historischer Roman «Violanta Prevosti», 1905 auch im Huber Verlag erschienen. 1909 stirbt Agostino Garbald über 80-jährig. Sie selbst wird ihren Mann um Jahre überleben. Am 4. März 1935 stirbt Silvia Andrea in Castasegna – als anerkannte künstlerische Persönlichkeit. Posthum erscheint das Werk «Elisabeth», nachher wird es still um die Schriftstellerin. Sohn Andrea hat die kreative Ader der Mutter geerbt – und arbeitet als Fotograf (unterstützt von seiner Schwester Margherita). Auch sein Werk findet heute durch Ausstellungen und einen neuen Bildband Beachtung. Silvia Andrea l 31


Das eigene Ich und die grosse Welt Anlässlich des Jubiläums «150 Jahre Garbald» ist 2014 eine vierbändige Edition mit Werken der Schriftstellerin neu herausgegeben worden. Neben den zwei Romanen «Violanta Prevosti» und «Faustine» sind das ein Reisebuch zum Bergell und ein Sammelband mit Texten von und über Silvia Andrea. Welches Werk ist zum Einstieg in das Schaffen der Künstlerin geeignet? Der Sammelband mit dem Titel «Das eigene Ich und die grosse Welt» führt am schnellsten zum Ziel, die Autorin Silvia Andrea kennen zu lernen. Man kann sich zuerst den biografischen Texten widmen oder eine der Kurzgeschichten auswählen. So wie Silvia Andrea selbst historische Erzählungen liebte, so geben uns ihre Texte Einblick in eine frühere Zeit – etwa mit der Eingangsgeschichte «Die Nähmaschine», ursprünglich in der Zeitschrift «Helvetia» 1889 erschienen, oder «Ein Blatt auf Segantinis Grab», im «Schwyzerhüsli», einem «Sonntagsblatt zur Belehrung von jung und alt», 1923 abgedruckt. Eine Kostprobe der Erzählkunst In den Erzählungen taucht immer wieder der Schalk der Autorin an die Oberfläche – wie das hier ausgewählte Beispiel «Eine Sommerkur» zeigt. Silvia Andrea schildert, wie sie im Hochsommer von einem Klappern der Mühle gestört wird – nachts. Das Problem ist: Sie ist die Einzige, die sich am Klappern – von den anderen kaum hörbar – stört. Das geht so weit, dass sie das Geräusch auch dann hört, wenn die Mühle offenbar ruht. Nach einigen schlaflosen Nächten sucht die Protagonistin zusammen mit ihrer Tochter den Arzt auf. Von ihren Erklärungen nicht weiter beeindruckt, ist der Fall für ihn klar. Der Arzt poltert, sie kultiviere ihr Geistesleben auf Kosten ihrer körperlichen Kräfte, er werde ihre Bücher verbrennen, ihre Tinte ausschütten und den Kaffee verbannen, schreibt sie, und droht ihr, sie in eine Nervenheilanstalt unterzubringen, falls sie ihre Lebensweise nicht ändere. «Meine Tochter war bestürzt. Ich aber, die schon manche Krankheit durchgemacht hatte, wusste, dass jeder vernünftige Patient mit seinem Arzt Geduld haben muss, wenn er merkt, dass dieser sich auf dem Holzweg befindet. Ich machte ihm daher eine Konzession, indem ich mich bereit erklärte, für ein paar Wochen in die Höhe zu gehen, 32 l Silvia Andrea


aber nicht um meine Nerven zu stärken, was gar nicht nötig sei, sondern um der Hitze und dem Klappern der Mühle zu entgehen.» Der Arzt zwinkert mit den Augen zur Tochter hin und beide sind zufrieden. Der Zufall will es, dass Silvia Andrea in einer Herberge absteigt, in der ein nahes Klappern der Mühle, lauter als zuhause, sie eine weitere Nacht lang wachhält. Nun ist sie selbst überzeugt, dass sie unter Halluzinationen leide. Nach einer zweiten qualvollen Nacht spricht sie mit der Wirtin, die ihr das Klappern der Mühle bestätigt, das Die vierbändige Edition im Chronos nur die im hinteren Teil des Hau- Verlag zu Silvia Andrea ses einquartierten Gäste störend hören. Gesund und ruhig, wie die Schreiberin der Wirtin erschien, meint man dem Gast dieses Zimmer zumuten zu können, in dem es kein Mensch «bei dem schrecklichen Geklapper auch nur eine Nacht» aushält. «Meine Nerven mussten von Eisen sein, das wollte ich dem Doktor sagen, wenn ich nach Hause kam.» Nach einem Kuraufenthalt an einem anderen Ort kehrt sie nach Hause zurück. Nun empfindet sie das leise Klappern der Mühle geradezu als Wiegenlied. Insgesamt 12 Prosatexte enthält der vierte Band. Wer mehr lesen möchte, nimmt sich die Romane vor. Und das Büchlein über das Bergell leitet natürlich über zu einer Tour in dieses wunderbare Bergtal.

