Thierfelder rainer h anmerkungen zur zeitgeschichte ii

Rainer H. Thierfelder

Anmerkungen zur Zeitgeschichte II

Zukunft gestalten in dynamischer und vernetzter Welt

2

1. Auflage 2016 Redaktionsstand:12.10.2016 dr.jur.rainer.thierfelder@t-online.de © Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen , Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

3

Inhalt ZEITENWENDE

7

Frieden in Europa

8

Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt

11

Globalisierung

11

Wohlstand

15

Demographische Entwicklung

16

Umweltfragen

17

MÄNGEL UND VERSÄUMNISSE DER DERZEITIGEN REGIERUNG

21

Europa

22

Forschung und Bildung

23

Wirtschaft

25

Finanzen

26

Arbeitsmarkt und Sozialwesen

27

Sicherheit und Verteidigung

28

Umwelt

28

DEMOKRATIEKRISE

29

Regierung ohne Volk

30

Die Rolle der Parteien und ihr Verhalten

33

4

Die Verlagerung der politischen Entscheidungszentren

59

Direkt wählen und entscheiden?

68

ANACHRONISTISCHER FÖDERALISMUS

75

Der historische und rechtliche Rahmen

76

Die praktischen Schwierigkeiten im bestehenden Föderalismus

80

Vermeintliche und wirkliche Reformansätze

98

DAS BILDUNGSDESASTER

120

Vorbereitung auf veränderte Herausforderungen

121

Strukturfragen für Schulen und Hochschulen

132

Schulen, Justiz und andere öffentliche Ersatzeinrichtungen

141

Probleme mit der Forschungsförderung

142

Wo bleiben die Investitionen?

147

SCHULDEN- UND FINANZKRISE

152

Staatsaufgaben – und ihre effiziente Wahrnehmung

182

Steuerreform

192

ÖFFENTLICHE SICHERHEIT

201

AUSFALL SONSTIGER GESELLSCHAFTLICHER GROßORGANISATIONEN

212

Kirchen

213

5

Gewerkschaften

220

„SOZIALE GERECHTIGKEIT“ – RHETORISCHER WERT OHNE INHALT? 220 Freiheit und Gleichheit

233

Die Relativität von Mitteln und Verteilung

249

Soziale Schutzsysteme Altersversorgung Erhöhung der Beiträge Mehr Beitragszahler („Bürgerversicherung“) Verlängerung der Erwerbszeit Privat finanzierte Zusatzversorgung Rentenabsenkung auf Existenzminimum Grundversorgung aus Steuermitteln (Biedenkopfmodell) Krankenversicherung Ärzte Krankenhäuser Arzneimittel Pflegeversicherung Arbeitslosenversicherung

275 280 283 285 288 291 291 292 295 313 322 329 333 338

Solidarität als Anreiz?

340

MENSCH DER NEUEN ZEIT

348

Früher war alles besser

348

Wertewandel

353

DIE ZUKUNFT ?

366

LITERATUR

371

STICHWORTVERZEICHNIS

375

6

7

Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.

Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.

Goethe – Faust I, Vers 575-79

Zeitenwende Es wird behauptet, Zeit gibt es eigentlich gar nicht. Es gibt allenfalls Veränderungen. Wenn wir etwas mit früheren Jahren vergleichen, dann nennen wir das, was die Abfolge der Neuerungen kennzeichnet oder einfach nur dazwischen liegt, aus einer gewissen Verlegenheit heraus die Zeit, ohne daß sie uns Auskunft darüber gibt, was genau und warum sich so vieles verändert. Wir nehmen nicht das Vergehen der Zeit wahr, sondern den Wandel, weil wir uns ständig auf Veränderungen einstellen müssen. „Пάντα ρει“ – Alles fließt und ist im ständigen Wechsel begriffen. So erkannte das der griechische Philosoph Heraklit rund 500 Jahre vor Christi Geburt. Die Zeitenwende ist lediglich ein kurzer gedanklicher Halt, um sich die bis dahin erfolgten Veränderungen bewußt zu machen.

Wir befinden uns andererseits in einem vernetzten, daher bis ins letzte hinein nicht steuerbaren und nur teilweise bewußt beeinflußbaren Mischsystem aus gewollter Rationalität und einfach stattfindendem Chaos, bei dem bekannterweise der Flügelschlag eines Schmetterlings in Südamerika in anderen Teilen der Erde zu größten Stürmen oder Wetterkatastrophen führen kann, ohne daß wir diese Wirkkette – auch trotz eines neuen und anderen Denkens1 – erkennen und nachvollziehen, geschweige denn beeinflussen können. Dennoch baut alles irgendwie aufeinander auf. Die Zahl und Intensität der Beziehungen und Wechselwirkungen ist unübersehbar groß. Durch immer häufiger werdende weltweite Kontakte und eine ausgeprägte Mobilität erhöht sich die Zahl der Einflußfaktoren und wechselseitigen Wirkungen und intensiviert sich das Chaos. In eindrucksvoller Weise hat uns dieses alles der Biochemiker und Umweltexperte Frederic Vester – vor allem in seinem 1978 erschienenen Buch „Unsere Welt – ein vernetztes System“ – bewußt gemacht.

So hat gerade auch das zurückliegende „Jahrhundert“ – jetzt gebrauche ich selbst schon die Zeit als Synonym für alles das, was in ihr geschah – die Menschen in ganz unverwechselbarer und auch nachvollziehbarer Weise fortentwikkelt und geprägt. Der letzte größere Meilenstein mit Symbolwert, der uns gerade 1 Natalie Knapp: „Anders denken lernen“ - http://www.deutschlandradiokultur.de/ andersdenkenlernen. 1153.de.html?dram:articl... 18.02.2014

8

erst als Jahrhundert- und Jahrtausendwende zugleich entgegengetreten war, liegt schon wieder weit hinter uns. Er war schnell auf uns zugekommen und angesichts der zahlreichen und immer schneller auftauchenden aktuellen Probleme und kommenden Aufgaben ebenso schnell wieder vergessen und dem Alltag geopfert worden. Es war weniger aufregend und spektakulär, als es die Zahl der registrierten Jahre erwarten ließ oder sie vielleicht sogar verdiente. In Wahrheit markierte er ja auch keine durch irgendeinen Sachzusammenhang bedingte Zäsur, sondern blieb eine zufällige Zahl, eine künstliche Zählgröße, die sich die Menschheit durch die Zehner- und Zwölferskala ihrer Zeitrechnung auch selbst gesetzt hat.

Zeitsymbole dieser Art werden für die Menschen gleichwohl zu Stationen des mentalen Innehaltens – ein bißchen wie jeder Silvesterabend vor einem Jahreswechsel. Sie sind Anlaß für die Betrachtung und Bewertung dessen, was hinter uns liegt, der Besinnung dessen, wo wir gerade stehen, was sich gegenüber früheren Zeitabschnitten verändert hat und für Betrachtungen und Vorhaben, wie es wohl weitergehen könnte. Und es hat sich einiges verändert in dem letzten, dem 20. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Der Mensch erinnert sich selektiv – mehr im Sinne einer Gewinn- als einer Verlustrechnung. Er denkt gern an das zurück, was für ihn positiv ausfiel. Die Mißlichkeiten des Lebens bleiben zurück. In der Rückschau muß man daher wohl auch an erster Stelle die positiven Veränderungen nennen, die das menschliche Zusammenleben unmittelbar und fortwirkend betreffen.

Es gibt über die Zeit hinweg unleugbar einen objektiven Fortschritt, insbesondere bei den Entdeckungen und natürlich in der Wissenschaft und Technik. Die Wissenschaft hellt uns so nach und nach manches auf. Einiges verstehen wir heute, was den Menschen früher unbekannt war. Alle Probleme dieser Welt basieren im übrigen nach wie vor auf den Menschen. In der Gestaltung des menschlichen Miteinanders sind wir sicherlich insgesamt weiter gekommen, wenngleich in einzelnen menschlichen Beziehungen noch viel nachzuholen bleibt. „Nehmen Sie die Menschen, wie sie sind“ soll der Altkanzler Konrad Adenauer einmal gesagt haben, „denn es gibt keine anderen!".Aber warum sollten sie sich wenigstens hier etwas weiter entwickeln und ändern können?

Frieden in Europa Zu der erfolgreichen europäischen Nachkriegsgeschichte und dem Wiederaufbau zu einem relativ wohlhabenden Lebensstandard haben ein Umfeld und Rahmenberdingungen beigetragen, die in ihrer historischen Dimension nicht genügend herausgestellt und gewürdigt werden können. Welcher menschliche Fortschritt sich dahinter verbirgt, wird bewußt vor dem Erlebnis zweier Weltkriege – da-

9

mals noch ganz und gar im Selbstverständnis von rivalisierenden und auf äußere Macht setzende Nationalstaaten geführt – und ihrer Folgen, auch wenn die bösen Erfahrungen, die sie im Laufe der Jahrhunderte mit ihren Nachbarn gemacht haben, in vielen europäischen Völkern noch im kollektiven Bewußtsein haften.2 Überwunden sind die nationalen, unseligen Vernichtungskriege innerhalb Europas, aber auch die Kolonialisierungen in Afrika und anderswo in der Welt durch die Europäer. Überwunden sind die existentiell bedrohenden Grausamkeiten, die sich Menschen in Europa immer wieder angetan haben und an denen Deutsche nicht unmaßgeblich beteiligt waren.3 Und welche Demütigungen waren damit verbunden, die Herabwürdigung der Menschen zu Kriegsmaterial in den „Knochenmühlen“ von Verdun bis Stalingrad!

Kriege werden nach aller Erfahrung zwischen Staaten geführt, „weil und solange sie die höchst existierende Macht- und Gewaltinstanz sind. ... anders wäre es nur, wenn es über den Staaten noch eine höhere Machtinstanz gäbe ...“. Diese zutreffende Analyse Sebastian Haffners in seinen „Anmerkungen zu Hitler“4 war sicherlich neben der erheblich gewachsenen wirtschaftlichen Verflechtung und damit auch grenzüberschreitenden Interessenverbindung eine wesentliche politische Grundlage dafür, daß sich die Europäer beginnend mit den Verträgen in Rom zu einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und später zur Europäischen Union zusammengeschlossen und gemeinsame, supranationale Instanzen gegeben haben. Der Euro als gemeinsame Währung in den meisten europäischen Staaten ist dabei als politisch stabilisierender und identitätsstiftender Faktor nicht zu unterschätzen, zumal er allen beteiligten Staaten und Menschen auch die größtmöglichen ökonomischen und sozialen Vorteile erbracht hat,5 selbst wenn es zu seiner Erhaltung noch deutliche wirtschaftlich bedingte Mängel gibt. Immerhin hat er sich selbst bei der Überwindung der großen Finanzkrise als deutlich stabiler erwiesen hat als manche der sonstigen Weltwährungen und vor allem auch verhindert, daß es innerhalb des gemeinsamen europäischen Marktes zu gefährlichen Spekulationen auf Wechselkursveränderungen zwischen 27 Währungen kommen konnte.6

2

Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 9 Vgl. auch Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 83 ff.: „Die schwerste Hypothek“ 4 Sebastian Haffner: „Anmerkungen zu Hitler“ – Fischer Verlag Frankfurt/M 1981, S. 147 5 Das betont auch August-Wilhelm Scheer: „Verloren in der Welt der Modelle – Ökonomen lernen im Studium zu viel über Zahlen und zu wenig über Menschen – auch und darum sind sie der Krise nicht gewachsen“ – SZ Nr. 106 vom 09./10.05.2009, S. 2; Sebastian Dullien, Hansjörg Herr u. Christian Kellermann: „Der gute Kapitalismus .. und was sich dafür nach der Krise ändern müßte“ – Transcript Verlag Bielefeld 2009 und die Besprechung von Claus Hulverscheidt: „Die gute Seele des Kapitalismus“ – SZ Nr. 263 vom 14./15.11.2009, S. 34; Alexander Hagelüken: „Neustart für Europa – Wer die Währungsunion verkümmern lässt, verzichtet auf Wohlstand“ – SZ Nr. 108 vom 12./13.05.2010, S. 25 6 Heltmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 192 3

10

Die transatlantische Partnerschaft und eine rahmenpolitische Einigung Europas haben den Menschen einen schon lange anhaltenden äußeren Frieden beschert.

Wo immer Menschen einen hohen Grad der wirtschaftlichen Verflechtung und Abhängigkeit erreicht haben, herrscht äußerer Frieden. Der Krieg wird angesichts sich überschneidender wechselseitiger Interessen als Mittel zur Lösung zwischennationaler Konflikte uninteressant, weil keiner nur noch gewinnen kann, jeder zugleich auch verlieren würde. Der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und wechselseitigen Durchdringung bis hin zur Globalisierung ist ein Zusammenrücken gefolgt, das sich zwangsläufig aus schnellen Informations- und Verkehrswegen, häufigen Kontakten der Menschen und den gemeinsamen bzw. wechselseitigen internationalen Interessen ableitet.

Hinter uns gelassen haben wir auch den „kalten Krieg“, der ausgehend von der kommunistischen Oktoberrevolution 1917 in Rußland schnell nach dem zweiten Weltkrieg als große ideologische Wand zwischen Ost und West stand, Europa künstlich teilte, viele Nerven und Kräfte verzehrte und anläßlich der Kuba-Krise fast zum Atomkrieg geführt hätte. Auch hier war es vorrangig die wirtschaftliche Entwicklung, wenn auch als existenzbedrohender Verfall, die den Ostblock rund um seine bis dahin politisch und militärisch führende Sowjetunion und damit das ganze kommunistische System in die Knie zwang, so daß die Satellitenstaaten wieder selbständig wurden und beginnen konnten, an einen neuen wirtschaftlichen und politischen Aufbau ihrer Existenzgrundlagen heranzugehen.

Speziell für Deutschland gelang damit zugleich die Überwindung der nationalen Spaltung. Die wieder erworbene deutsche Einheit war also nicht allein das Verdienst der Menschen, die in der alten DDR mutig protestierend auf die Straße gezogen waren. Hier zeigte sich vielmehr die ökonomische Überlegenheit der freien europäischen Völker gegenüber den ineffizienten östlichen Planwirtschaften, die buchstäblich am Ende waren, so daß auch die UdSSR sich nicht mehr in der Lage sah, mit ihren ökonomisch schwindenden Möglichkeiten den Ostblock gewaltsam zusammen zu halten. Nur vor diesem Hintergrund hatten die Menschen die Chance zu ihrer „friedlichen Revolution“.

Es gab in vorigen Jahrhundert aber auch „innere“ qualitative Fortschritte: Man denke etwa an das endliche Erstreiten des Wahlrechts für Frauen in England durch die Bewegung der Suffragetten und die erstmalige Zulassung weiblicher Studentinnen an Universitäten. Der politische Fortschritt hin zu einer freien, rechtssaatlichen und demokratischen Gesellschaft, die wachsende Dominanz von Menschenrechten und sozialen Ausgleichsmaßnahmen vor militärischer Macht und überhöhtem staatlichen Obrigkeitsdenken zeigte sich in der neuen republikanische Staatsform, die erstmals Scheidemann nach der durch den Kieler Matrosenaufstand erzwungenen Abdankung Wilhelm II. im Jahre 1918 in Deutschland ausrief, und die dann „Weimarer Republik“ hieß. Damit endete das Europa der Monarchen, bis noch einmal in ganz anderer Form das große, demokratie-

11

vergessene Desaster um und mit dem Diktator Hitler Europa überzog. Der Neubeginn auf der Grundlage des Grundgesetzes 1949 bescherte Westdeutschland einen demokratischen Staat, der zugleich Rechts- und Sozialstaat war und Voraussetzungen für einen Wiederaufbau in menschenwürdiger Weise schuf.

Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt Wenn wir uns rückblickend das Gesamtgeschehen vor Augen halten, dann ist der wissenschaftliche und technische Fortschritt hervorzuheben. Den Menschen sind in den vergangenen Jahrzehnten qualitative Entwicklungsschritte gelungen wie in keinem Jahrhundert zuvor. Dank schnell fortschreitender Medizin und der Medizintechnik sind die Menschen gesünder und leben länger. Die Motorisierung auf der Erde, der Beginn der Fliegerei vom Zeppelin bis hin zur Mondlandung, die Entdeckung und der Aufstieg der digitalen Informations- und Verarbeitungstechniken und die damit einhergehende Effizienz haben ungeachtet der Verringerung körperlicher Arbeit neue, noch lange nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten eines weltweiten Miteinanders eröffnet, an welche man früher niemals denken konnte. Weitgehend überwunden sind in den traditionellen Industrieländern die Phasen der mechanischen Industrialisierung als technische Hilfe für vieles, was wir zahllose Jahrhunderte davor noch mit der eigenen Hand und eigenem körperlichen Einsatz – kraftvoll allenfalls unterstützt durch Haustiere – leisten mußten. Klassische mechanische Industriearbeit ist entweder von intelligent gesteuerten Maschinen übernommen worden oder hat sich auf Länder verlagert, für die erst jetzt diese Form wirtschaftlicher Betätigung Arbeitsplätze und einen gewissen Fortschritt schafft.

Dieser wissenschaftliche und technische Fortschritt hat ganz wesentich zu dem auch wirtschaftlichen Aufstieg beigetragen. Aus den westlichen Industriegesellschaften werden weiter zunehmend Dienstleistungsgesellschaften, die sich vor allem wissenschaftlich forschend, problemlösend, beratend, pflegend und heilend sowie als Bildungs- und Analysefunktionen betätigen.

Globalisierung Für Deutschland ist ein bedeutsames und viele überraschendes Geschehen darin zu sehen, daß es in vergleichsweise kurzer Zeit gelungen ist, das nach dem zweiten Weltkrieg total darniederliegende Land nicht nur wirtschaftlich wieder

12 aufzurichten. Der geradlinige und erfolgreiche Wiederaufbau7 seit dem Jahr 1945 hat seinem westdeutschen Teil sogar einen nie dagewesenen Wohlstand und Lebensstandard beschert.8 Der engagierte Einsatz der Menschen, individuelle Freiheit, technische Innovationen und Investitionen und ein freier und weltweit offener Markt schufen schnell Arbeitsplätze, Werte und Einkommen. Die hohe Qualität von Produkten und Dienstleistungen aller Art sicherten wieder ein weltweites Ansehen, das eine hilfreiche und tragfähige Basis für weitere Erfolge bot.

Noch immer schlägt sich unsere Wirtschaft dank ihrer laufenden Anstrengungen bei der Straffung und Strukturänderungen zum Erhalt ihrer weltweiten Wettbewerbsfähigkeit auch in Krisen vergleichsweise gut, ohne daß die Produkte Qualitätseinbußen erleiden. Deutschland ist seit vielen Jahren „Exportweltmeister“ gewesen, jedenfalls im Warenexport. Und es ist dank einer günstigen Weltkonjunktur gelungen, die plötzlich ansteigende Arbeitslosigkeit im Inland schnell wieder zu verringern,9 auch wenn es hier seit langem – auch das scheint inzwischen ein weniger erfreulicher politischer Trend zu sein – statistische Vernebelungen gibt, wie immer wieder mit Recht kritisiert wird..

Die weltpolitsche Entwicklung zu einer hochtechnisierten und wirtschaftlich globalen Wettbewerbsgesellschaft, vorrangig auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik, des Handels, des Verkehrs und der Finanzen, ja nicht zuletzt bei den grenzüberschreitenden Kontakten der Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten fast unmerklich, aber doch mit zunehmendem Tempo vollzogen. Überall stiegen die Raten für Handel und Kapitalverkehr, bildeten sich neue Abhängigkeiten und Verflechtungen. Diese sogenannte Globalisierung mit ihrer weltweit auch leichter zugänglichen Vielfalt beeinflußt bei gleichzeitig hoher Mobilität von Menschen, Informationen, Kapital und Gütern auf immer mehr Gebieten längst auch außerhalb Europas das Geschehen. Es gibt kaum mehr ein größeres europäisches Unternehmen, das nicht dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt und ein wichtiges wirtschaftliches oder soziales Problem, das nicht entscheidend von internationalen Entwicklungen abhängig ist.10 Viele verlagern 7 Vgl. dazu etwa Eckhart Conze: „Die Suche nach Sicherheit – Eine Geschichte dern Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart“ – Siedler-Verlag München 2009 und dessen Besprechung von Godehard Weyerer: „Vom Glück der Deutschen – Die erstaunlich erfolgreiche Geschichte der Bundesrepublik wäre vermutlich ohne die Alliierten so nicht möglich gewesebn“ – SZ Nr. 146 vom 29.06.2009, S. 14; vgl. auch Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“. S. 54 ff.

8 9

Vgl. auch Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 244 und 345 ff.

Lars-Hendrik Röller: „Für eine kraftvolle Europapolitik – Die Lissabon-Strategie ist gescheitert, weil es keine verlässlichen Kontrollen gab. Solche Fehler müssen jetzt vermieden werden“ – SZ Nr. 65 vom 19.03.2010, S. 18; Horst Wildemann: „Globale Industrialisierung – Wie deutsche Unternehmen weltweit neue Märkte erobern und Wirtschaftskrisen überstehen können“ – SZ Nr. 40 vom 18.02.2011, S. 20

10

13

daher ihre Produktionsstandorte oder nutzen Beschaffungsmärkte dort, wo Arbeitskräfte besonders billig, Sozialstandards und Umweltauflagen möglichst niedrig und Rohstoffe günstig zu haben sind, um ihre Kosten niedrig zu halten.11 Wir erleben den Abzug von Industrien weg von den klassischen Industrieländern hin zu vormaligen Schwellen- und Entwicklungsländern mit der Folge deutlich wachsender Industrien etwa in Indien oder China. Deren sich zunehmend erfüllte Hoffnungen auf bessere Lebensbedingungen werden also teilweise bezahlt durch den Verlust bisheriger Arbeitsplätze in den Industriestaaten. Dabei nimmt das Selbstbewußtsein der ehemaligen Schwellen- und Entwicklungsländer zu, selbst wenn hier und da noch falsch geleitete Machtinteressen und Korruption, aber auch eine spezifische Ideologisierung durch ausgeprägtes Nationalbewußtsein oder die kulturdominante Religion die neu gewonnenen Vorteile überlagern.12 Die Globalisierung mit allen ihren Facetten zählt zu den sogenannten „Megatrends“, die jetzt unsere aller Leben prägen.13 Diese Entwicklung ist noch keineswegs an ihr Ende gelangt. Immer schneller folgt eine grenzüberschreitende Veränderung auf die andere.14 Die wechselseitigen internationalen Veränderungen wirken sich hinsichtlich ihrer Folgen auf den Weltmärkten wie „kommunizierende Röhren“ aus, so daß vieles wegen seiner schnellen Verfügbarkeit unabhängig vom Ort weltweit immer mehr und schneller zum Ausgleich kommt. Das Marktprinzip reguliert über die traditionellen Staatsgrenzen hinaus intensiver als je zuvor Angebot und Nachfrage nach Volumen, Qualität und Preis, aber auch Kapitalerträge, Löhne und Sozialleistungen.

Zukunftsforscher befassen sich damit und sagen seit geraumer Zeit genau alle möglichen ökonomischen, technischen, sozialen, kulturellen, ökologischen und 11

Vgl. dazu Michael Otto: „Unternehmerische Verantwortung im Rahmen der Globalisierung“ in Helmut Schmidt (Hrsg.): „Vertiefungen – Neue Beiträge zum Verständnis unserer Welt – Protokolle der Freitagsgesellschaft“ – 3. Auflage Siedler Verlag München 2010, S. 35 ff.

12 Siehe hierzu auch den aus Anlaß des „Armutsgipfels der Vereinten Nationen“ erschienenen Beitrag von Judith Raupp: „Das Jahrtausendthema“ – SZ Nr. 218 vom 21.09.2010, S. 4 sowie etwa den Beitrag von Bartholomäus Grill: „Afrika und die Globalisierung“ in Helmut Schmidt (Hrsg.): „Vertiefungen – Neue Beiträge zum Verständnis unserer Welt – Protokolle der Freitagsgesellschaft“ – 3.

