archithese 4.2017 – Ruinen

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Adaptierbarkeit Arbeiten von Arno Brandlhuber, Wang Shu und Grafton Architects ­ver­deutlichen das Potenzial der Ruine für die Architektur Architektur.

Mehrdeutig und offen Streiflichter auf die vielfältigen Bedeutungsebenen von «Ruinen» « Ruinen »

Stillstand und Aufbruch Die politische und soziokulturelle Dimension der Zeitlichkeit in der Architektur

Anarchitecture Gordon Matta Matta-Clarks Clarks ruinöser ruinöse Skulpturen Skulpturen als Inspiration für die zeitgenössische Kunst und Architektur

Ruinen

DEZ – FEB 4.2017 CHF 28.– |  EUR  24.–


Ruinen DEZ – FEB  4.2017

Über die Kunstausstellung zu den frühen Ausgaben der archithese im Nidwalder Museum

48 Bauen, so lebendig wie das

Leben selbst

80 De  ( kon )  struieren Gordon Matta-Clarks Konzept der « Anarchitecture » und sein Potenzial für die zeitgenössische Kunst und Architektur Ilka Brinkmann

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Wang Shu baut gegen das Vergessen chinesischer Traditionen an. Christian Schittich

Rubriken

57 Die Ruine als Denkmodell Eine persönliche Annäherung Christian Inderbitzin

86 Premium Brands Online 88 Neues aus der Industrie 96 Vorschau und Impressum

3 Editorial

7 Lebendige Tradition

Architektur muss als Ruine gedacht werden

( … um politisch zu sein ) Andri Gerber / Philippe Koch 18 Freiheit durch Bindung Arno Brandlhuber über das ­architektonische Potenzial der Ruine Christoph Ramisch

30 Mehrdeutigkeit Ein Glossar zur Ambiguität der Ruine Hannes Siefert

70 Freiräume schaffen

und Interaktion stimulieren Grafton Architects: UTEC-Campus in Lima Cyrill Schmidiger / Jørg Himmelreich

Coverbild basierend auf : Gal Weinstein, Sun Stand Still, Installation im Israelischen Pavillon auf der 57. Kunstbiennale Venedig, 2017 ( Foto: Jørg Himmelreich ) Ausklapper: Kirstine Roepstorff, Influenza. Theatre of Glowing Darkness, Installation im Dänischen Pavillon auf der 57. Kunstbiennale Venedig, 2017 ( Foto: Anders Sune Berg )


archithese 4.2017

Editorial Ruinen

Wie ein roter Faden zog sich das Motiv der Ruine durch viele Installationen der diesjährigen Kunstbiennale von Venedig : Mark Bradford liess den amerikanischen Pavillon in Kies und Schutt versinken, Gal Weinstein setzte den israelischen Pavillon dem Schimmel aus und Kirstine Roepstorff erlaubte Pflanzen, durch den dänischen Ausstellungs­bau zu wuchern. Geoffrey Farmer riss gar grosse Teile des kanadischen Pavillons ab und setzte mit unberechenbar spritzenden Fontänen die Gebäudereste und die Besucher unter Wasser. Warum entdecken Kreative ( einmal mehr ) das narrative Potenzial der architektonischen Ruine ? Es geht dabei nicht ( nur ) um emotionale Effekthascherei im Sinne von Schauder und Gefühlen der Erhabenheit, sondern vielmehr um das Moment der Mehrdeutigkeit: Ruinen erzählen zugleich von Kontinuität und Instabilität, Stillstand und Aufbruch, von Krise und Hoffnung, Endgültigkeit und Offenheit. Ruinen sind alles andere als wertfreier, neutraler Abfall der menschlichen Kultur. Als Kinder waren Rohbauruinen und leere Fabriken unsere liebsten Spielplätze. An ihnen entzündete sich die Fantasie. Dort durften wir Hand anlegen, konnten zerschlagen oder neu formen. Sie waren Räume jenseits von Kontrolle und Normierung. Mit dem Erwachsenwerden hingegen wurden uns an­dere Wertungen beigebracht: Als Indizien für Instabilität, Verfall und Krise gedeutet, wurden wir konditioniert sie zu meiden, zu entfernen, zu verstecken oder zu tabuisieren. Manche Ruinen erzählen mit fortschreitender Auflösung immer weniger über den gesellschaftlichen Kontext, aus dem sie hervorgegangen sind. Andere Bauwerke werden hingegen erst im Prozess ihrer Auflösung mit neuen ( Be-) Deutungen aufgeladen. Viele von ihnen finden keine Ruhe und werden kontinuierlich kuratiert : Konservierung, idealisierende Rekonstruktion, das Schaffen künstlicher Ruinen, Mystifizierung, Dramatisierung ihrer Zerstörung oder gar das Beseitigen, Überformen oder Verstecken können allesamt als kulturelle oder gar politische Akte verstanden werden.