Ausgewählte Literatur 1878: Ein Kind des Südens; 1888: Erzählungen aus Graubündens Vergangenheit; 1889: Faustine; 1891: Wilhelm Tell. Historische Erzählung, dem Schweizervolke zur Bundesfeier gewidmet; 1901: Das Bergell. Wanderungen in der Landschaft und ihrer Geschichte; 1905: Violanta Prevosti Silvia Andrea l 33


Mit dem Velo auf einem sehr langen Schulweg Auf zwei Rädern von Aarau ßber Schiltwald nach Sursee


Wer möchte in diesem hübschen Schulhaus in Schiltwald nicht zur Schule gehen? Vermutlich Armin Schildknechts Schüler. Wir machen uns mit dem Fahrrad auf die Suche nach dem Schulhaus, das Hermann Burger offensichtlich als Vorlage für seinen Roman «Schilten» diente. Eine entdeckungsreiche Reise durch das Ruedertal im Kanton Aargau. Der Start in Aarau könnte besser nicht sein. Entlang der Geleise gelangen wir im Nu zum ersten Velowegweiser, der uns fortan zuverlässig den Weg weist. Wir fahren ein Stück auf der Nord-Süd-Route Nr. 3 von Aarau nach Luzern oder auf der Suhretal-Tour, wie dieses Teilstück auch heisst. Inbegriffen ist ein sportlicher Abstecher nach Schiltwald. Durch ein Häuserquartier geht’s auf Nebensträsschen elegant aus der Stadt und schon bald der Suhre entlang. Über Unter- und Oberentfelden werden die Velofahrer auf bequemen Wegen bis nach Schöftland gelenkt. Trotz Karte und Smartphone schaffen wir es hier, vom Veloweg abzukommen. Unser Glück. Im Café Caprice beim Beck Mathys mitten im Ort gönnen wir uns eine erste Pause. Vielleicht etwas zu optimistisch geplant, denn nun geht es an den Aufstieg durchs Ruedertal nach Schmiedrued und Schiltwald, wo wir das Schulhaus aus Burgers Roman «Schilten» erwarten. Dass uns ein Aufstieg erwartet, wissen wir, die Länge der meist sanft ansteigenden Strasse haben wir jedoch unterschätzt. Schlossrued, Kirchrued, Schmiedrued, Walde, Innere Schiltwald, Schiltwald . . . Ein Glück, wurden einzelne Etappen des Velowegs durchs Ruedertal fertiggestellt. Das Schulhaus: Schauplatz eines Romans Einen Weiler nach dem anderen passieren wir, bis wir endlich vor uns das Schulhaus sehen. Der Hang, der zur Anhöhe führt, ist steil. Angekommen, entschlüpft uns ein erstauntes Lachen. Der Friedhof ist tatsächlich auch da! Gleich neben dem Schulhäuschen. Armin Schildknechts Schulbericht dreht sich zur Hauptsache um die unglückliche Verknotung von Schule und Friedhof. Auch wenn der Roman wie überhaupt Burgers Werk als «hoch artistisches Gebilde» gilt (so Dieter Bachmann in der Sternstunde Philosophie vom 9. 2. 2014), ist Von Aarau nach Schöftland radelt es sich locker auf breiten Velowegen Hermann Burger l 49


doch zumindest die örtliche Anlehnung nicht von der Hand zu weisen. Kein Wunder, gab es in den 70er-Jahren einen Aufstand der Bevölkerung. Wie wird oder würde Hermann Burger wohl heute von der Bevölkerung in diesem reizvollen Tal als Schriftsteller wahrgenommen? Lohnenswertes Ziel Nun, wir stören den heutigen Schulbetrieb des einquartierten Am Sempachersee Sonderschulheims nicht, fahren weiter Richtung Rehag und geniessen die nach dem Aufstieg wohlverdiente Abfahrt nach Büron. Hier finden wir mühelos den Anschluss an die Veloroute Nr. 3 wieder. Nach dem Abstecher, der zwar über regionale Velowege führt, aber doch die Strasse entlang, schätzen wir die national geführte Strecke umso mehr. Zudem erwartet uns mit dem Städtchen Sursee ein lohnendes Ziel. Die Kleinstadt mit dem mittelalterlichen Stadtkern wurde 2003 mit dem Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes ausgezeichnet. In Sursee können wir unsere Veloreise beenden oder den Sempachersee entlang bis zum ebenfalls reizenden Städtchen Sempach, das 2017 den Wakkerpreis erhält, weiterfahren. Ganz Sportliche ziehen gleich weiter bis nach Luzern.

