The aftermath of the allied triumph over germany

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The Aftermath of the Allied Victory Over Germany

Eine BroschĂźre der antifaschistischen -Kampagne

1945 2017


Inhalt 3

Befreit? Besetzt!

Deutschland wurde nicht befreit – befreit wurden die Juden in Europa. Warum die einstige Besatzerkultur nun umgedeutet wird

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Mitfiebern, mitfühlen

Über Nico Hofmanns Film „Unsere Mütter, unsere Väter“

Deutschland wurde nicht befreit – befreit wurden die Juden in Europa. Warum die einstige Besatzerkultur nun umgedeutet wird

Befreit? Besetzt!

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Formelhaft und leer

Die Shoah wird zu einem moralischen Lerngegenstand erhoben. Aber es geht nicht um eine kritische Auseinandersetzung mit dem NS

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Gemeinsam Rumopfern Gedenkveranstaltungen im Eichsfeld

Foto: US Government

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pricht jemand von der Besatzung Deutschlands durch die Amerikaner, dann sind Assoziationen mit Reichsbürgern, Xavier Naidoo und anderen Deutschnationalen schnell hergestellt. Anders als Menschen, die eine autoritäre Herrschaft einer bürgerlichen Demokratie jeder Zeit vorziehen, zelebrieren die meisten Antifaschist*innen den 8. oder auch 9. Mai als Tag der Befreiung und nicht als Tag der Besatzung. Aber warum eigentlich? Die deutsche Erinnerungskultur hat sich gewandelt. Mag es vor zehn bis zwanzig Jahren noch nötig gewesen sein, die Verbrechen als solche überhaupt zu benennen, um gegen Geschichtsrevisionisten wie Walser und Konsorten vorzugehen, so ist die Einsicht in die Verbrechen heutzutage – bis auf wenige Ausnahmen – common sense. Mag man vor zehn bis zwanzig Jahren noch dafür gestritten haben, dass Deutschland eben nicht von den Amerikanern besetzt sondern viel mehr vom Faschismus befreit wurde, so ist auch das – bis auf wenige Ausnahmen wie eben Naidoo – heute allgemein gültig. Ausgehend von Richard von Weizäckers Rede zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 bestimmt der Befreiungsmythos nun die Geschichtsschreibung und auch die Populärkultur. In den Worten Uli Krugs: „Das Establishment Deutschlands hat den po-

Displaced Persons

Mehrere Millionen Displaced Persons mussten sich nach Kriegsende gegen ihren Willen in Deutschland aufhalten. Über ihre Situation

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Kollaboration und Opfertum Wie ukrainische Nationalisten den Alltag des DP-Camps Lysenko in Hannover prägten

Foto: 70 Years

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Wenn Bürger entscheiden Warum eine Berliner Straße noch immer nach dem Antisemiten Heinrich von Treitschke benannt ist

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Raus aus Europa

Die Bricha verhalf zehntausenden Juden zur Flucht. Zeitzeugen erinnern sich an die Flucht

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litischen Mehrwert des Schuldbekenntnisses längst endgültig erkannt.“1 Und so begründete das geläuterte Deutschland mit der eigenen Geschichte eine Politik, die eigentlich das Gegenteil der Lehren aus dem Nationalsozialismus ist: permanente Kritik an Israel und Appeasement mit autoritären und zumeist auch antisemitischen Regimen, wie dem Iran. Dieses neue deutsche Nationalbewusstsein speist sich aus der Sicherheit, dass man, moralisch derart geläutert, allen anderen – und ganz besonders den anglo-amerikanischen Kriegstreibern – überlegen ist. Um auf diese Läuterung oder auch, um es mit Eike Geisel zu sagen, „WiedergutDie Deutschen setzten werdung“ permaInternierungen in Arbeitsnent aufmerksam zu und Vernichtungslagern mit machen, muss die Schande dauerhaft Kriegsgefangenschaft gleich präsent sein. Und dabei ist man durchaus kreativ. Seien es Straßen die nach toten Juden benannt werden oder eine Ansammlung von Betonklötzen unweit des Brandenburger Tors, die Schande hat einen dauerhaften Platz im öffentlichen Stadtbild und ist im besten Fall sogar eine Attraktion, um die uns „andere Länder beneiden“ (so erklärt es zumindest der Historiker Eberhard Jäckel). Was automatisch in dieser Erinnerungskultur allerdings keinen Platz hat, das sind die Opfer und ihre Forderungen nach Entschädigung. So wird die Jüdische Allgemeine nicht zu jener Pressekonferenz eingeladen, auf der sich der Zoo zu seiner Nazivergangenheit bekennt. Statt Entschädigung auszuzahlen, investiert man lieber Geld in Gedenktafeln und die Umbenennung von Straßen und Gebäuden. Letzteres ist wesentlich nachhaltiger und eignet sich besser zur öffentlichen Inszenierung der eigenen Läuterung. Folgt man dem allgemeinen Tenor, so konnte dies alles möglich werden, weil die West-Alliierten und die Sowjetunion die Deutschen am 8. beziehungsweise 9. Mai 1945 zu sich selbst brachten. Ein Mythos der sich popkulturell beispielsweise auch in der Darstellung von Hitlers Sekretärin in „Der Untergang“ (2004) wiederfindet: dann, wenn die junge –

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lediglich vom Charisma der alten Nazieliten verführte –, unschuldige Traudl Jung durch das zerbombte Berlin läuft und durch die Befreiung endlich zu sich selbst kommen kann. Genau hier muss die Kritik ansetzen, denn wirklich zu sich selbst kam das deutsche Volkskollektiv nicht 1945 sondern vielmehr am 9. November 1938: Als bereitwillig in gemeinschaftlicher Aktion gegen alle Volksfremden vorgegangen wurde; als die Gemeinschaft sich zusammenschloss um ihr höheres Ziel, den Endsieg über Europa und vor allem die Vernichtung der Juden, umzusetzen; als sich die von Herbert Marcuse in „Feindanalysen“ festgestellte Dichotomie aus Freiheit und Sicherheit in totalitärer Form gegen die Freiheit und für die Sicherheit des Volkskollektivs – als Vollbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat – auflöste. Auch heute noch, das zeigt ein Vergleich deutscher und anglo-amerikanischer Strategien zur Krisenbekämpfung, wird in Deutschland gegen die Freiheit entschieden. Heute können wir den erfolgreichen Versuch eines Landes beobachten, aus der größten Niederlage noch einen moralischen Sieg davon zu tragen: der relativ erfolgreiche Versuch aus dem größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte die Legitimation für eine expansive Außenpolitik zu ziehen. Das hat mit einer clever kalkulierten Umwandlung von Schuld in politisches Kapital deutlich mehr zu tun als mit einem Schuldeingeständnis. Schließlich müsste ein tatsächlich Reuiger weitaus mehr daran interessiert sein, seine Opfer – zum Beispiel ehemalige jüdische Zoo-Aktionäre – zu entschädigen, anstatt irgendwelche Straßen nach ihnen zu benennen. Dementsprechend müssen an dieser Stelle vielleicht die Fehler des Antifaschismus der 90er Jahre anerkannt werden oder besser: dessen Kurzsichtigkeit. Denn das wiedervereinte Deutschland ist weder das „Vierte Reich“, noch wurde es 1945 von irgendetwas befreit. Befreit wurden die Juden in Europa und all jene nicht kollaborierenden Menschen in den von Deutschland eroberten Gebieten. Und zwar von Deutschland und seiner mörderischen Ideologie. Durch den Sieg der West-Alliierten und der Sowjetunion wurden die Deutschen eher an ihren Plä-

nen gehindert und somit in ihrer Freiheit eingeschränkt. Also besetzt. Bereits die Besatzung durch Napoleon und dessen Code Civil wurden von Deutschnationalen wie Friedrich Ludwig Jahn oder dem Historiker Leopold von Ranke als Überstülpung universaler bürgerlicher Werte – wie Freiheit und Gleichheit – und Verhinderung der Ausübung der „natürlichen“ deutschen Kultur gesehen. Deshalb wurde auch die Besatzung durch die West-Alliierten – der Zwang zu einer demokratischen Kultur der Menschenrechte – abgelehnt und von Deutschnationalen bis heute kritisiert. Man beachte nur einmal die zahlreichen „Ami Go Home“-Schildchen auf jeder beliebigen Friedensdemonstration oder das ständige Gerede von der amerikanischen Kulturlosigkeit. Das nationale Kollektiv mit all seinen erschreckenden Ausformungen wurde eingepfercht zwischen zwei „blutleere Staaten“2, deren Namen eher an Vertragskürzel erinnerten als an eine nationale Heimat. Die deutschen waren daran gehindert, ihre Kultur, deren feste Bestandteile Antisemitismus und Autoritarimus waren und sind, frei auszuleben. Stattdessen kam eine neue Kultur ins Land: die Kultur der Besatzer. Wolfgang Pohrt bringt es auf den Punkt, wenn er über die Vereinigten Staaten von Amerika und ihren Kulturimperialismus sagt: „Mögen anderswo dem amerikanischen Kulturimperialismus die tradierten Lebensformen ganzer Nationen zum Opfer gefallen sein – in Deutschland aber begann mit dem amerikanischen Kulturimperialismus nicht die Barbarei, sondern die Zivilisation.“3 Denn die Kultur der Besatzer richtete sich nicht nur entschieden gegen kulturelle Ausformungen des Faschismus, sondern ermöglichte Mitte der 50er Jahre mit der sich in Deutschland verbreitenden Popkultur, allem voran der Popmusik, einen warenförmigen Ausbruch aus dem Volkskollektiv. Klaus Theweleit weißt diesbezüglich beispielsweise in seinem Buch „Ghosts“ darauf hin, dass Pop als „undeutsche Sprache“ damals das ideale Mittel war, um der Elterngeneration die Gefolgschaft auf kultureller Ebene aufzukündigen und sich den Besatzern anzuschließen. Diese Popkultur

widersprach in ihrer Wesensart des kapitalistischen Individualismus dem deutschen Gleichschritt. Eine Kultur, die viele divergierende Identitäten anbot und so der kollektiven Identität des Volkskörpers mit aller Vehemenz eine farbenfrohe Alternative entgegen zu setzen hatte. Die Popkultur war wahrscheinlich der effektivste Beitrag zur Re-Education in der Bundesrepublik. Doch das hat sich geändert. Eine Reihe von Prozessen – sie ähneln dem Zustandekommen des von Uli Krug beschriebenen neuen Aggregatzustands der deutschen Gesellschaft – verwandelte die warenförmige Flucht aus dem Volkskörper in eine neue deutsche Identität. Die ist so hip und flippig wie Claudia Roth. Marti Büsser beschreibt „den Imagewandel, den Pop innerhalb nur weniger Jahrzehnte erfahren hat“ von „einst: verrucht, dissident, rebellisch und frivol“ zu „inzwischen: lebensbejahend, flexibel, dynamisch, alles in allem ein Zeichen für Checkertum und Modernität“4. Und so gibt es nun den Pop-Standort Deutschland. Die einstige Besatzerkultur wird als Teil der Befreiung umgedeutet und Pop wird so Teil der neuen befreiten deutschen Pop-Identität. Und kaum war diese deutsche Pop-Identität befreit, begehrte sie auf gegen den minderwertigen „Einheitsbrei der anglo-amerikanischen Dudelmusik“ (Claudia Roth) und warf ihr eine „Vernichtungsaktion unserer einheimischen Musikszene“ (Achim Reichel) oder gleich „einen Genozid an deutscher Rockmusik“ (Heinz Rudolf Kunze) vor. Denn egal wie poppig sich diese neue deutsche Identität gibt, es bleibt weiter dabei: keine deutsche Identität ohne Aufwertung des Eigenen und Abwertung des Fremden. So gesehen sollte man als Antifaschist im Jahr 2016 vielleicht den Topos von Naidoo und Konsorten wieder aufgreifen, denn Deutschland war faktisch gesehen ein besetztes Land, das dankenswerter Weise durch Besatzungsmächte daran gehindert wurde größeren Einfluss auf Europa und die Weltpolitik zu nehmen. Und das war – und hier liegt der große Unterschied zu Naidoo – auch sehr gut so. In diesem Sinne: Ami come back.

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[1] Krug, Uli: „Böser Adolf, guter Richard – 70 Jahre Kriegsende, 30 Jahre Befreiung“ in Bahamas Nr. 71, 2015. [2] Schneider, Frank Apunkt: „Deutschpop halts Maul“. [3] Pohrt, Wolfgang: „Ein Volk, rein Reich, ein Frieden“. (zeit.de/1981/45/ ein-volk-ein-reich-ein-frieden). [4] Büsser, Martin: „Made in Germany – Pop im Dienste der Nationalisierung“ in Pop Kultur Diskurs.


E Die Shoah wird zu einem moralischen Lerngegenstand erhoben. Aber es geht dabei nicht um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Eine theoretische Annäherung an die deutsche Erinnerungskultur

Formelhaft und leer

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rinnerung scheint weder ganz in der Vergangenheit zu liegen noch Teil der Gegenwart zu sein. Sie liegt zwischen diesen Dimensionen und bildet eine eigene Sphäre aus, die die beiden anderen miteinander verbindet.2 Sowohl Positives als auch Negatives kann erinnert werden. In der Erinnerung löst sich das aktuelle Geschichtsbewusstsein auf und etabliert eine Rhetorik des Erinnerns.3 Daher muss sich vor Augen geführt werden, dass Erinnerung niemals neutral oder objektiv sein kann, sie ist viel mehr selektiv.4 „Erinnerung besteht gerade darin, Vergangenheit – erinnerte, rekonstruierte und damit partiell imaginierte – in die Gegenwart zu holen.“5 Mit Hilfe von verschiedenen Formen der Bezugnahme auf Vergangenes werden ganze Welt- und Selbstbilder konstruiert. Es handelt sich also um eine Geschichtsaneignung für „identifikatorische Zwecke.“6 Darüber hinaus muss auf der Grundlage des konstruierten Charakters der Erinnerung festgehalten werden, dass sie niemals abgeschlossen sein kann und daher ohne Unterlass verhandelt und verändert wird.7 Es lässt sich festhalten: „In der Erinnerung zeigt sich nicht die Vergangenheit des Vergangenen, sondern die Vergangenheit der Gegenwart, also das, was unter gegenwärtigen Bedingungen von der Vergangenheit kollektiv erinnert wird.“8 „Mit der Erfindung der Nation im 18. Jahrhundert, die das politische Subjekt der Moderne darstellt, erhält Vergangenheit ihre bis heute gültige sinn- und identitätsstiftende Bedeutung.“9 Das Eigene und Fremde wurde nicht zuletzt auch an Erinnerungen festgemacht, die die eigene Nationalität prägen sollten. Kulturtheoretisch wird kollektive Erinnerung als Selbstvergewisserung definiert. Es bildet sich ein kollektives Langzeitgedächtnis heraus, das festschreibt, welche Narrative für kommende Generationen zur Verfügung stehen sollten.10 Bei Erinnerung handelt es sich also um ein soziales Bezogensein, daher ist es exklusiv und exkludierend.11 Für gewöhnlich gehen nationale Erinnerungen auf als positiv empfundene beziehungsweise erfundene Ereignisse zurück.12 In der identitätsstiftenden Grundbedeutung der Erinnerung liegt ihr Sinn für Kollektive. Zusammenfassend lässt sich mit Hilfe von Soziologie und Geschichtswissenschaft feststellen, dass die selbstverständliche Aneignung und Institutionalisierung von Geschichte einer Gesellschaft als „Gründungselement eines jeden Nationalstaates“13 gilt. Gerade in der Erinnerungs- und Gedenkpraxis zeigen Nationen, wie sie sich als gegenwärtiges Kollektiv verstehen und wie sie von Anderen gesehen werden wollen.14