Die vorliegende Ausgabe der archithese klammert die emotionale Ebene der Ruine bewusst ( und annähernd vollständig ) aus. Sie handelt weder von Archäologie oder Denkmalpflege noch ist sie ruin porn. Stattdessen fragen wir nach den der Ruine innewohnenden produktiven Momenten und Qualitäten. Das Heft kreist damit um Begriffe wie Fragment, Offenheit, Adaptierbarkeit und Mehrfachcodierung und wagt den Versuch, diese als produktive Agenten für die Architektur zu extrahieren. archithese untersucht diese unterschiedlichen Facetten der Ruine mit der Inten­ tion, sie zu einem neuen Theoriegebäude zusammenzusetzen. Und wir fragen nach dessen Anwendbarkeit in der Praxis, indem wir Arbeiten wichtiger zeitgenössischer Protagonisten zeigen, die sich von der Beschäftigung mit Ruinen in­spirieren lassen. Einmal mehr spinnen wir das Thema des Hefts zudem mit einer archithese kontext-­Veranstaltung weiter : Am 7. Dezember 2017 spricht Arno Brandlhuber auf dem Vitra Cam­pus in Weil am Rhein über die Rolle von Ruinen für seine Arbeit. Sie sind herzlich eingeladen ! Die Redaktion wünscht schöne Feier­tage und viel Zeit zum Lesen und Reflektieren am Jahresende. Jørg Himmelreich Chefredaktor archithese

Ruinen erzählen. Einen Bericht zur Kunstbiennale in Venedig finden Sie im Blog.   archithese.ch

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archithese kontext 7. Dezember 2017 18.30 Uhr Vitra Design Museum Schaudepot Charles-Eames-Strasse 2 79576 Weil am Rhein

Arno Brandlhuber

Ruinen – vom Case Study House zur Antivilla Der in Berlin ansässige Architekt Arno Brandlhuber gilt als einer der originellsten und kritischsten Denker der Architekturszene. Er mischt sich in politische Diskurse ein, hinterfragt dem Luxus gewidmete Baustrukturen und kämpft gegen bauliche Verordnungen und Restriktionen an. Im Werkvortrag spricht Brandlhuber, der ab Herbst an der ETH Zürich unterrichtet, über Ruinen. Er wird verhandeln, inwiefern das Weiterbauen von verfallenen Gebäuden eine nachhaltige architektonische Praxis ist. Die Veranstaltung im Rahmen von archithese kontext ist ein Kooperationsprojekt mit dem Vitra Design Museum und Jansen. Sie ist zugleich Vernissage von archithese 4.2017 Ruinen. Der Eintritt ist frei.