Auflage Siedler Verlag München 2010, S. S. 97 ff.; Caspar Dohmen: „Fair funktioniert – Eine neue Studie zeigt: Alle profitieren davon, wenn Bauern und Plantagenarbeiter in Schwellen- und Entwicklungsländern gerechter entlohnt werdern. Die Produktivität steigt, es wird mehr investiert, es gibt feste Jobs. Und eds fördedrt die Demokratie“ – SZ Nr. 289 vom 14.12.2012, S. 22 13 Henrik Müller: „Die sieben Knappheiten – Wie sie unsere Zukunft bedrohen und was wir ihnen entgegensetzen können“ – Campus Verlag Frankfurt 2008; vgl. auch John Naisbitt – 8 Megatrends, die unsere Welt verändern“ – Signum Verlag Wien 1995 und zum sogen. „DHLGobal Connectedness Index“ den Bericht von Marc Beise: „Die Welt ist nicht flach – Studie: Die Globalisierung steht erst am Anfang“ – SZ Nr. 261 vom 12./13.11.2011, S. 27 14 So auch Hermann Simon: „Die Wirtschaftstrends der Zukunft“ – Campus Verlag Fft./M. 2011 mit der Besprechung von Dagmar Deckstein: „Nicht bange um die Zukunft“ – SZ Nr. 53 vom 05./06.03.2011, S. 34 und zu einer Studie „Deutschland 2030 – Zukunftsperspektiven der Wertschöpfung“ Dieter Schweer: „Industrie im Jahr 2030 – Technologische Umbrüche sind nicht aufzuhalten.

Und das Tempo der Veränderungen nimmt deutlich zu“ – SZ Nr. 29 vom 04./05.02.2012, S. 2

14

politischenVeränderungen, ja die noch bevorstehenden größten Umwälzungen der Weltgeschichte überhaupt voraus.15 Dazu gehören auch solche einer „düsteren Zukunft“. Unter derm Titel ‚A new World Order – When demand overtakes supply‘ (Eine neue Weltordnung – Wenn die Nachfrage das Angebot überholt) haben die Analysten der französischen Großbank Société Générale (SocGen) ein überwiegend pessimistisches Bild der Zukunft gezeichnet. In der bereits eingeleiteten neuen Ära sinke die Produktion, da die Bevölkerung in den Industriestaaten überaltere. Dadurch nehme das Angebot an Gütern ab, während gleichzeitig die Nachfrage nach Rohstoffen steige – was zu höheren Preisen führe.“16 Sogar die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte im Jahre 2011 einen „Zukunftsdialog“ einberufen, was angesichts der meistens nur auf den nächsten Wahltermin abgestellten Politik schon erstaunlich erscheint.17 In Wahrheit wird die Globalisierung in ihrer immer komplexeren Weiterentwicklung und den praktisch nicht mehr überschaubaren vielfältigen Folgen nach den Maßstäben der sogenannten „Chaostheorie“ immer unberechenbarer. Kleine und unbedeutend erscheinende Störungen oder Verhaltensweisen können sich schnell und überraschend zu großen Krisen auswachsen. Eine eng mit der internationalen Verflechtung und Globalisierung zusammenhängende Erscheinung ist es daher, daß sich „Krankheiten“ des Systems, der Märkte oder des Verhaltens einzelner schneller als je zuvor und nicht selten völlig überraschend auf andere Länder übertragen („Ansteckungsgefahr“). Das hat in all ihrer spontanen Wucht und Schwere – wenn auch unterschiedlich für die betroffenen Staaten, Banken, Arbeitnehmer und Steuerzahler – die aktuell noch andauernde europäische Finanz- und Wirtschaftskrise veranschaulicht. Als sie manifest geworden war, wußte die völlig überraschte Welt nur wenig über ihre wahren Auslöser und Wirkungszusammenhänge. Auch lange Zeit danach noch irrte man in den politi-

15 Dagmar Deckstein: „Das Geld ist willig, der Geist ist schwach“ – Besprechung des Buches von Henrik Müller: „Die sieben Knappheiten – Wie sie unsere Zukunft bedrohen und was wir ihnen entgegensetzen können“ – Campus Verlag Frankfurt 2008 – in SZ Nr. 284 vom 06./07.12.2008, S. 36; vgl. auch Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“. S. 95 ff.; Jeremy Rifkin: „Die dritte industrielle Revolution – Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter“ – Campus Verlag Frankfurt/M. 2011 und die Besprechung von Michael Bauchmüller: „Erzähl uns was von der Zukunft“ – SZ Nr. 227 vom 01./02./03.10.2011, S. 38 16 „Preisexplosion wegen Überalterung: Analysten warnen vor neuer Weltordnung“ - erschienen am 07.07.2011 | tonline.de sky 17 Franz Müntefering: „Politik ohne Morgen – Bundeskanzlerin Angela Merkel hat viele kluge Menschen zum Zukunftsdialog geladen. Das klingt gut – und doch bleibt ein ungutes Gefühl“ – SZ Nr. 199 vom 29.08.2012, S. 2; vgl. auch „Bloß keine Experten – Im Alleingang hat Henning Ottmann das politische Denken aufgearbeitet.Das ganze. Jetzt zieht er Bilanz – und erklärt, warum die Demokratie heute an einer historischen Schwelle steht“ – SZ Nr. 299 vom 28.12.2012, S. 12

15 schen Gremien über ihre wahren Ursachen.18 Aber es ist deutlich geworden, daß auch in Europa alles schon weitaus mehr miteinander verflochten ist, als es die meisten der noch ganz auf die nationale Karten setzenden Politiker wahrhaben wollen. Wir werden hierauf noch ganz speziell zurückkommen.

Wohlstand Spätestens seit den fetter werdenden 60iger Jahren haben wir mit dem Modell der „sozialen Marktwirtschaft“ als Ausdruck unseres auf freiem Wettbewerb fußenden Sozialstaates viele historisch gewachsene soziale Probleme hinter uns gelassen. Der Mangel an Gütern nach dem Ende des 2. Weltkriegs und eine so noch nie erlebte Motivation der Menschen, die Bedingungen ihres Lebens möglichst schnell verbessern zu wollen, haben ein Wunder bewirkt, das sogenannte „Wirtswchaftswunder“ und zunehmenden „Wohlstand für alle“. Aber nichts gilt auf ewig. Hat der Mensch ein gewisses materielles Niveau erreicht, interessiert er sich zunehmend für andere Dinge (Motivationstheorie). Bereits der in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in der Bundesrepublik Deutschland erreichte Wohlstand relativierte in seiner Folge ebenso schnell die sonstigen Werte und das Miteinander der Menschen. Vor allem bewirkte der wirtschaftliche Wettbewerb auch perdsönlichen Egoismus und die Überzeugung, daß esy im Leben allein noch auf das Geld ankomme. Es gab praktisch nicht mehr den Stand und das Bewußtsein einer „Arbeiterklasse“, wohl aber statistisch eine stabile und breite, wohlhabende sogen. „Mitte der Gesellschaft“19 Dabei verbleibt der erreichte Lebensstandard nicht automatisch auf dem hohen Niveau stehen. Er fällt zurück, wenn man sich nicht ständig um seine Aufrechterhaltung bemüht. Es gibt also auch etwas zu verlieren. Der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski erkennt inzwischen die Wohlstandsgesellschaft der alten Bundesrepublik als vorübergegangen. Auch die Deutschen leben nun wieder in einer fortgesetzten Krisenwirklichkeit. Selbst die zweifellos in Teilbereichen noch bestehende oder jetzt wieder entstehende neue Armut bewegt sich freilich

18 Heiner Flassbeck u. Friederike Spiecker: „Die Politik ist überfordert – Warum für die Eurokrise keine Lösung gefunden und die Finanzmarktregulierung torpediert wird“ – SZ Nr. 131 vom 11.06.2010, S. 24 19 Thomas Öchsner: „Die Mitte lebt – Viele Deutsche plagt die Angst vor dem sozialen Abstieg.

Alles unbegründet, meint das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft. Das Risiko, auf Hartz-IV-Niveau abzurutschen, sei gering. Und auch die Steuerlast halten die Wissenschaftler nicht für unverhältnismäßig hoch“ – SZ Nr. 198 vom 28.08.2012, S. 19; ders.: „Deutschlands Mitte brökkelt – Vom wachsenden Wohlstand profitiert nur eine Elite. Forscher des Berliner DIW und der Universität Bremen widerlegen die These von der Stabilität der Mittelschicht“ – SZ Nr. 288 vom 13.12.2012, S. 19

16

im Vergleich zu den Staaten dieser Welt noch immer auf relativ höherem Niveau.

Demographische Entwicklung „Wir sind heute ein alterndes und nicht mehr, wie noch vor drei oder vier Generationen, ein junges Volk. Im Älterwerden aber möchte man genießen, was man glücklich gewann, statt sich auf waghalsige Abenteuer einzulassen. Womöglich sind genau darin die wirklichen Gefahren der Gegenwart angelegt. Es fällt uns offenbar schwer, die Herausforderungen der Zukunft anzunehmen. Von der Natur bis zum Sozialstaat soll bewahrt werden, was wir haben. Alles Neue weckt eher Angst als Begeisterung. Wir wenden unsere Tüchtigkeit an Werkzeugmaschinen, Autos und Eisenbahnen; wir produzieren, was wir immer schon produzierten, aber wir sind nicht mehr, wie am Anfang des 20. Jahrhunderts das Pionierland des Fortschritts. Von einer Weltgeltung deutscher Wissenschaft und Forschung kann erst recht nicht mehr die Rede sein...“ Wer sich heute mit der Bevölkerungsentwicklung der Menschheit insgesamt befaßt, muß sich vor allem mit zwei Aspekten auseinandersetzen. Der eine ist das quantitative Wachstum der Weltbevölkerung, der andere betrifft das enorme Gefälle auf den Gebieten der Wirtschaft, Bildung, Gesundheit und Ökologie und damit auch in den Lebensumständen der Menschen. Dieses zu einem für alle erträglichen sozialen Ausgleich zu bringen, so daß die Menschheit insgesamt zu einer weiteren realen Verwirklichung der allgemeinen Menschenrechte kommt wie auch zu einer Verringerung gewaltsamer Auseinandersetzungen, ist zweifellos für alle eine der größten Herauforderungen der Zukunft.

Die zahlenmäßige Entwicklung der Weltbevölkerung steigt weiterhin rasant an.

Während um Christi Geburt auf der ganzen Welt nur rund 300 Millionen Menschen gab, stieg die Bevölkerungszahl seit etwa 1800 besonders steil an. Seit 1965 bis 2000 verdoppelte sie sich fast von 3,3 Mrd. auf 6 Mrd. Menschen. Seit 1970 wächst ihre Zahl jährlich um über 70 Mio.20 Erst im Jahre 2040 oder 2050 soll sie nach derzeitigen Erkenntnissen weiter fast ausschließlich in den Entwicklungsländern rasch um 2,3 Milliarden auf 9,1 Milliarden Menschen wachsenden, bevor sie zum Stillstand kommt und es dann wohlmöglich wieder weniger Menschen auf dem Globus geben könnte.21 Aber bis dahin gilt es, den berechenbaren Tatsachen in die Augen zu sehen.

20

Vgl. zu den Auswirkungen auch Paul Wallace: „Altersbeben“ – Campus Verlag Frankfurt 2002 Peter Hahne: „Schluss mit lustig..“, S. 116; so neuerdings auch die Hochrechnung der Vereinten Nationen (Bericht der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung – DSW vom 11.3.2009) – „Weltbevölkerung wächst“ – SZ Nr. 59 vom 12.03.2009, S. 8 21

17

Demographische Besonderheiten gelten dabei in Deutschland und anderen europäischen Industriestaaten, auf die sich zugleich eine rapide steigende Alterung konzentriert.22 Gabor Steingart (Das Ende der Normalität) sprach davon, daß Deutschland immer mehr eine „Lok ohne Heizer“23 sei. Es zählt inzwischen mit einem Durchschnittsalter von 44,2 Jahren – es ist das höchste innerhalb der Europäischen Union – als das „Altenheim Europas“. Auch der Anteil von Menschen ab 65 Jahren an der Gesamtbevölkerung liegt mit 20,7 Prozent an der Spitze.24 In Deutschland stieg zwar dank des enorm gewachsenen medizinischen Fortschritts und der besseren Ernährung auch die Zahl der Bevölkerung seit 1970 von 77,7 Mio auf 82,5 Mio im Jahre 2004.25 Das war freilich statistisch auch dadurch begründet, daß die älteren Menschen immer länger lebten, während zu wenig jüngere nachwuchsen. Auf Sicht ist auch hier wieder ein Rückgang der Einwohnerzahl auf 71 Millionen zu erwarten. Das Bundesarbeitsministerium warnt, daß die Zahl der Erwerbstätigen bis zum Jahre 2025 um bis zu 6 Millionen abnehmen. Im „Demografiebericht der Bundesregierung“ heißt es: „Im Jahre 2050 wird jeder Dritte (34 Prozent) mindestens 65 Jahre durchlebt haben,26 wobei – im Gegensatz zu anderen Industriestaaten – der Verlust von Erwerbstätigen auch durch die Aufnahme von Ausländern und Migranten nicht ausgeglichen werden wird.27

Umweltfragen Eine weitere Kehrseite ungebremsten marktwirtschaftlichen Verhaltens betrifft seine Zukunfts- und Verteilungsblindheit, seine faktische Ignoranz gegenüber kollektiven Gütern wie Investitionen in Bildung, in andere Zukunftsaufgaben und in ein Infrastruktur, die allen zugänglich ist und allen zugute kommt.28 Möglicherweise noch schwerer wiegt die Vernachlässigung des Umwelt- und Klimaschutzes angesichts des Raubbaus an den vermeintlich grenzenlos vorhandenen 22 Joannis Brühl: „Veränderung ls Chance – Die Kanzlerin will dem demographischen Wandel mit Familienförderung begegnen“ – SZ Nr. 230 vom 05.10.2012, S. 5 23 Vgl. auch Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“, S. 62 ff.

24 „Das Altenheim Europas“ – SZ Nr. 77 vom 02./03.04.2011, S. 25 25 Alle Zahlenangaben aus http://wikipedia.org/wiki/...

26 Joannis Brühl: „Veränderung ls Chance – Die Kanzlerin will dem demographischen Wandel mit Familienförderung begegnen“ – SZ Nr. 230 vom 05.10.2012, S. 5 27 Siehe auch „Mehr Zuwanderung – Zahl der Ausländer in Deutschland steigt wieder leicht“ – SZ Nr. 76 vom 01.04.2011, S. 6 28 Julian Nida-Rümelin: „Keynes bleibt tot – Warum es falsch ist, nun die Steuern zu senken – oder einfach die Methodebn des britischen Ökonomen wiederzubeleben“ – SZ Nr. 95 vom 25./26.04.2009, S. 2; Andreas Oldag: „Armgespart“ – SZ Nr. 164 vom 18.07.2013, S. 17

18 und kostenlosen natürlichen Ressourcen.29 Insgesamt bewegen wir uns wegen dieser Nachteile auf einem Wege, der die Ressourcen dieser Erde schneller verzehrt als diese – wenn überhaupt – nachwachsen können. Aber alle Mahnungen und Appelle bleiben ungehört. Den vielen wohltönenden Worten folgen keine Taten.

Wer erinnert sich heute noch an den im Jahre 1973 Aufsehen erregenden Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit? Es ging um die „Grenzen des Wachstums“ verbunden mit der warnenden Erkenntnis: Unsere Bevölkerungsund Produktionswachstum ist ein Wachstum zum Tode. Insbesondere die Themen Unterernährung, Rohstoff- und Energieverknappung30 sowie Umweltzerstörung sollten im Handeln aller Verantwortlichen eine neue Dimension erhalten.31 Hier wurde endlich dem rein quantitativen und ökonomisch orientierten Wachstum eine qualitative Komponente im Sinne einer Bedingung für die weitere Entwicklung zur Seite gestellt.32 Einen großen Handlungsdruck über die viel diskutierte Erkenntnis hinaus hat dieser Bericht jedoch nicht ausgelöst.

Erst einige Jahre später verstärkten sich Mahnungen, bei allem Tun auf dieser Welt nicht weiter die Zerstörung der Umwelt in Kauf zu nehmen, die weiterhin als kostenlose Ressource für das Wirtschaften hemmungslos ausgebeutet wurde.

Im Jahre 1992 versuchte das Mitglied des Club of Rome Ervin Laszlo mit seinem Buch „Der Laszlo-Report“ erneut „Wege zum globalen Überleben“ zu weisen.33 Etwa gleichzeitig erhielt der ehemalige amerikanische Vizepräsident Al 29

Al Gore: „Wege zum Gleichgewicht – Ein Marschallplan für die Erde“ – Fischer Taschenbuch Verlag 1992/1994; vgl. auch Sigmar Gabriel: „‘Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren‘ – Bundesumweltminister Sigmar Gabriel entwirft das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und fordert Mindeststandards für die internationalen Finanzmärkte“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 26 (Auszug aus seinem Buch „Links neu denken“); ähnlich auch der ehemalige britische Premierminister Tony Blair: „Der Wille und der Weg – In L’Aquila müssen die Staats- und Regierungschefs endlich Schritte gegen den Klimawandel verabreden“ – SZ Nr. 153 vom 07.07.2009, S. 2 30 Siehe auch Corina Bastian u. Anne Gunkel (Hrsg.): „Wasser – Konfliktstoff des 21. Jahrhunderts“ – Universitätsverlag Winter Heidelberg 2008 und Otto Schedl: „Programmierte Energiekrise?“ – Bd. 263/264 GB von Geschichte und Staat – Günter Olzog Verlag München 1982 31 Dennis Meadows, Donella Meadows, Erich Zahn u. Peter Milling: „Die Grenzen des Wachstums – Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“ – Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek 1973; neuerdings Meinhard Miegel: „Exit – Wohlstand ohne Wachstum“ – Propyläen Verlag Berlin 2010 und die Besprechung von Björn Finke: „Die große Sause ist vorüber“ – SZ Nr. 66 vom 20./21.03.2010, S. 38; Marc Beise: „Ein letztes Hurra – Deutschland geht es hervorragend. Womöglich nicht mehr lange“ – SZ Nr. 88 vom 15.04.2011, S. 17; Vittorio Hösle: „Zeiten des Übergangs – Die grüne Lehre: Die Politik muss soziale Gerechtigkeit der Nachhaltigkeit unterordnen“ – SZ Nr. 89 vom 16./17.04.2011, S. 13 32 So jetzt auch „Eine neue Ordnung mit bewährten Prinzipien – Schwarz-gelber Schulterschluss: Norbet Röttgen (CDU) und Christian Lindner (FDP) plädieren für eine Besinnung auf die soziale Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 71 vom 26.03.2010, S. 5 33 Ervin Laszlo: „Der Laszlo-Report – Wege zum globalen Überleben“ – Wilhelm Heyne Verlag München 1992

19

Gore den Nobelpreis für seine „Wege zum Gleichgewicht – Ein Marshallplan für die Erde“.34 Auch der Umweltminister der großen Koalition in Deutschland, Sigmar Gabriel, hat sich in einem Buch warnend dazu geäußert: „Den neuen Herausforderungen der globalen Umweltzerstörung und der Gefährdung des Weltklimas begegnen die neuen und alten Marktradikalen ohne jede Strategie – außer jener der Deregulierung, der weltweiten Entstaatlichung. ...Die fortgesetzte Bedrohung von natürlichen Lebensgrundlagen und Weltklima ...Trotz drei Jahrzehnten Debatte und mancher gelungener Umstellung der Weichen sind wir noch immer dabei, die natürlichen Grundlagen der menschlichen Zivilisation zu ruinieren. Wir müssen schneller und wirksamer umsteuern, aber nicht auf Kosten unserer Wohlstandes...“ 35 Anstatt zu sinken, ist der globale Ausstoß an Treibhausgasen seit dem Jahr 2000 um etwa 20 Prozent gestiegen. In den Jahren 2011 wächst er nach Feststellungen der Wissenschaftler vom ‚Global Carbon Project‘ und vom Zentrum für internationale Klimaforschung in Oslo um 3 Prozent auf 34,8 Milliarden Tonnen und voraussichtlich 2012 um weitere 2,6 Prozent.36 Das UNUmweltprogramm Unep warnt und mahnt in seinem 2012 in London vorgelegten und der Vorbereitung des UN-Klima-Gipfels in Doha (Katar) dienenden KlimaBericht zugleich, daß ohne einschneidende Maßnahmen eine Begrenzung des Temperaturanstiegs auf maximal zwei Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter nicht zu erreichen ist.37 Denn der Klimawandel vollzieht sich schneller, als Pessimisten noch vor zehn Jahren befürchtet hatten.38 Wahrscheinlich nicht zum letzten Mal hat die Natur sich auch selbst zu Wort gemeldet. Spätestens die Erdbebenkatastrophe in Japan im Jahre 2011 mit ihren verhererenden Folgen auf die japanischen Atomkraftwerke hat mehr als alle bisherigen Worte die Menschheit aufgerüttelt, daß selbst die als sicher geltenden und bewußt als schonend gedachten, den Ausstoß von Kohlendioxyd vermeidenden Energiespender den erwarteten Ergebnissen – von der Problematik der

34

Al Gore: „Wege zum Gleichgewicht – Ein Marshallplan für die Erde“ – Fischer Taschenbuch Verlag 1992; siehe auch Andreas Weber: „Biokapital – Die Versöhnung von Ökonomie, Natur und Menschlichkeit“ – Berliner Verlag Berlin 2008 und das Jugendbuch von Ruth Omphalius u. Monika Azakli: „Klimawandel“ – Arena Verlag Würzburg 2008 35 Sigmar Gabriel: „‘Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren‘ – Bundesumweltminister Sigmar Gabriel entwirft das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und fordert Mindeststandards für die internationalen Finanzmärkte“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 26 (Auszug aus seinem Buch „Links neu denken“) 36 Zitiert von Christopher Schrader: „Steter Anstieg – Der Ausstoß von Kohlendioxyd wächst weiter“ – Sz Nr. 279 vom 03.12.2012, S. 18. Die Ergebnisse wurden online veröffentlicht in Nature Climate Change und Earth System Science Data.

37 „‘Es gibt Zweifel‘ – UN: Welt verfehlt Klimaziele“ – SZ Nr. 270 vom 22.11.2012, S. 18 38 Christopher Schrader: „Grenzerfahrung – Der Klimawandel vollzieht sich schneller, als Pessimisten noch vor zehn Jahren befürchtet hatten“ – SZ Nr. 273 vom 26.11.2012, S. 2

20

Endlagerung des Atommülls abgesehen – nicht gerecht wurden. Im Gegenteil: Hier wurden nicht nur Schäden vermieden, sondern zusätzlich bewirkt.

Selbst wenn sofort einschneidende Maßnahmen zum Schutz der Umwelt in verschiedenen Richtungen ergriffen werden, muß man sehen, daß nationale Alleingänge – immerhin wird Deutschland in einer Vergleichs-Studie der Bertelsmann-Stiftung lobend erwähnt39 – dabei nicht mehr wesentlich weiter helfen, so sehr ist die Belastung der Umwelt längst zu einem grenzüberschreitenden Phänomen geworden. Um so wichtiger ist es, den notwendigen Verbund mit anderen Staaten zu finden und wenigstens in Europa oder auch in einem atlantischen Bündnis die bisherigen Hauptverursacher klimatischer Veränderungen einzufangen40 und Lösungen zu finden, die auch von den aufstrebenden Energieverwendern als technisches ebenso wie ökonomisches Vorbild für sich genutzt werden können. Gerade aber weil eine wirksame und nachhaltige Umwelt- und Klimapolitik in ihren relevanten Ursachen und Wirkungen allein national nicht mehr lösbar ist, tut sich die wettbewerbsorientierte Weltwirtschaft schon schwer, international zu gemeinsamen Konzepten zu kommen. Es geht hierbei nicht nur um die allgemeinen gesellschaftlichen Kosten, gesundheitliche Begleitrisiken etwa durch Chemie und Lärmbelastungen, Flächenverbrauch und sonstige Umweltschäden, die heute noch stillschwiegend hingenommen und in den laufenden Wirtschaftsprozessen von niemandem automatisch verantwortlich „mitreguliert“ werden.41 Es geht primär um die Bedingungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs, um Produktionskosten und Gewinne der Unternehmen, die auf dem Weltmarkt gegeneinander konkurrieren.