Auch in der jungen Bundesrepublik, die den Demokratisierungsvorgaben der Alliierten unterworfen war, funktionierte Identitätsbildung ganz ähnlich. Sie hatte den NS zwar gerade erst erlebt, aber keineswegs überwunden. Eine besondere Schwierigkeit bei der Erinnerung an die Shoah bestand immer schon darin, dass Erinnerung sich meist auf positive Traditionsbestände bezieht und der Shoah jegliche positive Bezugnahme fehlt.15 Trotzdem hat sich die Erinnerung an die Shoah zu einer „Staatsräson“ entwickelt, an ehemaligen Tatorten sind Gedenkstätten entstanden und diese sind institutionalisiert worden. Durch die im Jahr 1999 etablierte und 2008 weiterentwickelte Gedenkstättenkonzeption zeigt sich, wie sehr Erinnerung durch staatliche Beteiligung festgeschrieben wurde. „Bis heute ist das Geschichtsverhältnis zum Nationalsozialismus in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit im Horizont nationaler Identität betrachtet worden.“17 Astrid Messerschmidt erläutert, dass es zwei Perspektiven dieser neuen Identitätsbildung nach dem Nationalsozialismus gegeben hat: Eine abgrenzende Haltung, die über „die historische Beschädigung des Deutschseins“ klagt und eine identifizierende Haltung, die die Aufarbeitung des Nationalsozialismus für „genuin zur deutschen Identität gehörend besetzt.“18 Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zeichnet sich durch Diskontinuitäten aus.“19 Die Erinnerungsansprüche und -formen verändern sich im Generationsübergang.20 Dabei folgt dieser Aufsatz der gängigen Einteilung in die TäterInnengeneration, deren Kinder (die sogenannte Nachkriegsgeneration) und die Nachkommen dieser (dritte Generation). Natürlich handelt es sich hierbei um ein theoretisches Konstrukt, eine reine Einteilung ist derart präzise nicht möglich, trotzdem lassen sich einzelne Aspekte dadurch veranschaulichen. Die Generation der TäterInnen war in ihrem kollektiven Gedächtnis dem Nationalsozialismus verhaftet.21 Die verbrecherische Geschichte wurde von einer „Kriegsgeschichte in eine Helden- und Leidensgeschichte umgedeutet“,22 die Verbrechen selbst wurden nicht thematisiert. Obwohl die Gesellschaft den Nationalsozialismus nicht überwunden hatte, musste dieser als Gegenbild konstruiert werden, um der Forderung nach Demokratie beizukommen. Das Kriegsende wird als Kontinuitätsbruch und Identitätsänderung beschrieben.23 Natürlich handelt es sich hier um eine identitätsstiftende Maßnahme. „Um überhaupt wieder historischen Grund für gemeinschaftsbildende Zugehörigkeit und Handlungsfähigkeit zu

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gewinnen, mußte […] der Holocaust aus derjenigen Geschichte eliminiert werden, auf die identitätsbildend Bezug genommen wurde.“24 Somit wurde dem Nationalsozialismus eine Alterität entgegen der neuen Gesellschaft (dem Eigenen) angedichtet, sodass alle Verbrechen von der Nation gewiesen werden konnten. Der Prozess von Verdrängung bildete die Grundlage der Integration der Nazi-Elite.25 „Dieses Beschweigen gehört zur Gründungsgeschichte der neuen westdeutschen Demokratie.“26 Die zweite Generation wurde mit dem Verschweigen und Verdrängen der Elterngeneration konfrontiert und begann damit, Kontinuitäten aufzudecken. In das kollektive Gedächtnis wurde normativ eingebrannt, dass die Geschichte des Nationalsozialismus thematisiert werden muss und präsent sein soll. Es handelt sich aber trotz aller aufklärerischer Absichten um den Wunsch nach einem Schlussstrich. Festgeschrieben wurde, dass ein Erinnern gegen das Wiedererstarken von Diktaturen und die Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschheit ausreicht. Damit konnte man sich von den Verbrechen und einer Schuldzuweisung abwenden. „Ein durchgehendes Motiv im Umgang mit den NS-Verbrechen in […] Deutschland besteht bis heute in der Abwehr eines vermuteten und stets befürchteten Schuldvorwurfs.“27 In dieser Art des Distanzierens ist es besonders paradox, dass einerseits das vergangene Geschehen bleiben und nichts mit den gegenwärtig lebenden Menschen zu tun haben soll, andererseits aber dafür genutzt werden soll, kommende Generationen moralisch zu erziehen. Von ihnen

wird nämlich erwartet, dass sie auf der Grundlage des Wissens über NS-Verbrechen in der Lage sein sollen, solche Verbrechen zukünftig zu verhindern. Die nächsten Generationen sind damit konfrontiert, dass das Erinnern zum „guten Ton“ gehört und damit formelhaft erscheint, gerade wenn daraus staatstragende Ereignisse inszeniert werden.28 Weil kaum noch ZeitzeugInnen leben, ist als Erinnerungsbezugspunkt der dritten Generation nur noch das ritualisierte nationale Gedenken möglich.29 Sie werden damit konfrontiert, dass Erinnerung immer einen moralisch erziehenden Charakter hat und es wenig Spielraum gibt sich dem Gegenstand anzunähern, weil von Anfang an Konformitäts- und Uniformitätsdruck herrscht. Darin liegt möglicherweise der Grund für die sogenannte „Holocaust-Müdigkeit“.30 Mit Theodor W. Adorno ist Erziehung unweigerlich mit „Auschwitz“ verknüpft und hat ihren Sinn nur in der Ausbildung einer „kritischen Selbstreflexion“.31 Man bezieht sich in Deutschland auf diesen Erziehungsbegriff nur zum Anlass nationaler Selbstdarstellung – gerade dadurch aber wird er formelhaft und leer. Die derzeitige Präsentation von Erinnerung und Erziehung ist alles andere als die Anregung zur Selbstreflexion. Die Shoah wird zu einem moralischen Lerngegenstand erhoben, bei dem es nicht um eine eigentliche Auseinandersetzung geht, da „schon immer alle wissen was gemeint ist.“32 Gemeint ist eine moralische Positionierung und Anerkennung nationaler Werte und Identität, weniger eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand des Nationalsozialismus. -8-

Geschichte wird damit zu einem funktionalen Element, das die Anpassung von Individuen an den Staat herbeiführen soll, sie wird aus dem Kontext gerissen. Es wird suggeriert, dass der Nationalsozialismus nichts mit dem eigenen Selbst zu tun habe.33 Auch Entstehungsmomente, die mit dem Zivilisationsprozess einhergingen und in ihm angelegt sind, werden ausgeklammert.34 „Wiederholt wird dabei ein durchgängiges Motiv bundesdeutscher Erinnerungspolitik: die Vorstellung, ein Großteil der Bevölkerung hätte dem System zwar schweigend, aber ablehnend gegenüber gestanden.“35 Diese Exkulpationsstrategie, die der historischen Wirklichkeit entgegen steht, soll von jeder Person in der Bundesrepublik angenommen werden. Es soll ein moralisches Werturteil konstruiert werden, das den Nationalsozialismus als Negativfolie der heutigen Demokratie präsentiert. Dadurch erscheint es nicht möglich, den aktuellen Staat zu kritisieren. Eigenständigen Bewertungen wird kein Raum gelassen. Denn dazu müssten die Entstehungsbedingungen und charakterlichen Dispositionen zum Nationalsozialismus in der Breite diskutiert werden.36 Geschieht dies nicht, entsteht ein lückenhaftes Bild, wie es im aktuellen kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik vorherrscht.37 Historische Ereignisse, so auch der NS, sind auf menschliche Handlungen und eine gewisse Freiheit zurückzuführen: das aufzuzeigen gälte es.38 Deshalb kann die deutsche Gesellschaft nicht zum Opfer weniger NationalsozialistInnen stilisiert werden. Um einen kritischen Umgang zu fördern muss thematisiert werden, dass die Verbrechen auf einen vorauseilenden Gehorsam und Eigeninitiative der Deutschen Bevölkerung zurückgehen.40 Erst dann ist es möglich, ein moralisches Urteil zu fällen. Fotos: Metoc CC BY-SA 2.5 / Klaudia Gaal CC BY-SA 3.0

[1] Szneider, Natan: Gedächtnis im Zeitalter der Globalisierung. Prinzipien für eine neue Politik im 21. Jahrhundert. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016, Holocaust und historisches Lernen.S.12. [2] Vgl. Ebd., S.12.; Vgl Messerschmidt, Astrid: Umstrittenes Erinnern – Aneignung des Holocaust-Gedächtnisses in der Frauen- und Geschlechterforschung. in: Elisabeth Tuider (Hg.) QuerVerbindungen, interdisziplinäre Annäherung an Geschlecht, Sexualität, Ethnizität, Berlin 2008, S.229. [3] Vgl. Knigge, Volkhard: „Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen.“ Unangenehme Geschichte begreifen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016, Holocaust und historisches Lernen, S.5. [4] Vgl. Bernd Faulenbach: Erinnerungsarbeit und demokratische politische Kultur heute. in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 82. [5] Ebd. S. 82. [6] Vgl. Messerschmidt,: Umstrittene Erinnern, S. 229. [7] Vgl. Szneider, Globalisierung, S.12. [8] Messerschmidt, Astrid: Erinnerung jenseits nationaler Identitätsstiftung. Perspektiven für den Umgang mit dem Holocaust-Gedächtnis in der Bildungsarbeit, in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 103. [9] Mesch, Wolfgang: „Auschwitz“ als Bildungsinhalt in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 127. [10] Vgl ebd., S.127. [11] Vgl. Faulenbach, Erinnerungsarbeit,: S. 84. [12] Vgl. Szneider, Globalisierung, S. 11. [13] Mesch, Auschwitz, S. 127. [14] Vgl. Messerschmidt, Identitätsstiftung, S. 103. [15] Mesch, Auschwitz, S. 125. [16] Vgl. Knigge, unangenehme Geschichte, S.3. [17] Messerschmidt, Astrid: Geschichtsbewusstsein ohne Identitätsbesetzungen – kritische Gedenkstättenpädagogik in der Migrationsgesellschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016, Holocaust und historisches Lernen, S. 21. [18] Messerschmidt, Astrid: kritische Gedenkstättenpädagogik, S. 21. [19] Ebd., S. 16. [20] Vgl. Messerschmidt, umstrittenes Erinnern, S. 229 [21] Vgl., Rüsen, Jörn: Holocaust, Erinnerung, Identität. Drei Formen generationeller Praktiken des Erinnerns, in: Harald Welzer (Hg.) Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 245. [22] Messerschmidt, Astrid: umstrittenes Erinnern, S. 230. [23] Vgl. Rüsen, Holocaust, S. 245. [24] Ebd., S. 246. [25] Vgl. ebd,, S. 246; vgl. Szneider, Globalisierung, S.12f. [26] Rüsen, Holocaust, S. 248. [27] Messerschmidt, kritische Gedenkstättenpädagogik, S.16. [28] Vgl Messerschmidt, umstrittenes Erinnern, S. 230. [29] Vgl. Messerschmidt,: kritische Gedenkstättenpädagogik, S.16. [30] Vgl. Messerschmidt, Astrid: Umstrittene Erinnerung, S.231. [31] Vgl. Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M. 1971, S. 88. [32] Messerschmidt, umstrittenes Erinnern, S. 231. [33] Vgl. ebd. S. 231. [34] Vgl. Adorno, Erziehung, S.88. [35] Messerschmidt, umstrittenes Erinnern, S. 233. [36] Vgl. These über manipulativen Charakter: Adorno, Erziehung, S. 97 [37] Vgl. Mesch, Auschwitz, S. 130. Vgl. Messerschmidt, kritische Gedenkstättenpädagogik, S. 17. [38] Vgl. Knigge, unangenehme Geschichte, S. 130. [39] Vgl. Goldhagen, D. J.: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. Literatur: Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Helmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M. 1971, S. 88-104. Faulenbach, Bernd: Erinnerungsarbeit und demokratische politische Kultur heute. in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 81-91. Goldhagen, D. J..: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. Knigge, Volkhard: „Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen.“ Unangenehme Geschichte begreifen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016, Holocaust und historisches Lernen, S.3-9. Mesch, Wolfgang: „Auschwitz“ als Bildungsinhalt in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 125- 135. Messerschmidt, Astrid: Erinnerung jenseits nationaler Identitätsstiftung. Perspektiven für den Umgang mit dem Holocaust-Gedächtnis in der Bildungsarbeit, in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 103- 115. Messerschmidt, Astrid: Geschichtsbewusstsein ohne Identitätsbesetzungen – kritische Gedenkstättenpädagogik in der Migrationsgesellschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016, Holocaust und historisches Lernen, S. 16-22. Messerschmidt, Astrid: Umstrittenes Erinnern – Aneignung des Holocaust-Gedächtnisses in der Frauen- und Geschlechterforschung. in: Elisabeth Tuider (Hg.) QuerVerbindungen, interdisziplinäre Annäherung an Geschlecht, Sexualität, Ethnizität, Berlin 2008, S. 227 -246. Rüsen, Jörn: Holocaust, Erinnerung, Identität. Drei Formen generationeller Praktiken des Erinnerns, in: Harald Welzer (Hg.) Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S.243 – 260. Szneider, Natan: Gedächtnis im Zeitalter der Globalisierung. Prinzipien für eine neue Politik im 21. Jahrhundert. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016, Holocaust und historisches Lernen, S. 10-15.

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Gemeinsam rumopfern

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li Krug hat Recht, wenn er schreibt: „Die „Wiedergutmachung der Deutschen“ funktioniert imaginativ als Wiedergutmachung der Vorfahren.“1 In der beschaulichen Region Eichsfeld wird dieses Phänomen des deutschen Gedenkens nur allzu gut sichtbar. Die verstreuten Gemeinden reihen sich jedes Jahr erneut in endlos lange Traditionsmarathons ein. Dabei geht es in erster Linie um die Rehabilitation der Deutschen. Spätestens am Volkstrauertag finden sich alle wichtigen Personen zu Gedenkstunden zusammen, um gemeinsam die Geschichte ein kleines bisschen mehr zu verdrängen. Die Thüringer Initiative „Volkstrauertag abschaffen!“ beschreibt diesen Irgendwie waren schließlich Sühne-Rummel trefalle Opfer des NS, ob nun aktiv fend: „Im Lamento daran beteiligt oder bis zum über die „Kriegsopeigenen Tod verfolgt fer“ und die „Opfer von Diktatur und Gewaltherrschaft“, unter die man auch gerne die Mauertoten der DDR zählt, verschwindet die deutsche Täterschaft mit dem Spezifikum des deutschen Verbrechens.“2 Zähneknirschend wird die Schuld der deutschen Nation am industriellen Massenmord zugegeben, jedoch nicht, ohne auch die zu betrauern, die im Feld bei der Verteidigung des Vaterlandes und seiner mörderischen Maschinerie ihr Leben ließen. Treffender als Christine Lieberknecht, ehemalige Ministerpräsidentin des Landes Thüringens, könnte man diese absurde Gleichsetzung nicht auf den Punkt bringen. Sie forderte einst die „Versöhnung über den Gräbern“3, ein Wunsch, der wohl vielen Deutschen sehr zusagt. Irgendwie waren schließlich alle Opfer des NS, ob nun aktiv daran beteiligt oder bis zum eigenen Tod verfolgt. So wird nicht nur die Schuld relativiert, sondern gleichzeitig eine Versöhnung seitens der Täter vorgeschlagen. Endlich scheint der ersehnte „Schlussstrich“ greifbar. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus steht stets die moralisch begründete Ablehnung von Gewalt. Man könnte fast den Ein- 10 -