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archithese 4.2017

Ruins The theme of the ruin was a common thread that ran through many installations at this year’s Venice Biennale of Art : Mark Bradford dumped gravel and debris in front of the American pavilion, Gal Weinstein let mold take over the Israeli pavilion, and Kirstine Roepstorff allowed plants to grow rampant through the Danish exhibition building. Geoffrey Farmer even tore down large parts of the Cana­dian pavilion and by using fountains that gush and splash unpredictably, deluged the rest of the building and its visitors with water. Why are creatives ( once again ) discovering the narrative potential of the architectural ruin? It is not ( only ) about emotional gimmickry in the sense of generating shudders and feelings of sublimity, but rather about the moment of ambiguity : ruins tell of both continuity and instability, of stagnation and a fresh start, of crisis and hope, of finality and open-endedness. Ruins are anything but the worthless, neutral refuse of human culture. As children, they were our favorite places : abandoned, half-finished buildings and disused factories were ideal playgrounds. They ignited our imagination. There, it was okay to get physical ; we could smash things or reshape them. They were spaces beyond ­control and norms of conventional behavior. As we became adults, however, we were taught different values : interpreted as signs of instability, decay, and crisis, we were conditioned to avoid, eliminate, hide, or disdain such places. As their decline progresses, some ruins reveal less and less of the societal context from which they emerged. Other buildings first become imbued with new interpretations and meanings through the process of deteriorating. Many of them find no respite and are continuously curated: conservation, idealized reconstruction, the creation of artificial ruins, mystification, the dramatization of their destruction, and even their eradication, transformation or concealment are all cultural or even political acts. This issue of archithese consciously excludes ( almost completely ) the emotional level of ruins. It is also not about archeology or historic preservation and does not seek to present ruin porn. ­Instead, we inquire into the inherent productive moments and qualities of ruins. We are concerned with concepts like the fragmentary, openness, adaptability and multiple coding. We dare to make the attempt to extract these for use as productive methods for creating architecture. archithese investigates these different facets of the ruin with the intention of piecing them together into a new theoretical construct. And we explore its applicability in practice by s­ howing works by important contemporary protagonists who gain inspiration for their work by engaging with ruins. Once again, we will pursue the topic further with an archithese kontext event: On December 7, 2017, Arno Brandlhuber will speak at the Vitra Campus in Weil am Rhein about the role of ruins in his work. You are cordially invited! The editors wish you happy holidays – and above all, lots of time to read and reflect. Jørg Himmelreich editor-in-chief of archithese

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Ruines Cette année, le motif de la ruine a traversé tel un fil rouge bon nombre d’installations de la biennale d’art de Venise : Mark Bradford a laissé sombrer le pavillon américain dans le gravier et les gravats, Gal Weinstein a exposé le pavillon israélien aux attaques des moisissures, Kirstine Roepstorff a permis à des plantes de proliférer à travers le bâtiment d’exposition danois. Geoffrey Farmer a même démoli des pans entiers du pavillon canadien et a submergé les parties restantes ainsi que les visiteurs avec des fontaines aux giclements imprévisibles. Comment se fait-il que les créatifs découvrent ( une fois de plus ) le potentiel narratif des ruines architecturales ? Il n’est pas unique­ment question de donner dans le sensationnalisme émotionnel au sens du frémissement et de la noblesse des sentiments, mais il s’agit bien plus d’un moment d’ambiguïté : les ruines font part à la fois de continuité et d’instabilité, d’arrêt et de renouveau, de crise et d’espoir, d’irrévocabilité et d’ouverture. Les ruines sont tout sauf des déchets neutres dépourvus de sens de la culture humaine. Lorsque nous étions enfants, elles faisaient partie de nos lieux préférés : ruines à l’état de gros-œuvre et fabriques vides constituaient des places de jeu idéales. La fantaisie y prenait naissance. Nous avions le droit de mettre la main à la pâte. Nous pouvions casser ou recomposer. C’était des espaces qui échappaient au contrôle, hors normes. Cependant, d’autres valeurs nous ont été inculquées en devenant adulte. Une fois les ruines interprétées comme des indices d’instabilité, de délabrement, nous avons été conditionnés pour les éviter, les faire disparaitre, les cacher ou pour les rendre taboues. Au cours d’un processus de dégradation avancé, bien des ruines nous font de moins en moins part du contexte social duquel elles émanent. D’autres ouvrages ne se dotent de nouvelles interprétations et significations qu’au cours du processus qui mène à leur dislocation. Beaucoup d’entre eux ne sont jamais laissés en paix et sont constamment restaurés: la reconstruction idéalisée, la création de ruines artificielles, la mystification, la dramatisation de leur destruction ou même le fait de la suppression, du remodelage ou de l’escamotage sont des actes culturels, voire politiques. Le présent numéro d’archithese met sciemment ( et pour a­ insi dire complétement ) de côté l’aspect émotionnel des ruines. Nous n’abordons pas non plus le sujet sous l’angle de l’archéologie, de la conservation ou du ruin porn. En lieu et place, nous nous interrogeons sur les moments productifs et les qualités propres aux ruines. Notre démarche tourne autour des notions d’aspect fragmentaire, d’ouverture, de capacité d’adaptation et de codification unique. Elle tente de les extraire comme méthodes productives pour l’architecture. archithese examine ces différentes facettes de la ruine avec l’intention de les rassembler en un nouvel échafaudage théorique. Nous nous posons la question de son application dans la pratique en présentant des travaux de protagonistes contemporains de choix qui se laissent inspirer par des ruines dans leur travail. Nous prolongeons une fois de plus la thématique avec une manifestation archithese-context, le 7 décembre 2017. Arno Brandl­huber parlera au campus Vitra à Weil-am- Rhein du rôle joué par les ruines dans son travail. Vous êtes cordialement invités ! La rédaction vous souhaite de belles fêtes de fin d’année et avant tout beaucoup de temps pour la lecture et la réflexion. Jørg Himmelreich Rédacteur en chef d’archithese