Nur was ist bei allen Bemühungen, die auf die Menschheit zukommenden Probleme wenigstens bewußt zu machen, tatsächlich geschehen, um ihnen auch zu begegnen? Es gibt viele und immer wieder neue Hemmnisse, vorrangig offenbar wirtschaftlicher Art, obwohl Ökologie und Ökonomie nicht zwangsläufig Gegensätze sein müssen. Trotz spektakulärer und meistens populistisch geprägter Politikerfehden gewinnt man nicht die Überzeugung, daß sie das hochkomplexe, aber auch wirtschaftlich sinnvolle Geschehen zwischen „Ökologie und Ökonomie“42 von den Realitäten her beherrschen und damit auch die Gewichte für die Zukunft richtig setzen.

39 Hans-Jürgen Jakobs: „Deutschland wird besser ... aber das Kanzleramt hat noch einiges zu tun – Ergebnisse einer Studie der Bertelsmann-Stiftung“ – SZ Nr. 75 vom 31.03.2011, S. 19 40 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 186 ff.

41 Michael Bauchmüller: „Die halbe Wahrheit – Die Straßenlobby klagt über Lasten – und unterschlägt die größte Last“ – SZ Nr. 17 vom 22.01.2010, S. 17 42 Man verfolge beispielsweise nur die Aussagen des Münchner Thermodynamikers Franz Mayinger: „Das Energiedilemma - Steht Ökologie gegen Ökonomie? - Welchen effektiven Nutzen bringen alternative Rohstoffe? Welche tatsächlichen Kosten verursachen Wind- und Solarkraftwerke? Wo liegen ungenutzte Energie- Einsparpotentiale?“ – Bayerischer Rundfunk BR-Online – alpha-Campus vom 15.01.2011; Anselm Görres: „Ökosolziale Marktwirtschaft, was sonst? Eigentlich weiß es jeder:

21

Das sogenannte Kyoto-Protokoll war nicht mehr als ein in den Zielen noch unzureichender Beginn von Vereinbarungen, zu denen sich freilich noch nicht einmal alle Staaten verpflichtet hatten. Weder in Kopenhagen noch in Bonn ist es später gelungen, sich auf einfache, wirksame und klar verständliche Maßnahmen zu einigen noch auch Mehrheiten für gemeinsame Wirkstrategien für die nächste Konferenz in Mexico zu gewinnen, die das Kyoto-Protokoll ablösen bzw. weiterentwicklen soll.43 Möglicherweise haben sich die Dinge im mexikanischen Cancún essentiell entscheidend weiterentwickelt.44 Aber sicher ist das nicht.

Politik benötigt – wenn sie wirksam sein soll – neben einer klaren und verständlichen Konzeption der Politik in der Sache eine nicht nachlassenden Kommunikation zu den Menschen. Deshalb ist Klimapolitik mehr als die Umsetzung wissenschaftlicher Vorgaben. Hier kommt es wesentlich auf die Machbarkeit und möglichst unmittelbare Wirkung an.45 Aber was ist zu erwarten, wenn sich schon die Parteien innerhalb der Koalition nicht einig sind?46 Vielleicht hat der amerikanische Präsident Obama zu der Überzeugung beigetragen, daß nun auch in Amerika den Klimaschutz ernst nehmen muß, indem er Tausenden von Kraftwerrken in den USA deutlich schärfere Kohlendioxyd-Grenzwerte vorgeben will.47

Mängel und Versäumnisse der derzeitigen Regierung Bevor wir uns Einzelthemen intensiver zuwenden, sei hier zu Beginn mit wenigen Sätzen ein Überblick über die wichtigsten aktuellen und künftig bevorstehenden Problemlagen vorangestellt. Dabei zeigt sich bereits, wie wenig die Die liberal-soziale Demokratie braucht eine dritte Säule, den starken Umweltstaat. Dass dieser fehlt, nimmt nur eine Minderheit wahr“ – SZ Nr. 208 vom 09.09.2013, S. 18 43 Martin Kotynek: „Winzige Schritte zum Klimaschutz – Bei der UN-Konferenz in Bonn ist zumindest die Stimmung besser als in Kopenhagen“ – SZ Nr. 132 vom 12./13.06.2010, S. 8 44 Michael Bauchmüller: „Fortschritte in Cancún – Klima-Verhandlungen kommen besser voran als erwartet“ – SZ Nr. 284 vom 08.12.2010, S. 8 45 Oliver Geden: „Mehr Sinn für Realität in der Klimapolitik – Den Konzepten von Naturwissenschaftlern und Klimaökonomen liegt zu viel Steuerungsoptimismus und Rigidität zugrunde“ – SZ Nr. 181 vom 09.08.2010, S. 2 46 Michael Bauchmüller: „Altmaier will, Rösler nicht – Der Klimaschutz spaltet die4 Koalition bis zur Blockade: Lange gab der Umweltminister den lächelnden Kommunikator. Doch kurz vor der internatioalen Konferenz in Katar greift er nun erstmals öffentlich den Wirtschaftsminister an“ u. ders.: „Was für eine verschenkte Chance“ – SZ Nr. 272 vom 24./25.11.2012, S. 7 u. 4 47 Nicolas Richter: „Obama macht Ernst beim Klimaschutz – Der US-Präsident will Tausenden Kraftwerken in Amerika deutlich schärfere Kohlendioxyd-Grenzwerte vorgeben“ u. „Obamas Minimallösung“ – SZ Nr. 145 vom 26.06.2013, S. 1 u. 4

22

wirklich wichtigen Handlungsfelder ein echtes Anlliegen der politischen Parteien und der zuständigen gelb-schwarzen bzw. schwarz-roten Regierungen unter Angela Merkel gewesen sind.48 Es war geradezu peinlich, wie die Bundeskanzlerin zum Jahreswechsel 2014/2015 und auch danach regelmäßig sich und die große Koalition mit Lob überzog, was man zum einen grundsätzlich nicht tut („Eigenlob stinkt“) und zum anderen und vor allem sachlich in keiner Weise gerechtfertigt war. Kabarettisten wie Urban Priol fanden dafür den treffenden Satz: „Es fährt ein Zug nach nirgendwo“!

Europa Wir haben oben die segensreichen Aspekte des sich zusammenschließenden Europas in Erinnerung gerufen. Angesichts zahlreicher Veränderungen sowohl bei den Mitgliedstaaten, aber auch außerhalb derselben, die sich derzeit bilanzieren lassen, ist eine große Verunsicherung eingetreten vor allem bei den Menschen, die sich von der bisherigen Entwicklung Europas nicht mitgenommen fühlen und sich daher kaum noch ein realistisches Bild machen können, was die Europäische Union für sie bedeutet und auch künftig bedeuten kann. Die Verunsicherungen resultieren vor allem aus: -

der auf alle zugekommenen Flüchtlingsfrage und der mangelnden Fähigkeit oder Bereitschaft, hier einen gemeinsamen Lösungsweg zu suchen,

-

dem Erstarken nationaler und nationalistischer Tendenzen besonders in Östereich, in Polen (zugleich verbunden mit einer starken Erosion des Rechtsstaates), ähnlich, aber doch wieder ganz anders in der Türkei und dem Aufschieben der Beitrittsoption, dann in Großbrittamnien mit seinem gänzlichen Ausscheiden aus dem europäischen Völkerverbund („Brexit“). Dazu zählt im weiteren auch die Bildung von erzkonservativen bzw. rechtsorientierten Parteien in Frankreich, Deutschland und der Niederlande.,

-

der mangelnden bzw. zu komplizierten, weil weit entfernten demokratischen Legitimation all dessen, was heute in Brüssel entschieden wird,

-

einer für viele nicht mehr nachvollziehbare Aufgabenzuordnung zwischen EU und dem, was nach wie vor in nationaler Verantwortung liegt und tendenziell auch bleiben soll. Es gibt für die kommenden Jahre keine klaren

48

Unter Bezugnahme aquf den Sachverständigenrat ebenso Guido Bohsem: „Die Retro-Apo“ – SZ Nr. 261 vom 13.11.2014, S. 19

23

einvernehmlichen Ziele und schon gar keine Aufgaben- und Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU-Ebene und den Mitgliedstaaten nach der Formel: So viel wie möglich dezentral, aber so viel wie nötig zentral. Man könnte auch zu wichtigen Einzelfragen die Zielsetzungen zentralisieren oder jedenfalls koordinieren. Deren Erfüllung muß jedoch weitgehend dezentral bleiben (Wettbewerbsprinzip).

Somit bleibt die immer drängendere Frage: Europa – was soll aus dir einmal werden? Es fehlt angesichts vieler nach wie vor ungelöster Probleme wie der nur aufgeschobenen, aber nicht gelösten Finanzkrise, neuestens der Flüchtlingskrise, aber auch der schnell wachsenden weltweiten Herausforderungen wie Klimaentwicklung, innere und äußere Sicherheit und eines extremen Bildungsgefälles überall schlicht ein neuer politischer Aufbruch zu einer sinnvollen und effizienten Weiterentwicklung Europas und seiner Rolle, des jedenfalls partiell intensiveren Zusammenschlusses und Zusammenarbeit europäischer Länder. Der erkennbaren Tendenz einer Rückkehr zu nationalen , für die Zukunft aber unbrauchbaren Denkmodellen und Handlungsformen steht keine praktikable Vision gegenüber, wie sich die Europäer gemeinsam in einer Welt behaupten wollen, die mehr und mehr den sich als dominant entwickelnden Großstaaten wie China oder Indien ausgesetzt sind. Deutschland käme hierbei angesichts seiner Größe und wirtschaftlichen Potenz eine Initiativ- oder gar Führungsrolle zu. Aber nichts davon ist zu sehen.

Forschung und Bildung Trotz des bereits lange zurückliegenden „Bildungsgipfels“ in Dresden im Oktobeer 2008 gibt es in der seinerzeit ausgerufenen „Bildungsrepublik Deutschland“ nach wie vor erhebliche Mängel. Vor allem fehlt noch immer eine klare Priorität für finanzielle Investitionen auf diesem Sektor.49 Die bis zum Jahre 2015 angestrebten 19 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für Bildungsinvestitionen sind nicht erreicht worden. Gemessen an diesem Versprechen werden jährlich 23,5 Milliarden Euro zu wenig ausgegeben.50 Noch in ihrem Frühjahrsgutachten 2016 49 Zu einer aktuellen Studie des Essener Bildungsforschers Klaus Klemm für den Deutschen Gewerkschaftsbund vgl. Thomas Öchsner: „Zu viele Abgehängte – Die von der Kanzlerin ausgerufene ‚Bildungsrepublik Deutschland‘ hat wichtige Ziele verfehlt. Zu viele Jugendliche brechen die Schule ab, Millionen junger Menschen haben keine Ausbildung. Der DGB fordert eine neue Strategie“ – SZ Nr. 4 vom 07.01.2015, S. 6 und „DGB-Studie - Bildungspolitik hinkt selbstgesteckten Zielen hinterher - Bildungsgipfel - eine Zwischenbilanz: "Bildungsrepublik Deutschland bleibt ein gespaltenes Land" vom 07.01.2015, 13:08 Uhr | t-online.de, AFP 50 Thomas Öchsner: „Mangelhaft bis ungenügend – Für die einst ausgerufene ‚Bildungsrepublik‘ geben Bund und Länder zu wenig Geld aus. Der DGB fordert nun Reformen“ – SZ Nr. 241 vom

24

übten die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute zu Recht massive Kritik an der Regierung, die trotz hoher Beschäftigung, gestiegener Renten, eines ausgeprägten Inlandskonsums und erneut unerwartet hoher Steuereinnahmeüberschüsse ihre zukunfts- und wachstumsorientierten Ausgaben in Relation zur Wirtschasftsleistung kaum ausweitet hat. Das gilt vorrangig für die Bildung und eine notwendige Rentenreform.51 Die OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ vom September 2016 stellt fest, daß Deutschland noch immer nur 4,2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in Bildungsinstitutionen investiert, womit es unter dem OECD-Durchschnittswert liegt.52 Dabei besteht im Jahre 2016 allein für die Sanierung von Gebäuden, für Bibliotheken, Computer und Forschungsmaterial eine Finanzierungslücke von 26 Milliarden Euro.53 Seit Jahrzehnten verliert man sich nur in nutzlose Strukturreformen (Rechtschreibreform, Bachelor- Master, Dauer, Bezeichnungen und Etiketten, formale Strukturen und Dauer auch im Schulsystem, Schreibenlernen nach Gehör) statt innerer und qualitativ wirksamer Verbesserungen (mehr Kita-Plätze, genügend Ausbildungsplätze, verbesserte Lehreraus- und Weuiterbildung und deren Leistungsvergütung, Reduzierung der abschlußlosen Abgänger, individuelle Lernbetreuung in den Schulen, ausreichende und vergleichbare Basisqualifikation für den Beginn der Berufs- oder Hochschulausbildung, Lernfreiheit nach Humboldt an den Universitäten, die Zeit zum Denken und Diskutieren läßt.54) Es ist ein Hohn, von Bildungsrepublik Deutschland zu sprechen, wenn mehr als sieben Millionen Menschen nicht richtig lesen oder schreiben können, 45000 Jugendliche jährlich die Schule ohne Abschluß verlassen, es selbst Abiturienten im Jahre 2015 mit einem Notenabschluß von knapp über einer eins (1,4 aufw.) nicht mehr möglich ist, an einer deutschen Hochschule das Studium der eigenen Wahl (z. B. Medizin) zu beginnen. Noch immer herrscht zudem nur unklarer, verfilzter und insgesamt nachteiliger, weil aufwendiger Bildungsföderalismus statt einer über20.10.2015, S. 7; Kim Björn Becker: „Hilferuf aus dem Hörsaal – An deutschen Hochschulen fehlt es an Geld und Personal klagen die Chefs. Doch die Stimmung war schon schlechter“ – SZ Nr. 236 vom 12.10.2016, S. 6 51 Guido Bohsem: „Wahlgeschenke statt Wachstum – Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute üben massive Kritik an der Regierung. Trotz der ausgezeichneten Konjunktur halten sie nachhaltige Reformen für zwingend"“- SZ Nr. 86 vom 14.04.2016, S. 19 52 „Note: befriedigend – Die OECD lobt das deutsche Bildungssystem – mit Abstrichen“ – SZ Nr. 215 vom 16.09.2016, S. 6 53 Kim Björn Becker: „Hilferuf aus dem Hörsaal – An deutschen Hochschulen fehlt es an Geld und Personal klagen die Chefs. Doch die Stimmung war schon schlechter“ – SZ Nr. 236 vom 12.10.2016, S. 6 54 Isabell Welpe, Lehrstuhl für Strategie und Organisation an der TUM School of Management in München – zit. nach Martina Scherf: „Führen lehren – TU Professorin Isabell Welpe macht mit kritischen Studien zur Unternehmenskultur und Frauenförderung auf sich aufmerksam. Jetzt ist sie zur Direktorin des Instituts für Hochschulforschung berufen worden“ – SZ Nr. 253 vom 04.11.2014, S. R6

25

sichtlichen und effizienten Gemeinsamkeit bzw. Zusammenarbeit von Bund und Ländern, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Deshalb muß das im Grundgesetz verankerte, in einer multifunktionalen modernen Gesellschaft aber geradezu abstruse Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern beseitigt werden.

Alles in allem verbindet sich damit noch immer schlicht eine institutionelle Bildungsverweigerung.

Wirtschaft Daß es der deutschen Wirtschaft in der Ära Merkel von Anfang an vergleichsweise gut ging, war natürlich nicht ihr Verdienst oder das ihrer Regierung, sondern allein das der Wirtschaft selbst (Flexibilität, Wettbewerbsfähigkeit im Export), einigen günstigen Rahmenbedingungen (z. B. weltweiter Verfall des Ölpreises) und der durch den vorigen Bundeskanzler Schröder geschaffenen Voraussetzungen zur Überwindung der Krise (Agenda 2010).55 Der Export brummte, auch die interne Konsumnachfrage stieg, weil die Menschen nicht mehr wußten, was sie angesichts des Sparzinsverfalls mit ihrem Geld ansonsten hätten anfangen sollen. Die Arbeitslosigkeit sank demographiebedingt auf einen nie gekannte unteren Rest. Die Steuereinnahmen erzielten von Mal zu Mal nicht vorhersehbare Überschüsse für die staatlichen Haushalte (dazu unten mehr).

Das daraus resultierende, überwiegend positive Wohlgefühl der Menschen in Deutschland wurd jedoch von Seiten der Politik nicht weiter entwickelt, sondern lediglich politisch „verwaltet“. Es gab zwar in dieser Zeit bereits einige Faktoren wie etwa die steigenden Strompreise oder wachsenden bürokratischen Anforderungen (auch aus Brüssel), die sich ebenso wie einige politische Projekte (Mindestlohn, Mütterrente, Rente mit 63) eher zu dem seit Herbst 2014 erkennbaren leichten Abschwung beitrugen (so die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Herbstgutachten 2014), ohne sich dann wirklich als nachhaltige Wachstumsbremse zu erweisen.

Es fehlte aber zur nachhaltigen Sicherung der positiven wirtschaftlichen Entwicklung für die voraussehbaren Anforderungen an einer wirtschaftsfördernden politischen Strategie, was auch der Sachverständigenrat in seinem Herbstgutachten 2014 zu Recht aufgriff.56 Was wäre nicht alles zu tun gewesen angesichts einer zu lang anhaltenden Investitionsschwäche etwa auf den einzelnen Sektoren 55

Für das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) fällt die Bilanz ihrer Regierungszeit durchwachsen aus."Einiges bewegt, viel liegengelassen“ – T-Online vom 16.11.2015 Vgl. dazu im einzelnen Giodo Bohsem: „Schuld und Unschuld – Die Sachverständigen greifen in ihrem Gutachten die Politik der Regierung Merkel an. Sie geißeln die Beschlüsse zum Mindestlohn und das Rentenpaket. Zusätzlich räumen sie aber mit ein paaar lieb gewonnenen Annahmen in der politischen Debatte auf“ – SZ Nr. 261 v. 13.11.2014, S. 20

56

26

der Infrastruktur? Zu denken ist an das Straßenverkehrswege- und das Schienennetz – viel zu spät und nur unter dem akuten Druck nicht mehr hinnnehmbarer Mängel und Probleme wurde der Verkehtswegeplan 2016 verabschiedet, an Trassen für die Verteilung von Strom aus erneuerbaren Energien über alle Bundesländer, der Schaffung bezahlbarer Wohnungen in den wirtschaftlichen Ballungsgebieten bis hin zu einem modernen und kapazitätsbreiten Netz für eine wettbewerbsgerechte elektronische Kommunikation?

Finanzen Trotz nie dagewesener Steigerungen der Steueraufkommen in den letzten Jahren ist keine grundlegende Reform erfolgt oder in Sicht etwa zu folgenden Teilbereichen: -

Einnahmensicherung durch steuerlich maßgebliche Festlegung des Ortes, wo die steuerpflichtigen Gewinne erwirtschaftet werden und nicht nach dem Sitz der Unternehmenszentrale (Vermeidung der Flucht von Großunternehmern in Steueroasen).

-

Haftung für grob fahrlässige Verschwendung von Steuergeldern (nach angeblichen Expertenschätzungen 5-10 Prozent des Haushaltsvolumens - zB bei komplexen Bau- und Entwicklungsvorhaben, Kauf und Pflege der Ausrüstung der Bundeswehr und vieles mehr im Sinne der Berichte des Bundesrechnungshofes und des Bundes der Steuerzahler)

-

Vereinfachung des materiellen und formellen Steuerrechts, Transparenz und Entwirrung auch in den Beziehungen von Bund und Ländern, alles verbunden mit erheblichen Einsparungen in der Finanzverwaltung,

-

Neuordnung des Länderfinanzausgleichs, klarere Abgrenzung der steuerlichen Zuständigkeiten und dezentrale Autonomien auch bei Steuersätzen

-

Sind die Ausgabenschwerpunkte von Bund, Ländern und Gemeinden richtig? Strenge Prioritätenliste für die staatlichen Ausgaben (zB Investitionen in förderliche Rahmenbedingungen für die Wirtschaft wie Bildung und Infrastruktur an Stelle von ineffizientem Verwaltungs- und öffentlicher Konsumaufwand (zB Verfassungsschutz) oder unmittelbarer staatlicher Wahrnehmung oder Beteiligung/Investitionen an konkreten wirtschaftlichen Vorhaben der Privatwirtschaft)

27

-

In diesem Sinne Streichung von aktuell und absehbar minderpriorisierten Subventionen,

-

Abbau der mittleren („kalten“) Progression,

-

Wegfall (nicht Ersatz!) des Solidaritätszuschlags,

Vor dem Hintergrund der andauernden europäischen Finanz- und Bankenkrise bleibt immer mehr nur die eine Frage: Soll alles, was an tasächlicher oder vermeintlicher Problemlösung erfolgt, nur noch zu Lasten der Steuerzahler und Sparer gehen?

Arbeitsmarkt und Sozialwesen Was ist zu tun im Hinblick auf die auseinanderklaffende Tendenz von arm und reich? Was gegen drohende Altersarmut?

Was bedeutet die „digitale Revolution“ für ein arbeitsintensives Industrieland wie Deutschland?57 Fehlende Gesamtstrategie und Finanzierungsplan für die älter werdende Gesellschaft in Fragen der

57

-

Altersversorgung („Altersarmut“). Das einzige Modell neben der gesetzlichen Rentenversicherung ist die Riesterrente, die jedoch wegen Einkommensarmut gerade der Bedürftigen und als Folge des viel zu geringen Zinsniveaus nicht funktioniert.

-

Finanzierung des Gesundheitswesens (nach Leistungen, Qualität und Erfolg statt nach „Krankheit“, Fallpauschalen etc.)

-

Konzept zur endgültigen Behebung und Finanzierung des „Pflegenotstands“58

Ebenso Guido Bohsem: „Die Retro-Apo“ – SZ Nr. 261 vom 13.11.2014, S. 19 Heribert Prantl: „Aufschrei gegen den Pflegenotstand – Eingesperrt, ruhig gestellt, verwahrlost: Die Situation vieler Menschen in Altersheimen ist alarmierdne. Sieben Beschwerdeführer haben jetzt genug, sie reichen in Karlsruhe Verfassungsklage ein“ und Nina von Hardenberg: „Kekse sind schnell hingestellt – Wenn Prüfer kommen, schneiden fast alle Pflegeheime gut ab. Dabei fehlen 58

28

Sicherheit und Verteidigung Dringende, bislang vernachlässigte politische „Baustellen“ sind: -

Versagen der Verfassungsschutzorgane Problematischer Abbau der inländischen Sicherheitskräfte (Polizei, Gerichte) Vernachlässigung der Struktur, personellen Ausstattung und Ausrüstung der Bundeswehr.

Konzept und Umsetzung eines menschlich, rechtlich und wirtschaftlich adäquaten Einwanderungs- Flüchtlings- und Asylkonzepts und der damit verbundenen Integration ausländischer Menschen.

Die meisten dieser Punkte sind unmittelbar miteinander verknüpft. Vor allem durch den zeitlich unerwartet und schnell sich vollziehenden Flüchtlingsstrom aus den Ländern des nahen Ostens nach Europa hat sich gezeigt, wie wenig man dort auf derartige Entwicklungen vorbereitet war. Das gilt im Hinblick auf die kurzfristig zu lösenden Probleme der Unterbringung, Versorgung und Kontrolle.