Gedenkveranstaltungen im Eichsfeld druck gewinnen, es sei bisher niemand auch nur auf die Idee gekommen, die Ideologie des NS zu zerlegen und zu kritisieren. Statt den Reiz des nationalen Kollektivs für den einfachen Michel als zu überwindendes Phänomen anzuerkennen, fokussiert die Kritik am Nationalsozialismus die militärische Elite, einzelne Demagogen und eine Aneinanderreihung unglücklicher Umstände, denen sich die Menschen im „Dritten Reich“ beugen mussten. Sogenannte Kriegerdenkmale finden sich im gesamten Eichsfeld. Ihre Inschriften: „Den Toten zur Ehrung, den Lebenden zur Mahnung“ (Steinrode) oder „Zum Gedenken an unsere Gefallenen, Vermissten und Verschleppten aus zwei Weltkriegen. Als Mahnung für Frieden und Versöhnung“. Um es mit den Worten Paul Spiegels zu kommentieren: „Hinter dem Ruf nach Frieden verschanzen sich die Mörder.“ Konkret äußert sich dies nicht nur in den absurden Reden und dem gemeinsamen Rumgeopfere am Volkstrauertag, sondern jedes Jahr in zahlreichen Dörfern des Eichsfeldes: Schüler*innen werden vom Unterricht aus „kulturellen Gründen“ beurlaubt, die Gastwirtschaften machen ihren Jahresumsatz. Zur sogenannten Burschenkirmes zelebrieren junge und sich für jung geblieben haltende Männer das Kirchweihfest. Das läuft in Jützenbach so ab: „Nach dem Segen ging es zum Kriegerdenkmal. Bei einer Andacht gedachte die Gemeinde der Gefallenen und Vermissten der beiden Weltkriege, Vertreter der Kirmesburschen legten einen Kranz nieder. Dann folgte ein zünftiger Frühschoppen.“4 In vielen Ortschaften ist es Brauch, den deutschen „Opfern“ des Nationalsozialismus in dieser Form eine Ehre zu erweisen. In Jützenbach tut man dies an einer Gedenkstele, auf der steht: „Es starben fürs Vaterland die Helden.“ Andere Denkmale tragen Inschriften wie „Ihren tapferen Söhnen in treuem Gedenken“ (Kreuzebra) und „Sie starben getreu den Überlieferungen ihrer Familie für König und Vaterland den Heldentod“ (Bornhagen), oder „Dem Andenken der im Weltkriege gefallenen Helden der Gemeinde Silberhausen gewidmet“ (Silberhausen). Dass Deutsche mit Hinblick auf die Zeit

von 1933 bis 1945 eine überwältigende Gedächtnislücke aufweisen, ist hinlänglich bekannt. Obwohl die wenigen mit einer Website bedachten Kirmesvereine der Region oftmals einen extra Eintrag zu ihrer Geschichte haben, wird auch dort dieser Abschnitt völlig ausgelassen.5 Fast könnte man den Eindruck gewinnen, der Nationalsozialismus habe im Eichsfeld nicht stattgefunden. Stattdessen hätten ein paar Fanatiker aus Berlin der Region die Männer geraubt, um sie an den Fronten zu verheizen. Doch auch im Eichsfeld zeigte sich die nationalsozialistische Barbarei. 1939 wurden in Ershausen 93 geistig behinderte Kinder und Jugendliche deportiert.6 In vielen Orten der Region, darunter Haynrode, Kirchworbis oder Geismar, wurden Zwangsarbeiter aus Polen und der Ukraine eingesetzt. In Reifenstein gab es ein Sonderlager für selbige. 1944 wurde in Bischofferode ein Außenlager des KZs Mittelbau-Dora im Bereich der Wintershall AG angelegt. Darüber wird

jedoch nur ungern gesprochen. Heute gedenkt man beispielsweise in Geismar auf dem Friedhof ungeachtet der fünf Zwangssterilisationen im Jahr 19437 lieber „Den gefallenen deutschen Helden.“ Bei derartigen Wortlauten geht es nicht mehr nur „um eine Verharmlosung der nationalsozialistischen Geschichte, wie etwa in den Veranstaltungen der deutschen Mainstream-Gedenkpolitik, sondern um eine Glorifizierung“8. Während die Gedenkredner zum Volkstrauertag durch die permanente Verbrüderung mit den nationalsozialistischen Tätern die deutsche Schuld nachhaltig verwischen, nimmt man hier positiv auf die Taten der NationalsozialistInnen Bezug. Statt einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Orte und ihrer Bewohner strebt die Dorfgemeinschaft eine „Entschuldigung“ im schlechtesten Sinne an: Gemeint ist keine Entschädigung9 oder Aufarbeitung, sondern ein einfaches Ende der Schuld bei gleichzeitigem Bejubeln der Täter. Von Re-Education fehlt jede Spur, stattdessen sind die viel betrauerten Täter omnipräsent, was nicht zuletzt an der Emotionalisierung der Debatte liegt. „Nicht mehr die Leugnung des Unleugbaren, wie noch vor 40 Jahren, als wirkliche Täter (und ihre entsprechend parentifizierten Nachkommen) das öffentliche Klima bestimmten, macht das Verstockte aus, sondern die Rückprojektion der eigenen Unschuld in die Familiengeschichte des Kollektivs.“10 So erfüllt das 20-minütige Gedenken der Dorfgemeinschaft an den Gräbern ihres Volkes in Form der Kriegerdenkmale in erster Linie den Zweck der moralischen Rehabilitation und der damit einhergehenden Verdrehung der Geschichte.

[1] Uli Krug: Böser Adolf, guter Richard, Bahamas Nr. 71, 2015. [2] Initiative „Volkstrauertag Abschaffen!“ in der gleichnamigen Broschüre, 2015, Seite 5. [3] Ebd. [4] Christoph Schmidt: Kirmes in Jützenbach: So ausgelassen feierten die Eichsfelder, Thüringer Allgemeine, 21.10.2015. [5] Dass Kirmes im Nationalsozialismus in einem anderen Rahmen oder wie 1939 zum Kriegsbeginn größtenteils gar nicht gefeiert wurde, ist uns bewusst. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Zeit für die Vereine ist jedoch aus unserer Sicht unabdingbar. [6] Thüringer Verband der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten und Studienkreis deutscher Widerstand 1933-1945 (Hg.): Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945, Reihe: Heimatgeschichtliche Wegweiser Band 8 Thüringen, Erfurt 2003, S. 43, ISBN 3-88864-343-0. [7] Ebd. [8] Initiative „Volkstrauertag Abschaffen!“ in der gleichnamigen Broschüre, 2015, S. 26. [9] Mehr Infos zu Entschädigungen liefert z.B. die Kampagne makezoopay.tumblr.com. [10] Uli Krug: Böser Adolf, guter Richard, Bahamas Nr. 71, 2015.

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Wenn Bürger entscheiden

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Warum eine Berliner Straße nach dem Antisemiten Heinrich von Treitschke benannt ist

üsste man die Berliner Treitschkestrasse beschreiben, wäre nicht viel mehr als ihre Tristesse und Durchschnittlichkeit zu nennen. Gelegen im gutbürgerlichen Bezirk Steglitz bietet sie trotz naher Shoppingmeile einen provinziellen Anblick, der zurecht mit Desinteresse belegt wäre, würde an ihrer einzigen Kreuzung nicht die mattrote Informationstafel stehen, die viel schwerer wiegt als die obligatorisch schlandgeschmückten Fenster. Umrundet man die Tafel, lassen sich die Texte beider Seiten lesen: sie handeln vom Berliner Antisemitismusstreit, der 1879 unter anderem zwischen Heinrich von Treitschke und Harry Bresslau im universitären Rahmen ausbrach. Während ersterer als Namensgeber der Straße bereits seit 1906 fungiert, wurde letzterem der anliegende Grünstreifen zuteil, der 2008 als Harry-Bresslau-Park festgesetzt wurde. Dies war nicht nur ein fauler Kompromiss der sich selbst geschichtsbewusst gebenden Linken, sondern auch die logische Fortsetzung des postnazistischen Narrativs. Dieses verschafft Deutschland Uli Krug zufolge durch „ostentative ethische Katharsis, durch das Umschalten von Schuldverleugnung auf Schuldstolz, durch die Umdeutung der Tötungsfabriken zu ‚Weiterbildungsanstalten‘“ die gewünschte Bedeutung. Das aufbegehrende Versprechen der jüdischen Emanzipation zu Beginn des 19. Jahrhunderts, formal im rudimentären Sinne zur Reichsgründung 1871 im Gesetz verankert, sollte sich sobald als ein leeres herausstellen. Fortwährend kann von antisemitischer Arbeitsteilung die Rede sein, denn in religiös, nationalistisch und sozial begründeter Aversion kam nun beinahe jede gesellschaftliche Gruppe auf ihre Kosten. Zur wirtschaftlichen Krise der Großen Depression gesellte sich das steigende antiliberale Engagement Bismarcks, der gesellschaftliche Rückhalt für noch radikalere Agitation gegen die ansässigen Jüdinnen und Juden war groß. Einerseits ist Adolf Stoecker zu nennen, Initiator der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei und der Berliner Bewegung, der in seiner Rede „Unsere Forderungen an das moderne Judenthum“ im pseudopädagogischen Jargon Bescheidenheit, Toleranz und

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Gleichheit von seinen ausgemachten Feinden abverlangte, um einige Zeilen später ihren beruflichen Ausschluss zu fordern. Maßgeblich war ebenso der rassistisch argumentierende Schriftsteller Wilhelm Marr, auch weil er den Antisemitismusbegriff als Erster prägte; er fantasierte von einer jüdischen „Fremdherrschaft“, die „die Dictatur des Staatsfinanzsystems […] längst an sich gerissen und ihm den semitischen Dispositions- und Manipulationsgeist eingeimpft“ habe. In Divergenz und doch geistiger Verbundenheit verstand es Heinrich von Treitschke, den Vulgärantisemitismus beider zu adaptieren und ihm rhetorisch einen wissenschaftlichen Schein zu geben, damit dieser auch an den deutschen Hochschulen Fuß fassen konnte. Als er 1879 den Aufsatz „Unsere Aussichten“ verfasste, befand er sich folglich in keiner ideologischen Außenseiterrolle, obgleich er sich als Tabubrecher und Unterdrückter inszenierte. Zu diesem Zweck tätigte er diverse verschwörungsideologische Behauptungen über Juden, die „Börsen und Zeitungen beherrschen“. Treitschkes primäre Motivation war völkisch, seinen Aufgabenbereich beschrieb er als Verteidigung der „Sitten und Gefühle des deutschen Volkes“. Kollektivistisch vertraute er auf den „Instinkt der Massen“. Sein Hass entlud sich sowohl xenophob nach außen, gegen die vermeintliche „Schaar“ an osteuropäischen jüdischen Einwanderern, als auch nach innen, gegen die zu großen Teilen liberal orientierten Juden in Deutschland. Hinter den regelmäßigen Hinweisen auf seine „jüdischen Freunde“, die er als Positivbeispiel der kompletten Assimilation statuierte, verbarg sich die offenkundige Absicht, dem Antisemitismusvorwurf zuvorzukommen. Sein Ausruf „Die Juden sind unser Unglück“ erlangte schließlich Bekanntheit, nicht zuletzt als Titelslogan auf dem Propagandablatt „Der Stürmer“. Es folgten später die wohlfeilen Versuche diverser nachnazistischer Historiker, den NS-Staat des Missbrauchs Treitschkes zu bezichtigen – als gäbe es merkliche Differenzen. Sich formierender Widerspruch gegen Treitschkes Pamphlet war in dessen Erscheinungsjahr lediglich von Seiten jüdischer Intellektueller zu beobachten; nicht alleinstehend, doch in seiner Prägnanz exemplarisch, wagte Ludwig Philippson in der Zeitschrift AZJ den kritisch-polemischen Rundumschlag, als er dessen Vorwürfe als „nichts Anderes als die alten Beschuldigungen der Brunnenvergiftung [...] in neuer Gestalt“ entlarvte. Im Folgejahr trugen zusätzlich die höhergestellten Professoren Harry Bresslau und Theodor Mommsen zur Debatte bei. Unberührt der enormen Wichtigkeit dessen, dass zeitgenössische Kritiker das Wort gegen Treitschke erhoben, muss konstatiert werden, dass besagte überwiegend derselben Assimilierungslogik ihres Gegners anhingen und nicht auf die Befreiung des Individuums von antisemitischer Anfeindung hinstrebten, sondern ebenfalls dessen Aufgehen im deutschnationalen Kollektiv zum wünschenswerten Status Quo erhoben. Insgesamt umfasste der Berliner Antisemitismusstreit nahezu drei Jahre. Neu war also, dass der Streit um die „Judenfrage“ im bürgerlichen Bildungsspektrum etabliert war. Diese Vorgehensweise kommentierte später der Sozialkritiker Walther

Boehlich treffend: „Es ging nicht darum, dass auf einmal ein Antisemit mehr da war – das spielte damals schon kaum noch eine Rolle –, sondern darum, dass der Antisemitismus mit Treitschke die Berliner Universität erobert hatte.“ Als 2008 der Harry-Bresslau-Park mitsamt der Informationstafel eingeweiht wurde, ließ sich bereits auf knapp drei Jahrzehnte gescheiterter Umbenennungsinitiativen zurückblicken: in den 80er Jahren durch die Jüdische Gemeinde zu Berlin angeregt, folgten erst zur Jahrtausendwende die ersten vergeblichen Versuche. Bis 2006 ein durchgängig grün-rotes Unternehmen, waren nachfolgend jedoch die Linien verändert; die neugewählte schwarz-grüne Bezirksregierung stellte sich nun vereint gegen jede Kritik am Straßennamen. Man überschlug sich alsdann im Raunen über Straßen als „Zeugen der Geschichte“, wohingegen deren Umbenennung einer „Entsorgung von Geschichte“ gleichkäme. Folgerichtig wurde Ende 2012 zum Instrument moralischer Rechtfertigung gegriffen, indem die Entscheidung kurzerhand auf die circa vierhundert Anwohner übertragen wurde. Wenig überraschend war, dass 78 Prozent der Beteiligten zugunsten des Antisemiten entschieden, wofür teils der Trotz, von Treitschkes Hetzschriften nichts wissen zu wollen, um sie erst recht nicht problematisieren zu müssen, teils der bloße Eigennutz, den zusätzlichen Weg zum Bürgeramt zu vermeiden, ursächlich sein dürften. Schon das Formale ist in höchstem Maße bezeichnend für die ideologische Grundlage, die ihm vorauseilt. Nicht die indirekten Opfer von Treitschkes judenfeindlichem Wüten, ebenso keine universalen Imperative nach Auschwitz sollen der Maßstab der Handelns sein, sondern die Befindlichkeiten von zufällig Auserwählten, als würde es sich hierbei um eine lokalpolitische Belanglosigkeit handeln. Das lästige Thema beiseitezuschieben, wie die vorherigen Jahre sowieso schon praktiziert, hatte endlich die erwünschte Leichtigkeit zurück und das Gedenken zu zelebrieren stand ab sofort auf der Tagesordnung. Laut der zuständigen Stadträtin handele es sich bei der Abstimmung um ein „gutes Beispiel für direkte Demokratie“. Wo sonst das Plebiszit zwecks Lynchens definierter Feinde als Mittel der Umwälzung herbeigesehnt wird, als indirekte Auslebung der selbstjustiziablen Bedürfnisse, wird es zur institutionalisierten Ignoranz, wenn jene nicht Gegenstand der Abstimmung sind. Weil der revolutionäre Geist in Deutschland fast automatisch mit der Stärkung der Gemeinschaft einhergeht, schlägt er in Stagnation um, sobald der mythische Zusammenhalt, manifestiert in der eigenen Landesgeschichte, nicht bedient wird. Die romantisierte Öffentlichkeitsmeinung jedenfalls wiegt schwer, selbst wenn sie im konkreten Fall irrelevant ist. Und so bleiben die seit mehr als hundert Jahren auf dem Straßenschild stehenden Lettern auch zukünftig für unabsehbare Zeit bestehen. Im Gegensatz zu anderen Städten wie Heidelberg, Stuttgart und Essen, wo jeweils vor geraumer Zeit der Konflikt um den Namensgeber Treitschke durch Umbenennungen gelöst wurde, klammert man sich in Karlsruhe, München und Berlin exzessiv an jenem fest. Das wiederbelebte Kollektivbewusstsein der Deutschen tilgt das politische - 13 -


Nico Hofmanns Film „Unsere Mütter, unsere Väter“ ist eine Verzerrung der Geschichte. Es geht um den kollektiven Narzissmus der Deutschen, der trotz Auschwitz fortbesteht