Petros Koublis, Viscera, 2016


Mehrdeutigkeit Die Ambiguität der Ruine Die Ruine ist Ausdruck von Vergänglichkeit. Doch zugleich ist sie ein « Provisorium », das im Status des Verfalls in die Zukunft weist. Als Protostruktur verstanden, erwächst ihr ein grosses architektonisches Potenzial und sie spannt Raum für Neues auf. Ruine  ist also ein ambiger Begriff mit entsprechend unterschiedlichen Konnotationen. Diese Mehrdeutigkeit macht ihre Schönheit und beinahe magische Anziehungskraft aus. Das vorliegende Glossar beleuchtet acht Schlüsselbegriffe und öffnet diskursive Felder von mitunter gegenläufigen Positionen: Abwesenheit, Erinnerung, Leere, Fragment, Schichtung, Ambiguität, Ephemer und Schock. Autor : Hannes Siefert

Die Ruine wurde bereits in vielen Disziplinen einer theo­ retischen Betrachtung unterzogen. Dabei ist spannend zu se­ hen, dass sich zwischen diesen mannigfaltige Querbezüge ergeben. Als Zerfallsprodukte von Bauwerken stossen Ruinen bei Architekturschaffenden naturgemäss auf besonders gros­ ses Interesse. Die Auseinandersetzung reicht hier von der Ge­ staltung künstlicher Ruinen für Landschaftsgärten in Frank­ reich und England im 18. Jahrhundert über theoretische Schriften ( beispielsweise des deutschen Architekten Hans ­Dieter Schaal, der über Gewalt, Chaos und Vergänglichkeit re­ flektiert ) bis hin zum Weiterbauen an verfallenden Gebäuden etwa durch Arno Brandlhuber. Während die Geisteswissenschaftler den Einfluss der Ruine in Kunst und Kultur untersuchen und jene oftmals als Allegorie betrachten, muss sich der Architekt mit ihrer physi­ schen Anwesenheit sowie der gleichzeitigen Funktionslosig­

keit und Sinnabwesenheit auseinandersetzen. Dabei darf der diskursive Kontext nicht ausser Acht gelassen werden, sonst versandet die Beschäftigung mit ihr lediglich in Restaurie­ rung, Rekonstruktion oder Revitalisierung, die sich leider nur allzu oft in romantischen Fantasien erschöpfen. Lässt sich der Gestalter jedoch auf eine vertiefte Auseinandersetzung ein, liegt eine Aufgabe vor ihm, die dem universellen Anspruch unserer Disziplin gerecht wird. Bei der Auseinandersetzung mit der Ruine und ihrem Wesen kann der Architekt lernen und sein Selbstverständnis hinterfragen, denn sie führt ihm die eigenen Unzulänglichkei­ ten und die Endlichkeit seines Schaffens vor Augen. Zudem drängen sich Fragen nach der künftigen Nutzung und der Zu­ kunft von Gebäuden und Städten auf. Die Ruine ist eine Meta­ pher für Scheitern und Neubeginn zugleich. Sie repräsentiert das Vergangene, das Geplante und das niemals Vollendete. An


Amateur Architecture Studio, Dorfrenovierung und Neubauten, Wencun, Erdgeschossgrundrisse der neuen Häuser im Westen, 2016 (  Fotos  : Iwan Baan  )