Es gilt aber noch weit mehr für die für viele noch gar nicht deutlich bzw. konkret gewordenen, sich aus der Einwanderung ergebenden Folgen für die Menschen in Europa, die ganz überwiegend aus Sorge vor kultureller und religiöser Überfremdung, vor sozialem Wettbewerb und verloren gehender Identität höchstr unterschiedlich reagieren oder gar Widerstand leisten und bei der konservativen bis rechten politischen Szene Zuflucht suchen, statt sich mutig, selbstbewußt und menschlich aufgeschlossen der nicht mehr umkehrbaren Entwicklung zu stellen. Eine solche Verunsicherung ist in erster Linie einer politischen Führung zuzuschreiben, die genau diese schon gegenüber den eigenen Wählern vermissen läßt. Appelle und hilflos wirkende Beschwichtigungen einzelner Politiker in der einen oder anderen Richtung kamen jedenfalls viel zu spät. Man darf gespannt sein, wie das bei den zahlreich für das Jahr 2016 anstehenden Wahlen beantwortet werden wird.

Umwelt

ausgebildetes Personal und wirksame Kontrollen. Gesundheitsminister Gröhe hat eine Reform angekündigt – doch das reicht nicht“ – SZ Nr. 257 vom 08./09.11.2014, S. 1 und 7

29

Auf dem Sektor des Klimaschutzes, insbes. der weltweiten Reduzierung von Treibhausgasen, ist in den letzten Jahren so gut wie nichts erreicht worden. Die Ergebnisse des „Gipfels 2014“ sind doch recht bescheiden ausgefallen. Erst seit auch in den USA die Einsicht gewachsen ist, daß der weltweiten Klimaerwärmung jetzt schnell und massiv Einhalt geboten werden muß, haben sich die Länder der Vereinten Nationen Ende 2015 auf ein Abkommen verständigt, das – noch immer zu wenig, aber doch – Erwartungen auf ein wirksames Handeln zur Reduzierung der schädlichen Treibgase auf ein Niveau bis zu 3 Prozent begründet.

Der in Deutschland gepante Wegfall der Atomkraftwerke wird für einige Zeit „kompensiert“ mit der Neuerrichtung von Kraftwerken mit fossilem Brennstoff (Braunkohle, Erdgas) und greift als sogen. Energiewende mit den angestrebten positiven Folgen auch aus innerpolitischen Gründen (fehlende Konzeption und Planung, Föderalismus) in absehbarer Zeit nicht. Ähnlich verhält es sich mit dem erwünschten Umstieg auf Elektromobilität, wobei noch immer die Stromerzeugung dafür so umweltschädlich ausfällt, daß ein Nutzen auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ist.

Demokratiekrise Nachdem der sächsische König Friedrich August III. – immerhin schon ein konstitutioneller Monach – nach Ende des 1. Weltkrieges und der Novemberrevolution 1918 abgedankt hatte, jubelte ihm das Volk auf der Straße noch immer heftig zu, wenn er mit seiner Kutsche durch Dresden fuhr. „Ihr seid mir schöne Republikaner!“ soll er ob dieser verfassungswidrigen Gefühlsausbrüche zurückgerufen haben.

Schaut man sich die weitere Entwicklung an, bleibt zu konstatieren, daß die Deutschen offenbar keine geborene Demokraten sind. Das „Übungsfeld“ der Weimarer Verfassung endete in einer Diktatur, dem sogen. Dritten Reich. Die Nachkriegsentwicklung in den östlichen Gebieten Deutschlands führte erneut zu einer Diktatur, aber nicht etwa der des Proletariats, sondern einer einzigen Partei, der SED. Für die Bürger unter der Geltung des Grundgesetzes hat sich daran zumindest äußerlich viel geändert. Aber außer daß die meisten brav zu den Wahlen gingen, fügten sie sich danach in alles, was auch immer geschah. Es ist ihnen offenbar nicht unrecht, zu jemandem aufschauen zu können, der die Dinge repräsentativ schon richtet, auch wenn die eigene Vernunft oder sogar die objektive Interessenlage etwas anderes sagt. Die Unfähigkeit der Staatsbürger zu wirklich problemlösenden, weiterführendem politischen Handeln bzw. die zu geringe Effizienz politischen Handelns überhaupt folgt aus der Tatsache, daß auch die Bundes-

30

republik Deutschland noch immer kein „Volksstaat“ ist, sondern das Spielfeld der politischen Parteien (Parteienstaat), die zunehmend den Kontakt zum Volk verloren haben (Demokratiekrise).59 Die Parteien befinden sich ihrerseits in einer existentiellen Krise, aus der sie sich nicht durch differenzierte und gut begründete sachgerechte Programmangebote, sondern durch populistische Geschenke an die Wähler zu befreien suchen, die sich untereinander immer mehr angleichen.

Regierung ohne Volk Alle Staatsgewalt geht nach inzwischen anerkanntem Verständnis der Demokratie vom Volke aus („klassische Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes“60). Es handelt sich dabei um „materielles“, d.h. um prinzipiell maßgebliches, auch ungeschrieben gültiges Verfassungsrecht im Sinne eines „pouvoir constituant originaire“: „Das Volk als pouvoir constituant gibt sich eine Verfassung. Dadurch entsteht der pouvoir constitué, die verfasste Staatsgewalt. Diese existiert außerhalb der Verfassung nicht und ist an sie unbedingt gebunden. Eine Befugnis zur Verfassungsänderung hat sie nur, soweit sie dazu vom Volk eine besondere Ermächtigung erhalten hat. Das Recht des Volkes zur Verfassungsgebung ist unbeschränkbar und unveräußerlich. Ein Volk kann sich selbst und künftige Generationen keiner Verfassung unterwerfen und auch nicht an Verfahrensvorschriften binden.“61

Das Grundgesetz, das schon vom Sprachbegriff her nur als Provisorium geplant war, wurde jedoch trotz der verbalen Darstellung in der Präambel, daß es auf der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes beruhe, in Wahrheit nicht unmittelbar durch das deutsche Volk geschaffen, ja nicht einmal formal abgesegnet, sondern im Jahre 1949 durch den sogenannten „Parlamentarische Rat“ mit 53 gegen zwölf Stimmen, von aus den Landtagen gewählten Vertretern, denen dann die Militärgouverneure der Alliierten in Deutschland und alle Landtage zustimm59 Vgl. dazu besonders Thilo Bode: „Die Demokratie verrät ihre Kinder. Ex-Greenpeace-Chef fordert die Mächtigen heraus“ – Deutsche Verlags-Anstalt 2003; kritisch zur Praxis und dem Selbstverständnis der Parteien auch der bayerische CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler: „Natürlich weiß ich, dass ich bei der Union nichts mehr werden kann – Die Metamorphosen des Peter Gauweiler“ – SZ Nr. 102 vom 05.05.2003, S. 48 ssowie die „Anzeige“ mit einigen Beiträgen der Heinrich-Böll-Stiftung unter der Überschrift „Update für Demokratie“ in SZ Nr. 214 vom 15.09.2016 60 Hauke Möller: „Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision: Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG und zur verfassungsgebenden Gewalt nach dem Grundgesetz“, S. 21 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen.

61 Hauke Möller: „Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision: Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG und zur verfassungsgebenden Gewalt nach dem Grundgesetz“, S. 31

31 ten.62 Wenn die Geschichte stimmt, auf die der Freiburgere Historiker Josef Foschepoth aufmerksam gemacht hat, dann ist Deutschland bis zum sogen. 2+4Vertrag nicht souverän gewesen, weil sowohl die alte BRD als auch das vereinigte Deutschland den ehemaligen westlichen Alliierten beispielsweise das Recht einräumen mußten, die Deutschen entgegen Art. 10 GG (Post- und Fernmeldegeheimnis) zu überwachen.63 Die Bundesländer ihrerseits waren zwar demokratisch legitimiert, jedoch grundsätzlich nur für Aufgaben ihres Landes und nicht für übergreifende Aufgaben, schon gar nicht zur Schaffung einer bundeseinheitlichen Verfassung. Sie waren damit nicht „konstituierende", sondern bereits „konstituierte Gewalt": „Eine verfassunggebende Versammlung hat einen höheren Rang als die auf Grund der erlassenen Verfassung gewählte Volksvertretung. Sie ist im Besitz des pouvoir constituant. Mit dieser besonderen Stellung ist unverträglich, daß ihr von außen Beschränkungen auferlegt werden. […] Ihre Unabhängigkeit bei der Erfüllung dieses Auftrages besteht nicht nur hinsichtlich der Entscheidung über den Inhalt der künftigen Verfassung, sondern auch hinsichtlich des Verfahrens, in dem die Verfassung erarbeitet wird.“64

Spätere Grundgesetzänderungen erfolgten ausschließlich durch den sogenannten „Verfassungsgesetzgeber“, also den normalen Gesetzgeber „Deutscher Bundestag“ bei Zwei-Drittel-Mehrheit und einer Stimmenzahl von zwei Drittel des Bundesrates (Art. 79 GG) mit den dort jeweils vertretenen politischen Parteien.

Die neuen Bundesländer haben die geltende deutsche Verfassung nach der Wiedervereinigung durch ihren Beitritt ebenfalls nicht unmittelbar durch das Volk anerkannt, sondern auf der Grundlage des Einigungsvertrages (Art. 23 GG a. F. und 146 1 GG) letztlich akzeptieren müssen.65 Deutschland hat damit seit dem zweiten Weltkrieg bis zum heutigen Tage keine dauerhaft gültige Verfassung, die sich originär und unmittelbar auf den Willen des Volkssouveräns stützt. In Deutschland ist gleichwohl niemals öffentlich hörbar über diesen Aspekt der Verfassung des Staates diskutiert oder nachgedacht worden.66

62

Eingehend zur Entstehung des Grundgesetzes Hauke Möller: „Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision: Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG und zur verfassungsgebenden Gewalt nach dem Grundgesetz“, S. 45 ff. und 245 63 Franziska Augstein: „Das ausspionierte Grundrecht“ – SZ Nr. 263 vom 14.11.2012, S. 4 64 BVerfG vom 23. Oktober 1951, II. Senat, Leitsatz 21 und 21c) - (BVerfGE 1, 14 – Südweststaat, LS 21 und 21c) - (http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv001014.html) 65 Vgl. dazu Michael Kloepfer: „Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung – Zur Verfassungsgebung im vereinten Deutschland“ – Antrittsvorlesung 25. November 1993 - Humboldt-Universität zu Berlin – Juristische Fakultät 66 Vgl. auch das Interview: „‘Nicht alle Probleme gehen uns etwas an‘ – Altbundeskanzler Helmut Schmidt über das gebrochene Verhältnis der Deutschen zu ihrer Sicherheit“ – SZ Nr. 65 vom 19.03.2010, S. 6; vgl. dazu auch Thomas Darnstädt: „Schöne worte fürs Volk“ – DER SPIEGEL 11/1992, S. 82 ff (auch SPIEGEL-ONLINE v. 11.4.2011)

32

Aber genau das Volk ist es, das bei aller bisweilen vorgetragenen Kritik an dem Mythos „Volkswillen“,67 dem politischen Geschehen längst nur noch mißmutig resignierend („Politikverdrossenheit“) und unfähig zur Veränderung der Dinge zuschaut,68 weil es den politischen Entwicklungen n Wahrheit hilflos gegenübersteht („Wutbürger“). Zwar wird immer einmal wieder über „Demokratie- und Parlamentsreformen“ diskutiert, auch über das gegenüber einer allmächtigen Exekutive reformunfähige Parlament, wobei das Parlament selbst durch zahlreiche Abgeordnete repräsentiert wird, die gelernte Beamte sind und aus der Exekutive kommen. So wurde der deutsche Bundestag inzwischen verkleinert, aber er entfernte sich – und hier läge in der Tat ein weiterer, ganz wichtiger Reformansatz – als „Erfüllungsgehilfe der Regierung“ und durch die Übertragung von immer mehr legislativen Aufgaben auf externe Kommissionen mehr und mehr von seinen ursprünglichen Kernaufgaben.69 Der Mangel an demokratischer Legitimation durch das Volk wird zunehmend mit Sorge gesehen und diskutiert.70 Zum einen ist der Identifikationsgrad mit dem Grundgesetz in Ost und West unterschiedlich geblieben, worauf der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm richtigerweise hinweist.71 Deutschland ist nach Ansicht des Parteienkritikers Hans Herbert von Arnim aus vielerlei Gründen keine echte Demokratie mehr. „Das Volk hat fast nichts zu sagen. Wir haben weder Herrschaft durch das Volk noch für das Volk – und damit keine wirkliche Demokratie",

sagte der Staatsrechtsprofessor der "Bild am Sonntag".72 Daß der Staat kein Volk mehr hat, führt er vor allem darauf zurück, daß bei den Nationalstaaten ohnehin nur noch eine begrenzte Handlungsmacht angesiedelt ist. Von Arnim spricht von der „Aushöhlung der Demokratie. ... Die Globalisierung entwertet die Handlungsfähigkeit der national organisierten Demokratien, und die Übermacht der Märkte drängt sie auf allen Ebenen in die Defen67

Thomas Wieczorek: „Die verblödete Republik“, S. 35 ff.

So auch der Schweizer Philosoph Lutz Wingert: „Die Bürger als Zuschauer – Demokratie wird allzu oft als Regieren für das Volk verstanden, nicht das Regieren durch das Volk“ – SZ Nr. 96 vom 27.04.2011, S. 2 69 Michael Fuchs, MdB und Unternehmer: „Mitmachen statt Miesmachen – In den Bundestag müssen mehr Unternehmer einziehen, damit staatsorientiertes Denken nicht länger marktwirtschaftliches Denken in den Hintergrund drängt“ – HB Nr. 221 vom 15./16.11.2002, S. 13 70 So plädiert auch der Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle für eine stärkere Beteiligung des Volkes an Verfassungsänderungen – SZ Nr. 181 vom 08./09.08.2009, S. 6 71 Dieter Grimm: „Ist das Verfahren der Verfassungsänderung selbst änderungsbedürftig?“ – HFR 20/2007, S. 215 – www.humboldt-forum-recht.de 72 „Deutschland ist keine echte Demokratie mehr“ – Der Bundestag im Reichstag in Berlin - Quelle: imago, erschienen am 04.05.2008 – http:(//nachrichten.t-online.de vom 07.06.2008; vgl. ähnlich Heribert Prantl: „Eine verrückte Demokratie“ – SZ Nr. 145 vom 27./28.06.2009, S. 4 68

33

sive. Politik und Parteien haben rapide an ansehen verloren. Sie drohen zu den Buhmännern der Nation zu werden, sind an allem schuld, zu nichts fähig.... Die Entgrenzung der Politik.73 Viele politische Weichenstellungen vollziehen sich heute außerhalb der für sie vorgesehenen Institutionen und Verfahren. Sie werden in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und transnationalen Netzwerken getroffen, oft ohne demokratische Beratung und Mitgestaltung...“

Diskussionen und abweichende Meinungen gab es allenfalls einmal zu einzelnen Aspekten des Grundgesetzes, das jedoch im übrigen durchaus als Grundlage unseres staatlichen und gesellschaftlichen Geschehens angenommen worden ist.

Erst die sogenannte Spiegelaffäre 1962, bei der es um die Pressefreiheit ging, führte dazu, die Menschen etwas mehr für die Grundrechte zu sensibilisieren.74

Die Rolle der Parteien und ihr Verhalten Das alles war keine gute Entwicklung, die das demokratische Bewußtsein der Menschen gestärkt hätte. Dazu kommt aber ein weiteres: Viele der praktizierten Erscheinungsformen in der Politk sind weniger geprägt von der Verfassung als allein von den gewählten Parteien.75 In der Realität bestimmen immer weniger die Parlamente, sondern die auf einzelne persönliche Entscheidungsträger (Spitzenpolitiker) reduzierten politischen Parteien – nicht selten in höchst intransparenter Weise beeinflußt von zahlreichen, demokratisch nicht legitimierten Lobbyisten – über Ziele, Wege und Belange des deutschen Volkes.76 Die Bundesrepublik werde – so der Verfassungsrechtler von Arnim – also nicht einmal von den Parteien in Gesamtheit ihrer Mitglieder und Funktionsträger, sondern von der "politischen Klasse beherrscht". Das seien die Berufspolitiker, die zwei Prozent aller Mitglieder der Parteien ausmachten und „vornehmlich aus

73 „Deutschland ist keine echte Demokratie mehr“ – Der Bundestag im Reichstag in Berlin - Quelle: imago, erschienen am 04.05.2008 – http:(//nachrichten.t-online.de vom 07.06.2008; ähnlich Andreas Zielcke: „Im Treibsand: „Trotz guter Verfassung: Die Demokratie stellt sich dumm“ – SZ Nr. 116 vom 22.05.2009, S. 13 74 Heribert Prantl: „Strauß sei Dank“ – SZ Nr. 249 vom 27./28.10.2012, S. 4 75 Siehe dazu den Beitrag von Peter Siller: „Auslaufmodell Partei?“ in in der „Anzeige“ mit einigen Beiträgen der Heinrich-Böll-Stiftung unter der Überschrift „Update für Demokratie“ in SZ Nr. 214 vom 15.09.2016 76 Siehe dazu Thomas Hoeren: „Was Däubler-Gmelin und Hunzinger gemeinsam haben – Die zehn Verfahrensgebote der Informationsgerechtigkeit“ – NJW 45/2002, S. 3303 ff. und den Schweizer Philosophen Lutz Wingert: „Die Bürger als Zuschauer – Demokratie wird allzu oft als Regieren für das Volk verstanden, nicht das Regieren durch das Volk“ – SZ Nr. 96 vom 27.04.2011, S. 2; Catherine Hoffmann: „Dunkle Macht – Egal, ob es um Klimaschutz oder Finanzmarktsteuern geht – große Konzerne nehmen ungeniert Einluss. Die klare Trennung zwischen wirtschaftlicher und politischer Sphäe verwischt zunehmend“ – SZ Nr. 158 vom 11.07.2013, S. 18

34 Eigeninteresse" handelten.77 Sie bilden nach Ansicht des Parteienforschers Franz Walter „ein eigenes Biotop, das den Mangel von Zuwendung von unten fast ganz durch die Alimentation von oben, durch den Staat, kompensieren lässt.“78 Sie wollen lukrative Regierungämter übernehmen, die dazugehörigen personellen Apparate genießen und nur eines auf jeden Fall vermeiden: Den Rückfall in die für sie wenig attraktive Opposition. Denn die ist für sie unerträglich (Franz Müntefering: „Opposition ist Mist“). Sobald sie die Funktionen der Exekutive beherrschen, drängen sie das Parlament mehr und mehr an den Rand des Geschehens.79 Die Dominanz der politischen Parteien und ihrer Leitfiguren zeigt sich etwa schon bei der seit Jahrzehnten problematischen Wahl zum Bundestag, die sich nicht nur auf die Erlangung der reinen Wahlquote beschränkt, sondern auf ihrer Wahlliste die Reihenfolge der zu wählenden Kandidaten vorbestimmt. Unter Umständen profitieren Parteien noch von Überhangmandaten, die das Bundesverfassungsgericht am 3. Juli 2008 endlich als „widersinnig“, „willkürlich“ und damit „verfassungswidrig“ eingestuft hat, ohne daß dieses bereits bei den Wahlen 2009 berücksichtigt wurde.80 Entsprechendes gilt auch für den Einfluß der Parteien – stets sind es auch hier nur wenige Entscheidungsträger – auf die Medienpolitik.81 Diese wenigen regieren nur zum Teil nach der Sache und kompensieren dagegen sprechende Argumente schlicht durch Schweigen, überwiegend aber über Gefühle und Emotionen. Selbstdarstellungen transportieren dementsprechende Sympathiewerte über die modernen Medien schneller und wirksamer

77

„Deutschland ist keine echte Demokratie mehr“ – Der Bundestag im Reichstag in Berlin - Quelle: imago, erschienen am 04.05.2008 – http:(//nachrichten.t-online.de vom 07.06.2008 (Quelle: imago) erschienen am 04.05.2008 – http:(//nachrichten.t-online.de vom 07.06.2008 78 Franz Walter: „Parteien ohne Lager – Weltanschauungen haben in der Politik keine Bedeutung mehr – dies aber festigt die Demokratie nicht, sondern untergräbt sie“ – SZ Nr. 222 vom 23.09.2008, S. 2 79 Heribert Prantl: „Eine verrückte Demokratie“ – SZ Nr. 145 vom 27./28.06.2009, S. 4 80 Vgl. dazu Kurt Kister: „Die Reform in letzter Minute ist falsch – Es bedarf jetzt keiner Veränderung des Wahlrechts, denn Karlsruhe hat dafür Zeit bis 2011 gegeben“ und Heribert Prantl: „Aus Fünf und Sechs mach Sieben und Acht – so ist’s vollbracht – Hexeneinmaleins und Wahlrecht: Warum Karlsruhe es erlaubt, dass der Bundestag im September auf verfassungswidrige Weise gewählt wird“ – SZ Nr. 147 vom 30.06.2009, S. 4 und 5; Joachim Behnke, Politikwissenschaftler an der Zeppelin-University Friedrichshafen: „Kanzlerin Merkel, Vizekanzler Westerwelle – So könnte es im Herbst kommen – weil die Union an einem Wahlrecht festhält, das Karlsruhe für verfassungswidrig erklärte“ – SZ Nr. 149 vom 02.07.2009, S. 2 81 Thomas Darnstädt: „Verdünnte Freiheit – Über den neuen Rundfunktstaatsvertrag hofft die Politik, ihre Macht von den öffentlich-rechtlichen anstalten auf Online-Medien ausdehnen zu können – mit grotesken folgen. Kritiker befürchten Zensur im Internet“ – DER SPIEGEL Nr. 24/2008, S. 110 ff.; „Eine neue Realität – Elektronische Presse? ARD und ZDF ‚drucken‘ mit“ und „Alles – und alles geregelt“ – SZ Nr. 134 vom 11.06.2008, S. 19

35

als das wahre Verständnis in der Sache. Sie rangieren zum eigenen Machterhalt allemal vor der sachlichen Analyse und Lösung der drängenden Probleme.82 Nicht weniger problematisch bei den Parteien ist ihre innere stark abgestufte Gliederung und eine Funktionshierarchie, deren Inhaber anstelle des breiten Parteivolkes maßgeblich die Gewichte bestimmen, wozu letztlich auch der Fraktionszwang zu zählen ist.83 Nicht mehr allein entscheiden dürfen die frei in das Parlament gewählten und nur ihren Wählern und ihrem Gewissen verpflichteten Abgeordneten, auch nicht über ihr Rederecht und deren Dauer, ohne daß interne Vorschriften und Absprachen strikt zu befolgen sind. In Wahrheit geht es eben nicht um die Organisation der Funktionsfähigkeit des Parlaments, sondern um Macht und ihren Erhalt,84 auch wenn sie dann zu nichts nutze ist, weil sie nichts bewegt.

Am Zustand der Europäischen Union hat beispielsweise der Energiekommissar und ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Öttinger Mitte 2013 mit Recht massive Kritik geäußert und die EU selbst als Sanierungsfall bezeichnet.85 Auch in Deutschland werden vor den Wahlen 2013 mit Themen wie Betreuungsgeld,86 Frauenquote, Mindestlohn und Nein zum Fracking die falschen Prioritäten gesetzt. Fragen der Bildung, der Energieversorgung, der Steuergerechtigkeit oder der sozialen Absicherung und Pflege angesichts der demographischen Entwicklung blieben und bleiben ebenso ungelöst wie etwa die dringend erforderliche Infrastruktur im Straßen- und Verkehrswesen. Hier liegt Deutschland nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) besonders im öffentlichen Straßen-, Schienen- und Brückenbau 82 „Bloß keine Experten – Im Alleingang hat Henning Ottmann das politische Denken aufgearbeitet.Das ganze. Jetzt zieht er Bilanz – und erklärt, warum die Demokratie heute an einer historischen Schwelle steht“ – SZ Nr. 299 vom 28.12.2012, S. 12 83 Anders z.B. Art. 67 II der Brandenburgischen Verfassung vom 20.8.1992 (GVBl. 1992 S. 298 ff.), wonach der Fraktionszwang unzulässig ist!