Individuum nachträglich aus der Geschichtsschreibung und determiniert sie. Sein antisemitischer Wahn, den Treitschke aktiv im politischen Diskurs vertrat, wird dem Zeitgeist angelastet; Vernichtungswille wird zum gesellschaftlichen Zwang und unkritische Volkstümelei zur Tugend verklärt. Dass antisemitische Normalität von jenen tagtäglich reproduziert wird, die sie affirmieren oder ignorieren, findet keine Erwähnung. Um das liebgewonnene Narrativ in die Moderne zu retten, ja vielmehr selbst als modern zu präsentieren, und die eigene Läuterung wirksam zu machen, dient die rückwirkende Identifikation mit Menschen wie Treitschke, die pars pro toto für die gefühlte deutsche Opferschaft stehen und deren Ressentiments als nebensächliche Charaktereigenschaft eines ansonsten netten Großvaters abgetan werden. Über 70 Jahre später allerdings hat man dazugelernt – die Taten werden verabscheut und gleichsam deutsch interpretiert: Wenn die Rede ist von der „Instrumentalisierung“ und „Vereinnahmung“ Treitschkes durch die Nazis, ist nicht weniger intendiert als verwerflichen von gutem Antisemitismus zu scheiden. Nicht nur die zuständige schwarz-grüne Bezirksregierung, sondern auch die tapfer für die Umbenennung plädierende sozialdemokratische Opposition und noch deutlicher die schweigende linke Szene haben sich mit der momentanen Situation offenbar angefreundet. Der Streit wurde nebensächlich im Lokalteil einer Handvoll Tageszeitungen abgehandelt. Im postmodernen Irrsinn, der immerzu mehrere Wahrheiten zulässt, ist es möglich, die Geschichte wie ein Familienerbstück zu pflegen und den Antisemiten Treitschke neben seinem Kritiker auf Schildern koexistieren zu lassen. Mit dem konkreten Sachverhalt will sich niemand mehr so recht befassen, denn die Abstraktion durch schwammige Phrasen gelingt besser, was Adorno in „Erziehung nach Auschwitz“ jenen bereits zum Vorwurf erhob, die sich „durch edles existentielles Gerede der Konfrontation mit dem Grauen entziehen“ wollen. Aus dem weitverbreiteten wie substanzlosen „Nie wieder“ folgt zumeist nicht Ursachenbekämpfung, sondern das Beliebigmachen von Antisemitismus und Vernichtungswille, als wäre das unter bloßer Unmenschlichkeit subsumiert. Ist das „Lernen aus der Vergangenheit“ erst metaphysisch überhöht, fällt der schreiende Widerspruch zwischen den Lippenbekenntnissen über „Verantwortung“ und der andauernden antisemitischen und antiamerikanischen Praxis nicht auf. Weil die Aufarbeitung nicht gegen, sondern im Namen von Deutschland stattfindet, verdient sie ihren Namen nicht. Selbstbewusst durch die öffentlichkeitswirksamen Denkmäler zog man mit dem zuverlässigen Anwohnervolk im Rücken unter den Namensstreit den Schlussstrich, der bereits im Großen endlich wieder dazu befähigte, als Gesühnter die politische Bühne zu betreten. Trotz vernünftiger Euphorie für eine Umbenennung muss gelten: allein, dass ein Namenswandel von Treitschke hypothetisch zum beruflichen Israelkritiker Grass durchaus im Rahmen des Möglichen liegt, sollte Anlass sein, jede Zustimmung für jenes Vorhaben an ideologiekritische Bedingungen zu knüpfen.

Mitfiebern, mitfühlen

F

ünf Stunden Selbstmitleid für die Jugend des Dritten Reichs“ – so lautete eine der wenigen treffenden Kritiken des ZDF-Spektakels. Doch die kam natürlich nicht aus Deutschland. Die US-amerikanische Unterhaltungsseite „A.V. Club“ fasst die Botschaft des TV-Events des Jahres 2013 weiterhin folgendermaßen zusammen: „Ja, eure Großeltern mögen Nazis gewesen sein. Aber vielleicht waren sie auch so nett wie die Leute in dem Film.“ Die New York Times ging sogar noch weiter und verglich das Kriegsdrama mit einem NS-Propagandafilm. Die deutschen Kritiken sahen hingegen ganz anders aus. In Feuilletons und Talkshows war man sich weitgehend einig: Der Film wurde als Tabubruch und großartiges Historienepos mit Aufklärungscharakter gehandelt. Das ZDF empfahl ihn für den Geschichtsunterricht; Historiker, Antisemitismusexperten, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung und Gedenkstättenleiter gaben dem Film insgesamt Bestnoten. Endlich würde man die ganze Wahrheit über den schrecklichen Krieg erfahren, die Grausamkeit würde schonungslos dargestellt und sollte Pflichtprogramm für die deutsche Familie werden. Die schaute brav zu: Der Dreiteiler erreichte im Schnitt sieben Millionen Zuschauer und hatte einen Marktanteil von 20 bis 25 Prozent. Begleitet wurde der Film von einem regelrechten Medienhype. Zwar wurde hier und da kontrovers diskutiert, aber grundsätzlich kam „Unsere Mütter, unsere Väter“ in Deutschland gut an. Der Spiegel verklärte den dreiteiligen Spielfilm zum „neuen Meilenstein deutscher Erinnerungskultur“. Dies konstatierte der Publizist Eike Geisel 1993 zur Erinnerungspolitik des vereinten Deutschland. Anlässlich der Einweihung der Neuen Wache, die „Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland Es geht um fünf Freunde, für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ die der Krieg von Helden sein soll, beschrieb er die „Rückkehr zur Norin Schweine und wieder in malität“ für das Land der Täter: „Bei Nacht, sagt man, sind alle Katzen grau, und so soll es nun Helden verwandelt auch den Toten gehen, die hinter der Losung ‚Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft‘ in einem Nebel standardisierter Trauer verschwinden.“ Irgendwie waren doch alle Opfer – ja, auch die Deutschen. Opfer der Verhältnisse, Opfer des Krieges und zuletzt natürlich Opfer des alliierten Bombenhagels. Neu aufgelegt und in Blockbuster-Format wird diese deutsche Opfertümelei in „Unsere Mütter, unsere Väter“ präsentiert, in dem es um das Schicksal fünf naiver, deutscher Freunde geht, die der Krieg von Helden in Schweine und wieder in Helden verwandelt; mit denen man fünf Stunden lang mitfiebern und mitfühlen soll, von denen man zwar angeekelt ist, aber zugleich gar nicht anders kann, als Verständnis für ihr Handeln aufzubringen. - 14 -

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Das Hauptmotiv des Films schallt als Mantra fortwährend aus dem Off: „Der Krieg wird das Schlechteste in uns hervorbringen.“ In dem Satz schwingen Widerstand und Ohnmacht mit. Man wollte eigentlich gar nicht, aber man musste, und machte sich ganz unfreiwillig schuldig. Doch von Schuld will man heute (wie damals) nicht sprechen. Schließlich habe der grausame Krieg, den doch niemand wollte, vor allem nicht die Protagonisten des Films, auch genug Opfer auf deutscher Seite gebracht. Arnulf Baring, deutscher Historiker mit einer Positionen rechtsaußen, sprach es bei „Markus Lanz“ ganz offen aus: „Ganz großartig ist ja in dem Film, dass man sieht, dass die ganze Teilung, von der wir seit Jahrzehnten reden, nämlich zwischen Opfern und Tätern, dass die nicht hinhaut. Auch die Opfer sind irgendwo Täter und die Täter sind irgendwo Opfer.“ Auch in der Talkshow „Menschen bei Maischberger“, in der man im Jahr 2015 anlässlich des 70. Jahrestages der deutschen Niederlage über „Das Erbe von 1945: Deutsche Schuld, deutsche Opfer“ diskutierte, wurden Täter und Opfer stets als eins gedacht. In der Sendung ging es dann hauptsächlich um deutsche Opfer. Sandra Maischberger und der Großteil ihrer Studiogäste waren davon überzeugt, dass es an der Zeit sei, endlich über diese zu reden. Nico Hofmann, der Regisseur von „Unsere Mütter, unsere Väter“, hatte das mit seinem Film geschafft. Nach eigener Aussage wollte er mit der „unglaublichen Schuld-Sühne-Pädagogik“ – als ob es so etwas je gegeben hätte – Schluss machen und zeigen, wie „fehlgeleitet unsere historische Aufklärungsarbeit gewirkt hat“. Eine Kollektivschuld gäbe es schließlich nicht, und so versucht der Film dann auch, diese durch seinen Fokus auf individuelle deutsche Schicksale zu dekonstruieren. „Schicksal“ meint hier tatsächlich: von jeglicher Handlungsmöglichkeit befreite Protagonistinnen und Protagonisten. So zumindest stellt es der Film dar. Der Unterton, der latent mitschwingt, ist, dass die Deutschen anders gehandelt hätten, wenn sie nur gekonnt hätten. Doch die Verhältnisse, der Krieg, haben sie zu unmenschlichen Taten gezwungen. Passend dazu schrieb Bild: „Ein Entrinnen aus der Hölle dieses Krieges gab es für die deutschen Soldaten nicht.“ Der deutsche Soldat wird hier nicht nur zum Opfer der äußeren, als unveränderlich dargestellten Verhältnisse, er wird so auch Polnische Partisanen sind nachträglich von jeder Schuld fast die einzigen, die im Film freigesprochen. Zwar werden als explizit antisemitisch auch die fünf Freunde im Laudargestellt werden fe des Dramas zu grausamen Arschlöchern. Doch es gibt immer eine trennende Linie zwischen ihnen, die stets von Gewissensbissen geplagt sind und selbst am meisten unter ihrem unmenschlichen Verhalten leiden, und jenem sadistischen SS-Offizier, der das kleine jüdische Mädchen skrupellos und mordlüstern abknallt, oder den durch und durch antisemitischen polnischen Partisanen. Letztere sind im Übrigen neben einer einfältigen Deutschen die einzigen, die als explizit antisemitisch dargestellt werden. Doch schließlich, das wurde unter anderem in Lanz‘ Gesprächsrunde deutlich, könne man heute gar nicht mehr über die deutsche Gesellschaft während des NS urteilen, denn man wisse ja nicht, wie man sich selbst verhalten hätte. Dies ist eine Absage an die Vernunft. Denn der Film hinterfragt die gesellschaftlichen Verhältnisse und Ursachen nicht, die, von der Mehrheit der Deutschen mitgetragen, zu Auschwitz führten, sondern rückt sie in den Hintergrund. Im Vordergrund steht der Krieg, in dem der Einzelne schließlich als machtlos dargestellt wird. - 16 -

Dass unter „Unseren Müttern und unseren Vätern“ ein Jude ist, macht das Vergessen perfekt, steht aber durchaus in der Tradition deutscher Erinnerungskultur. Der Jude Viktor wird von seinen nicht-jüdischen Freunden, die von jahrelanger antisemitischer Propaganda scheinbar gänzlich unberührt geblieben sind, auf offener Straße mit „Schalom“ begrüßt, außerdem kann er noch 1941 mit seiner Freundin (die sich am Ende auch noch für ihn opfert) ins Theater gehen – und natürlich überlebt er den Holocaust. Hier werden Juden, die im nationalsozialistischen Deutschland tatsächlich aus dem deutschen Kollektiv ausgeschlossen wurden, posthum zu Deutschen gemacht. Passenderweise ist Viktors Vater 1942 noch deutschnational. Die schrittweise strukturelle Ausgrenzung von Juden aus der deutschen Gesellschaft seit der Machtübergabe an Hitler 1933 wird nicht dargestellt. Hofmann ignoriert schlicht, dass die Generation von 1920 sowohl von Hitler als auch Die schrittweise strukturelle vom Antisemitismus begeistert war, dass Juden Ausgrenzung von Juden aus bereits ab 1938 nicht mehr ins Theater gehen der deutschen Gesellschaft durften und die wenigsten den Holocaust überlebt haben. Auch hier lässt sich auf Eike Geisel wird nicht dargestellt zurückkommen, der über die deutsche Erinnerungspolitik urteilte: „Nachdem sie alle umgebracht worden waren, hat man also den Juden in Deutschland das volle Bürgerrecht verliehen. Jetzt gehören sie sogar, was früher im besten Fall peinlich gewesen wäre, richtig zur Familie.“ Im Falle des Films gehört also der Jude Viktor zur deutsch-nationalen Freundesclique, mit der er sich noch in den Trümmern der deutschen Niederlage versöhnt; zumindest mit denen, die überlebt haben, allen voran mit dem vom Schwein zum Held gewordenen Wilhelm. Die Parallelisierung der Leidensgeschichten von Juden und Deutschen bleibt auch am Ende des Films ungebrochen. Hofmanns „Aufklärungsarbeit“ ist eine Verzerrung der Geschichte zugunsten deutscher Mütter und Väter. Es geht um den kollektiven Narzissmus der Deutschen, der trotz Auschwitz fortbesteht und, wie Adorno 1959 in seinem zentralen Aufsatz „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ schrieb, „darauf lauert, repariert zu werden, und nach allem greif[t], was zunächst im Bewußtsein die Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzißtischen Wünschen bringt, dann aber womöglich auch noch die Realität so modelt, daß jene Schädigung ungeschehen gemacht wird.“ Auschwitz als Symbol der Vernichtung hat längst positiv sinnstiftende Funktion, ist sozusagen deutsches Markenzeichen in Sachen Vergangenheitsbewältigung. Keine Rede eines deutschen Staatsbeamten zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, in der nicht die historische Schuld und Verantwortung der eigenen Nation bekannt und den Opfern anerkennend gedacht wird. In Reden, in Schweigeminuten, in symbolischen Akten wird bekannt, erinnert und gedacht. Doch was bleibt, ist ein Lippenbekenntnis deutscher Verantwortung für die Opfer des deutschen Terrors. Verantwortung, die damals allein dazu diente, international wieder mitspielen zu dürfen und heute, um dafür als Meister der Aufarbeitung geadelt zu werden. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass der Berliner Zoo auf sein Eingeständnis der dreckigen Nazi-Vergangenheit im vergangenen Jahr nicht etwa Entschädigungszahlungen an die Angehörigen der einstmals enteigneten jüdischen Aktionäre folgen lässt. Stattdessen zeigt man einmal mehr, wie gut man „Erinnern“ kann und stellt eine Gedenktafel auf – gleich neben der Büste, die den damaligen Nazi-Zoodirektor Lutz Heck ehrt.

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W SCHWERPUNKT Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Überlebende der Todesmärsche und Befreite. Mehrere Millionen Displaced Persons mussten sich nach Kriegsende gegen ihren Willen in Deutschland aufhalten. Zur Situation jüdischer Überlebender