Bauen, so lebendig wie das Leben selbst Christian Schittich im Gespräch mit Wang Shu Wang Shus vollkommen eigenständige, kraftvolle Architektur zeichnet sich durch skulpturale Formen und sinnlich-raue Oberflächen aus. Er versucht an die Tradition seines Landes anzuknüpfen und überlieferte Werte und lokale Bautraditionen mit einer zeitgemässen Formensprache in Einklang zu bringen. Ganz entscheidend wird diese geprägt von der sichtbaren Verwendung recycelter Baustoffe. Im Interview erklärt der Architekt die seiner Arbeit zugrunde liegende Philosophie. Er spricht über sein Verhältnis zu Ruinen und gibt Auskunft über seine jüngsten Projekte : das Kulturzentrum in Fuyang und die Dorferneuerung von Wencun.

Christian Schittich  Als Folge des beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwungs schreitet die Urbanisierung in China mit atemberaubendem Tempo voran. Zahlreiche Städte wuchern zu bislang ungeahnten Grössen heran. Um für

booms kaum nach. Ich versuche dagegen aus der Tradition zu lernen und durch das Einbeziehen überlieferter Baumethoden eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen.

sie Platz zu schaffen, werden ganze Land­ striche mit unzähligen Dörfern dem Erdboden

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang

gleichgemacht oder historisch gewachsene

die Verwendung recycelter alter Dachziegel

Altstädte planiert. Ersetzt werden sie fast

und Mauersteine, für die Sie bekannt sind ?

überall durch die immer gleichen gesichts­ losen Hochhäuser und Mietskasernen. Sie halten hier dagegen. Warum ist Ihnen Tradition so wichtig ?

Wang Shu  In China wurden in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten mehr als 90 Prozent der traditionellen Bausubstanz zerstört – in den Städten ebenso wie auf dem Land. Mit dem Verschwinden dieser Häuser aber verändern sich auch die Lebensweisen. Viele Architekten denken über die gesellschaftlichen Konsequenzen dieses gigantischen Bau-

Als beim Bau des Xiangshan-Campus in Hangzhou etwa ein Jahr vor der geplanten Fertigstellung das Baumate­ rial knapp wurde, kam eines Tages der Bauleiter zu mir und fragte, ob er statt neuer auch gebrauchte Baustoffe verwenden dürfe. Ich stimmte begeistert zu, denn in China werden seit jeher gebrauchte Materialien eingesetzt. Sie sind viel zu kostbar, um sie nach dem Abriss eines Hauses einfach zu entsorgen. So war es früher normal, dass Wände und Dächer von Neubauten manchmal aus

jahrhundertealten Ziegeln bestanden. Sie haben eine etwas andere Form, Farbe und Oberfläche als die neuen und binden das Gebäude damit viel besser in die Umgebung ein. Sie geben den Mauern einen besonderen Charakter und lassen sie auch besser altern. Beim Historischen Museum in Ningbo haben wir dann bewusst für einen Teil der Wände alte Steine eingesetzt, um einen Bezug zu den Dörfern herzustellen, die dort einmal standen. Allein 30 schöne traditionelle Dörfer wurden für den Bau der neuen Geschäftsviertel dem Erdboden gleichgemacht. Die zerstörten Häuser leben nun in den Mauern des Museums weiter, die alten Materialien erhalten ihre Würde zurück. Und das empfinden auch die ehemaligen Bewohner der Gebäude so : Einige kommen immer wieder hierher, um die Wände zu betrachten und sich so an ihr altes Zuhause zu erinnern.



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Die Ruine als Denkmodell Eine persönliche Annäherung Über die Beschäftigung mit Gärten haben wir den Topos der Ruine entdeckt. Als Metapher beschreibt sie grundlegende Zustandsformen der Wirklichkeit und hilft uns als gedankliche Konstruktion, die Gegenwart zu verstehen. Als offene Form schafft sie sogar ein Möglichkeitsfeld, das für den städtebaulichen und architektonischen Entwurf neue Handlungsräume aufzeigt. Autor  : Christian Inderbitzin