84 Robert Roßmann: „Maulkorb für Abweichler – Fraktionen wollen gegen Lammerts Willen das Rederecht im Bundestag beschränken“ – SZ Nr. 76 vom 30.03.2012, S. 5; Heribert Prantl: „Fraktionen planen Maulkorb für Abgeordnete – Mit neuen Regeln für den Bundestag wollen Union, SPD und FDP das Rederecht der Parlamentarier einschränken“ u. „Wie man den Bundestag kaputtmacht“ – SZ Nr. 87 vom 14./15.04.2012, S. 1 u. 4; Heribert Prantl: „Aktion Marionette – Die Beschneidung des Rederechts offenbart ein bizarres Verständnis von der Aufgabe des Parlaments“ u. Susanne Höll: „Abgeordnete wehren sich – Kritik an geplanter Einschränkung des Rederechts“ – SZ Nr. 88 vom 16.04.2012, S.- 4 u. 5; Burkhard Hirsch: „Wenn einer quer im Stall steht – Abgeordnete müssen frei reden dürfen, auch wenn das die Fraktion stört. Sonst stirbt die Debattenkultur im Parlament“ – SZ Nr. 94 vom 23.04.2012, S. 2; Beatrice von Weizsäcker: „Warum ich mich nicht für Politik interessiere“ – Lübbe Verlag Bergisch-Gladbach 2009; Thomas Lobinger: „Überforderter Staat – Was in der politischen Debatte um den Mindestlohn leicht übersehen wird: Vor dem Grundgesetz ist er schwer zu rechtfertigen“ – SZ Nr. 128 vom 06.06.2013, S. 2 85 „Oettinger rechnet mit Europa ab“ - 29.05.2013, 08:12 Uhr | AFP - http://www.tonline. de/nachrichten/ ...

86 Zur speziellen Problematik Marc Beise: „Der große Irrtum“ – SZ Nr. 178 vom 03./04.08.2013, S. 23

36

seit 1991 um zehn Prozent zurück relativ zur jährlichen Wirtschaftsleistung. Es fehlt auch an qualifizierten Erziehern. Schulen und Universitätsgebäude leiden am Zahn der Zeit. Neubauten kommen nur im Schneckentempo voran.87 Es herrscht ein fataler parteiübergreifender Konsens: „Das sind so schwierige Fragen, die können wir der Bevölkerung nicht zumuten.“88 Das neue Jahrtausend hielt gleich zu Beginn eine Reihe von Absonderlichkeiten bereit, zu denen im Bereich deutscher Staatsgeschichte die das Spiel einer Abstimmung des deutschen Bundesrates als zweite Kammer bei dem Gesetzgebungsverfahren über das von der rot-grünen Koalition geplante Zuwanderungsgesetz gehört. Dieses Gesetzesvorhaben hatte nach langen inhaltlichen Querelen und vielen Nachbesserungen durch den Innenminister schließlich eine Fassung erhalten, die zumindest auch die überwiegende Zustimmung der gesellschaftlichen Gruppen, von den Arbeitgebern89 bis zu den Gewerkschaften, von den Wirtschaftsinstituten bis hin zu einzelnen professoralen Ratgebern, ja selbst quer durch die politischen Parteien erhalten hatte. Dennoch stand die offizielle Oppositionspartei der CDU/CSU noch immer gegen die Verabschiedung des Gesetzes, was selbst dort souveräne, wenn auch vereinzelte Mitglieder wie Rita Süßmuth, Heiner Geißler und Christian Schwarz-Schilling bereits durch ihre ostentative Zustimmung im Bundestag verdeutlicht hatten.

In der Sache zu verstehen war dieses freilich nicht. Das fand auch der ehemalige Bundespräsident und CDU-Mitglied Richard von Weizsäcker.90 Es war allen klar, daß es den Beteiligten im Bundesrat nicht auf die Sache ankam. Es war Wahlkampf, und im Hinblick auf die anstehenden Bundestagswahlen im September 2002 wurde die Sache, das Anliegen des vertretenen Volkes der kleinlichen Wahltaktik der Parteien geopfert, die Zuwanderung zum Wahlkampfthema zu machen und die Ängste der Menschen vor einer übermäßigen Zuwanderung einerseits und der Unkenntnis der genau vorgesehenen Regelung andererseits schlicht auszunutzen.

Wer dieses Spiel um die Vernachlässigung der endlich notwendigen Inhalte – mögen sie auch hier und da in manchen Kleinigkeiten noch verbesserungsfähig gewesen sein – zugunsten bloßer Wahltaktiererei durchschaute, konnte nicht umhin, sich schon deswegen von der „Erneuerung“ der Politik durch einen 87

Andreas Oldag: „Armgespart“ – SZ Nr. 164 vom 18.07.2013, S. 17 Vgl. die Gesprächsrunde „Gut, dass Sie da sind“ in Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 13 vom 01.04.2011 („Ist die Politik am Ende?“), S. 20 ff. (29); Guido Bohsem: „Teure Versprechen – Fast alle Parteien wollen nach der Wahl Steuern und Sozialabgaben erhöhen, um so mehr Geld für Straßen, Brücken oder eine bessere Pflege ausgeben zu können. Doch Wissenschaftler warnen: Die neuen Belastungen könnten Arbeitsplätze kosten“ – SZ Nr. 158 vom 11.07.2013, S. 5 89 Vgl. z.B. Marc Beise: Der Hartspüler – Industrie-Präsident Michael Rogowski hält nichts von der vornehmen Zurückhaltung seiner Kollegen – SZ Nr. 154 vom 06./07.07.2002, S. 25 90 Interview Heribert Prantl und Dominik Wichmann mit Richard von Weizsäcker: „Und mit Recht“ – SZ-Magazin Nr. 27 vom 05.07.2002, S. 16 ff. (20) 88

37

Wechsel der Regierungsparteien angeekelt von der CDU/CSU abzuwenden, auch wenn sie in dem nun folgenden Spiel sicher wieder die besseren Karten hatte und diese ihre Inszenierung nun auch selbstgerecht in einer Weise auskostete, wozu sie zwar rechtlich, nach allem Vorangegangenen aber moralisch nicht mehr berechtigt war. Am 22. März 2002 kam es zur entscheidenden Abstimmung im Bundesrat. Angesichts der parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse war entscheidend, wie diejenigen Bundesländer stimmen würden, in denen Koalitionen zwischen Regierungs- und Oppositionsparten, vor allem aber eine „große Koalition“ zwischen der SPD und der CDU bestand. Insoweit kam eine Schlüsselrolle dem Land Brandenburg zu. Hier passierte nunmehr ausweislich des stenographischen Sitzungsberichts beim Aufruf des Landes Brandenburg folgendes:91 Der Minister Alwin Ziel stimmte mit „Ja“, der Minister Jörg Schönbohm mit „Nein“. Der amtierende Bundesratspräsident Klaus Wowereit stellte demgemäß „fest, daß das Land Brandenburg nicht einheitlich abgestimmt hat. Ich verweise auf Art. 51 III 2 GG. Danach können Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden.“ Bis dahin ist alles korrekt verlaufen. Nun beginnt jedoch der ersten Fehler: Der amtierenden Bundesratspräsident Klaus Wowereit fragte nämlich weiter: „Ich frage Herrn Ministerpräsidenten Stolpe, wie das Land Brandenburg abstimmt.“ Die Frage ist sowohl überflüssig gewesen bzw. auch einfach falsch und vom Grundgesetz nicht gedeckt.92 Sie ist überflüssig, weil bereits durch die verlautbarten Äußerungen eine Abstimmungsentscheidung getroffen worden war, und zwar eine – wie der Bundesratspräsident richtig feststellte – „nicht einheitliche“. Im Gegensatz zu einer vielfach vertretenen Rechtsauffassung93 hat nicht das Land als solches eine Stimme, sondern entsprechend seiner Einwohnerzahl mehrere, also mindestens drei und höchstens sechs Stimmen (Art. 51 II GG). Auf dieser Grundlage kann jedes Land eine entsprechende Anzahl von Regierungsmitgliedern der Länder in den Bundesrat entsenden, die als solche ihre Stimme abgeben (Art. 51 II GG). Nur und gerade deshalb, weil das Grundgesetz diese Konstruktion gewählt hat, kann es also – aus welchen Gründen auch immer94 – vorkommen, daß die Regierungsmitglieder uneinheitlich abstimmen. Dieses soll zwar nach der ausdrücklichen Anordnung des Grundgesetzes (Art. 51 III 2 GG) im Ergebnis nicht geschehen. Deshalb bedurfte es dieser ausdrücklichen Regelung dazu. Auch wie sich die unterschiedlich abgegebenen Stimmen der Zahl 91

Vgl. Dieter Dörr und Heinrich Wilms: „Verfassungsmäßigkeit der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz?“ – ZRP 6/2002, S. 265; „Verfassungsbruch“ – „Rechtsbeugung“ – „Manipulation“ – Das Protokoll der chaotisch verlaufenen Bundesratssitzung zum Zuwanderungsgesetz am 22. März dieses Jahres – SZ Nr. 293 vom 19.12.2002, S. 2 92 So jetzt auch das BVerfG vom 18.12.2002 – vgl. dazu SZ Nr. 293 vom 19.12.2002, S. 1, 2 und 9 93 So DieterDörr bei Dieter Dörr und Heinrich Wilms: „Verfassungsmäßigkeit der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz?“ – ZRP 6/2002, S. 265 94 Gerade die Parteienkoalition in einem Bundesland ist ein solcher typischer Grund, wie er ja auch in anderen Bundesländern etwa zwischen SPD und FDP (Rheinland-Pfalz) bestand.

38

nach verteilen, ist nicht entscheidend. Denn jedenfalls liegt dem Grunde nach eine uneinheitliche Stimmabgabe vor. Damit stellt sich die Frage, welche Rechtsfolge das Grundgesetz daran knüpft, wenn es – wie hier – dann doch vorkommt.

Ausdrücklich geregelt ist diese Rechtsfolge im Grundgesetz nicht. Die uneinheitliche Stimmabgabe ist jedoch verfassungswidrig. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen führt ein Verstoß gegen zwingendes Recht zur Ungültigkeit der Stimmabgabe. Diese Auffassung wird mehrheitlich vertreten.95 Sie kann daher nicht als Zustimmung des Landes Brandenburg für das Zuwanderungsgesetz gewertet werden.

Nach diesem Ablauf und der daran geknüpften Rechtsfolge war es also weder folgerichtig noch rechtlich geboten – allenfalls im allseitigen Einverständnis in einem politischen Willensbildungsgremium wie dem Bundesrat zulässig, daß der Bundesratspräsident erneut – und nunmehr den ebenfalls anwesenden Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg Stolpe fragte, „wie das Land Brandenburg abstimmt,“ denn die Abstimmung war erfolgt und damit abgeschlossen.96 Dennoch erwiderte Stolpe: „Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich Ja.“ Dieses ist war nun wiederum ganz falsch. Nach Art. 51 III GG ist bei Entsendung und Anwesenheit auch anderer stimmberechtigter Regierungsmitglieder eines Bundeslandes einer allein nicht befugt, sich zum Vertreter der anderen aufzuschwingen, auch wenn es der Ministerpräsident ist. Vor allem ist es dann nicht möglich, wenn andere anwesende Regierungsmitglieder ausdrücklich und erkennbar anderer Ansicht sind. Es fehlte also auch formal und inhaltlich an der Vertretungsmacht. Diese grundgesetzliche Regelung geht als höherrangiges und spezielleres Recht allen Länderregelungen vor, die dem Ministerpräsidenten ein die gesamte Regierung umfassendes Vertretungsrecht einräumen, wie das auch in Brandenburg der Fall ist.97 Der Ministerpräsident kann seinen Allvertretungsanspruch in diesem Falle also nicht aus Länderrecht herleiten, wenn er nicht 95 Vgl. Fußnoten 7 und 16 bei Dieter Dörr und Heinrich Wilms: „Verfassungsmäßigkeit der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz?“ – ZRP 6/2002, S. 265 ff.; aus dem Verstoß gegen Art. 51 II 2 GG die Fehlerhaftigkeit des gesamten Abstimmungsverfahrens abzuleiten mit der Folge, daß diesesVerfahren wiederholt werden muß, wie Dörr meint (aaO S. 266), ist auch nach der klaren Textkonstruktion des Art. 51 GG gekünstelt, abwegig und daher abzulehnen (ebenso Wilms, aaO, S. 268).

96 So richtig und mit ausführlicher Begründung Heinrich Wilms bei Dieter Dörr und Heinrich Wilms: Verfassungsmäßigkeit der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz? – ZRP 6/2002, S. 265 ff (267); inzwischen so auch BVerfG vom 18.12.2002, SZ Nr. 293 vom 19.12.2002, S. 9; die abweichenden Sondervoten der Bundesverfassungsrichterinnen Gertrude Lübbe-Wolff und Lerke Osterloh zur Zulässigkeit einer erneuten Abstimmung behaupten zwar das Gegenteil, begründen dieses jedoch nicht. Auch ihre begriffsjuristischen Differenzierungen zwischen „Auffassung“ und „Stimmabgabe“ liegen angesichts des konkreten Sachverhalts und ihrer grundgesetzkonformen Auslegung neben der Sache.

97 Nach Art. 91 I der Verfassung des Landes Brandenburg vom 20.08.1992 (GVBl. 1992, S. 298 ff.) vertritt der Ministerpäsident das Land nach außen. Gleichwohl besteht „die Regierung“, worauf auch Art. 51 GG abstellt, sowohl aus dem Mianisterpräsidenten als auch aus den Landesministern (Art. 82 der Brandenb. Verfassung).

39

im Vorfeld die einheitliche Stimmabgabe geklärt oder dafür gesorgt hat, daß nur er allein erscheint und sämtliche Stimmen einheitlich auch für die nicht erschienenen Regierungsmitglieder abgibt. Dazu kommt, daß das Regierungsmitglied Jörg Schönbohm unmittelbar nach Stolpe anwortete: „Sie kennen meine Auffasssung, Herr Präsident!“ Diese Äußerung stellte klar, daß er nach wie vor anderer Meinung war. So jedenfalls durfte und mußte der Bundesratspräsident diese Äußerung inhaltlich verstehen. Seine Schlußfolgerung war daher inhaltlich unzutreffend und formal erneut grundgesetzwidrig, als er sagte: „Damit stelle ich fest, daß das Land Brandenburg mit Ja abgestimmt hat.“ Das Bundesverfassungsgericht hat, nachdem der Bundespräsident das Zuwanderungsgesetz unterzeichnet und damit die Rechtsfrage nicht an sich gezogen hatte, klargestellt, er habe zwar das Gesetz sorgfältig auf seine Verfassungsmäßigkeit geprüft, es habe aber seiner Überzeugung nach keinen „zweifelsfreien und offenkundigen“ Verfassungsbruch beim Zustandekommen des Gesetzes gegeben.98 Das Gesetz ist jedoch alles in allem nicht wirksam zustande gekommen (Art. 78 GG). Da hat nun – wie so oft schon zuvor – ein Gericht den unfähigen Politikern das Heft aus der Hand genommen, um eine zutiefst politische Entscheidung zu treffen. Man hat die Rollenverwechslung zwischen Politik und Gerichten kritisiert. Nun wird die Schelte umgekehrt: Das Bundesverfassungsgericht habe „kein markantes Wort gesagt zur Stellung des Bundesrates.. , ...kein rügendes Wort, wie die Repräsentanz des deutschen Föderalismus zum Kampfplatz verkommen ist.“99 Das Gericht sei „leichtfertig über das eigentlich dominante Problem... – das gefährdete Koordinatensystem des Föderalismus“ hinweggegangen.100 Nein, alles dieses ist nicht die Aufgabe des Gerichts. Es hat einen ganz konkreten Streitfall zu entscheiden und sonst gar nichts!

Dabei hatte sich im Vorfeld dieses Geschehens schon Erstaunliches zugetragen. Die so über den bundesrätlichen Tisch gezogene Opposition nannte das Vorgehen einen „Verfassungsbruch“. Warum eigentlich? Seit wann dürfen Rechtsmeinungen nicht mehr offen geäußert werden? Und was im Vorfeld der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten alles von „Druck“ auf ihn und einer „Beschädigung“ seines Amtes gefaselt worden war, ist nichts anderes als eine ebenso regelwidrige Stimmungsmache, die dem klaren, ebenfalls auf dem Grundgesetz beruhenden Recht auf Meinungsäußerung nach Art. 5 GG ebenso widerspricht wie dem alten Rechtsgrundsatz: „Qui suo jure utitur neminem laedit.“ Wer nur davon Gebrauch macht, was die Rechtsordnung als Verfahren und Gestaltungsmittel ohnehin vorsieht oder ihm als Spielregel an die Hand gibt, kann keinen anderen in dieser Rechtsordnung, also auch nicht den Bundespräsi98

Vgl. NJW 27/2002, S. VI Heribert Prantl: „Es lebe das Zuwanderungsgesetz“ – SZ Nr. 293 vom 19.12.2002, S. 4 100 Andreas Zielcke: „Spielball – Das Karlsruher Urteil beschädigt das Gericht“ – SZ Nr. 294 vom 20.12.2002, S. 13 99

40

denten unter Druck setzen. Der Bundespräsident hat eine solche Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich „begrüßt.“ Ähnliches kennen wir schon aus den jährlichen Tarifverhandlungen, vor denen deren Verhandlungspartner im allgemeinen sich jegliche politische Einmischung in die grundgesetzlich garantierte Tarifautonomie101 verbitten, auch wenn Mahner, Warner und Kritiker dabei nur von ihrem ebenso grundgesetzlich verankerten Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch machen. Der vorsorgliche Hinweis der Opposition, bei Unterzeichnung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten vor das Bundesverfassungsgericht ziehen zu wollen,102 ist also kein Druck oder gar eine rechtswidirige Nötigung, sondern schlicht ihr gutes Recht, worauf sie nur hinweist. Der Bundespräsident wußte es ohnehin.

Eine besonders auffällige Rolle spielt insoweit auch die Parteienfinanzierung103 bzw. das wirtschaftliche Gebahren der Parteien selbst einschließlich aller Intransparenz und sogar strafrechtliche relevanten Ausuferungen. Interessengruppen und vor allem politische Parteien, die das Rechtssystem und ihr Zusammenwirken in dieser Weise diskreditieren oder ausschließlich für ihre Zwecke und Interessen wider ihren verbrieften Inhalt auswerten, erweisen der Einhaltung der gegebenen Spielregeln und auch einer offenen und transparenten Auseinandersetzung in einer Demokratie, dem allgemeinen Rechtsbewußtsein eines Volkes, aber auch dem Vertrauen in die staatlichen Organe und ihr Funktionieren ganz allgemein einen schlechten Dienst.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die grundgesetzliche Ausgangslage für das Funktionieren eines demokratischen Parlaments und der Rolle der politischen Parteien. Da schwören unsere Volksvertreter zwar regelmäßig bei ihrem Amtsantritt, „dem Wohl des Staates und seiner Bürger zu dienen ...“. Was sie jedoch danach tun, scheint sie diesen Eid oft vergessen zu lassen haben, zumal vieles bewußt erst nach Wahlen überhaupt begonnen wird. Ein bereits viele Jahre anhaltender Reformstau auf vielen Gebieten, die für die Menschen wichtig sind, belegt dieses ständige Zurückstellen des „Wohles des Volkes“ in anschaulicher Weise. Über alle Parteien und deren Bedürfnis nach Machterhalt hinweg. stagnieren die Bemühungen, sich mit den wirklich wichtigen Themen zu beschäftigen und zukunftsorientierte, nachhaltige Lösungen zu schaffen.104 So verliert sich die politisch regierende Klasse in Nebensächlichkeiten und populistisch orientierte Zufälligkeiten.

101 102

Art. 9 III GG

Inzwischen haben fünf unionsregierte Länder die Klage eingereicht: „Unionsfraktion klagt gegen Zuwanderung“ – SZ Nr. 159 vom 12.07.2002, S. 6 103 Vgl. dazu auch das Zustandekommen der neuen Parteienfianzierung, dargestellt von Jörn Ipsen: „Das neue Parteienrecht – Eine kritische Bestandsaufnahme des Achten Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes“ – NJW 27/2002, S. 1909 ff.

104 Ebenso Erhard Eppler: „Hauptsache erfolgreich – Gewinnertypen halten sich nicht mit politischen Inhalten auf. Sachfragen interessieren ja sowieso keinen“ – SZ Nr. 156 vom 09.07.2013, S.2

41

Kaum haben sie ihr Amt angetreten, gerieren sich viele als Selbstdarsteller und engagieren sich als persönliche Existenzsicherer mehr als alles andere. Zunehmende Energien werden aufgewendet, um als mehr zu erscheinen als zu sein. Sie verdrängen dabei zu oft die Wirklichkeit105 und erleben daher immer mehr ein unwirkliches Leben. Selbst der scheidende Ministerpräsident von SachsenAnhalt, Wolfgang Böhmer, bekannte, daß er im politischen Betrieb so viele Menschen kennengelernt habe, „deren Ehrgeiz größer ist als die Fähigkeiten“.106 Was aber bleibt gerade denen dann übrig? Nur ist nicht ohnehin alles nur Schein?107 Jedenfalls scheint die CSU insoweit ihren Spitzenplatz nicht mehr abgeben zu wollen, wenn etwa die Berliner CSU-Mitglieder um Hans-Peter Friedrich sich das Störfeuer in Gesundheitsfragen durch den bayerischen Gesundheitsminister Söder verbittet, der offen gegen die Verabredungen im Koalitionsvertrag gegen die Kostenpauschale wettert und dann auch noch Unterstützung durch den CSUVorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer erhält. Geradezu beschämend ist das Verhalten der Union in der Folge der „GuttenbergAffäre“, die sich noch mit diesem solidarisch erklärte, als die Fakten längst offenbar geworden waren und für alle sichtbar und unbestritten auf dem Tisch lagen. Ähnlich verhielten sich CDU-Politiker und vereinzelt sogar Wissenschaftler, als bereits feststand, daß die Bundesbildungministerin Annette Schavan Texte wortgleich in ihre Dissertation aufgenomnmen hatte, ohne deren Verfasser offenbar zu machen.108 Sie tat das im Fall Guttenberg zumindest so lange, wie die Mehrheit der Bevölkerung sich noch immer zu dem entblößten Verteidigungsminister bekannte und somit der Verlust einer wichtigen und für die anstehenden Wahlen erforderlichen Volksmehrheit zu befürchten war. Und sie tat das auch in einer verbohrten Hemmungslosigkeit, die keine Grenzen der Solidarität kannte angesichts der von zu Guttenberg begangenen schweren Taten und seiner peinlich-hilflosen Versuche, sich dabei auch noch herauszureden.

Vor allem ist zuviel künstliche Inszenierung im Spiel, wie das der saarländische Ministerpräsident Peter Müller in wohltuender und viel zu seltenen Offenheit 105 Meinhard Miegel: „Die deformierte Gesellschaft – Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen“ – Propyläen Verlag Berlin 2002 106 Christiane Kohl: „Freund klarer Worte – Wolfgang Böhmer wird als Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt verabschiedet – er galt als Querdenker und Landesvater ohne allüren“ – SZ Nr. 90 vom 18.04.2011, S. 6 107 Vgl. zu den Managern der Wirtschaft Hans Leyendecker: „Verantwortung wäre schon genug“ – Buchbesprechung Daniel Goeudevert: „Das Seerosen-Prinzip. Wie uns die Gier ruiniert“, Dumont Köln 2008 – SZ Nr. 222 vom 23.09.2008, S. 16; Thomas Wieczorek: „Die verblödete Republik“, S. 45 ff.; Thomas Öchsner: „Die entzauberte Ministerin“ – SZ Nr. 92 vom 20.4.2011, S. 4 zu der CDUPolitikerin Ursula von der Leyen.

108 „Wissenchaftler rügen Beistand für Schavan“ und „‘Das Wisschenschaftssystem ist korrupt‘ – Professoren kritisieren, wie stark Annette Schavan in Schutz genommen wird“ – SZ Nr. 244 vom 22.10.2012, S. 1 u. 5

42 dargetan hat.109 „Politiker inszenieren sich wie Popstars, befriedigen ihre Eitelkeit, suchen Selbstbestätigung.“110 Brot und Spiele – das verlangte das römische Volk einst zur Zeit des Juvenal, in dessen „Satiren“ sich dieser bis heute überkommene populäre Sinnspruch findet. Dann würden es mit ihrer Führung zufrieden sein. Und indem man sie ihm zuteil werden läßt, hält man die Menschen bei Laune und gefährdet nicht die eigene Rolle als Herrscher über sie, denn sie werden nicht mehr auf „dumme“, umstürzlerische Gedanken kommen.