Displaced Persons

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enn heute in Deutschland über das erste Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg berichtet wird, geht es zumeist um den Wiederaufbau – Schlagwort Trümmerfrauen. Damit einher geht die Erinnerung des eigenen kriegsbedingten Leides. Es laufen Dokumentationen über die Kriegsverbrecherprozesse oder die Westintegration unter Adenauer. Fast keine Beachtung finden die unzähligen Menschen, die im Zuge der bedingungslosen Kapitulation von den Alliierten befreit wurden. Im Zuge des militärischen Sieges der Anti-Hitler-Koalition am 8. Mai 1945 befanden sich in Deutschland sieben Millionen Displaced Persons (DP). Unter DP verstand man in der englischen Beamtensprache die Menschen, die unfreiwillig nach Deutschland gekommen waren. Darunter fallen über 10.000.000 Menschen – Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Überlebende der Todesmärsche und Befreite aus Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern. Mit dem Status DP ging eine bessere Betreuung, zusätzliche Verpflegung, Sachleistungen und die Unterbringung in eigens eingerichteten Auffanglagern einher. Allerdings war kurz nach der Besatzung Deutschlands die Begriffsbestimmung DP äußerst ungenau. Dies lag zum einen daran, dass für die Alliierten militärische Erwägungen im Vordergrund standen und zum anderen an der unvorstellbaren Dimension der barbarischen Verbrechen, mit denen sie sich konfrontiert sahen. Aus diesem Grund wurden auch 12.000 bis 15.0001 „deutsche Juden“, die während der Shoah außerhalb der Konzentrationslager das Dritte Reich überlebt hatten, nach der Kapitulation als „Feinde“ eingestuft.2 Jüdische Überlebende, die sich in Deutschland versteckt gehalten hatten, waren somit der deutschen post-nationalsozialistischen Bürokratie unterstellt. Durch angeordnete „Besuche“ von Konzentrationslagern und die Auseinandersetzung mit den überlebenden Juden entwickelte sich gewiss bei Deutschen ein Gefühl von Scham und individuellem Entsetzten. In diesem Zusammenhang spricht der jüdische Autor Julius Posener vom „guten Ton“, den einige der Besiegten, gegenüber den „Rückkehrern“ ansetzten.3 In der britischen Besatzungszone kam es zu offenen antisemitischen Handlungen seitens deutscher Behörden. Ein außergewöhnliches Beispiel trat im Mai 1945 in Celle auf. So wurden Amtsvertreter durch das britische Militär dazu befugt, an die aus dem DP-Camp Belsen entlassenen DP Lebensmittelkarten auszuhändigen. Die Nahrungsmittelkarten von jüdischen DP wurden von deutscher Seite pflichtbewusst mit dem Aufdruck „Jude“ versehen.4 Ein weiterer verheerender Übergriff seitens der deutschen Behörden ereignete sich Mitte des Jahres 1946 in Düsseldorf. So bekam die Synagogengemeinde Besuch von einem Düsseldorfer Steuerbeamten, der rückwirkend 3.348,46 Reichsmark pfänden wollte, da die Grundsteuer aus den Jahren 1938 bis 1945 noch ausstand. Das jüdische Gebetshaus wurde 1938 von den Nationalsozialisten zerstört. Diese Forderung mutet grotesk an, bedenkt man, dass im Etat der Provinz Westfalen eine Million Reichsmark für die Hinterbliebenen der Waffen-SS vorgesehen waren.5 Zudem erfolgte die Unterteilung der DP nach Nationalitäten. Dieser Umstand führte dazu, dass Shoahüberlebende in Baracken auf nichtjüdische DP trafen, die mit den Nationalsozialisten kollaboriert hatten. Die meisten jüdischen DP wollten in die amerikanische Besatzungszone, doch auch hier kam es zu offenen antisemitischen Handlungen seitens deutscher Bürokraten.6 Der Nationalsozialismus lebte auch in der deutschen Bürokratie nach, vor allem, wenn es sich um Juden handelte – sofern die Deutschen nicht durch Interventionen seitens der Besatzer daran gehindert wurden. In das Land der Täter zurückzukehren, geschah nicht unbedingt aufgrund freiwilliger Natur. Zudem sahen sich Juden, die Ende des Zweiten Weltkrieges entweder vor den Deutschen weiter Richtung Osten geflohen waren oder in Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern interniert wurden, antisemitischen Pogromen in ihren Heimatländern ausgesetzt.7 Aufgrund der sehr schlechten physischen und psychischen Verfassung verstarben tausende Überlebende noch nach ihrer Befreiung in den US-Auffanglagern trotz medizinischer Hilfe.8 Die amerikanischen Truppen errichteten notdürftige Lager, Krankenstationen und andere Wohnunterkünfte. Da aber für diese Aufgaben viel Personal benötigt wurde, mussten auch nicht adäquat Ausgebildete im medizinischen Bereich Aufgaben übernehmen. Deshalb wurden auch deutsche Krankenschwestern und Ärzte eingeteilt, um überlebende DP zu betreuen. Mit Blick auf die jüngste Vergangenheit ist es selbstverständlich, dass es auf Seiten der Holocaustüberlebenden eine reservierte Meinung gegenüber deutschen Ärzten gab.9 Die katastrophalen Lagerverhältnisse, die die Zuversicht und Moral der Juden auf ein Minimum sinken ließen, wurden den obersten Kommandierenden erst bewusst, - 19 -


nachdem Earl G. Harrison im Auftrag der amerikanischen Regierung eine Inspektionstour durch 30 DP-Lager in Bayern unternahm.10 Am 24. August 1945 legte Harrison seinen Report in Washington General Dwight D. Eisenhower vor. Der Untersuchungsbericht wurde unter dem Namen Harrison Report11 bekannt. Harrison konstatierte, dass die amerikanischen Truppen ungenügend auf die katastrophalen Zustände reagiert hätten, ein Umstand der sicherlich auch aus der Unfassbarkeit des Grauens der Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager resultierte.12 Ein Aspekt, den der Autor herausfiltert und der für die Survivors von immanenter Wichtigkeit war, bestand darin, eine zentrale Stelle zu errichten, um Familien – insofern diese nicht umgebracht worden waren – schneller wieder zusammenzuführen. Der Bericht ist hinsichtlich der Lebensmittellage der DP äußerst ausgewogen und differenziert ausgearbeitet. Harrison war bewusst, dass es in einigen Teilen Deutschlands einen Lebensmittelengpass gab. Trotzdem wies Juden befanden sich in einem der amerikanische Inspekteur darauf hin, dass die wesentlich schlechteren Zustand, Überlebenden der Shoah seit mehreren Jahren an als nicht-jüdische Menschen Unterernährung litten und sich ihre Lebensmittelrationen in dieser Zeit auf 2000 Kalorien beliefen der gleichen Nationalität – laut Harrison bestehend aus Kaffee und 1250 „calories of a black, wet and extremely unappetizing bread“13. Die Lebensmittelversorgung eines Großteils der deutschen Bevölkerung wären dagegen „varied and palatable“14 (übersetzt „abwechslungsreich und schmackhaft“), vor allen in ländlichen Regionen. Von primärer Wichtigkeit war es für Harrison, den Status der jüdischen DP als solchen anzuerkennen und aus der nationalen Kategorie herauszuheben. Dies wurde folgerichtig damit begründet, dass Juden sich in einem wesentlich schlechteren psychischen und physischen Zustand befanden, als nicht-jüdische Menschen der gleichen Nationalität. Dieser Sonderstatus wurde außerdem dadurch gerechtfertigt, dass deutsche Juden als „Feinde“ eingestuft wurden. Auch das amerikanische Personal wurde nicht der Kritik enthoben. So monierte Harrison, dass das Militär die letzte Entscheidungsinstanz sei. Auch die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) hatte mit massiven Defiziten, wie zum Beispiel Sprachproblemen, umzugehen.15 Ein weiterer Vorwurf wurde an der Praxis der bisherigen amerikanischen Besatzungspolitik laut. Harrison befürchtete, dass das Weiterbestehen der Zustände in den Lagern den Deutschen signalisieren könnte, dass die Alliierten insgeheim die „Nazi-Politik“ duldeten. Er war auch davon überzeugt, dass man den Deutschen aufzeigen müsse, „that they have suffered a total military defeat and that they cannot escape responsibility for what they have brought upon themselves”.16 Abschließend beschäftigte sich Harrison mit der Auswanderung der jüdischen Menschen. Er stellte fest, dass keine Überlebenden der Shoah gegen ihren Willen in Deutschland bleiben oder in ihre Heimatländer repatriiert werden sollten. Der im Anschluss an diesen Report von Eisenhower berufene Major Judah Nadich als Berater für jüdische Angelegenheiten ging davon aus, dass das Fraternisierungsverbot hinsichtlich amerikanisch-deutscher Begegnungen undurchführbar war. Insbesondere Soldaten niederer Militärränge wurden von Deutschen beeinflusst.17 Aus den Folgen des Harrison-Berichts und die mit ihm verbundene Hoffnung entweder in die USA oder nach Palästina auszuwandern, resultierte, dass die meisten Überlebenden der Shoah in die amerikanische Besatzungszone wollten. So entstanden in der US-Zone 500 assembly centers, beispielsweise in Bogenhausen, Feldafing, Föhrenwald, Pocking oder Landsberg in Bayern, Zeilsheim, Wetzlar und Eschwege in Hessen. In München, Bogenhausen ließen sich Hilfsorganisationen, die UNRRA und das American Jewish Joint Distribution Committee (Joint), nieder. Jüdische DP, nach ihrer Selbstbezeichnung She’arit Hapleyta (übersetzt „der Rest, der entkommen ist“), errichteten in Selbstverwaltung Gesundheitsämter für die Betreuung kranker Menschen und organisierten außerdem Weiterbildungskurse für Pflegepersonal und Ärzte, die während der Herrschaft der Nationalsozialisten unter einem mehrjährigen Berufsverbot gestanden hatten. Das Kulturwesen bildete sich durch die Organisation von Schulen, Bibliotheken, Zeitungen und Musik- oder Theatergruppen neu heraus. Das Rabbinat unterstützte die Bestrebungen der religiösen Gemeindemitglieder mit dem Aufbau von Synagogen und der Bereitstellung von Gebetsbüchern. Ein eigens geschaffenes „Arbeitsamt“ vermittelte nicht nur Arbeit innerhalb der bestehenden DP-Center, sondern darüber hinaus auch Seminare, in denen Ju- 20 -

den, die nach Palästina auswandern wollten, in landwirtschaftlichen Themen unterrichtet wurden. Eine eingerichtete historische Kommission sammelte Aussagen von Überlebenden der Shoah und Dokumente über die deutschen Verbrechen. Es wurde eine Stelle, die sich der Zusammenführung von Familien und Hinterbliebenen widmete, gegründet.18 Die Dokumentation der deutschen Verbrechen war in den Anfangsjahren stark an die Person Philipp Auerbach gebunden. Nach der Befreiung des KZs Buchenwald durch die Amerikaner am 11. April 1945 übernahm Auerbach in der britischen Besatzungszone politische Ämter. Er trat in die SPD ein und war in Düsseldorf bei der Landesregierung als Oberregierungsrat in der Abteilung für politisch, rassisch und religiös Verfolgte tätig. Seine Aufmerksamkeit richtete sich dabei darauf, die Vergangenheit von Nationalsozialisten aufzudecken. Dabei stieß er nicht nur auf Gegenwehr der deutschen Bevölkerung, der die Schlussstrichdebatte hinsichtlich der Aufarbeitung des Holocausts nicht schnell genug gehen konnte, sondern auch bei den Briten. Nach dem Vorwurf der Kompetenzüberschreitung wurde Auerbach im Januar 1946 entlassenen. Die politische Situation in Deutschland der Jahre 1948/49 war stark geprägt von jener Schlussstrichdebatte. In ihrem Kern lautete die öffentliche Forderung: Schluss mit Entnazifizierung, Schluss mit Enteignung, Schluss mit Entrechtung – in der Gesamtforderung Schluss mit dem „Staatsbürger zweiter Klasse“19. Ab 1948 wurde Druck auf alliierte Kommissare und Politiker ausgeübt, Kriegsgefangene und Kriegsverbrecher frei zu lassen. Konrad Adenauer setzte sich für Umwandlungen der Todesurteile in Freiheitsstrafen ein. Die amerikanische Urteilsfindung wurde vielfach als Willkür denunziert. Es wurde die Forderung erhoben, DP der deutschen Gerichtsbarkeit wieder zu unterstellen, da diese in besonderem Maße am Schwarzmarkthandel beteiligt wären. Immobilen, die zwischen 1933 und 1945 im Zuge der Arisierung geraubt worden sind, wurden nur in geringem Umfang an ihre Besitzer zurückgegeben – sofern diese nicht ermordet worden waren. Dies wurde als „Enteignung“ zurückgewiesen. Überhaupt stellten die Deutschen ihr Leid dem der Juden gleich. So wurden Internierungen in Arbeits-, Konzentrationsund Vernichtungslagern mit Kriegsgefangenschaft gleichgesetzt. Die Deutschen setzten Am 14. August 1949 wurden die ersten Wahlen in Internierungen in Konzentrationsden drei Westzonen abgehalten. Im Vorfeld dieund Vernichtungslagern mit ser Wahl kam es in Heidelberg am 31. Juli 1949 zur ersten Konferenz von Vertretern der jüdischen Kriegsgefangenschaft gleich Gemeinden Deutschlands seit der Weimarer Republik. Es war eine große Anzahl internationaler jüdischer Interessengruppen anwesend, so wie der zukünftige amerikanische Hochkommissar John Jay McCloy. Der Kongress beschäftigte sich mit der Zukunft der Juden in Deutschland. Die Vertreter jüdischer DP hielten an ihrem Standpunkt, dass jüdisches Leben im post-nationalsozialistischen Deutschland nicht erstrebenswert sei, fest. Die Vertreter von Juden, die in Deutschland geboren worden waren, waren der Auffassung in Deutschland bleiben zu wollen. Einerseits wäre die Auslöschung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland tragisch und andererseits, so die weitere Argumentation, könnte dies einen beunruhigenden Präzedenzfall schaffen. Weitere internationale Organisationen standen dem Verbleib in Deutschland ähnlich ablehnend wie ein Großteil der DP gegenüber. John McCloy war ebenfalls der Auffassung, dass Juden in Deutschland bleiben sollten, sofern sie dies wollten. Er ging einen Schritt weiter, indem er den Verbleib als Barometer für die moralische Rehabilitierung der Deutschen ansah und sprach in diesem Zusammenhang von einer „Feuerprobe der deutschen Demokratie“. Am 2. August 1949 kommentierte der Journalist Wilhelm E. Süskind in der Süddeutschen Zeitung die Haltung McCloys. In dem Kommentar, der nicht ohne antisemitische Vorurteile auskam, ging der Autor unter der Überschrift „Judenfrage als Prüfstein“ auf die Rede des US-Militärgouverneurs ein. Nachdem Süskind im ersten Abschnitt erörterte, was er von den Amerikanern erwartete – nämlich nicht weniger als den wirtschaftlichen Aufbau der Bonner Republik, die Mithilfe der „Schatzschiffe mit den Marshall-Plan-Zufuhren möglichst zahl- und sinnreich in unsere Häfen zu lenken“ sei –, ging er im Weiteren auf die Judenfrage ein. Das Schweigen seitens der Deutschen geschehe aus „Höflichkeit“ und „Verlegenheit“, was durchaus eher das Bild krimineller Juden förderte. Ohnehin war Süskind bekannt, dass die „Geschäf- 21 -


temacher“ dies nur aus dem Grund der Auswanderung täten und „nicht um hier zu bleiben und die Plutokratie von morgen zu bilden“. Die rechtliche Situation der sich in Deutschland befindenden Juden sah der Kommentator weitestgehend positiv. So hätten sie alle die „bürgerlichen Rechte, bekämen Wiedergutmachung und seien bestens gebettet, auch werde Heine an Schulen gelesen und Nathan der Weise auf allen Theatern gespielt“. Dem „einfachen Mann in Deutschland“ bescheinigt er, dass ein „echter Antisemitismus tatsächlich genau so wenig besteht wie vor vierzig, vor zwanzig oder (unter uns in Bayern gesagt!) vor zehn Jahren“. Eine „ewige Mitläuferkaste“ bemühe sich, meistens mit Verweis auf die Möhlstraße und Schwarzmarktaktivitäten der Juden, darum, „einen Sündenbock fürs eigene liebe Unglück zu suchen“. „Wirkliche Antisemiten“ seien sie ebenfalls nicht, die „wirklichen Antisemiten sitzen unerkannt hinter ihnen“. Für die Demokratie in Deutschland sei die Judenfrage an eine „besondere Rücksicht und Zartheit gegenüber den Juden“ gekoppelt. Dieses „Urteil“ dürfte nicht bestimmt werden „von der Fehlern einzelner Juden und auch nicht von den Fehlern, die das ganze Volk in seiner Durchgezüchtetheit besitzen mag“. Die Ungeheuerlichkeit, Juden hätten zum Antisemitismus eine gehörige Portion selbst beigesteuert, ist schwerlich zu überlesen. Zum Ende verfällt der Text in eine philosemitische Argumentation. So werden die beiden „vorzüglichsten jüdischen Begabungen“ angeführt: So spricht er vom „Qualitätsgefühl[...], in materieller und in geistiger Hinsicht“ und von „ihrer unversieglichen Lust am Individuellen, Originellen und Differenzierten“. Der Philosemitismus Süskinds funktioniert als Schuldabwehr hinsichtlich der Shoah: „Wir sind ärmer gewesen ohne sie, und wir werden ärmer sein, wenn wir sie austreiben“. Auch die Deutschen seien Opfer des Vernichtungsantisemitismus. Reaktionen auf Krankenhauspersonal wurde diesen Artikel wurden in zahlreichen Leserbriefen entlassen, da es Überlebende geäußert. Stellvertretend veröffentlichte die SZ am der Shoah nicht mit der nötigen 9. August 1949 vier dieser Briefe, die als „besonDringlichkeit behandelte ders charakteristisch“ eingestuft wurden. Unter dem Synonym „Adolf Bleibtreu“, wohnhaft in der „Palästrinastraße 33“, richtete sich einer der Leserbriefe direkt an die Juden: „Geht doch nach Amerika, aber dort können sie Euch auch nicht gebrauchen, sie haben genug von diesen Blutsaugern. Ich bin beim Ami beschäftigt und da haben verschiedene schon gesagt, daß sie uns alles verzeihen, nur das eine nicht, und das ist: daß wir nicht alle vergast haben, denn jetzt beglücken sie Amerika ...“. Am folgenden Tag versammelten sich vornehmlich jüdische DP in der Möhlstraße zu einer Spontandemonstration. Ziel war es, ein Protestschreiben, gerichtet an die SZ mit Sitz im naheliegenden Verlagsgebäude, abzugeben. Von der Polizei wurden die Demonstranten an ihrem Vorhaben gehindert und die Auflösung der Kundgebung angeordnet. Bei der sich anbahnenden Auseinandersetzung zwischen jüdischen DP und der Polizei kam es zu Steinwürfen. Die deutschen Ordnungshüter griffen zu Gummiknüppeln und Schusswaffen, um, wie es später hieß, die Ordnung wiederherzustellen. Das Entsetzen auf Seiten der Überlebenden der Shoah, auch wenn es keine Schwerverletzten gab, ist nachvollziehbar. Erst nachdem die US-Militärpolizei eingriff, konnte die Situation aufgelöst werden. „Jüdische Demonstranten gegen die SZ“ lautete die Titelzeile am 11. August unter der von den Vorkommnissen berichtet wurde. Dabei stellte die Zeitung ihre Absichten als die Wahrung jüdischer Interessen und die Veröffentlichung der Leserbriefe als eine Handlung im Sinne der Aufklärung dar. Dass die SZ unkommentiert einen dermaßen antisemitischen Brief abgedruckt hat, war nicht Gegenstand des Berichts. Wie im Leitartikel wurden Juden, wenn es überhaupt unter Deutschen Antisemitismus geben sollte, für diesen verantwortlich gemacht. „Sollte der Antisemitismus – eine, wie wir nach wie vor glauben, im Grunde durchaus unbayerische Erscheinung – neuen Auftrieb erhalten, so wird man sich bei den Veranstaltern des gestrigen Tumults dafür bedanken dürfen“. Nach wiederholten Rechtfertigungsversuchen beendete schließlich der Mitherausgeber Werner Friedmann die „Affäre“. Zwar kommt auch dieser Kommentar nicht ohne Ambivalenzen aus, doch kritisierte Friedmann die kommentarlose Veröffentlichung, die er „auf das Schärfste mißbilligte und für unklug hielt“ (SZ, 16.8.49). Die zuvor eingereichte Klage wegen Aufhetzung der Öffentlichkeit durch den damaligen Präsidenten der israelitischen Kultusgemeinde Auerbach wurde abgewiesen. Deutsche Politiker äußerten sich über die komplette Zeit der Affäre nicht. Offfene antisemitische Handlungen seitens deutscher Behörden oder Einzelperso- 22 -