Mit Volldampf von Sursee nach Triengen Für alle Nostalgie-Fans lässt die Sursee-Triengen-Bahn an einzelnen Tagen im Jahr Dampf ab. In «Schilten» beschreibt Burger detailverliebt die Fahrt mit der Sursach-Tränigen-Bahn. Welches

Bähnchen da wohl gemeint war, ist leicht zu erraten. Ein Grund mehr, dem Original einen Besuch abzustatten und sich ein paar Jahre zurückversetzen zu lassen, www.dampfzug.ch

Oben: Zwischen Büron und Sursee Unten: Im Städtchen Sursee 50 l Hermann Burger



Den Meret OppenheimBrunnen in Bern erwandern Von Worb an die Aare und den Fluss entlang mitten ins Zentrum der Bundesstadt


Zugegeben, es gibt kürzere Wege zum berühmten Brunnen der Schweizer Künstlerin in Bern. Aber diese Tour, eine Etappe von Trans Swiss Trail, ist so abwechslungsreich wie idyllisch und bringt uns mitten in die Altstadt von Bern, wo der Meret Oppenheim-Brunnen den krönenden Abschluss dieser Ganzjahrestour bildet. Die gesamte Tour von Worb nach Bern dauert zu Fuss gut 4 bis 4,30 Stunden. Wer die Wanderung zugunsten eines längeren Aufenthalts in der Stadt abkürzen will, findet zahlreiche Varianten. Und doch, gerade das Zusammenspiel zwischen dem ersten Streckenabschnitt durch Feld und Wald und dem zweiten Teilstück an der Aare macht diese Tour erst richtig abwechslungsreich. Der Startpunkt liegt in Worb Dorf. Die Fahrt mit dem Tram oder dem Regionalzug von Bern hat uns in kurzer Zeit in eine ländliche Gegend gebracht. Sogleich folgen wir dem Wanderzeichen Nr. 2 für den Swiss Trans Trail. Als Zwischenetappe ist die Auguetbrügg an der Aare mit 2 Stunden Wegzeit angegeben. Alternativ kann man bis Worb SBB fahren, der Bahnhof befindet sich ein gutes Stück ausserhalb des Dorfes. Von hier aus findet man via Rüti in einer knappen halben Stunde den Anschluss an den Swiss Trans Trail. Durch den Wislewald gelangen wir zum Weiler Murmösli, wenn wir nach Austreten aus dem Wäldchen auf den Wegweiser achten. Durch die Felder und bald schon auf einem kleinen Strässchen zieht sich die Strecke bis nach Allmendingen. Belohnt wird man auf diesem Teilstück mit einem fantastischen Alpenpanorama – Eiger, Mönch, Jungfrau und, und, und . . . In Allmendingen deckt man sich bei Öffnungszeiten im sympathischen «Chlöisu’s» Dorfladen mit Proviant ein, um dann möglichst schnell an die Aare zu gelangen. Hierzu gilt es, die Autobahn zu überqueren. Auch dies gehört dazu, wenn man im Mittelland unterwegs ist. Einmal mehr erstaunen die grossen Kontraste zwischen unberührter Landschaft auf der einen Seite und den Auswirkungen der modernen Zivilisation auf der anderen Seite. Bei Hinter-Märchligen nochmals kurz auf den schmalen Wiesenpfad achten, der abzweigt, und schon gelangen wir an den Fluss. Blick vom Schwellenmätteli auf die Häuserzeilen Berns Meret Oppenheim l 143


Auf der Route 66 zum Kloster Fahr Mit dem Velo von ZĂźrich nach Baden die Limmat entlang