Gärten und Ruinen Auf den Topos der Ruine sind Elli Mosayebi, Ron Edelaar und ich über unsere Beschäftigung mit Gärten gestossen, wo künstlich angelegte Ruinen immer wieder eine wichtige Rolle spielten. Das trifft auch auf den Sacro Bosco in Bomarzo nördlich von Rom zu, den wir als Studenten an der ETH Zürich über eine Neuvermessung und die Erstellung einer Karte kennengelernt haben.1 In seinem Garten verwandelte Graf Vicino Orsini (  1523–1585 ) einen Eichenwald mit rauen, eingewachsenen Felsblöcken in eine autobiografische Landschaft : eine skurrile Verarbeitung von Erlebnissen und fantastischen Wunschvorstellungen. Ovids Motiv der Wandlungen bestimmte die Gartenanlage und erlaubte das Zusammenführen von Elementen aus Natur und Kunst bis hin zur Auflösung im Naturkunstwerk. Die Ruine als Naturkunstwerk schlechthin nahm den Zustand der Vollendung gleichsam vorweg. Orsini schuf so « von der Vergänglichkeit ein unvergängliches Bild ».2 Nach dem Studium folgte eine Reise nach England, auf der wir dem Begriff und der Ideengeschichte des Malerischen nachgingen – eng verknüpft mit dem englischen Garten und der Landschaftsmalerei. In beiden spielt die Ruine als gebautes Element respektive Bildmotiv eine wichtige Rolle. Das Picturesque wurde im 18. Jahrhundert in England konzeptualisiert und schuf zwischen oder neben dem Erhabenen und Schönen eine dritte Kategorie, die vereinfacht gesagt das Irrationale in die ästhetische Theorie integrierte und die klassischen Ideale der Ganzheit, Reinheit, Harmonie und Symmetrie infrage stellte. Gleichwohl ist das Picturesque kein Gegenentwurf zu einem klassischen Schönheitsideal. Vielmehr stellt es eine Art Kitt dar, der Widersprüchliches, Unfertiges und Fragmentarisches auf selbstverständliche, dialektisch-offene Art mit Reinem und Klassischem synthetisch verbindet. Dank ihm stellt sich im Bild respektive der Anschauung eine lose Ordnung ein.3

Über die Lektüre von Umberto Ecos Das offene Kunstwerk4 und Heinrich Wölfflins Werken Renaissance und Barock 5 sowie Kunstgeschichtliche Grundbegriffe 6 sind wir zu unserem Konzept der offenen Form gelangt, das einige unserer architektonischen Projekte prägt. Es meint eine Form, die vielschichtig, vielteilig, unrein, unscharf, unpräzis, anti-klassisch, anti-typo­ logisch, informell, nicht kausal, fragmentiert, semantisch schwach determiniert respektive mehrdeutig und bisweilen hässlich sein kann. Diese Eigenschaften machen sie unbestimmt und infinit. Wie die Naturform, mit Wachstum und Verfall geprägt von stetem Wandel, zeichnet sie sich durch einen instabilen Zustand aus. Sie thematisiert die Zeit und damit auch die Bewegung. Analog zur barocken Form stellt sie tradierte Ordnungen – beispielsweise eine « korrekte » Tektonik – infrage.7 Im Sinne Ecos ist die offene Form bedeutungsarm, dafür aber informativ. Sie beschreibt eine « Zone der Ungewissheit, wo Mögliches und Wirkliches sich berühren [ … Sicherheit

1 Ron Edelaar / Elli Mosayebi / Christian Inderbitzin ( Hg. ), Garten, Zürich 2017, sowie Elli Mosayebi / Christian Inderbitzin, Bomarzo. Beobachtungen anhand einer neuen Karte, Zürich 2005. 2 Barthold Heinrich Brockes, zitiert in : Ulrich Stadler, « Bedeutend in jedem Fall. Ein Panorama-Blick auf die Ruinen », in : Aleida Assmann / Monika Gomille / Gabriele Rippl ( Hg. ), Ruinenbilder, München 2002, S. 271. 3 Elli Mosayebi / Christian Inderbitzin, Picturesque. Synthese im Bildhaften, Zürich 2008. 4 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 1977. 5 Heinrich Wölfflin, Renaissance und Barock, München 1888. 6 Ders., Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1915. 7 Vgl. ders., Renaissance und Barock, Basel 1986.


