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Lieber Vater, ich schreibe Dir, weil ich vieles nicht verstehe, was gewesen ist und noch sein wird. Du bist gegangen, ohne Dich umzudrehen. Wo bist du? Wo warst Du? Wo warst Du, als ich Dich gebraucht habe? Ich fühlte mich allein, als Du und Mutter euch im Streit fast zerfetzt hättet, als ihr nur noch euch ge sehen habt. Ich fühle mich immer noch allein, weil ihr mich nicht wirklich sehen könnt, du nicht und Mutter auch nicht. Was gab es, das Dich einfach davonrennen ließ und ohne mich zu leben? Bin ich nicht dein Kind? Bin ich nicht dir nahe gewesen, deiner Seele, deinem Herzen? Hattest Du den Mut verloren, mir zu sagen, zu zeigen, dass du immer mein Papa sein wirst? Ich habe Dich vermisst, als ich in die Schule kam. Die neuen Lehrer mir Angst machten und ihre bösen Blicke, wenn ich mal wieder nicht gehorchte. Da hättest du mich beschützt, mich in den Arm genommen und mir liebevoll den Kopf gestreichelt und mir gesagt, dass ich in Ordnung bin, so wie ich bin. Oder als ich mit den Jungs meiner Klasse mal wieder Blödsinn anstellte und ich mich beweisen wollte. Wärst du da stolz auf mich gewesen, weil ich höher klettern konnte als sie? Oder als ich mich mal wieder mit meiner Mutter gezofft hatte, wo es natürlich um dich ging. Hättest du zu mir gehalten, auch wenn du damit vielleicht wieder Kritik von ihr bekommen hättest? Dann wäre ich stolz gewesen, dass Du mein Papa bist. Würde mutig sein und zu Dir gehen, egal ob du mich grad sehen willst oder nicht. Doch ich hatte nicht den Mut zu Dir zu gehen, Dich zu suchen. Ich wusste nicht, wo du bist und ob ich noch ein Teil von Dir bin. Damals hätte ich die Chance gehabt. Nun ist sie vorbei. Du bist tot. Damals blieb ich allein und Mutter konnte mir nicht nahe sein, dass konnte sie noch nie. Ich musste also lernen, alleine klar zu kommen. Was tut ein Mensch, wenn er alleine überleben muss? Er sondert sich ab, lebt meist für sich oder isoliert sich von anderen, selbst dann, wenn man unter hunderten von Menschen ist. Niemand ist mir seit dem wirklich nah gewesen oder ich konnte es nicht zulassen. Ich wollte nicht verletzt werden, wollte nicht wieder diese Art von Schmerz erleben, etwas oder jemanden zu vermissen. Sollte ich dies ändern? Oh ja, ganz gewiss muss ich das! Sonst würde es bedeuten, sich selbst nicht zu lieben oder sogar innerlich zu sterben. Ich bin hart zu mir selber, vergebe mir nur schwer und arbeite an mir schneller als andere. Langsam aber sicher kann ich das Weiche und Zarte in mir erkennen, die Liebe, die ich zu dir und zu Mutter habe. Und darüber hinaus lasse ich Menschen in meine Seele, die mir guttun und mich in meiner Art, wie ich bin, unterstützen. Die meine Schwächen und Stärken erkennen können und zu mir halten, egal was ich tue. Die mich lieben. Und die ich lieben kann. Heute frage ich mich, ob es Dir gut ging ohne mich. Ob ich in deinen Gedanken, in deinem Herzen geblieben bin, auch wenn ich nicht da war. Jetzt trage ich deinen Namen bewusst und fühle mich dadurch wieder mit dir verbunden. Meinen Weg gehe ich, weil ich so bin. Vielleicht bist du stolz auf mich und würdest mich in den Arm nehmen und einfach nur da sein. Ich vermisse Dich! Deine dich immer liebende Tochter


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