Die Sprache unserer Zeit ist dabei mehr als jemals zuvor Ausdruck für den inszenierten und medienunterstützten Schein111 Viele Politiker finden zu ihrer wahren Größe zunächst lediglich als Fachleute „für wohlklingende Ankündigungen“, später dann als „Meister(in) der Selbstdarstellung.., ..die es verstehen, dürftige Entscheidungen als grosse Errungenschaften zu verkaufen.“112 Die Beschwörung des Scheins endet nicht damit, daß immer wieder Wahlniederlagen zu Siegen umgedeutet oder Entscheidungen als alternativlos (deshalb „Unwort“ des Jahres 2010!) bezeichnet werden.113 Gerade am Beispiel der noch andauernden Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich wiederum gezeigt, daß sie in der Symptombehandlung bestenfalls zu einem Teil der Lösung werden, in der Ursachenbekämpfung bleiben sie Teil des Problems.114 Nach Meinung des Historikers Arnulf Baring – im Prinzip ebenso der SPD-Prominente Erhard Eppler115 – gibt es eine grundsätzliche „Abneigung in allen Parteien, die wichtigen Themen des Landes überhaupt, und dann sachlich zu problematisieren. Dazu zählen Fragen der Überschuldung, die demographische Situation und auch die Zuwanderung.

Die Probleme (wenn überhaupt erkannt) werden mehr nur mit kunstvollen Worten statt mit Taten „gelöst“, oft schon einfach bestritten oder verbal in sich aufgelöst. Der ehemalige Ministerpräsdident von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, mußte für sich feststellen: Als früherer Chefarzt habe er sich 90 Prozent seiner Zeit damit befaßt, Probleme zu kösen und 10 Prozent darauf verwandt, die Lösung zu erklären. In der Politik sei es genau umgekehrt.116 Um wieviel 109 Peter Müller zu den „Regeln des politischen Theaters“: „Auch ehrliche Empörung muss inszeniert werden“ – SZ Nr. 73 vom 27.03.2002, S. 17 110 Vgl. die breite Darstellung dieses Phänomens von Jürgen Leinemann: „Schaden an der Seele“ – DER SPIEGEL 24/2002, S. 76 ff.

111 Vgl. auch Peter Hahne: „Schluss mit lustig..“, S. 98 ff.

112 Thomas Öchsner: „Die entzauberte Ministerin“ – SZ Nr. 92 vom 20.4.2011, S. 4 zu der CDUPolitikerin Ursula von der Leyen.

113 Vgl. die Gesprächsrunde „Gut, dass Sie da sind“ in Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 13 vom 01.04.2011 („Ist die Politik am Ende?“), S. 20 ff. (23) 114 Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 9 115 Ebenso Erhard Eppler: „Hauptsache erfolgreich – Gewinnertypen halten sich nicht mit politischen Inhalten auf. Sachfragen interessieren ja sowieso keinen“ – SZ Nr. 156 vom 09.07.2013, S.2 116 Christiane Kohl: „Freund klarer Worte – Wolfgang Böhmer wird als Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt verabschiedet – er galt als Querdenker und Landesvater ohne allüren“ – SZ Nr. 90 vom 18.04.2011, S. 6

43

schwerer ist dann die Erklärung, wenn es gar keine wirklichen Lösungen gibt.

Die Fernsehmoderatorin und Journalistin Maybritt Illner hat alles, was an sprachlichen Kuriositäten hierzu festzustellen war, in ihrer Broschüre über „Politiker – Deutsch, Deutsch – Politiker“ protokolliert.117 Man sollte es nicht glauben, mit welchen vordergründigen Mitteln und unverbindlichem Scheingerede die meisten Politiker über die ihnen gestellten Runden kommen. Sprache ist dabei zugleich ungewollte Offenbarung wie auch gewollte Verdeckung. Denn immer entscheidet der Adressat, ob er die Antwort gut und glaubwürdig findet, ob sie ihm schlüssig erscheint und genügt, ob er damit etwas anfangen kann und wie sie überhaupt im Ergebnis inhaltlich gemeint ist.

Verräterisch ist die Politikersprache dann, wenn der Sprechende nicht die rechten Worte findet. Hohe Abstraktion der Worte, Leerformeln und Sprachhülsen beherrschen die Szene: „Wir sind auf dem richtigen Wege“ oder „Ich habe deutlich gemacht ...“ Es erscheint eine der wichtigsten Eigenschaften von Politikern, Fragen entweder gar nicht zu beantworten oder die Antworten so offen und unklar zu halten, daß man niemanden darauf festlegen kann. Eine der am meisten gebrauchten Worthülsen ist die „soziale Gerechtigkeit“, die es schon deshalb nicht gibt, weil man sie nicht konkret definieren kann. Hohe Abstraktion eines Begriffes erscheint immer schon deshalb als richtig, weil jeder etwas anderes darunter versteht, ihr daher auch die meisten zustimmen und man sie letztlich nicht oder nur schwer widerlegen kann. „Die Verantwortung tragen“ gilt als sprachlicher Joker in brenzlichen Situationen, ohne zu wissen oder zu wollen, was daraus konkret folgt, geschweige denn, die Folgen durch beobachtbare Handlungen – also etwa einen Rücktritt vom Amt118 – zu betätigen.

Die meistverbreitete Antworthaltung eines Politikers zielt darauf ab, mit einem „Zunächst einmal ...“ von gestellten Fragen abzulenken und unter dem Vorwand einer zumindest formalen Antwortrede das loszuwerden und zu sagen, was er ungeachtet der Frage selbst sagen will. Dann folgt etwas, wobei der Zusammenhang zur Frage ebenso offen bleibt wie der thematische Bezug, der eben nicht besteht. Angeberei und Eitelkeit, Selbstbeweihräucherung statt Hörerorientierung und die Sucht nach äußerer Beachtung sind Ausdruck einer alten – schon von Karl Valentin festgestellten Weisheit: „Nun ist inzwischen alles gesagt worden, nur noch nicht von allen.“. „Well“ – so pflegen Amerikaner gern die Antwort auf eine Frage einzuleiten. „Ja, gut ...“ beginnen Sportler und Politiker ihre Antwort, obwohl zu diesem Zeitpunkt zumindest bei den Politikern im allgemeinen noch nichts klar und 117

Maybrit Illner: „Politiker – Deutsch, Deutsch – Politiker – Politiker verstehen – leicht gemacht“ – Langenscheidt Berlin/München 2007 118 Ähnlich Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“, S. 35

44

deshalb auch nicht gut sein kann. Man hat sich über Jahre darüber amüsiert, daß insbesondere Sportler, im besonderen Fußballer, das noch ganz verschwitzt gegebene Interview unmittelbar nach dem Spiel mit dieser Verlegenheitwendung einzuleiten pflegten, auch wenn weder ihr Spiel gut war noch die Gründe, die sie dafür ins Feld führten.

Eine andere Form der Umgehung einer klaren und sich festlegenden Antwort leitet sich ein mit den Worten „Ich gehe davon aus ...“, weil sie den Ausgänger wie ein Sicherheitsnetz zu halten scheint. Man fühlt sich erinnert an „Ich gehe aus und suche Freud, in dieser schönen Sommerzeit ...“. Für den Hörer ist es freilich im allgemeinen weniger erfreulich. Gern zur besonderen Bekräftigung verwendet werden auch „Blähspräche“ und grammatikalisch falsche Übertreibungen („in keinster Weise“, in vollster Überzeugung“), als ob man das Wort voll oder kein noch steigern könnte. Grausam und in sich widersprüchlich ist auch der Ausdruck „schwarze Null“. Null ist farblos, denn es steht neutral zwischen rot und schwarz!

Wer nicht nur Fragen beantworten will, sondern von sich aus etwas sagen möchte, tut dieses mit allen Mitteln barocker Übertreibung, um sicher zu sein, daß dieses auch mit dem erwarteten Gehör geschieht. Erst auf ungeduldiges Mahnen des Interviewers oder Moderators hin „Darf ich noch einmal an meine Frage erinnern?“ folgt – man glaubt es kaum – die eingespielt reflexartige nächste Abschweifung: „Also grundsätzlich ist es so, daß ..“. Nur wie es grundsätzlich ist, war auch nicht gefragt, sondern allein, wie wie es hier konkret ist. Und natürlich ist bei solchem Gebahren der Name und das Schicksal des jungen Eisbären „Flocke“ allemal wichtiger als alles andere. Der BR begann damit seine abendliche Rundschau am 18.1.2008 unter dem Titel: „Die wichtigsten Ereignisse aus Bayern und der Welt“.

Kaum ein Interview vor einer der vielen Kameras kommt ohne den offenbar notwendigen Hinweis aus, das der Antwortende dieses jetzt „ganz ehrlich“ sagt.

Man kommt ja ins Grübeln, ob denn alles andere immer nur gelogen, freundlicher gesagt „geschönt“ sei? Was will uns der Antwortgeber vermitteln? Was er jetzt sagt, bedarf der besonderen Beachtung, denn jetzt kommt die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit! Und die ist bekanntlich riskant. Deshalb enthält die Vorwarnung schon so etwas wie eine vorweggetragene Entschuldigung, die Bitte um Nachsicht, falls jemand durch diese Ehrlichkeit entblößt und der allgemeinen Lächerlichkeit oder gar schlimmeren preisgegeben wird.

Wer hat nicht schon in einer hitzigen Debatte einen unpassenden Vergleich als scheinbares Argument gehört? Da untermauert der eine seine Gedanken mit einem Vergleich: „Das ist ja gerade so, als wenn man ...“ Und dann erzählt er eine Geschichte, manchmal weit hergeholt, so daß sich die Parallelität nicht sofort erschließt, aber er sieht es so und erhofft sich davon einen leichteren Transfer seiner Erkenntnis. Manchmal erscheint ein solcher Vergleich ja durch-

45

aus treffend und verdeutlicht das Anliegen. Wie oft aber wird ein Vergleich als mißlungen, ja geradezu als abwegig und nicht selten sogar als unerhört empfunden, wie so manche Äußerung von Politikern in den letzten Monaten, seien es nun die ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin oder auch andere wie der Europaabgeordnete Martin Schulz gewesen, wenn ihre Vergleichsbeispiele der Zeit des Nationalsozialismus entnommen wurden und die Bewertung als angemessener Vergleichsfall auf strikte Ablehnung, ja auf Empörung stieß. Im besten und friedlichsten Falle heißt es dann noch einmal: „Völlig falsch ... Das kann man doch überhaupt miteinander vergleichen!“ Und hier beginnt nun – meistens unerkannt – für die Streithähne ein neues Problem.

Viele Mißverständnisse und daraus abgeleitet auch Meinungsverschiedenheiten entspringen allein schon einer unklaren Sprache bzw. Ausdrucksweise. Was kann man nicht miteinander vergleichen? Eine Autobahnbrücke und eine Tomate? Auch wenn sich der Sinn eines solchen Vergleichs nicht auf Anhieb erschließt, so kann man natürlich die Frage stellen, inwieweit eine Autobahnbrücke einer Tomate gleicht, inwieweit aber auch nicht. Etwas miteinander vergleichen wollen heißt doch zunächst einmal nichts anderes, als die Frage nach der Gleichheit und natürlich dann auch der Art und dem Grad der Ungleichheit zu stellen, wozu immer das dann im Ergebnis gut sein mag. Man sammelt einmal alles das, was gleich ist, aber auch die Unterschiede. Dieses Ergebnis ist dann die Feststellung, daß das eine dem anderen gleicht, in Teilen gleicht oder auch nicht.

Man wird hier schnell feststellen, daß eine Autobahnbrücke und eine Tomate sehr ungleich sind. Aber zu diesem Ergebnis kommt man eben erst, wenn man sie zuvor „verglichen“ hat. Fazit: Man kann eigentlich alles miteinander vergleichen. Sprachlich jedenfalls. Nicht alles ist aber im Ergebnis dann als gleich zu bewerten. Der Umfang der Ungleichheit kann dabei so groß ausfallen, daß eine Wirkung im Sinne eines gedanklichen Transfers von dem einem zum anderen nicht mehr stattfindet, das Vergleichen sich also im Ergebnis nicht lohnt. Und nicht selten sieht man das schon zuvor auf einen Blick. „Das ist aber nicht das gleiche“ wäre daher eine sprachlich korrekte und Mißverständnisse insoweit ausschließende Antwort. Ich sehe so viele Unterschiede in dem, was Du als Vergleich herangezogen hast, daß Schlußfolgerungen von dem einen auf das andere nicht als möglich erscheinen. Für mich jedenfalls ist das so.

Ich – vor dem Hintergrund meiner Kenntnisse und Erfahrungen – werte das so.

Man kann im Ergebnis die Dinge nicht gleichsetzen.

Es zeigt sich hiernach also, daß es hilfreich sein kann, die Handlung (das Vergleichen) zu trennen von dem, was dabei herauskommt (die Bewertung). Alles andere nimmt in methodisch angreifbarer und für den Streitnachbar auch mißachtender Weise die (natürlich negative) Bewertung schon vorweg, ohne einen gründlichen Prozeß des Vergleichens überhaupt angestellt zu haben. Es desavouiert so von vorn herein schon das Verhalten selbst, das doch eigentlich noch

46

neutral ist und ergebnisoffen, solange der Vergleichsprozeß nicht abgeschlossen worden ist. „Das kann man nicht miteinander vergleichen“ ist nichts anderes die Formel eines gestanzten Vorurteils, das in der Diskussion eine Killerfunktion für das faire Miteinander hat und schon deshalb dem anderen mißfällt.

Man wird wohl schnell einig sein darin, daß besonders jede Bildung von menschlichen Kategorien mit angeblich gleichen Attributen (Sarrazin läßt grüßen!) sachlich falsch und die Beziehungen belastend ist, wenn sie keinen kausal nachweisbaren Bezug und dann auch noch einen negativen Inhalt haben. Alle „Volkswagenfahrer“ oder „linksrheinischen Hausfrauen“ haben neben einer solchen höchstabstrakten Zusammenfassung eigentlich doch kaum etwas gemeinsam, was über die sprachliche Begriffsbildung hinausgeht. Aber aus derselben zu schließen, daß sie auch noch dieses oder jenes sind bzw. tun, überstrapaziert die seriös zu bewertenden Ursachen und Kausalitäten. Es gibt also „die Preußen“, die „Bayern“ oder selbst „die Juden“ eigentlich nicht, außer daß sie in einem Staat leben bzw. einer eigenen, gemeinsamen Religion angehören. Daraus weitergehende Schlüsse zu ziehen, als sie durch das statistische Kriterium und die Definition ihrer Kategorie gezogen worden sind, sollte als fehlerhaft und historisch ohnehin überlebt gelten. Aber eben nicht nur bei den Juden, sondern bei allen anderen auch.

Das Gegenteil der menschlichen „Kategorie“ nach welchen Kriterien auch immer ist das Individuum. Es verhält sich so oder so, und das kann man natürlich kritisieren, aber nicht blind auf andere übertragen. Das gilt horizontal unter Lebenden eben so wie vertikal unter Generationen. Daher kann auch gegenüber den Deutschen weder eine Kollektivschuld noch eine Schuld der nachfolgenden Generation für die Untaten ihrer Väter unterstellt, aus dieser historischen Erfahrung aber eine hohe Sensibilität und Verantwortung im Umgang mit „Kategorien“ zu jeder Zeit allen gegenüber immer wieder angemahnt werden. Man glaubt zwar feststellen zu können: Es gibt keine neue Welle des Antisemitismus in Deutschland, allenfalls „eine gewisse Latenz von Antisemitismus“ wie „in vielen Ländern, auch in Russland, Amerika und Grossbritannien oder Frankreich.“119 Dennoch sollte man sich darin nie so ganz sicher sein. Die Neigung zur Pauschalierung und argumentativen Vereinfachung ist groß, was nicht selten einem mangelnden Selbstbewußtsein entspringt. Sie zwingen die Interviewpartner vor das Mikrofon, vor dem sie etwas sagen müssen, auch wenn es eigentlich nichts zu sagen gibt. Die Fragen selbst sind banal und repräsentieren zu wenig, was einen Hörer interessieren würde. Es ist ein Einstieg, einmal irgendetwas zu sagen. Dabei bleibt es dann oft. Die Fragen verbleiben im Formalen. So ringen sie unterschiedlich geschickt um Worte, die oft ohne jegliche Aussage bleiben. Aber man hat etwas Freundliches gesagt. Erstaunlicherweiser fühlen sich die meisten 119 Richard von Weizsäcker im Interview mit Heribert Prantl und Dominik Wichmann: „Und mitRecht“ – SZ-Magazin Nr. 27 vom 05.07.2002, S. 16 ff. (22)

47

aber nicht gehindert, einfach nicht vor das Mikrofon zu treten, weil sie eben nichts zu sagen haben. Sie tun es dennoch. Was sie sagen, fällt dementsprechend aus.

Nur so weit kommt es in der Regel dann doch nicht. Denn es dominieren ohnehin nur die halben Wahrheiten – ein neuer Umgang mit den Fakten? Seit Hermann Hesse und Martin Walser weiß man, daß nichts wahr ist ohne sein Gegenteil. Warum sollte es eigentlich für die Menschen attraktiver sein, wenn Politiker, sich auf sie unterstützende Nebensächlichkeiten verlieren und dort mit einer Vehemenz kämpfen, als ob es ums ganze geht, immer nur die Hälfte der Wahrheit für ihren Standpunkt reklamieren und die andere Hälfte schlicht unterschlagen, sich persönlich beschimpfen und diskreditieren, statt sachlich zu argumentieren und schließlich auch dem politischen Gegner nur unlautere Motive zu unterstellen, statt ehrlichen und guten Willen? Politiker – bisweilen heftig unterstützt von einer sich so offenbar besser verkaufenden Presse – befehden sich nicht nur parteiübergreifend, sondern immer mehr auch innerhalb einer Partei mit verbalen Alleingängen, mit offener und unabgestimmter Kritik an durch die gewählten Repräsentanten getroffenen Festlegungen und Entscheidungen, was zumindest zeigt, daß in vielen Fällen die Zerreißgrenzen für eine verordnete „Geschlossenheit“ oder „Solidarität“ selbst den eigenen Leuten zu eng gezogen und im Ergebnis alles zu viel wird. Freiheit ist gewünscht!

Sprache ist Ausdruck menschlicher Gesinnung und ihrer Zeit. Die Sprache ist es – so sagt man, die den Menschen überhaupt erst zu einem solchen mache. Es ist ja wahr. Tiere haben keine annähernd so differenzierte Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeit, wie es die menschliche Sprache bietet. Nur was hat der Mensch aus dieser ihn auszeichnenden Möglichkeit gemacht? Wie geht er noch immer mit diesem kostbaren Instrument um? Nichts ist erfinderischer, mitunter aber auch unterhaltsamer als das wahre Leben. Nicht künstliche Phantasie, nicht Illusionen und flüchtige Schatten, sondern die pure Realität beschert uns dabei das Aufregendste, das Faszinierendste, aber auch die größten Enttäuschungen, wenn sich der Qualm des Gefechts, der Pulverdampf verzogen hat, und man sehen kann, was auf dem Schlachtfeld übrig geblieben ist.

Die Einbindung der Volksvertreter in die politischen Parteien mit ihren eigenen Vorstellungen und Maßregeln hat, führt zu einer weiteren, starken Beeinflussung bzw. sogar Verformung Volksvertreter. Die Verfassungswirklichkeit ist über die ursprünglich nur als Hilfsfunktion mit mehr „Verankerung in der Gesellschaft und ihrer darauf beruhenden Staatsferne“120 gedachte Mitwirkung der Parteien „bei der politischen Willensbildung des Volkes“ (Art. 21 GG)121 hinausgewachsen, worauf schon der ehemalige Bundespräsident Richard v. Weizsäcker in

120 121

BVerfG 85, 264/283 Art. 21 I 1 GG

48 einem ZEIT-Interview 1992 kritisch hingewiesen hat.122 Aus Mitwirkung ist inzwischen „(Vor-) Herrschaft“123 mit allen ihren Ausprägungen geworden.

Kommen wir zurück auf die Ausgangslage: Die Parteien wirken also nicht nur mit, wie das Grundgesetz dieses zurückhaltend formuliert, sondern regieren praktisch allein, über alle Gremien und Institutionen hinweg, seien sie nun im Stadt- oder Gemeinderat, im Landesparlament oder der Landesregierung oder – an welcher Stelle auch immer – im Bund mit politischen Aufgaben betraut worden. Fraktionszwang, Parteiengeschlossenheit oder auch nur die Festlegung der Reihenfolge der zur Wahl stehenden Parteienvertreter auf den Wählerlisten sind Ausdruck dieser unbedingten und allumfassenden Parteienherrschaft. Und wenn die Parteien bestimmen, wer in das Europaparlament oder als Richter oder Rundfunkratsmitglied gewählt werden soll, dann legen sie in der Regel ebenso vor und fest, was den verbleibenden Wahlgremien überhaupt noch zur Wahl stehen darf.

Das ist zwar bis zu einem gewissen Grad die (auch gewollte) bzw. pragmatische Folge eines mittelbaren, eines repräsentativen demokratischen Einflusses auf die einzelnen, teilweise auch höchst komplizierten Sachfragen. Aber es führt im Ergebnis dazu, daß wir eine Demographie praktizieren, die bestensfalls „als regieren für das Volk verstanden“ wird und „nicht als Regieren durch das Volk“.124 Viele Menschen verstehen letztzlich nicht die immer komüplexer werdenden Problemlagen, so daß sie blind vertrauen müssen auf die Redlichkeit von Parteien und Politikern. Nicht selten sehen sie in solchen Meinungsänderungen sogar die Abkehr von strengen ideologischen oder parteiorientierten Zielverfolgungen und damit ein Handeln zum Wohle des Volkes. 125 Das Buhlen um die Gunst der Wähler macht die Parteien auch immer ähnlicher. Wenn aber selbst der Wahlkampf für das Europäische Parlament nur doch auf Namen und Parteien, sichere Repräsentanz im Parlament überhaupt abstellt, ohne zugleich auch die wesentlichen inhaltlichen Streitpunkte und Positionen klarzustellen, für die das Mandat begehrt wird, dann darf man sich nicht mehr

122

Zitiert von Cathrin Kahlweit: „Weniger Ochsentour – Die angebliche Volksfernheit der politischen Parteien“ – zugleich Besprechung des Buches von Beatrice von Weizsäcker: „Warum ich mich nicht für Politik interessiere“, Lübbe Verlag Bergisch-Gladbach 2009 – SZ Nr. 211 vom 14.09.2009, S. 16 123 Beatrice von Weizsäcker: „Warum ich mich nicht für Politik interessiere“ – Lübbe Verlag Bergisch-Gladbach 2009 124 So der Schweizer Philosoph Lutz Wingert: „Die Bürger als Zuschauer – Demokratie wird allzu oft als Regieren für das Volk verstanden, nicht das Regieren durch das Volk“ – SZ Nr. 96 vom 27.04.2011, S. 2 125 Thomas König: „Zum Wohle des Staates – Kanzlerin Merkel hat schon oft ihre Position zu politischen Fragen gewechselt. Warum ihr das beim Wähler sogar eher nützt als schadet“ – SZ Nr. 193 vom 22.08.2013, S. 2

49 wundern, daß die Verdrossenheit steigt126 und keiner mehr zu so einer Wahl gehen mag.

Die Parlamente geraten zunehmend unter Druck und fühlen sich bedrängt in ihrer demokratischen Grundfunktion: Dabei rügen Parlamentsmitglieder das häufig zu schnelle autoritäre Vorgehen ihrer Regierungsfunktionäre127 ohne rechtzeitige Information und Einbeziehung ihrer parlamentarischen Gremien und Ausschüsse, von der Parteibasis ganz abgesehen. Wenn das Verhalten nicht stimmt, erschallt der Ruf nach „systemischen“ Änderungen, neuen oder anderen Parteien, sofern man sich nicht ohnehin von dem Geschehen abgewandt hat.

