STIFTUNGSREPORT 2016
Gastbeitrag von Matthias Uhl
BÜRGERSTIFTUNGEN IN EUROPA Bekanntlich soll es Victor Hugo gewesen sein, der im Zuge seiner Meditationen über die «Geschichte eines Verbrechens» die Erkenntnis schöpfte, dass kaum etwas mächtiger sei als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.54 Folgt man den Zahlen und Fakten, so scheint die Bürgerstiftung eine mächtige Idee unserer Zeit zu sein. Aufgrund einer galoppierenden Inflation dieser Idee beherbergen allein in Deutschland derzeit 387 Bürgerstiftungen ein Stiftungskapital in Höhe von über 300 Mio. Euro und bieten den ca. 30’000 Bürgerstiftern eine Plattform für deren bürgerschaftliches Engagement.55
Matthias Uhl absolvierte seine juristische Ausbildung in Regensburg, München und Zürich und war Assistent am Zentrum für Stiftungsrecht der Universität Zürich. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen zum nationalen und internationalen Stiftungs- und Gemeinnützigkeitsrecht. Seit 2015 ist Matthias Uhl als Rechtsanwalt in der Sozietät Schick und Schaudt Rechtsanwälte in Stuttgart tätig, die u. a. auf die rechtliche und steuerliche Beratung von Non-Profit-Organisationen und Sozialunternehmen spezialisiert ist. www.schick-schaudt.eu
Die Beteiligten stiften Geld und Zeit, um das vor der eigenen Haustür befindliche philanthropische Potenzial zu bündeln und auf diese Weise die Bürgergesellschaft56 um eine weitere Blüte zu bereichern. Psychologisch gedeutet verstehen es Bürger als Ehre und Genugtuung, wenn sie die Aufgaben eines Gemeinwesens aus freimütig gebenden Motiven heraus erfüllen.57 Statt eines Vereins wählen die Bürger eine Stiftung als Rechtsform, um von deren guten Leumund zu profitieren. Gegen die Vereinsform spricht auch der Umstand, dass der Erfolg eines Vereins von den Beiträgen seiner Mitglieder abhängig sein kann, während allein die Stiftung eine dauerhafte Zweck-Vermögen-Bindung herzustellen vermag: Auch sind Stifter, die ihre millionenschweren Vergabungen dem wandelbaren Willen einer Körperschaft zur Verfügung stellen, eher rar gesät.58 Wir sehen also, dass sich das Verhalten von Bürgerstiftern auf unterschiedliche Motive stützen lässt.
Was sind Bürgerstiftungen? Unter Bürgerstiftungen sind gemeinnützige rechtsfähige Stiftungen privaten Rechts zu verstehen, die soziale, kulturelle oder ökologische Belange in einem bestimmten
24
regional begrenzten Tätigkeits- und Wirkungsbereich in politischer Unabhängigkeit fördern.59 In der Regel werden sie von einer Vielzahl an Individuen zur Förderung einer ganzen Palette von gemeinnützigen Zwecken gegründet und von Anfang an darauf ausgerichtet, möglichst viele engagierte Zustifter, Spender und ehrenamtliche Mitarbeiter zu mobilisieren. Diese Beteiligten werden nicht selten in einer Stifterversammlung zusammengefasst, wodurch eine Bürgerstiftung um eine vereinsrechtliche Komponente angereichert wird.60 Im Rahmen eines sogenannten dynamischen Vermögensaufbaus soll das Stiftungsvermögen Stück für Stück aufgebracht werden. Im Übrigen beherbergen Bürgerstiftungen oftmals mehrere unselbstständige Stiftungen oder «Stiftungsfonds» und betreuen mithin als Treuhänder die von Bürgern oder Unternehmern gestifteten Vermögenswerte. Bürgerstiftungen nehmen dann dachstiftungsartige Züge an.61
Die Bürgerstiftung: Ein Exportschlager aus den USA … Die heute Kontinente übergreifende Bürgerstiftungsbewegung wurzelt in den USA. Frederick Goff, seines Zeichens Bankier und Rechtsanwalt aus Ohio, soll im Jahre 1914 die erste community foundation ins Leben gerufen haben. Die philanthropischen Ressourcen sollten fortan durch eine «Stiftung von Bürgern für Bürger» fruchtbar gemacht und nicht länger in den testamentarisch angeordneten Fängen verstorbener Mäzene verschlossen bleiben. Das Konzept der goffschen community foundation darf heute als Exportschlager gelten.62 Zu den ersten Bürgerstiftungen in Europa zählen die deutschen Bürgerstiftungen Gütersloh 63 und Hannover. Auf vergleichbare Weise haben unter anderem Grossbritannien64 und Italien65 das Modell ebenfalls rezipiert und konzeptionell von einem reinen Fördervehikel um operative Tätigkeiten