Freiräume schaffen und Interaktion stimulieren Grafton Architects : UTEC-Campus in Lima Yvonne Farrell und Shelley McNamara von Grafton Architects kuratieren die kommende Architektur­ biennale von Venedig. Mit dem Motto Freespace haben sie einen Anspruch an Architektur und Städtebau formuliert, der unmittelbar aus ihrer Praxis heraus entwickelt wurde. Am neuen Hauptgebäude der Uni­ versität UTEC lassen sich ihre Ideen exemplarisch aufzeigen. Das Dubliner Studio hat aus labyrinthisch verschachtelten und terrassierten Strukturen eine neobrutalistische Skulptur geschaffen, die vielfältige Interaktionen zwischen den Nutzern stimulieren soll. Autoren : Cyrill Schmidiger und Jørg Himmelreich


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Grafton Architects, Architecture as New Geography, Ausstellung an der Architekturbiennale in Venedig, 2012 ( Foto : Alice Clancy)

Wie müssen kollektive Räume gestaltet sein, damit sie möglichst vielfältige soziale Wechselbeziehungen anregen ? Mit dieser Frage setz( t)en sich Grafton Architects in gleich mehreren Hochschulbauten auseinander : 2008 realisierten sie die viel beachtete Erweiterung der Luigi-Bocconi-Universität in Mailand. Schon 2006 stellte das irische Büro in Dublin die Erweiterung der Schule für Maschinenbau im Trinity College fertig, 2012 folgte die Schule für Medizin in Limerick. Mit Toulouse ( Wirtschaftsuniversität), London (  Kingston University ) und Paris ( Institut Mines Telecom ) befinden sich derzeit weitere Projekte im akademischen Kontext im Bau. Aus dieser Werkgruppe ragt der UTEC-Campus in Lima heraus, da sich an ihm verschiedene Konzepte von Farrell und McNamara besonders deutlich aufzeigen lassen. Die Universidad de Ingeniería y Tecnología richtet sich mit ihrem Angebot an Ingenieurstudierende und hier vor allem an angehende Bergbauspezialisten. Sie ging aus einer technischen Fachhochschule hervor, die in einem Gebäude im Quartier Santa Anita ansässig war. Im August 2011 wurde sie als Privatuniversität neu gegründet und ihre Leitung lancierte

einen Wettbewerb für einen neuen Campus. Grafton Architects gewannen und stellten im April 2015 den ersten von drei Bauabschnitten ( und damit ungefähr die Hälfte des Projekts ) fertig.1 Dass der kraftvoll aufragende Bau als Campus bezeichnet wird, mag irritieren, weil damit allgemein ein von Unterrichtsbauten und Studentenwohnheimen umstandener, parkartiger Freiraum gemeint ist. Der Begriff will bei der UTEC aber nicht wörtlich, sondern als Leitidee verstanden werden. Der Neubau übersetzt durchaus überzeugend mittels eines vielfältigen Programms und mit grosszügigen Zirkulations- und Aufenthaltsflächen die räumlichen Qualitäten eines Campus in die dritte Dimension. Grafton Architects haben Unterrichtsräume, Auditorien, Sitzungszimmer, Büros, Labore, eine Bibliothek, ein Café, eine Mensa sowie eine Tiefgarage spielerisch übereinandergestapelt. Da die Hochschule neben den naturwissenschaftlichen Fächern auch Kurse in verschiedenen Kunstdisziplinen anbietet, gibt es zudem Ausstellungs­säle, ein Kino und ein Theater. Diese liegen im Erdgeschoss und sollen die Menschen aus dem Quartier in die Universität hineinziehen. Leider sieht die Realität anders aus : Die hohe Kriminalitätsrate führte dazu, dass der Zugang nur den Studierenden und Mitarbeitenden erlaubt ist.

Kleinteilige Grossform Die Hochschule liegt auf einer länglichen, bumerangförmigen Parzelle. Der 300 Meter lange Campus wird sie annähernd ausfüllen, sobald alle drei Bauabschnitte fertiggestellt sind. Terrassierte Strukturen, eine räumliche Offenheit und ein teils fragmentarisch anmutendes Non-finito bestimmen den visuellen Eindruck. Plane Fassaden existieren nicht. Die gestapelten Räume und Säle springen spielerisch vor und zurück, woraus ein faszinierender Tiefeneffekt resultiert. Der

1 Telefonat zwischen Jørg Himmelreich und Ivan O’Connell, 20.11.2017.


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