Insbesondere der Wunsch nach einer Änderung der Verfassung, nach unmittelbarerer Beteiligung des Volkes an Entscheidungen und damit nach mehr direkten demokratischen Elementen wird intensiv diskutiert: Bürgerentscheide ebenso wie die unmittelbare Wahl des Bundespräsidenten werden speziell thematisiert, auch wenn das seine mindestens zwei Seiten hat, denn natürlich gibt es auch gute Gründe für ein Prinzip, das wir „repäsentative“ Demokratie nennen.

Der jeweilige Stand der Entwicklung und Reifegrad einer Gesellschaft wird maßgeblich bestimmt durch die Art und Weise, wie die Menschen sich verhalten, wie sie miteinander umgehen bzw. in Erscheinung treten. Dabei kommt den Prominenten – wodurch auch immer sie herausragen – nolens volens die Rolle eines Vorbildes zu. Besonders geht es um das Erscheinungsbild der Politiker, die als „Herrscher auf Zeit“ schon deshalb beliebt sein müssen, weil sie ja gewählt werden müssen und wollen? Denn es gibt sie nach wie vor, die „Gefahr“ eines Umsturzes, nur heißt dieser jetzt einfach Wechsel der Mehrheiten. Für die jeweils herrschenden Parteien und ihre Vertreter bedeutet der Verlust der Mehrheit die Aufgabe eines lukrativen Amtes, von Privilegien und – vielleicht sogar – Ansehen in einer Medienöffentlichkeit, in der sie sich schon aus Gründen persönlicher Eitelkeit gern präsentieren. Was liegt also näher, als wiederum die Sicherung der eigenen Position populistisch vor alles andere zu stellen zu einem gefühlten „Wohl des Volkes“, auch wenn es genau das Gegenteil von dem ist, was wirklich Not täte.

Man höre sich einmal eine oder mehrere Talkshows an. Die eingeladenen Gäste sind dabei praktisch beliebig austauschbar. Der samstägliche Fußballnachmittag endet mit diversen Interviews der Bundesligaspieler. Was dabei eine Stunde lang geboten wird, ist von Samstag zu Samstag immer wieder ohne Än126 Carl Wilhelm Macke: „Ohne gute Utopie keine gute Politik – Oskar Negt sinnt auf Auswege aus der desillusionierten Gegenwart“ – SZ nr. 187 vom 16.08.2010, S. 14; Thorsten Glotzmann: „‘Wir sind die 100 Prozent‘ – Wie weit haben sich die Demokratien in Europa und in den USA voneinander entfernt? Historiker diskutierten in München über die transatlantische Demokratie und das Problem populistischer Bewegungen“ – SZ Nr. 138 vom 18.06.2013, S. 13 127 Das bemängelt auch das Europäische Parlament im Zusammenhang mit der Verabschiedung des EU-Budgets für 2014 – „‘Wir lassen uns nicht erpressen‘ – Europaparlament widersetzt sich Kompromiss zum EU-Budget“ – SZ Nr. 141 vom 21.06.2013, S. 8

50

derungen verwendbar. Immer dasselbe, immer banal, die gleichen Worthülsen, keine Substanz oder neue Gesichtspunkte! Der Druck, sich kurz zu fassen bzw. die schnellen Unterbrechungen durch den Moderator. Kaum einer kann im Zusammenhang seine Gedanken so darlegen, daß etwas klar wird. Dramaturgie rangiert vor Information.

Ja – mitunter glaubt man nicht, was man nicht doch alles kann! Und es gibt zu diesem unendlich weiten Bereich weitere, ja geradezu heikle bis peinliche Beispiele mit ebenso „globalen Auswirkungen“. So verlagert sich das Spielfeld der meisten Politiker immer weiter weg von der großen Themen-Arena hin zu den kleineren Spielfeldern, in denen zwar nur unbedeutende Spielchen stattfinden, deren Unterhaltungswert aber als weitaus größer eingeschätzt wird. Alles für sich, wenig für Deutschland scheint längst ein anerkanntes Überlebensprinzip für diejenigen zu sein, die eigentlich dazu aufgerufen sind und öffentlich geschworen haben, sich dem Gemeinwohl zu widmen. Die katholische Soziallehre definiert dieses Gemeinwohl als „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen.“128 Es wird zu viel geredet und zu wenig gesagt. Einer kopiert den anderen. Die Medien vermitteln ein schlechtes Vorbild. Die „Wortmüll-Produktion“ boomt und erreicht ungeahnte Wachstumsraten. „In Zeiten, wo das Reden zum Gerede und das Tun zum Getue wird, ist das Echte gefragt.“129 Es überzeugt aus allen diesen Gründen viele Staatsbürger immer weniger, was die Politiker sagen und noch weniger, was sie tun. Sie bieten zu viele Spiele auch in eigener Sache und zu wenig Brot, das eine Gesellschaft existentiell erhält. Die Auseinandersetzungen auf dem Politkfeld werden zumal härter, auch schonungsloser. Das gilt leider nicht für Inhalte, sondern für unbedeutende Äußerlichkeiten. Statt sich wirklich auf die sachlichen Haushaltsfragen im Bund zu konzentrieren, übertreffen sich die Redner im Bundestag anläßlich seiner Debatte über den nächsten Haushaltsentwurf nur mit „vergifteten“ persönlichen Vorwürfen.130 Man kämpft mit allen – immer mehr unsachlichen – Mitteln bis hin zur Verunglimpfung des politischen Gegners, der eben nicht nur ein anders Denkender ist, sondern schlicht ein Schuft. Statt sich mit den wirklich großen und dringenden Problemen unserer Zeit – Steuerreform, Haushaltssanierung, Umweltschutz, Gesundheitsund Pflegereform etc. – inhaltlich analytisch und therapeutisch zu befassen, geht es nur noch um wechselseitige zerfleischende, aber nutzlose Kritik an Stil und Formalien, wobei auch nicht davor zurückgeschreckt wird, „einen Floh zum 128

Erwin Helmer: „Klar und verlässlich – Manager sollten die alten Tugenden der ehrbaren Kaufleute annehmen, damit sie das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen und die Wirtschaftskrise bewältigen können“ – SZ Nr. 161 vom 16.07.2009, S. 18 129 Peter Hahne: „Schluss mit lustig..“, S. 125 ff.

130 „Zu lässiger Umgang“ – SZ Nr. 66 vom 20./21.03.2010, S. 4

51 Elefanten aufzublasen.“.131 Nichts macht betroffener, trauriger, enttäuschter als alles das, was wirklich stattfindet. Deutschland – was ist aus Dir geworden? Und wie soll und kann es eigentlich weitergehen?

Damit einher geht zwangsläufig auch die Nivellierung der zur Gewalten- und Aufgabenteilung gedachten, politischen Gremien. Die politischen Parteien überlagern in ihrer konkreten Erscheinungsform und Verhaltensweise inzwischen de facto die rechtlich gewollte Staatsstruktur vertikal und horizontal in einer so nicht gewollten Weise, verschieben damit also auch die institutionelle, vorgedachte „Machtbalance“, ohne sich andererseits noch durch ihre fortwirkende traditionelle historische Bedeutung eines christlichen Konservativismus, Sozialismus oder Liberalismus, geschweige denn durch ihre aktuellen Programme signifikant voneinander zu unterscheiden, so daß auch sie als „Allerweltsparteien“ 132 mehr nur den Anspruch auf Macht um jeden Preis verkörpern als Lösungsalternativen für die konkreten Probleme, die den Menschen auf den Nägeln brennen.

Eine andere Entwicklung hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß speziell dem Parteienstaat das Volk entglitten ist: Die politischen Parteien, die einmal nach Welt- und Lebensanschauungen, als – wie der Göttinger Politikwissenschaftler und Parteienforscher Franz Walter das nennt – „Ausdruck kräftiger sozialer Lagen und gesellschaftlicher Lager“ entstanden waren, die ihnen „Fundament, Farbe, Idee, Ethos, Antrieb – und nicht zuletzt Personal, das dadurch sozialisiert wurde, folglich unverwechselbar, gewissermaßen authentisch war“, haben den Kontakt nicht nur zu ihren Wählern, sondern auch zu ihren Mitgliedern verloren.133 „Die Wertvorstellungen von Bürgern und Politikern klaffen zunehmend auseinander.“ Das ergab eine aktuelle Studie des Meinungsforschungsinstituts YouGov: „Mandatsträger aus Bund, Ländern und Kommunen halten abstrakte Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität für besonders wichtig. Die Bevölkerung setzt dagegen eher auf konkrete Tugenden wie Ehrlichkeit, Respekt oder Zuverlässigkeit. Bereits 2011 hatte das Institut eine solche ‚Wertestudie‘ veröffentlicht. Damals hatten beide Seiten Bürger wie Politiker angegeben, dass Ehrlichkeit bei ihnen ganz oben auf der Werteskala steht. Bei der Bevölkerung war das Votum aber weit eindeutiger ausgefallen als bei den Mandatsträgern. Ehrlichkeit bei den Bürgern weit vorne In der aktuellen Umfrage zufolge rangiert Ehrlichkeit bei den Bürgern immer noch weit vorne. Bei den Mandatsträgern streiten neben Ehrlichkeit dagegen die Gemeinschaftswerte Solidarität und Gerechtigkeit um den ersten Platz. ‚Gerechtigkeit ist für die Volksvertreter der TopWert‘, sagte YouGovVorstand Holger Geißler. Das gelte vor allem für Abgeordnete der Linken, Grünen und SPD. ..

131 Meinard von Gerkan: „Ein deutsches Desaster – Anmerkungen eines Mitfahrenden: Die Debatte um Westerwelles Reisen zeugt von Streitsucht und Skandalhunger“ – SZ Nr. 66 vom 20./21.03.2010, S. 2 132 Heribert Prantl: „Homogenisiert, pasteurisiert, sterilisiert – Warum CDU, CSU und SPD Misserfolg haben, die neuen Parteien aber Erfolg“ und Stefan Braun: „Bürgerlicher Protest – Union fürchtet um ihre Bindekraft“– SZ Nr. 231 vom 04./05.10.2008, S. 2 133 Z. B. Susanne Höll: „Volk und Parteien“ – SZ Nr. 123 vom 28./29.05.2011, S. 4

52

... Die Unterschiede im Werteverständnis zwischen dem Volk und seinen Volksvertretern werde größer, stellen die Forscher fest. ‚WerteDiskrepanzen kommen immer dann zustande, wenn die Lebenswirklichkeiten sich stark unterscheiden. Ich fürchte, das ist zwischen Politikern und Bürgern oft der Fall‘, sagte Klewes. "Die Volksvertreter müssen näher an ihr Volk rücken, dann kommt man auch in den Werten zusammen." 134

Die Parteien werden sich nicht nur in dem Verhalten ihrer Politiker, sondern auch von ihrer Programmatik her immer ähnlicher. Sie gleichen sich sowohl in ihren Zielen und Programmen als auch in ihrer Darstellungsweise immer mehr aneinander an, so daß sie von den Bürger immer weniger wirklich unterschieden werden können. Alle wollen Mitte sein, sozial und bürgernah, neuerdings ökologisch nachhaltig und natürlich weltoffen. Aber die Mitte schmilzt dahin.135 Zumindest hat es hier keine nennenswerten Einkommenszuwächse mehr gegeben, was aber letztlich kein Problem der Mittelschicht ist, sondern der kollektivern ohnverhandlungen.136 Ihre Programme überschneiden sich immer mehr oder verschwimmen gar in einem profillosen Bild und für die Bürger nicht mehr durchschaubaren Nebel. In einer immer komplizierteren Welt, in der sich „der Traum von wachsender Prosperität und steigendem Lebensstandard nicht mehr träumen lässt“, werden auch „die Konkurrenten um knappe Ressourcen und Lebenschancen ... immer schwieriger benennbar, worauf der Münchner Soziologe Armin Nassehi hingewiesen hat. Der Konkurrent wird abstrakt und unsichtbar“, womit auch die Verantwortlichen immer weniger gut adressierbar werden.

Hier liegt einer der wesentlichen Gründe dafür, warum die politischen Parteien als Repräsentanten der ehemalig stabilen Milieus in ihrer Ähnlichkeit konturenlos geworden“ sind. „Die CDU macht eine Reichensteuer, und die SPD hat die Steuern reduziert.“ 137 Wo bleibt da ihre Aufgabe etwa als Oppositionspartei zur „Entwicklung von Alternativen zu der augenblicklich herrschenden Gesamtrichtung, ohne die ein Wechsel der regierenden Personen und jener Gesamtrichtung nicht möglich ist.“138 „Im Grunde hat sich die Parteienkonkurrenz entkernt.“ Entstanden sind jetzt die von dem Verfassungstheoretiker Otto Kirchheimer so genannten und bereits 134

„Was uns von Politikern unterscheidet“ – dpa vom 29.07.2013 – www.t-online.de Thomas Öchsner: „Deutschlands Mitte bröckelt – Vom wachsenden Wohlstand profitiert nur eine Elite. Forscher des Berliner DIW und der Universität Bremen widerlegen die These von der Stabilität der Mittelschicht“ – SZ Nr. 288 vom 13.12.2012, S. 19 136 So und zu den unterschiedlichen Definitionen von Mittelschicht Gert G. Wagner: „Die Inflation der Mittelschicht – Immer neue Studien verwirren die Öffentlichkeit mit alarmistischen Aussagen über die Mittelschicht. Doch schon der Begriff führt in die Irre“ – SZ Nr. 293 vom 19.12.2012. S. 18 137 „‘Wir können keine Insel der Seligen schaffen“ – Linde-Chef Wolfgang Reitzle über die wachsende Angst vor der Globalisierung, mangelhafte Reformen und sein Verständnis von Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 90 vom 17.04.2008, S. 21 138 Konrad Hesse: „Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“, S. 76 (Rdnr.

169) 135

53 vorausgesagten „Allerweltsparteien“.139 Ähnlich wie schon in Italien scheinen die großen Traditionsparteien wie Christsoziale, Sozialisten und Kommunisten immer mehr in der Bedeutungslosigkeit zu versinken und Wahlbündnissen, Regional- und reinen Protestparteien oder Ein-Personenverbänden Platz zu machen.140 Im Ergebnis führt alles dazu, daß die Bürger mit ihrer Wahl keine klare Richtungsentscheidung mehr treffen können. Wen immer sie wählen – entscheiden können sie damit nichts. So bleiben sie zunehmend den Wahlen fern. Da überzeugt dann auch nicht der zunächst richtige Hinweis, daß es Bürgerpflicht sei, zur Wahl zu gehen und politische Entscheidungen nicht anderen zu überlassen. Nur wenn es nichts mehr zu entscheiden gibt, verfällt auch dieses Argument in ein von den Parteien selbst zu vertretendes Nichts. Allein die Sozialdemokratische Partei Deutschlands verlor zwischen den Bundestagswahlen 1998 und 2005 knapp vier Millionen Wählerinnen und Wähler und bereits seit 1981 über 400000 Mitglieder.141 Inzwischen entfernen sich nun auch Mitglieder von ihren Parteien.

Im Mai 2011 hatten nach Parteiangaben nur noch 495 000 Bürger ein SPDParteibuch.142 Es entstehen statt dessen immer mehr kleine Gruppen und Schichten, die sich weniger über Gemeinsamkeiten definieren als über Andersartigkeiten. Die Identitäten zersplittern. Mehr politische Parteien oder auch nur Wählervereine143 sind eine Folge davon, Wahlabstinenz eine andere. Durchschnittlich 40 Prozent der Wahlberechtigten gehen in letzter Zeit überhaupt nicht mehr zur Wahl.144 Trotz aller Kritik an dem Verhalten der politischen Parteien und ihrer Neigung, mehr an sich, ihren Erhalt und der Vergrößerung ihres Einflußbereiches zu denken, bleibt die „Mitwirkung“ der politischen Parteien in demokratischen Systemen unverzichtbar. Um dieser verfassungsrechtlichen Selbstbeschränkung jedoch wieder gerecht zu werden, müßte wenigstens das Selbstverständnis für die 139

Franz Walter: „Parteien ohne Lager – Weltanschauungen haben in der Politik keine Bedeutung mehr – dies aber festigt die Demokratie nicht, sondern untergräbt sie“ – SZ Nr. 222 vom 23.09.2008, S. 2 140 Gustav Seibt: „Die Rückkehr der Wut – was einen Zerfall des Parteiensystems so bedrohlich macht“ – SZ Nr. 163 vom 15.07.2008, S. 11 141 Sigmar Gabriel: „‘Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren‘ – Bundesumweltminister Sigmar Gabriel entwirft das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und fordert Mindeststandards für die internationalen Finanzmärkte“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 26 (Auszug aus seinem Buch „Links neu denken“) 142 Ssusanne Höll: „Schrumpfende Sozialdemokratie – SPD hat jetzt weniger als eine halbe Million Mitglieder“ – SZ Nr. 123 vom 28./29.05.2011, S. 5 143 Sebastian Beck: „Ein lockerer Haufen, der keine Partei sein möchte – Der Wahlerfolg der Freien Wähler in Bayern hat die Diskussion neu entfacht, ob sie überall als landesweite Kraft antreten sollen“ – SZ Nr. 231 vom 04./05.10.2008, s. 2 144 Heribert Prantl: „Homogenisiert, pasteurisiert, sterilisiert – Warum CDU, CSU und SPD Misserfolg haben, die neuen Parteien aber Erfolg“ und Stefan Braun: „Bürgerlicher Protest – Union fürchtet um ihre Bindekraft“– SZ Nr. 231 vom 04./05.10.2008, S. 2

54

weitere Zukunft neu ausgerichtet werden. Leitlinie kann nur sein der Eid, den jeder verantwortliche Politiker auf das Wohl des Staates und nicht seiner Partei zu leisten hat. Die Bürger müssen das im täglichen Reden und Verhalten aller Politiker wieder hautnah und glaubwürdig spüren. Auf die Frage, ob Deutschland reformierbar sei, antwortete Hans Herbert von Arnim, er sei „durchaus optimistisch“. Da Politik viel zu wichtig sei, "um sie allein den Berufspolitikern zu überlassen", hoffe er auf mehr direkte Demokratie durch Bürgerbegehren und Volksentscheide - "auch wenn die politische Klasse dies gar nicht mag, weil ihre Allmacht begrenzt wird".145 Und welche Folgern ergeben ich aus alledem für die Wähler? Immer weniger wissen Wähler wirklich, welche Sachposition die von ihm gewählten Parlamentarier in all diesen höchst unterschiedlichen Aufgabenstellungen vertreten und nachhaltig anstreben Auch kann sich das sehr schnell ändern, was es auch immer häufiger tut. Man denke nur an die ständigen Meinungswechsel des bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer, inzwischen auch als „Drehhofer“ karikiert. Oder wer weiß schon bei der Wahl, was die Bundeskanzlerin Angela Merkel vor hat und zu tun gedenkt? Kurz vor dem Ausstieg aus der Kernenergie unter dem aktuellen und unmittelbaren Eindruck der Ereignisse in Fukushima war noch die Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke beschlossen worden. Alle Politiker orientieren sich mehr und mehr pragmatisch an den kurzfristig erkennbaren Handlungsfeldern.

So neigen die Wähler mehr und mehr dazu, persönlich glaubwürdige Personen zu wählen und nicht mehr Parteien. Das hat sich besonders deutlich bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen Anhalt im März 2016 gezeigt. Unterstützt werden Glaubwürdigkeit und Vertrauen durch die klare und überzeugende Vertretung („Überzeugungsarbeit“ 146) politischer Ziele und Aufgaben gegenüber den Wählern; Erläuterung der und Werbung auch für unpopuläre Maßnahmen. Auch wenn Sigmar Gabriel meint – „Dies ist nun die doppelte Herausforderung: die entfesselten Finanzmärkte bändigen und zugleich der Wirtschaft mehr Freiraum geben. Ein Jahr vor der Bundestagswahl ist eine solche differenzierte Politik fast unmöglich. Trotzdem müssen verantwortliche Politiker diesen Versuch starten“ 147 – bedarf es einer klaren und kraftvollen politischen Führung, wie das der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt trotz

145 „Deutschland ist keine echte Demokratie mehr“ – Der Bundestag im Reichstag in Berlin (Quelle: imago) erschienen am 04.05.2008 – http:(//nachrichten.t-online.de vom 07.06.2008 146 „‘Wir können keine Insel der Seligen schaffen“ – Linde-Chef Wolfgang Reitzle über die wachsende Angst vor der Globalisierung, mangelhafte Reformen und sein Verständnis von Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 90 vom 17.04.2008, S. 21 147 Marc Beise: „Die Lehren aus der Krise“ – SZ Nr. 221 vom 22.09.2008, S. 4; Guido Bohsem: „Neue Steuern – aber welche? – Alle Parteien wollen die Banken an den Kosten der Rettungspakete beteiligen. Umstritten ist das Wie“ – SZ Nr. 112 vom 18.05.2010, S. 17

55 der historischen Belastung des Wortes Führer mit Recht angemahnt hat.148 Voraussetzung dafür sind politische und wirtschaftliche Institutionen, aber auch Menschen, die eine solche Führungsrolle auch tatsächlich zu übernehmen bereit und in der Lage sind.

Es kann überhaupt keine Frage sein, daß die Menschheit auch in Zukunft ihre Probleme nur friedlich und unter einer breiten demokratischen Legitimation wird lösen können. Der Stand der technologischen Informationsentwicklung erlaubt es jetzt – im Gegensatz zu früher, schnell und umfassend auch alle Menschen zu erreichen, d.h. ein Angebot zu unterbreiten, das wirklicher politischer Führung und Konzeption entspringt und damit zugleich einen modernen demokratischen Dialog einleitet, der viele Menschen gleichzeitig Welt erreicht. Alles dieses beschränkt sich nicht mehr nur auf die traditionellen Nationalstaaten, sondern umfaßt mehr und mehr die ganze Welt.

Ein ähnliches formales Defizit – wenn auch nicht juristischer Art, sondern im Beziehungsmanagement der politisch Handelnden zu den von ihnen Vertretenen – hat sich bei der zunehmenden Konkretisierung der europäischen Zusammenarbeit von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zur Europäischen Union gezeigt. Gelegentliche Mahner, man solle doch früher und mehr das jeweilige Volk konkret in diese Entwicklung einbeziehen, wurden mit dem Hinweis darauf abgewehrt, dann würde die gewünschte Weiterentwicklung wahrscheinlich nicht stattfinden. So vollzog sich eine Politik unter Inkaufnahme, gegen den mutmaßlichen Willen des Volkes zu entscheiden. Es wurde nicht jede Anstrengung unternommen, um auch das Volk rechtzeitig für den erwarteten Nutzen und Gewinn der jeweils nächsten Schritte zu gewinnen, von denen die handelnden Politiker und Parteien selbst überzeugt waren. Zahlreiche mehr oder weniger bedeutsame, europäische, bundespolitische oder kommunale Vorhaben wie die Verabschiedung des Lissabon-Vertrages mit einer europäischen Grundrechte-Charta, die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke oder den Rettungsschirm für notleidende europäische Mitgliedstaaten bis hin zu dem Stuttgarter Bahnhofsprojekt 21 folgten diesem unseligen Beispiel der prozeduralen Nichtbeteiligung und damit Entfremdung der Bürger.

Unabhängiger müßte das Parlament also von den Parteien werden. Was immer auch geschehen wird in den nächsten Jahrzehnten – man muß die weitere Entwicklung keinesfalls sich selbst überlassen. Auch ein Phänomen wie die Globalisierung ist steuerbar und bedarf der Regeln.149 Und wo der Markt mit seiner Steuerungsfunktion an sein nicht gewolltes Ende stößt, sind Politik und entspre-

148

Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 80 Speziell für das Weltfinanzsystem Hans Küng: „Anständig wirtschaften – Warum Ökonomie Moral braucht“, S. 113 ff.

149

56 chende Eingriffs- und Ordnungsfunktionen notwendig.150 Und es erfordert eine Vorstellung von einer künftigen Welt, in der wir alle leben wollen.