nen waren in den ersten Jahren nach dem Kriegsende keine Seltenheit. Zumeist traten diese in Verbindungen mit jüdischen Displaced Persons auf. Juden wurden von deutschen Behörden diskriminiert. Krankenhauspersonal musste des Dienstes enthoben werden, da Überlebende der Shoah nicht mit der nötigen Dringlichkeit behandelt wurden. Nur allzu heftige antisemitische Ausschreitungen wurden von deutschen Politikern öffentlich kritisiert – häufig aber schlichtweg bagatellisiert.20 Eine Aufarbeitung und Schuldannahme der begangenen Verbrechen blieb aus. Dies hätte bedeutet, den Vernichtungsantisemitismus und dessen gesellschaftliche Relevanz für die nationalsozialistische Gemeinschaft anzuerkennen. Bei der Tätergeneration bedeutete die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht, „das Vergangene im Ernst [zu] verarbeite[n], seinen Bann [zu] breche[n] durch helles Bewusstsein. Sondern man will einen Schlußstrich ziehen und womöglich es aus der Erinnerung wegwischen.“21 Diese Bewältigungsstrategie scheint einherzugehen mit einer Unbarmherzigkeit gegenüber den Überlebenden. Die Abkehr von der eigenen Vergangenheit über Verdrängung, Relativierung oder Ablehnung werden gleichermaßen auch die Leidensgefühle derjenigen abgewehrt, die die Barbarei überlebt hatten. Das Skandalisieren – obwohl fraglich ist, ob dies der richtige Begriff ist – blieb entweder jüdischen DP oder der Besatzungsmacht vorenthalten. Für die Deutschen bestand die Antwort darauf in der Zurückweisung der Betroffenen. Die Angriffe auf Auerbach oder die Abwehrreaktionen der Süddeutschen Zeitung bzw. Süskinds können hierfür stellvertretend gesehen werden. „Wo Rauch ist da auch Feuer“22, konstatierte Adorno in den „Studien zum autoritären Charakter“ zu diesem dubiosen Rationalisierungsversuch. Er kulminiert in der erhobenen Behauptung, die Juden seien selbst am Antisemitismus schuld. Selbst nach der Unabhängigkeit Israels am 14. Mai 1948 und dem Umdenken der USA hinsichtlich der Aufnahme von DP änderte sich an der generellen Ablehnung und Schlussstrich-Forderung wenig. So erschienen im Nachrichtenmagazin Spiegel zwischen dem 6. Juli und dem 10. August insgesamt sechs Artikel mit dem Übertitel „Am Caffeehandel betheiligt: Deutschlands Schmuggler“.23 Im Kontext der Schwarzmarktaktivität erschienen jüdische DP als die „Drahtzieher“, „Hintermänner“, „Anstifter“.24 Im Sinn einer antisemitischen Verschwörung wurde von einer unsichtbaren Macht schwadroniert, wenn die Autoren vom „[i]nneren Ring der Möhlstraße“25 oder „[i]nneren Ring von Bergen-Belzen“26 berichteten. Am Schwarzmarkt beteiligte Deutsche wurden hier als Kleinkriminelle dargestellt, die die Dimensionen des Handels nicht einschätzen hätten können und innerhalb der Organisation keine Verantwortung getragen hätten.

[1] Heredia, David: Zum Judenbild nach Auschwitz. Die frühe Berichterstattung, in der Zeitung: Der Spiegel, Band 6, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2008, S. 28. Insgesamt überlebten 30000 deutsche Juden die Shoah „Of 500000 Jews in Germany in 1933, only 30000 could be found in 1949.“; vgl. Dinnerstein 1982, S. 24. [2] Als „Feinde“ eingestuft zu werden bedeutete eine schlechtere Verpflegung zu erhalten, in Arbeitsbrigaden eingeteilt zu werden; vgl. Fassel/Herzog/Tobias 2012, S. 13. [3] Posener, Julius: In Deutschland. 1945-1946, Jerusalem 1947, S. 109f. Dass aber häufig diese Hilfsbereitschaft in pietätlosen Aktionen sich äußerte, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Es hat, um es vorsichtig auszudrücken, wenig mit Empathie gegenüber den Hinterbliebenen zu tun, wenn mit „alten Nazi-Sammelbüchsen“ Spenden gesammelt wurden. Auch die zurückkehrenden Juden mit „Blumensträußen zu empfangen“ mutet etwas bigott an; vgl. Posener 1947, S. 110. [4] Jacobmeyer 1985, S. 44. [5] Stern 1991, S. 102. [6] Mitte des Jahres 1946 wurden Beamte der Meldebehörde vor Gericht gestellt, nachdem sie Dokumente jüdischer Menschen mit den Namenszusatz Sara oder Israel versehen hatten. Darüber hinaus wurde in der Rubrik „Nationalität“ „Jude“ eingetragen. Vgl. Stern 1991, S. 102. [7] So wurden in Polen zwischen November 1944 und Oktober 1945 351 (heimgekehrte) Juden ermordet; vgl. Fassel/Herzog/Tobias 2012, S. 15. [8] „Die Sterblichkeitsrate betrug in den ersten Wochen bis zu 20 Prozent; teilweise waren die Insassen dem emotionalen Schock ihrer Befreiung durch alliierte Truppen nicht gewachsen.“ Jacobmeyer 1985, S. 43. [9] Es muss darauf hingewiesen werden, dass es in der britischen Besatzungszone ein (gängiges) Verfahren war, britische Armeeärzte und Wehrmachtpersonal, sogar deutsche Ärzte und Krankenschwestern in DP-Krankenhäusern zusammen arbeiten zulassen – in der amerikanischen Besatzungszone war dies bis auf die erste Hälfte des Jahres 1945 undenkbar; vgl. Jacobmeyer 1985, S. 44-45. [10] Dinnerstein 1982, S. 39-41; So stellte Harrison erschreckenderweise fest, dass einige Lager immer noch über Stacheldraht, Wachtürme und bewaffnete Soldaten verfügten. Durch den Kleidungsnotstand mussten DP teilweise immer noch ihre gestreifte KZ-Kleidung oder sogar SS-Uniformen tragen; vgl. Harrison, Earl G.: The Plight of the Displaced Jews in Europe. Report to President Truman, Washington 1945 oder http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Holocaust/truman_on_harrison. html, abgerufen am 26.2.2016. [11] Ebd. [12] So geht auch Norbert Frei von Folgendem aus: Selbst „die militärische und politische Führung, die doch in anderem Maße als die Truppen und die amerikanische Öffentlichkeit über entsprechende Vorinformationen verfügte, […] war auf die Entdeckung im Herzen Deutschlands nicht wirklich gefasst. Weitgehend unerkannt blieb zunächst besonders die Spezifik der NS-Judenverfolgung […]. Statt konkret von den verfolgten rassischen, politischen und sozialen Gruppen war meist nur allgemein von >Nazi prisoners< die Rede.“ „[...]; nur langsam kristallisierte sich die Realität des Genozids an den europäischen Juden heraus.“; vgl. Frei, Norbert: Wir waren blind, ungläubig und langsam. Buchenwald, Dachau und die amerikanischen Medien im Frühjahr 1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3/35, München 1987, S. 399 f. oder http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1987_3_3_frei.pdf, abgerufen am 26.2.2016. [13] http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Holocaust/truman_on_harrison.html, abgerufen am 26.3.2016. [14] http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Holocaust/truman_on_harrison.html, abgerufen am 26.3.2016. [15] Dinnerstein arbeitet dieses paradoxe Problem sehr genau aus. Es kam leider mit dem UNRRA Personal, das nach Meinung Dinnerstein die Situation der überlebenden Juden am besten hätte einschätzen können, zu Sprachproblemen. Diese Mitarbeiter kamen aus Frankreich, Holland, Norwegen oder Polen. Amerikanische Mitarbeiter hatten keine Sprachprobleme, waren aber auf die Aufgaben bis zu diesem Zeitpunkt nicht hinreichend vorbereitet. Außerdem wurden bis Dezember 1945 mehr als 1000 Mitarbeiter aufgrund von eklatanten Verfehlungen entlassen; vgl. Dinnerstein 1982, S. 12-13. [16] http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Holocaust/truman_on_harrison. html, abgerufen am 26.3.2016. [17] Nadich, Judah: Eisenhower and the Jews, New York 1953, S. 70 bzw. http://www.archive.org/stream/eisenhowerjews00nadi#page/n9/ mode/2uup, abgerufen am 26.2.2016. [18] Dewell Giere 1993; Fassel/Peter/Herzog/Markwart/Tobias, Jim G. (Hrsg.): Nach der Shoa. Jüdische Displaced Persons in Bayern - Schwaben 1945-1951, Konstanz 2012, S. 17-19. [19] Die Freie Demokratische Partei (FDP) trat beispielsweise mit diesen Parolen zur ersten Bundestagswahl 1949 an. [20] Vom 6. auf den 7.2.1948 kam es zu mehreren gewaltsamen Übergriffen seitens deutscher Rowdys. Es wurden Geschäfte, Restaurants und Gebäude der JOINT zerstört. Politiker bezeichneten die Ausschreitungen als „Kinderspiele“, da die Täter zwischen 8 und 18 Jahre waren; vgl. Wetzel 1987, S. 347. [21] Adorno 1963, S. 125. [22] Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter, 1973, Frankfurt a.M., S. 140. [23] Schreibweise nach dem Spiegel, die Serie ist abrufbar im Onlinearchiv des Spiegels, vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1950.html, abgerufen am 26.03.2016. Es handelt sich um die Exemplare 27/1950 bis 32/1950. [24] Ebd., abgerufen am 26.02.2016. [25] Ebd., S. 22, Sp. 1, abgerufen am 26.02.2016. [26] Ebd., S. 22, Sp. 1, abgerufen am 26.02.2016.

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Kollaboration und Opfertum

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ie Befreiung Hannovers begann am 10. April mit der Befreiung des KZ Ahlem durch amerikanische Soldaten. Gegen 21 Uhr fiel der letzte deutsche Widerstand an einer Flakstellung in Langenhagen. Aufgrund des Einmarsches der Alliierten und der drohenden Niederlage wurden unter dem Befehl der Gestapo noch am 6. April 1945 154 zumeist sowjetische Zwangsarbeiter aus dem KZ Ahlem durch die Stadt geführt und schließlich auf dem Stadtfriedhof Seelhorst hingerichtet. Unmittelbar nach dem Einmarsch der US-Truppen erreichte die britische Armee Hannover und die Stadt wurde zur britischen Besatzungszone. Die Besatzung Hannovers bedeutete für die überlebenden Zwangsarbeiter zunächst eines: Befreiung. Von den etwa 60.000 Zwangsarbeitern in Hannover stammten viele aus dem ukrainischen Teil der damaligen UdSSR, die nach der Befreiung zu Displaced Persons (DP) wurden. Ein weiterer, nicht unerheblicher Teil der ukrainischen DP in den westlichen Besatzungszonen, bestand aus Personen, die aus politischen Gründen und Angst vor Verfolgung durch die sowjetischen Autoritäten oder die Rote Armee zusammen mit der deutschen Wehrmacht zurückwichen. Schätzungen zufolge gehörten von den rund 200.000 verbliebenden ukrainischen DP in den westlichen Besatzungszonen 30 bis 40 Prozent dieser Gruppe an.1 Von anderen Nationalgruppen unterschieden sich die Ukrainer dadurch, dass sich viele von ihnen nicht in eine nationalstaatliche Gruppe einteilen lassen wollten und auf ihre Eigenständigkeit pochten, aber häufig dennoch als polnische oder sowjetische DP registriert wurden. Maßgeblich für die Schaffung eigener DP-Camps für Ukrainer waren das Beharren auf Eigenständigkeit und die Furcht vieler Ukrainer vor sowjetischen Repressalien, aufgrund zahlreicher Kollaborationsvorwürfe, welche in Widerstand gegen die Zwangsrepatriierung2 kulmunierte. Die Rolle der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges ist gekennzeichnet durch den nationalen Antagonismus zwischen Polen und der Ukraine, dem Widerstand gegen die Sowjetunion und durch partielle Kollaboration mit den Deutschen. - 24 -

Wie ukrainische Nationalisten den Alltag des DP-Camps Lysenko in Hannover prägten