Die Veloroute von Zürich nach Baden ist überraschend vielseitig, auch wenn oder gerade weil sie immer nahe der Limmat entlangführt. Die Verbindung der beiden Städte auf der Route 66 (sixty-six!) ist ein Vergnügen – inklusive Abstecher zum Kloster Fahr, in dem Silja Walter gelebt hat. Auf dieser Tour werden wir alles erleben: Städtisches, Industrie, Autobahn, Auenlandschaft, Wasser, Idylle . . . Beim Hauptbahnhof, Ausgang Sihlquai, gelingt der Einstieg in die Veloroute 66: Durch die Seitenstrassen des Stadtkreises 5 geht’s zum Escher-Wyss-Platz. Die Buchbar Sphère liegt direkt an der Route. Ein erster Stopp lohnt sich. Nächstes Etappenziel ist die Werdinsel, im Sommer lädt der Fluss zum Baden ein. Bald schon unterqueren wir die Autobahn, es wird auf dieser Strecke nicht das letzte Mal sein. Eine kleine Fussgängerbrücke lassen wir rechts «liegen», bis wir bei der nächsten Strassenbrücke die Flussseite überqueren, um das Kloster Fahr zu erreichen. Das Kloster Fahr ist ein beliebtes Ausflugsziel für Stadtzürcher und Bewohnerinnen der umliegenden Gemeinden. Lange Tische unter schattenspendenden Bäumen laden zum Verweilen ein. Dem Restaurant «Zu den Zwei Raben» ist ein Selbstbedienungsbistro angeschlossen. Das Benediktinerinnenkloster Fahr pflegt die Gastfreundschaft. Hier hat Silja Walter bis 2011 gelebt und geschrieben. Wer zur richtigen Zeit da ist, kann den Klosterladen oder den Weinkeller besuchen. Seit 2016 sind Besucherinnen und Besucher einmal im Monat oder auf Anfrage im neu gestalteten Silja-Walter-Raum willkommen. Welch ein Gewinn. Multimediale Dokumente zeigen Leben und Werk der Nonne auf. In der kleinen Bibliothek kann man sich eines ihrer Werke herauspicken. Eine Vitrine ist dem benediktinischen Kloster und dessen Regeln gewidmet. Zugänglich ist auch die Kirche des Klosters. Natur und Industrie sind nahe beieinander Zwei Drittel des Weges liegen noch vor uns. Gemütlich radeln wir auf dieser Seite des Flusses weiter, bis wir in Dietikon den Fluss überqueren und zu den Geroldswiler Auen gelangen. Die Industrie dringt hier nur noch leicht zu uns vor. Auf diesem Abschnitt muss man streckenweise mit Unebenheiten rechnen. Im Sommer kann es schon mal zu Auf der Höhe Geroldswil wird die Velotour sehr naturnah Silja Walter l 197


1 Henri-Frédéric Amiel I 12 2 Silvia Andrea I 24 3 Ulrich Bräker I 34 4 Hermann Burger I 48 5 Anne Cuneo I 58 6 Friedrich Dürrenmatt I 68 7 Jürg Federspiel I 78 8 Otto Frei I 88 9 Max Frisch I 98 10 Friedrich Glauser I 110 11 Jeremias Gotthelf I 120

12 Hermann Hesse I 130 13 Meret Oppenheim I 142 14 Hans Roelli I 152 15 Iris von Roten I 162 16 Annemarie Schwarzenbach I 172 17 Johanna Spyri I 184 18 Silja Walter I 196 19 Lisa Wenger I 206 20 Laure Wyss I 216

Basel

Delémont

19

Aarau

Olten

4 Solothurn Sursee

20 10

Biel Burgdorf Neuenburg

6

11

Bern

13

Langnau i.E.

Thun Vallorbe Interlaken

Lausanne

5

Gstaad

15 Raron Sion

1 Genf Martigny

Zermatt

Brig-Glis


8

Konstanz

Winterthur

Baden

St. Gallen

18 Uster

ZĂźrich

9 17

3

Wattwil

Wädenswil

Buchs

Einsiedeln Glarus

Luzern Schwyz

Landquart

Altdorf

Chur Davos

Arosa Thusis

Disentis

Zernez

Andermatt St. Moritz

16 2

Castasegna

Bellinzona Locarno

Lugano

12

Scuol

7

14


In der lieblichen Toggenburger Hügellandschaft unterwegs sein, südliches Flair auf der Tessiner Collina d’Oro geniessen, historisch angereicherte Stadtluft in Genf schnuppern: Es sind die Spuren von Schweizer Persönlichkeiten, die uns zu naturnahen Orten und kulturellen Hotspots des Landes führen. Ausgewählte Tagestouren zu Fuss oder mit dem Velo zeigen die Vielfalt der Schweiz zu jeder Jahreszeit auf. Auf den Spuren von: Henri-Frédéric Amiel, Silvia Andrea, Ulrich Bräker, Hermann Burger, Jürg Federspiel, Friedrich Glauser, Jeremias Gotthelf, Iris von Roten, Silja Walter, Johanna Spyri u.v.a.

ISBN 978-3-906055-63-3


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