Mit der Annexion der Ukraine fanden die deutschen Truppen zunächst wohlwollende Unterstützer gegen die Rote Armee. Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) unter der Führung von Stepan Bandera und Jaroslaw Stezko proklamierte unmittelbar nach der Besetzung einen eigenständigen ukrainischen Staat und bat sich als potentieller Bündnispartner den Nationalsozialisten an. Bereits der Überfall auf Polen wurde von ukrainischen Nationalisten der OUN als möglichen Anfang einer „Befreiung“ gedeutet, verbunden mit der Hoffnung auf staatliche Eigenständigkeit.3 Die OUN war mit zwei Bataillonen innerhalb der Wehrmacht vertreten, in Galizien wurde eine SS-Division gegründet und im Zuge der Kollaboration waren viele Ukrainer auch an Vernichtungsaktion gegenüber der jüdischen Bevölkerung beteiligt. Die OUN spaltete sich 1940 in eine von Bandera geführte Gruppe (OUN-B) und in eine Gruppierung unter dem Kommando des ukrainischen Offiziers Andrij Melnyk (OUN-M). In Lemberg wurde 1941 schließlich die Unabhängigkeit der Ukraine von Jaroslaw Stezko ausgerufen, was jedoch den nationalsozialistischen Plänen zuwider lief: Stezko und Bandera wurden als Anführer der OUN-B verhaftet und in die Konzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen gebracht, in denen beide als Ehrenhäftlinge einen Sonderstatus erhielten und bevorzugt behandelt wurden. Vor allem im Westen der Ukraine, innerhalb der Swoboda und in der Fanszene des lembergischen Fußballvereins Karpaty Lwiw, wird Bandera heute noch als Nationalheld gefeiert. Die Ostukraine, Russland und Israel verurteilen ihn dagegen als Kriegsverbrecher.4 Nach der Befreiung 1945 organisierten die Ukrainer in zahlreichen Camps eine „Zentralvertretung der Ukrainer in Deutschland“, welche von Vertretern der OUN-B geführt wurde. Maßgeblich beteiligt an der Selbstorganisation war auch das Ukrainische Rote Kreuz (URK), das sich auch in Hannover gründete und unter anderem gefälschte Ausweise für Ukrainer ausstellte. Das URK war den Briten anfangs eine willkommene Hilfe, da es die medizinische Versorgung der DP während der Frühphase des Camps Lysenko übernahm. Dem URK wird eine große Nähe zur OUN, speziell der Bandera-Organisation, nachgesagt. Benannt nach dem ukrainischen Komponisten Mykola Lysenko, wuchs das hannoversche DP-Camp zum größten eigenständigen ukrainischen Camp in der britischen Zone heran. Standort des von 1945 bis 1950 bestehenden Camps war ein ehemaliger Kasernenkomplex im Stadtteil Vahrenwald-List, zwischen dem Nordring und der Möckernstraße. Während des Nationalsozialismus wurden die Gebäude auf dem 21.000 qm großen Gelände als Fernmeldebataillon, Reitschule und als tiermedizinische Akademie genutzt, zudem befanden sich dort ein Krankenhaus und private Wohnungen. Die britische Armee versammelte dort im Juni 1945 zunächst 100 ukrainische DP und beauftrage die UNRRA5 mit der Organisation des Camps, welche die Zusammenarbeit mit dem URK forcierte. Da die Gründung des Camps weitestgehend auf die Eigeninitiative der ukrainischen Selbsthilfeorganisationen zurückzuführen war, ließen die Briten den DP freie Hand bei der Errichtung, organisierten aber die Lebensmittelversorgung. Als erste eigene Lagerinstitution wurde noch vor der Übernahme durch die UNRRA eine eigene Camp-Polizei aufgestellt, die anfänglich für die Logistik und Organisation innerhalb des Camps verantwortlich war. Das Gefühl der Selbstorganisation und die zentrale Lage mitten in Hannover eröffneten für die ukrainischen DP Arbeitsmöglichkeiten und boten bessere Integrationschancen als andere DP-Camps, so dass das Camp ab Ende der 1940er Jahre für den dauerhaften Aufenthalt vorgesehen wurde. Durch die Versorgung im Camp bestand für viele DP aber nicht zwangsläufig die Notwendigkeit zur Arbeit, zudem war der Wunsch nach Auswanderung stärker als jener in Deutschland zu bleiben. Bereits im Sommer 1945 erreichte das Camp eine Belegungsstärke von 700 Menschen, später waren es 4.300 DP. Die Verantwortung für das Camp wurde anfänglich in die Hände von Konstantyn Podil’syj gelegt, der dort später als erster Lagerkommandant fungierte, für viele Lysenko-Bewohner als einer der Köpfe der OUN-M galt und von der Sowjetunion der Kollaboration mit den Deutschen beschuldigt wurde. Sein Nachfolger wurde Tedosij Haran, ebenfalls Mitglied der OUN-M, der das Camp teils mit diktatorischen Mitteln führte.6 Dieser Aspekt spiegelte sich auch in der Krise des Camps wieder, welche sich in konfessionellen Konflikten zwischen Ost- und Westukrainern manifestierte. Unter der Führung von Podil’syj und Haran konstituierte sich die Forderung nach einer Separierung von orthodoxen und griechisch-katholischen Ukrainern, da der Minderheit der katholischen Galizier eine Terrorherrschaft innerhalb des Camps vorgeworfen wurde. Maßgeblich angeführt - 25 -


wurde der vermeintliche Terror von „Sicherheitskräften“, die der westukrainischen OUN-B angehörten und deren Machtausübung auch aus anderen ukrainischen DP-Camps geschildert wurde. Nach Angaben des US-Geheimdienstes waren 80 Prozent der DP aus der Westukraine Bandera-Anhänger. Den Banderivci der OUN ging es insbesondere um die Verbreitung ihrer Ideologie, die sich in der Stärkung des Nationalbewusstseins und dem Antikommunismus gegenüber der Sowjetunion manifestierte. Diese Politik wurde stark symbolisch aufgeladen und äußerte sich häufig in Gedenkfeiern für Märtyrer des ukrainischen Befreiungskampfes, die auch im hannoverschen Camp abgehalten wurde. Die Thematisierung der unmittelbaren Vergangenheit richtete sich strikt am nationalistischen Narrativ des anti-kommunistischen Freiheitskampfes aus: „Kollaboration blieb ein dauerhaftes Tabuthema, in der Erinnerung an den Krieg existierten Ukrainer nur als Opfer der ‚schrecklichen Katastrophe‘, als Opfer der Sowjetunion oder als heroische Freiheitskämpfer.“7 Angesichts der Beteiligung ukrainischer Truppen beim Überfall auf die Sowjetunion, den OUN-Bataillonen der Wehrmacht und der SS-Division Galizien kann dies nur als bewusster Geschichtsrevisionismus gesehen werden. Die Schicksale und das Leid der Zwangsarbeiter, die ihre Befreiung enthusiastisch feierten, fanden hingegen keine interne oder öffentliche Reflexion. Das ukrainische Narrativ unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte eines mit der deutschen Gemein: Der eigene Opferstatus wurde in den Mittelpunkt gestellt und die alliierten Befreier wurden zu Tätern stilisiert. Im Juli 1950 wurde das Camp unter deutsche Verwaltung gestellt und in „Lager Möckernstraße“ umbenannt, da das niedersächsische Innenministerium keine ausländischen Bezeichnung für das Camp duldete. Von den knapp 1900 verbliedenden DP sollten viele in das Camp Heidenau (zweitgrößtes ukrainisches Camp in der britischen Zone) und Oerrell/Munster verlegt werden, was auf große Vorbehalte seitens der Ukrainer stieß. Vorbehalte gab es auch von den deutschen Lokalverwaltungen, die einen Anstieg „ausländischer“ Kriminalität befürchteten. Nach der Übernahme des Camps durch die deutsche Behörde meldeten sich viele Ukrainer für die Arbeit in der Hanomag-Produktion (Hannoversche Maschinenbau AG), deren Anzahl bis zum März 1947 auf rund 600 Arbeiter aus dem DP-Camp anstieg.8 Nach der Auflösung des Camps am 6. November 1950 wurde ein Großteil der arbeitenden DP in nahegelegene Wohnblocks untergebracht. Über 300 der Bewohner Lysenkos wurden auf eigenen Wunsch nach Hildesheim verlegt, weitere immigrierten nach Kanada, in die USA oder nach England. Die politischen Akteure der OUN hofften indes weiter auf Verwirklichung eines eigenständigen ukrainischen Staates und appellierten angesichts des bevorstehenden Resettlements an das Nationalbewusstsein der hannoverschen DP als Teil der nationalen Gemeinschaft in eine unabhängige Ukraine zurückzukehren.

[1] Dyczok, Marta: The Grand Alliance and Ukraine Refugees, Basingstoke 2000, S. 77. [2] Auf der Konferenz von Jalta wurden zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion Kriterien für Personen festgelegt, die zwangsweise repatriiert, also in ihre „Ursprungsländer“ zurückgeführt werden sollten. U.a. galt dies auch für Personen, die der Kollaboration beschuldigt wurden oder deren Wohnsitz ab 1939 auf sowjetischem Territorium lag. [3] vgl. Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, München 2000, 222. [4] ebd., S. 224. [5] Die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRAA) war eine 1943 gegründete Hilfsorganisation, deren Hauptaufgabe in der Unterstützung der Alliierten bei der Repatriierung der Displaced Persons lag. [6] vgl. Antons, Jan-Hinnerk: Ukrainische Displaced Persons in der Britischen Zone. München 2014, S. 179. [7] ebd. S. 290. [8] ebd. S. 160.

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Raus aus Europa

Die Bricha verhalf zehntausenden Juden zur Flucht. Zeitzeugen erinnern sich an die Flucht

D

ie Rückseite der 20-Schekel-Banknote wird von einer Aufnahme geziert, die Rekruten der jüdischen Brigade auf dem Weg zu einer Rede von Chaim Weizmann zeigen. Einer von ihnen ist der 1925 in Berlin geborene Ze‘ev Hirschberg. Unter dem Eindruck der Reichspogromnacht wurde Ze‘ev 1938 von seinen Eltern auf ein Auswandererlehrgut bei Schniebinchen (heute Polen) geschickt. Im April 1940 gelangte er so an ein Einreisezertifikat der Jugendaliya für Palästina. Ze‘ev entkam den Deutschen in das Hadassa Kinderdorf Meir Shafia bei Zikhron Ya‘akov. In Meir Shafira schloss er sich der „Hagana“ an, der jüdischen Untergrundarmee in Palästina. Vom Kinderdorf ging es für Ze‘ev in den Kibbutz Geva in der Yizrael Ebene, wo er sich mit anderen Jugendlichen zu einer Vorbereitungsgruppe für die Bildung eines neuen Kibbuz zusammenschloss. Im Kibbuz Neve Eintan erhielt die Vorbereitungsgruppe ihre abschließende Schulung. Als die Briten 1944 die Jüdische Brigade gründeten, bestimmte die Jewish Agency, dass jede Vorbereitungsgruppe einen Mann für die Brigade abzustellen hatte. Es wurde gelost und das Los fiel auf Ze‘ev. Am 7. Dezember 1944 zog er mit anderen Rekruten zur Rede von Chaim Weizmann, wo das Bild entstand, das heute die 20-Schekel-Note ziert. In seiner Wohnung im Elternheim Pinkhas Rozen in Ramat Gan, wo der 90-Jährige seinen Lebensabend verbringt, bewahrt er einen Abzug der Originalaufnahme auf. Im Elternheim, das zur Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft gehört, leben Menschen, die wie Ze‘ev Hirschberg den Deutschen rechtzeitig entkamen und Holocaustüberlebende wie Sarah Fuss. Sarah Fuss aus Lodz litt mehrere Jahre im Ghetto Litzmannstadt, wo sie als Schwester des Krankenhaus zu den Juden gehörte, die mit der endgültigen Liquidierung des Ghettos im August 1944 nach Birkenau deportiert wurden. Sie erinnert sich, wie sie ihrer letzten Habe beraubt und kahl geschoren wurde. Nach einer Desinfektion habe sie auf ihre Verlegung in die Baracken gewartet. Das Eintreffen eines Briefes mit dem Gesuch, 500 Zwangsarbeiterinnen für die Rüstungsproduktion bei Dresden zu stellen, rettete sie vor dem Vernichtungslager. Sie arbeitete in einem alten Fabrikgebäude mit großen Fenstern, durch die sie eines Tages sah, wie sich der Himmel schwarz färbte. Der Himmel sei nicht mehr zu erkennen gewesen, sagt sie und, dass sie sich gewundert habe, dass sich die Bomber nicht gegenseitig behinderten. Von Dresden wurden die Zwangsarbeiterinnen ins KZ Mauthausen getrieben, das kurz danach befreit wurde. Sie sah völlig ausgemergelte Insassen des KZ, die sich nach der Befreiung auf Essen stürzten, das sie umbrachte, weil ihre Körper es nicht mehr verdauen konnten. Wie Sarah Fuss fiel auch der inzwischen verstorbene Heimbewohner Ephraim Perlmann den Deutschen in die Hände. Ephraim Perlmann musste im Ghetto Warschau mitansehen, wie sein Vater abtransportiert wurde. Als die Deportationen 1943 wieder aufgenommen wurden, begannen die Vorbereitungen für den Aufstand, der zu Os- 27 -


tern ausbrechen sollte. Bunker wurden angelegt und Dachböden verbunden. Einer der Aufständischen sagte zu Ephraim, dass sie den Transporten ein Ende setzen würden. Kein Jude aus dem Ghetto würde mehr nach Treblinka gebracht. Ab jetzt, sagte er zu Ephraim, würden sie alle im Ghetto sterben. Neben seinem Vater verlor Ephraim Perlmann auch seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder im Holocaust. Er selbst musste Zwangsarbeit leisten. Nach seiner Befreiung gelangte Ephraim Perlmann in den Wirren der letzten Kriegstage nach Polen, wo er alles jüdische Leben ausgelöscht fand. In der Wohnung der Familie lebten Polen, was ihn zu einem Obdachlosen machte. Von Aktivisten des „American Jewish Joint Distribution Committee“ (Joint), eine Hilfsorganisation US-amerikanischer Juden, erhielt Ephraim in Warschau einen gefälschten griechischen Pass, und ist mit einer Gruppe „griechischer” Flüchtlinge in die Tschechoslowakei gereist. Polnische Grenzer hätten ihnen an der polnisch-tschechoslowakischen Grenze ihre Verpflegung genommen, erinnert er sich. Ephraim gelangte über Prag nach Asch an der tschechoslowakisch-deutschen Grenze und von dort nach Bayern ins DP-Camp in Landsberg. Wegen Überbelegung kam er in das DP-Camp Jordanbad in Biberach, wo der „HaShomer HaTzair“ einen Kibbuz betrieb und Flüchtlinge nach Südfrankreich schleuste. Eine Zeit lang wurde Ephraim vom HaShomer HaTzair als Schlepper in Asch eingesetzt, wo er Gruppen Die Bricha bildete von Flüchtlingen, die sich mit einer „Parole” ausFlüchtlingsgruppen wiesen, ortskundig über die Grenze begleitete. und versorgte diese Der Grenzübergang gehörte zu einem sorgsam aufgebauten Netz von Fluchtrouten, auf denen Jumit falschen Papieren den aus Osteuropa bis nach Palästina geschleust wurden. Das weitgespannte Fluchthilfenetzwerk wurde von der „Bricha“ getragen. Die Bricha, hebräisch für „Flucht“, wurde 1944 von Abba Kovner und anderen zionistischen Partisanen gegründet. Anfang 1945 schlossen sich die Überlebenden des Aufstands im Warschauer Ghetto an. Getragen wurde die Bricha von den zionistischen Jugendbewegungen, vor allem der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung HaShomer HaTzair. Diese legten entlang der Fluchtrouten Stützpunkte in Form von Kibbuzim an. Die Bricha bildete Flüchtlingsgruppen, versorgte diese mit falschen Papieren und führte sie entlang der Stützpunkte. Kam eine Gruppe in einem Lager an, ging es für eine andere Gruppe weiter. Die Fluchthelfer mussten gute Organisatoren, Begleitpersonen und Fahrer sein. Sie mussten Grenzer bestechen und Grenzüberquerungen arrangieren. Im Sommer 1945 schickte die Hagana Emissäre, um die Fluchtanstrengungen zu koordinieren. Bei der Fluchthilfe arbeitete die Bricha Hand in Hand mit dem Joint und dem „Mossad LeAliya Bet“. Der Joint stellte die meisten Mittel für Transport, Bestechung, Kleidung und Medikamente. Er schaute weg, wenn Fahrzeuge und Uniformen entwendet und Ausweise gefälscht wurden. Maßgeblich unterstützt wurde die Fluchthilfe auch von den Soldaten der Jüdischen Brigade der Britischen Armee. Sarah Fuss erinnert sich, wie Soldaten der Jüdischen Brigade kurz nach der Befreiung des KZ Mauthausen mit ein paar Lastwagen des Britischen Militärs im DP-Camp Mauthausen auftauchten. „Soldaten von uns“, sagt sie, „Kämpfer mit einem Davidstern“. Manche dieser jüdischen Kämpfer erzählten auf Jiddisch von Palästina und nahmen die Ausreisewilligen mit. Sarah Fuss wird nie vergessen, wie sie von einer Freundin ungläubig gefragt wurde, warum sie nach den Jahren im Ghetto ausgerechnet nach Eretz Israel ausreisen wolle, dieses „jüdische Ghetto in Palästina“. Doch Sarah Fuss zögerte keinen Augenblick, Europa zu verlassen, um zum Leben in der „jüdischen Heimstätte“ zu gelangen. Die Soldaten der Brigade brachten sie in ihren Militärfahrzeugen nach Verona. Dort blieben die Flüchtlinge einige Tage in einem Kibbuz um dann nach Santa Maria di Leuca zu gelangen, wo sie gezielt auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden. Die Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit machten es möglich, dass jüdische Flüchtlinge noch relativ problemlos durch Österreich über den Brenner und andere Grenzübergänge nach Italien gelangen. Später versuchten die Briten die Fluchtbewegungen nach Kräften zu ersticken. Einer der Fluchtwege aus Osteuropa in Richtung Italien führte im Sommer 1945 von Budapest und Bratislava über Graz. Als im Juli 1945 die Briten die Besatzung der Steiermark von sowjetischen Truppen übernahmen, wurden rund 12.000 Juden, die sich im Raum Graz befanden vermeintlich festgesetzt. Allerdings gelang es Soldaten - 28 -

der Jüdischen Brigade die meisten der Flüchtlinge illegal über die österreichisch-italienische Grenze nach Pontebbe zu bringen, wo sich ein eigens dafür errichtetes Transitlager befand. Die Soldaten im Dienst der britischen Armee entwendeten Uniformen, in die sie die Flüchtlinge steckten und Militärfahrzeuge für deren Transport über die Grenzen. Als die Briten davon erfuhren, wurde die Brigade nach Holland und Belgien verlegt und die Fluchtrouten durch das Pustertal und Tarvis versiegelt. Ze‘ev, der nach seiner Rekrutierung für die Jüdische Brigade ein militärisches Training in Ägypten absolvierte, gelangte über Alexandria und Marseille direkt nach Eindhoven. Er erinnert sich an die Bewachung verschiedener Militäreinrichtungen und Gefangenenlager in Holland und Belgien. Und daran, wie die Soldaten der Jüdischen Brigade während ihres Militärdiensts Waffen einsammelten und diese in Fahrzeugen der Britischen Armee in die Hände der Hagana schmuggelten. Als einer dieser illegalen Waffentransporte aufflog, wurden die Gewehre in der Polizeistation von Toulouse abgeladen. Neben dem Militärdienst und dem Waffenklau engagierte sich die Jüdische Brigade für die jüdischen Flüchtlinge in den DP-Camps. So verteilten sie einen Teil ihrer Lebensmittelrationen in den Lagern. Bei den Fahrten lernte Ze‘ev Lastwagen zu lenken. Bevor die Jüdische Brigade im Sommer 1946 in Gent aufgelöst wurde, suchten Emissäre der Hagana unter den Soldaten nach Freiwilligen für die Bricha. Ze‘ev war einer von 120, die sich rekruEine Fluchtwelle wurde tieren ließen. An Stelle der 120 Soldaten wurden am 4. Juli 1946 durch den Holocaustüberlebende, die ihnen relativ ähnlich Pogrom in der polnischen sahen, „zurück” nach Palästina geschickt. In den Ausweispapieren waren PersonenbeschreibunStadt Kielce ausgelöst gen, aber keine Bilder. Ze‘ev Hirschberg gelangte in ein ehemaliges Militärlager Mussolinis nach Bergamo, wo die Fluchthelfer von der Bricha eingewiesen wurden. Ze‘ev wurde nach Meran abkommandiert. Dort waren die Fluchthelfer als Mitarbeiter des Joint getarnt – mit Uniformen, gefälschten Arbeitspapieren und falschen Transitgenehmigungen. Ze‘ev sagt, dass er die Unterschrift des für die Transitgenehmigungen zuständigen Amerikaners am besten nachzuahmen wusste. Ze‘ev war für die Bricha als Fahrer tätig. Die Bricha in Meran verfügte für ihre Operationen über Dodge Lastwagen aus Beständen des amerikanischen Militärs und GMC 6 Wheeler, die dem britischen Militär entwendet und zu Fahrzeugen des Joint umlackiert wurden. So lenkte Ze‘ev Lastwagen, deren Steuer rechts und solche, deren Steuer links war. Die Bricha in Meran war damit beauftragt, Flüchtlinge, die über die österreichisch-italienische Grenze geschleust wurden, in Empfang zu nehmen und nach Inneritalien weiterzuleiten. Eine Fluchtwelle ungeahnter Wucht wurde am 4. Juli 1946 durch den Pogrom in der polnischen Stadt Kielce ausgelöst, wo 42 Juden ums Leben kamen. Die Bricha und der Joint schafften es den Strom von 100.000 panisch flüchtenden polnischen Juden zu koordinieren. In den Wochen nach dem Pogrom von Kielce drängte der Joint die tschechoslowakische Regierung die Grenzen nach Polen nicht zu versiegeln und entlastete die tschechischen Behörden bei der Versorgung der Flüchtlinge. „AJDC“, sagt Ze‘ev, sich an einen Witz unter den Fluchthelfern erinnernd: „Alle Jidden Darfen Commen“ – angelehnt an die Buchstaben des „American Jewish Joint Distribution Committees“. Der Hauptzweig des Flüchtlingsstroms verlief über die Tschechoslowakei und Ungarn nach Österreich sowie über die sowjetische in die amerikanische Besatzungszone. 63.000 Juden reisten zwischen Mai 1946 und Januar 1947 durch den Fluchtknotenpunkt Salzburg. Von Salzburg führte der Weg Richtung Mittelmeer oder über das französisch besetzte Tirol. Die Exodus Route über Tirol führte zunächst nach Saalfelden nahe der amerikanisch-französischen Zonengrenze. In Saalfelden bestand seit Sommer 1946 der Kibbuz Givat Avoda von wo es die DP-Lager „Wiesenhof” und „Gnadenwalderhof“ in Gnadenwald bei Innsbruck zu erreichen galt. Viktor Knopf von der Bricha beschreibt in einem Zeitzeugenbericht den schwierigen Transfer der Flüchtlinge per Zug in die französische Besatzungszone: „Ich bin im Paketwagen eingestiegen, habe mir die Uniform des Schaffners angezogen und, nachdem ich ja der deutschen Sprache mächtig war, habe ich ihm als Gegenleistung für eine Packung Zigaretten und eine Dose Fleischhaschee vorgeschlagen, sich schlafen zu legen. Wir haben dann im Paketwagen alle Pakete vorgeschoben, haben dahinter eine Trennwand montiert und hinter dieser dann 30, 40 oder 50 Leute versteckt. Dann wurden die Pakete wieder vor der Trennwand aufgestapelt, und so - 29 -


sind wir nach Hochfilzen gekommen, zum Grenzübergang in die französische Zone. Die französischen Grenzkontrollen haben den ganzen Zug streng kontrolliert und nach Juden gesucht. Ich bin in Uniform beim Fenster oder bei der Tür gestanden, und wenn einer fragte: ‚Sind da Juden?‘ sagte ich: Nein.“ Von Solbad Hall in Tirol wurden die Flüchtlinge von der Bricha mit Lastwagen nach Gnadenwald gebracht. Von dort ging es für die Flüchtlinge über Landeck an den Reschenpass, wo sie einige Kilometer vor der Grenze den Schleppern der Bricha übergeben wurden, die sie illegal über die österreichisch-italienische Grenze führten. Wobei Ze‘ev das Wort Schlepper wegen der negativen Konnotation überhaupt nicht gern hört. Sie seien Wegweiser und Aufpasser der Flüchtlinge gewesen, sagt er, und diejenigen, die sich am meisten hätten plagen müssen. Er zeigt ein ihm gewidmetes Bild, dass eine Gruppe stattlicher Wegweiser zeigt. Begleiter, die jede Nacht die Verantwortung trugen, jeden Flüchtling heil über die Grenze zu bringen. Robuste „Bergkriecher“, die freiwillig und aus purem Idealismus handelten. Von den „Bergkriechern“ hätten er und seine Kameraden vom Stützpunkt Merano die Flüchtlinge zwischen 22 und 23 Uhr in Empfang genommen. Die Flüchtlinge, so berichtet Ze‘ev, hätten nichts mitnehmen dürfen außer einem Handbündel und den Kleidern, die sie am Leib trugen. Für Gespräche sei ihnen keine Zeit geblieben. Das sei erst später gekommen, wenn hier und da einer der Flüchtlinge blieb, um die Bricha zu unterstützen. Ze‘ev und seine Kameraden fuhren die Menschen landeinwärts und verteilten sie auf mehrere Bahnhöfe in Oberitalien. Die Flüchtlinge waren als Urlauber getarnt, die aus Inneritalien nach Meran gekommen waren. Nach etwas Schlaf hatten Ze‘ev und seine Kameraden ihre Fahrzeuge zu warten. Werkstätten gab es keine und es sei alles eine einzige große Improvisation in einem kriegszerstörten Land gewesen. Die vielen Gruppen, die illegal die Grenze auf dem Reschenpass überquerten, blieben den italienischen Behörden natürlich nicht lange verborgen. Er selbst habe nie mit eigenen Augen gesehen, wie die Carabinieri geschmiert worden seien, sagt Ze‘ev. Aber sie hätten sich bald schon sehr kooperativ gezeigt, bis hin zur Wegglättung mit Skiern. Zionisten seien sie auf jeden Fall keine gewesen, versichert Ze‘ev. Und erinnert sich an Marko, einen italienischen Juden und „Macher im positivsten Sinne“, der Schwierigkeiten mit den italienischen Ordnungshütern stets zu entschärfen wusste. Ze‘ev erinnert sich vor allem an die Alpen bei Nacht, an die Kälte und das Anlegen von Schneeketten bei Minusgraden. Er erinnert sich an die Fahrkünste die ihm abverlangt waren und an das Nachkriegschaos in dem sie agierten; an den Partisanencharakter ihrer Unternehmungen, die ihm 70 Jahre später fast unwirklich erscheinen. Wie das alles funktioniert hätte, würde ihn noch heute wundern, sagt er. Hin und wieder verwandelten sich Ze‘ev die anderen Joint-Mitarbeiter in Angehörige der British Army, wofür dann die Lastwagen wiederum passend umlackiert wurden, und entwendete britische Uniformen zum Einsatz kamen. Ein Einsatz führte sie über die Alpen nach Toulouse, wo sie dort gelagerte Gewehre abholen Auf dem Rückweg sollten. In Turin lackierten sie ihre Lastwagen als lackierten sie einen Fahrzeuge der britischen Armee. Kurz vor Toulouse schlugen sie ein Camp auf und diejenigen Lastwagen als Fahrzeug „die nicht jüdisch aussahen”, wie Ze‘ev sagt, seien der britischen Armee zur Polizei gegangen und hätten die Waffen mitgenommen. Von Toulouse fuhren sie nach Genua, wo sie die Gewehre abgeben sollten. In Genua – inzwischen wieder als Joint – hatten sie die Waffen abgeladen und sich gerade schlafen gelegt, als die Warnung vor einer italienischen Razzia eintraf. Schnell wurden die Gewehre nach Magenta gebracht, dort befand sich das „Aliya Beth” Hauptlager, wo der Mossad LeAliya Beth Treibstoff und Proviant für die Flüchtlingsschiffe lagerte. Einmal, so sagt Ze‘ev, seien sie nach „JWD“ abkommandiert worden – „janz weit draußen“. Bei Bari sollten sie mit ihren Lastwagen Juden aus DP-Camps zu einem Flüchtlingsschiff bringen. Auf dem Rückweg lackierten sie einen Lastwagen als Fahrzeug der britischen Armee. Ze‘ev und ein anderer fuhren mit 16 großen Fässern auf der Ladefläche in eine amerikanische Militärtankstelle bei Foggia. Von der Präsenz britischen Militärs in der Gegend nichts wissend, telefonierte der amerikanische Diensthabende das Britische Hauptquartier an, um näheres zu erfahren. Bis Ze‘ev und sein Gefährte fertig getankt hatten, kam keine Leitung zu Stande. Sie konnten die Tankstelle verlassen und entgegen ihrer Befürchtung wurden sie so - 30 -

lange nicht verfolgt, bis es ihnen gelang, den Lastwagen wieder zum Fahrzeug des Joint zu machen. Ende 1946 ging die französische Besatzungsmacht schärfer gegen die jüdischen Flüchtlinge vor. 1947 setzte ein jüdischer Massenexodus aus Rumänien ein. Die Bricha suchte und fand unter Umgehung der Französischen Zone eine neue Route nach Italien – auf über 2600 Meter über den Krimmler Tauern. Marko Feingold, der seit 1945 bei der Betreuung jüdischer Flüchtlinge in Salzburg mitgewirkt hatte, fand das hochalpine Schlupfloch in den Ostalpen, wo die amerikanische Besatzungszone Österreichs an Italien grenzte. Die Überquerung der Grenze in den Krimmler Tauern war eine Herausforderung für die Menschen, die Zwischen 1945 und 1949 oft das erste Mal im Hochgebirge und in keinster gelang es der Bricha geschätzt Weise passend ausgerüstet waren. Der Weg wurde in drei Etappen in 24 Stunden bewältigt, wobei bis zu 250.000 Menschen die meiste Zeit nachts gelaufen wurde. Rund 8000 zu transferieren jüdische Flüchtlinge wurden über den Krimmler Tauern nach Italien gebracht. Nach Schätzungen gelang es der Bricha zwischen 1945 und 1949 bis zu 250.000 Menschen zu transferieren. Rund die Hälfte, 120.000 bis 125.000 Menschen, ging über Salzburg. Davon wiederum gelangten 50.000 über verschiedenste Wege weiter nach Italien. Am 29. Juli 1946 bestieg Ephraim Perlmann nahe Marseille das Flüchtlingsschiff „Yagur” des Mossad LeAlija Bet. Am 2. August 1946 bestieg Sarah Fuss in Bocca Di Magra das Flüchtlingsschiff „Kaf Gimmel” des Mossad LeAlija Bet. Beide Schiffe wurden von britischen Zerstörern abgefangen und die Flüchtlinge nach Zypern deportiert, wo sie mehrere Monate interniert wurden, bevor sie endlich nach Palästina gelangen konnten.1947 gelangte Ze‘ev mit falschen Papieren nach Palästina.

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Impressum

Die Kampagne 70 Years wird unterstützt von: AG Antifa Halle agantifa@gmail.com antifa.uni-halle.de facebook.com/agantifaschismus Aktion Zaungast Bremen aktionzaungast@gmail.com aktionzaungast.wordpress.com facebook.com/zaungastafa Antideutsche Aktion Baden antideutscheaktionbaden.blogsport.de facebook.com/heckerantifa Antideutsche Aktion Berlin [ADAB] ada-berlin@gmx.net antideutscheaktionberlin.blogsport.de facebook.com/antideutscheaktionberlin twitter.com/ADAktionBerlin Antideutsche Aktion Hamburg [ADAHH] adahh@gmx.net adahh.blogsport.de Antideutsche Gruppe Belle Vie aus Hannover info@belleviehannover.org belleviehannover.org Antifaschistische Gruppen Südthüringen [AGST] c/o Infoladen Arnstadt Plauesche Str. 20, 99310 Arnstadt antifa-sth@riseup.net agst.afaction.info Association Progrés c/o Buchladen Rote Straße Nikolaikirchhof 7, 37073 Göttingen a_p@ungehorsam.ch associationprogres.wordpress.com Bündnis gegen Antisemitismus [BgA] Kassel BgA_Kassel@gmx.de bgakasselblog.wordpress.com Emanzipatorische Antifa Duisburg emadu@riseup.net emadu.net

V.i.S.d.P.: Vladimir Jankèlèvitch Rue Réaumur 38, 75002 Paris Île-de-France Auflage: 5.000 Exemplare / 1. Auflage Erscheinungsdatum: 15. März 2017 Eigentumsvorbehalt: Dieses Broschüre ist solange Eigentum der AbsenderIn, bis sie dem/der Gefangenen persönlich ausgehändigt ist. „Zur-Habe-Nahme“ ist keine persönliche Aushändigung im Sinne dieses Vorbehalts. Wird die Zeitung der/dem Gefangenen nicht persönlich ausgehändigt, ist sie der AbsenderIn mit dem Grund der Nichtaushändigung zurückzusenden. Wird die Zeitung nur teilweise persönlich ausgehändigt, so sind die nicht ausgehändigten Teile, und nur sie, der AbsenderIn mit dem Grund der Nichtaushändigung zurückzusenden.


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