Wer keine saubere Diagnose stellt, kann nicht wirksam therapieren. Mögen also gesonderte und einseitige Schutzschranken moralisch und sozial hoch legitimiert sein, so bleiben die meisten doch, wenn man ihre Effizienz und Durchschlagskraft an den sonstigen Spielregeln und schnellen Wirkmechanismen freier innovativer und produktiver Wirtschaftsmodelle mißt, nur kurzfristig wirkende Nothilfen. Wir sollten uns erneut fragen, ob es allein mit formalen Reglementierungen und Einschränkungen der Marktfreiheit151 auf Dauer gelingt, die erforderliche Ausgewogenheit herzustellen, die aus der „ungebremsten Liberalisierung“ (modernes Schimpfwort „Neoliberalismus“, das aber eher als über Regeln gebändigter Liberalismus zu verstehen ist152) allein nicht erwächst.153 Daß Griechenland überhaupt in ihre brenzlige Situation geraten ist, ist nicht nur eine Folge des übermäßigen Schuldenanhäufens vor Ort, sondern auch der durch den Euro geschaffenen Möglichkeit, dieses zu vergleichsweise zu niedrigen Kosten auch dann tun zu können, wenn die Wirtschaftskraft des eigenen Landes dieses nicht rechtfertigt. Mit anderen Worten: Würde Griechenland jetzt nicht gestützt um in der Eurozone verbleiben zu können – und das kostet die anderen viele Geld, dann käme es zu einem Staatsbankrott oder gar Ausscheiden aus der Eurozone, die wegen der inzwischen zahlreich angesammelten und wertlosen Anleihen bei der Europäischen Zentralbank die übrigen Mitgliedsstaaten noch weitaus mehr Geld kosten, weil sie dafür aufkommen müßten, ohne wenigstens theoretisch noch in den Genuß etwaiger Rückzahlungen zu kommen.

Wenn es das vorrangige weitere Ziel bleibt, Europa immer weiter zusammenrükken zu lassen, dann müssen neben der Europäischen Währungsunion Strukturen entwickelt werden, die neue Krisen dieser Art weitgehend vermeiden.154 Wünschenswert wäre es, hierzu mehr Anreizmodelle zu entwickeln, die unmittelbar und sofort wirksam wie etwa der Preis oder der Verlust auch anderer Hand150

Hans Küng: „Anständig wirtschaften – Warum Ökonomie Moral braucht“, S. 31 ff.

Dazu neuerdings Gustav A. Horn: „Des Reichtums fette Beute – Wie die Ungleichheit unser Land ruiniert“ – Campus Verlag Frankfurt/M. 2011 mit Besprechung von Indira Gurbaxani („Abschied von einem Ideal“) – SZ Nr. 59 vom 12./13.03.2011, S. 36; Norbert Häring: „Markt und Macht – Was Sie schon immer über die Wirtschaft wissen wollten, aber bisher nicht erfahren sollten“ – SchäfferPoeschel mit Besprechung von Winfried Kretschmer („Kritik der Neoklassik“) in SZ Nr. 59 vom 12./13.03.2011, S. 36 152 Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 119 und S. 197 ff.; ähnlich Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 17; Philipp Tingler: „Rettet den Libaralismus! Ohne Vertrauen in das Individuum, den Markt und den Skeptizismus wird die Welt fundamentalistisch“ – SZ Nr. 45 vom 22.02.2013, S. 2 153 Eckhard Behrens, Heidelberg, in seinem Leserbrief „Geldspritzen sind nur Notfallmedizin“ – SZ Nr. 237 vom 11./12.10.2008, S. 42 154 Claudia Buch: „Auch die Gläubiger müssen dran glauben – Wenn die Anleger nie einRisiko eingehen, könnte es künftig eine Schuldenkrise nach der anderen geben“ – SZ Nr. 147 vom 29.06.2011, S. 2 151

57

lungsmöglichkeiten als selbst zu tragende Risiken auf die im Wirtschaftsprozeß handelnden Personen einwirken.

Es hat also keinen Sinn, immer nur mehr Milliarden für Griechenland bereit zu stellen, damit es seiner Schuldenlast durch Zinszahlung mehr als durch wirkliche Rückzahlung wenigstens vorübergehend einigermaßen nachkommen kann, ohne daß sich einige Monate später zwangsläufig das gleiche Spiel fortsetzen muß.155 Die übergeordneten Hilfen, die natürlich zu Lasten der übrigen Mitgliedstaaten und insbesondere Deutschlands gehen, dürfen nicht in erster Linie die prekäre Fortsetzung der Schuldenmisere der hilfebedürftigen Länder im Auge haben, wie es derzeit geschieht, sondern vorrangig gefragt sind Hilfen, die es Griechenland ermöglichen, schnell wieder aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen. Vor allem dürfen die dort lebenden Menschen nicht verzweifeln, sondern eine sinnvolle und motivierende Aufgabe erhalten und sich auch in schweren Zeiten als nicht vergessene Miteuropäer fühlen dürfen. In Deutschland haben Politik, Unternehmen und Gewerkschaften durch verständiges Zusammenwirken rechtzeitig und vorausschauend dafür gesorgt, daß die Folgen der Krise für die Arbeitslosigkeit milde ausfielen. In diesem Sinne sollte auch Europa Hilfe leisten zur Selbsthilfe. Denn andernfalls gibt es auf absehbare Zeit keine wirkliche Lösung der sachlichen Problematik.

Daher muß also sofort die Einnahmeseite (Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft ohne Ausstieg aus dem Euro, Aufbau- und Investitionsplan nach dem Muster des berühmten „Marschall-Plans“etc.) unterstützt werden.156 Der Unternehmensberater Roland Berger spricht von einer zeitlich limitierten „Brückenfinanzierung“ bei strikten Haushaltsvorgaben mit automatischen Sanktionen, um so das Problem sich nicht nur perpetuieren und immer nur teurer werden lassen, sondern zu einer absehbaren und realistischen Verbesserung in dem Sinne führen, daß die Problemstaaten möglichst schnell in die Lage versetzt werden, wenigstens irgendwann ihre eigenen Schulden zu tilgen. Dazu bedarf es der Hilfen beim Aufbau rechtsstaatlicher und effizienter Strukturen in der staatlichen Verwaltung (Reformen der innerstaatichen Strukturen), um deren Effizienz zu verbessern und sicherzustellen, daß die erwirtschafteten Mittel früher oder später auch tatsächlich dem Abbau der Staatsschulden zugeführt werden und 155 Vgl. dazu auch Christian Felber: „Retten wir den Euro!“ – Deuticke Verlag Wien 2012 und die Besprechung von Caspar Dahmen: „Krisen-Know-how für jedermann“ – SZ Nr. 41 vom 18./19.02.2012, S. 24 156 „‘Deutschland gehört zu den Verlierern des Euro‘ – Unternehmensberater Roland Berger widerspricht deutschen Konzernführern und fordert mehr Ehrlichkeit in der Debatte. Nur dann sei die gemeinsame Währung zu retten“ – SZ Nr. 263 vom 15.11.2011, S. 19; Anselm Görres und Yannis Paleokrassas: „Grüne Rettung für Griechenland – Nach zäher Schuldendebatte ist ein neues realwirtschaftliches Wachstumsmodell gefragt, nicht nur im Süden“ – SZ Nr. 265 vom 17.11.2011, S. 20; Christiane Schlötzer: „Athener Wunschfkonzert – Das jüngste Sparpaket wird Griechenland nicht retten, das Land braucht eine Entschuldung“ – SZ Nr. 34 vom 10.02.2012, S. 4

58

nicht anderswo versickern. Damit die überhaupt noch vorhandenen oder hilfsweise zugeführten Mittel primär Invesitionszwecken dienen können, bedarf es sofort einer langfristigen Stundung und/oder des ganz oder teilweisen Erlasses der aufgelaufenen Schulden.157 Die hilfsweise aus anderen EU-Staaten zugeführten Aufbauhilfen dürfen an Auflagen gebunden werden, die dem Ziel dienen, auch innerstaatlich die Voraussetzungen für neues Wachstum zu schaffen. Der vorwiegend finanziellen Leistungssolidarität der einen Länder, anderen im Notfall zu helfen, korrespondiert fairerweise stets die Bereitschaft der Nehmenden, eigene Beiträge zu leisten und ggf. auch Opfer zu bringen, damit der Euro stabil bleibt. Die eigentliche Lösung der wirtschaftlichen Probleme bei der Schaffung von Produkten und Dienstleistungen und ihrer Wettbewerbsfähigkeit muß im übrigen vor Ort und durch diejenigen erfolgen, die sie verursacht haben.

Das ändert nichts daran, daß im langfristigen Interesse eine bessere Zusammenarbeit der EU-Staaten auch ohne Übertragung weiterer Kompetenzen auf die Gemeinschaft oder eine formale europäische „Wirtschaftsregierung“ die Mängel und Unterschiede auszugleichen bemüht sein muß, die durch die Schaffung des Euro allein nicht kompensiert werden konnten, wie es durch den „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ zum Rettungschirm für notleidende Euro-Länder, zur Umschuldung von Staaten, für die Reform des Stabilitätspaktes und eine bessere wirtschaftspolitische Koordinierung geplant ist.158 So sollte insbesondere über ein entsprechendes wirtschaftliches Konzept versucht werden, notleidenden Mitgliedern zu helfen, indem vernünftige Sparmaßnahmen – dazu gehören auch automatische Sanktionen bei Verstößen gegen den Stabilitätspakt und die strikte Eindämmung der Korruption – kombiniert werden mit Hilfs- und Fördermaßnahmen („Marshall-Plan“), um der Wirtschaft in diesen Ländern wieder auf die 157 Christiane Schlötzer: „Athener Wunschkonzert – Das jüngste Sparpaket wird Griechenland nicht retten, das Land braucht eine Entschuldung“ – SZ Nr. 34 vom 10.02.2012, S. 4; „Ruf nach drastischem Schuldenschnitt für Athen – IWF und EZB drängen Berlin, den Griechen die Hälfte der Verbindlichkeiten zu erlassen. Deutschland verlöre viele Milliarden“ – SZ Nr. 273 vom 26.11.2012, S. 1 158 Cerstin Gammelin: „Wird der Euro wirklich sicher? – Der große Krisenplan der neuen Chefstrategen Abngela Merkel und Nicolas Sarkozy steht zur Diskussion. Fragen und Antworten zum EUGipfel in Brüssel“ und „Alles oder nichts – Kanzlerin Merkel betreibt in Europa ein riskantes Spiel“ – SZ Nr. 28 vom 04.02.2011, S. 27 und 25; Cerstin Gammelin: „EU-Staaten beschließen engere Abstimmung der Wirtschaftspolitik – Teilerfolg für Merkel und Sarkozy – Deutsch-französischer Vorstoß löst aber heftige Debatten aus. Einzelheiten sollen auf Sondergipfel festgelegt werden“ – SZ Nr. 29 vom 05./06.02.2011, S. 23

59

Beine zu helfen. Deshalb soll der zukünftige dauerhafte „Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM)“ als Haftungssumme verbunden mit einer Bareinlage von rund 100 Milliarden Euro mit insgesamt 500 Milliarden Euro ausgestattet werden.159

Die Verlagerung der politischen Entscheidungszentren Trotz weit fortgeschrittener Verflechtung und weltweit gegenseitiger Abhängigkeit sehen viele Menschen – die öffentliche Meinung, aber auch Politiker – die Welt noch immer nur „aus national-egozentrischer und national-egoistischer Perspektive“. Ihnen fehlen für ein weitergehendes und übergeordnetes Verständnis nicht zuletzt die notwendigen historischen Kenntnisse über ihre Nachbarstaaten und diejenigen Völker und Staaten, mit denen sie es vornehmlich zu tun haben.160 Die meisten großen Probleme und Risiken unserer Zeit – von der Finanzkrise über den Terrorismus bis hin zum Klimawandel – sind nicht mehr national zu lösen, sondern nur noch international oder global. Vieles von dem, was bislang national geschah und ausreichte, muß auf internationaler Ebene verwirklicht werden, also mindestens zunächst einmal europaweit.161 Deshalb läßt sich auch das nationale Modell der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard nicht einfach fortführen, allein für Deutschland retten oder auf die heutige Zeit übertragen.162 Die Rolle des Nationalstaates hat sich damit im Zuge der weltweiten Veränderungen ebenfalls gewandelt. Ein klares Beispiel hierfür ist die Weiterentwicklung der Europäischen Union durch die Übertragung von bislang nationalen Hoheitsrechten auf diese Institution. Längst fallen die großen Weichenstellungen und Entscheidungen in internationalen Gremien oder Zusammenkünften, damit freilich auch in nicht mehr demokratisch gewählten, durch nationale Verfassung

159

Martin Winter: „Deutschland in Haft – Die Rettung in Not geratener Staaten kommt Berlin teurer als bislang angekündigt“ – SZ Nr. 38 v0m 16.02.2011, S. 21; Peter Bofinger: „Tödliche Therapie – Die EU zwingt Griechenland blind zu sparen – und könnte so das Land in den Abgrund stoßen“ – SZ Nr. 38 vom 15.02.2012, S. 2 160 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst – Eine Bilanz“, S. 74, 75 ff. (siehe auch S. 91 ff.); „‘Nichts ist heute so gewiss wie ein unsicherer Job‘ – Der Soziologe Ulrich Beck über das Ende der Wirtschaftswunder-Republik, die Probleme moderner Partnerschaften und die Frage, was er an Helmut Kohl schätzt“ – SZ Nr. 35 vom 12.02.2010, S. 30 161 Lars-Hendrik Röller: „Für eine kraftvolle Europapolitik – Die Lissabon-Strategie ist gescheitert, weil es keine verlässlichen Kontrollen gab. Solche Fehler müssen jetzt vermieden werden“ – SZ Nr. 65 vom 19.03.2010, S. 18 162 „‘Nichts ist heute so gewiss wie ein unsicherer Job‘ – Der Soziologe Ulrich Beck über das Ende der Wirtschaftswunder-Republik, die Probleme moderner Partnerschaften und die Frage, was er an Helmut Kohl schätzt“ – SZ Nr. 35 vom 12.02.2010, S. 30

60

gesicherten und nach dem Modell der Gewaltenteilung wirksamen Staatsgebilden.

Dabei ist es keine Frage, das dem politischen Ziel des weiteren Zusammenwachsens Europas der Vorrang gebührt vor einer alleinigen ökonomischen Betrachtung. Griechenland gehört ebenso wie Irland, Spanien oder Portugal zu Europa, und der Euro als gemeinsame – nicht zuletzt identitätsstiftende – Währung muß auch für diese Länder erhalten bleiben. Soweit dem aus rein ökonomischer Betrachtung Hindernisse entgegenstehen, bedarf es entsprechender Kompromißlösungen. Schließlich sind Hilfen für notleidende Euroländer durch Länder wie Deutschland („Transferunion“) meistens bereits vorfinanziert durch Produktions- und Exportvorteile in diese Länder, durch die daraus resultierenden Gewinne, Steuermehreinnahmen für die eigenen Staatshaushalte und nicht zuletzt den Erhalt der Arbeitsplätze. Im übrigen gilt es, Diskrepanzen politisch zu überwinden und demokratisch zu legitimieren, die daraus entstehen, daß einer gemeinsmaen Währung noch keine hinreichende gemeinsame europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik gegenübersteht.

Wir müssen uns also davon verabschieden, auch künftig nur im Rahmen der nationalen Volkswirtschaft und Gesellschaftsordnung das Heil bzw. die Lösungen für anstehende Probleme zu suchen. Wir müssen – so auch der ehemalige Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Uwe Jens – „dieses nationale Leitbild der solidarischen Gesellschaft einer sorgfältigen Prüfung unterziehen.“ Eine europäische Strategie für mehr wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Zusammenhalt bedarf einer intensiveren Koordinierung, auch der Sanktionsmöglichkeiten und einer entsprechenden Handlungsfähigkeit.163 Und der SPD-Finanzminister Peer Steinbrück sprach sich vehement dafür aus, „ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen Marktgläubigkeit und Zügellosigkeit zu schmieden“.164 Der jetztige Vorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, schrieb: „...Das Leitbild der gemischten Wirtschaft vergötzt also nicht den Markt und erst recht nicht den Staat. Es geht um den Nutzen beider Steuerungsmechanismen nach Maßgabe ihrer wechselseitigen Vorteile. Dabei sollte der Staat sich auf die Felder konzentrieren, in denen der Markt versagt. Zu den wichtigsten gehören die Klima- und Ressourcenprobleme. Hier bedarf es gestalterischer Politik, um Übernutzung nach dem Motto ‚Nach mir die Sintflut‘ zu verhindern. 165 ...

163

Lars-Hendrik Röller: „Für eine kraftvolle Europapolitik – Die Lissabon-Strategie ist gescheitert, weil es keine verlässlichen Kontrollen gab. Solche Fehler müssen jetzt vermieden werden“ – SZ Nr. 65 vom 19.03.2010, S. 18 164 Peer Steinbrück: „Wirtschaft ohne Moral schadet allen – Wenn es jetzt gelingt, in Deutschland ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen Marktgläubigkeit und Zügellosigkeit zu schmieden, dann hätte die Finanzkrise zumindest einen Sinn gehabt“ – SZ Nr. 163 vom 18./19.07.2009, S. 22 165 Sigmar Gabriel: „‘Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren‘ – Bundesumweltminister Sigmar Gabriel entwirft das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und fordert Mindeststandards für die internationalen Finanzmärkte“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 26 (Auszug aus seinem Buch „Links neu denken“)

61

„...Ein entscheidender Eingriff muss auf dem globalen Finanzmarkt erfolgen. Hier müssen Mindeststandards der Information, der Transparenz und regulierende Eingriffe sowie Sanktionen gegen Regelverstöße und Missbräuche institutionalisiert werden. Die zahlreichen Regeln, die hier schon heute die Bankenaufsicht, die Sicherheiten bei der Kreditvergabe und das Versicherungswesen betreffen, müssen zügig durch ein wirksames System zur Gestaltung der Finanzmärkte ergänzt werden. Informationen über Finanzströme und das Gebaren der größeren Investmentfonds auf der Basis klar geregelter Meldepflichten und europaweite Normen über das Verhältnis von Eigenmitteln und Kreditumfängen sind ein wichtiger Anfang.“166 „Eine Politik, die das (Realwirtschaft stärken) erreichen will, muss die Kapitalmärkte stärker regulieren, damit sie nicht weiter Unheil anrichten können. Sie muss die Geschäfte der Finanzindustrie genauer überwachen und dafür sorgen, dass Banken, Hedgefonds und Versicherungen – anders als heute – jederzeit und für jedermann offenlegen, welche Risiken sie eingehen.

Eine solche Politik muss vor allem aber über den Tag hinaus den Millionen kleinen und größeren Firmen in Deutschland und allen Selbständigen wieder mehr Freiraum geben, innovativ und erfolgreich zu sein. Dazu brauchen die Firmen ein besseres Steuersystem, weniger Bürokratie, mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt, bessere Bedingungen für die Forschung und anderes mehr – leider ist es nicht mehr chic, darüber zu reden. Dafür haben nun die ideologischen Brandstifter Konjunktur, die höhere Steuern für Reiche und Unternehmen fordern, Familienunternehmer enteignen wollen und Kontrolle pur predigen.167 ... „.Die Unternehmensmitbestimmung in Deutschland hat sich nach allen Erfahrungen und Berichten eindeutig als ein wichtiger Beitrag zur Wirtschaftsdynamik erwiesen. In ihr verbinden sich in beispielhafter Weise ökonomische Interessen mit Zielen der sozialen Emanzipation der Arbeitnehmer und der Verankerung demokratischer Kultur auch im Wirtschaftsleben. Paritätische Unternehmensmitbestimmung ist eine wirtschaftlich begründete Teilhabe, ein ...Stück Wirtschaftsdemokratie, das die Risiken, die Arbeitnehmer tatsächlich tragen, widerspiegelt. Diese Teilhabe am Entscheiden ist aus beiden Gründen, wirtschaftlichen und demokratiepolitischen , ein Eckpfeiler der sozialen Demokratie, die wir für Deutschland wollen. Sie ist vor allem auch ein Garant des wirtschaftlichen Unternehmenserfolges.“168

Dazu gehört die Erhaltung des Weltfriedens, aber auch eines gefestigten demokratischen Systems in allen Ländern mit dem Erhalt der grundlegenden menschlichen und liberalen Werte.169 Wir brauchen eine länder- und staatenübergreifende „Weltordnung“, an der es bislang mangelt.170 Wie wäre es beispielsweise mit einer Verfassung Internationaler Grund- und Menschenrechte („Internationaler Rechtsstaat“), einer Internationalen Sozialcharta zur Erhaltung sozialer Mindeststandards („Internationaler Sozialstaat“) sowie der demokratischen Legitimie166 Sigmar Gabriel: „‘Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren‘ – Bundesumweltminister Sigmar Gabriel entwirft das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und fordert Mindeststandards für die internationalen Finanzmärkte“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 26 (Auszug aus seinem Buch „Links neu denken“) 167 Marc Beise: „Die Lehren aus der Krise“ – SZ Nr. 221 vom 22.09.2008, S. 4 168 Sigmar Gabriel: „‘Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren‘ – Bundesumweltminister Sigmar Gabriel entwirft das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und fordert Mindeststandards für die internationalen Finanzmärkte“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 26 (Auszug aus seinem Buch „Links neu denken“) 169 Robert Kagan: „Die Demokratie und ihre Feinde – Wer gestaltet die neue Weltordnung?“ – Siedler 2008 170 Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“. S. 111 ff.

62

rung internationaler Entscheidungsgremien auch um den Preis der Vielfalt („Verhältniswahlsystem“) und dadurch bedingter Koalitions- und Kompromißnotwendigkeiten. Eine solche Neuordnung kann nicht von heute auf morgen erfolgen, zumal es selbst unter den wortführenden Staaten noch immer über vieles (Völkermord in Darfur, Gewalt- und Folterverbot, gerechter Welthandel, Finanzmarktregelungen in den USA, Umgang der Russen mit ihren Nachbarn, Geschäfte Chinas mit Mörderregimen wie dem Sudan) an einem gemeinsamen Grundkonsens fehlt. Solange die nationalen finanziellen Interessen dominieren – und das ist leider sogar in Europa so, kann man nur auf einen starken politischen Impuls hoffen, wie er beispielsweise von dem kommenden amerikanischen Präsidenten ausgehen könnte.171 Aber sie sollte geplant, in zumutbaren vernünftigen Schritten verfolgt und nach und nach realisiert werden. Dazu gehört auch die Abschaffung aller marktverfälschenden Protektionismen und Privilegien im Verhältnis zum Ausland, zunächst etwa auf dem Agrarsektor,172 die bislang die Chancengleichheit der Menschen verzerren,173 sowie übergreifende Rahmenbedingungen für das Funktionieren globaler Geldströme und Warenmärkte. Der Wirtschaftsethiker Karl Homann meint: „Der Internationale Wettbewerb hat in der Tat noch relativ wenig Spielregeln. Daran müssen wir arbeiten.“174 „Die Welt braucht nicht nur eine neue Rechtsordnung, sondern auch neue Institutionen. Der Zuschnitt des Sicherheitsrats ist gefühlte 200 Jahre alt; und bei den G 8 sitzen Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien noch immer auf den billigen Plätzen.“175 Der internationale Währungsfonds beispielsweise muß die Staaten dieser Welt repräsentativ vertreten und so legitimiert werden, daß er auch zu durchsetzbaren Maßnahmen gegenüber den globalen Finanzströmen greifen kann. Mindestens im Bereich der Euroländer wäre auch in Europa ein starkes harmonisiertes System für einheitliche Regulationen des Finanzmarktes unabdingbar.176 171

Nicolas Richter: „Welt ohne Regeln“ – SZ Nr. 224 vom 25.09.2008, S. 4 Zitiert nach Uwe Jens, Prof. der Universität Bochum: „In der Krise nicht die Marktwirtschaft vergessen – Die SPD plädiert für eine solidarische Gesellschaft. Besser wäre das Leitbild einer privilegienfreien Aufstiegsgesellschaft, empfiehlt der frühere langjährige wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Uwe Jens, seiner Partei“ 173 Uwe Jens: „In der Krise nicht die Marktwirtschaft vergessen – Die SPD plädiert für eine solidarische Gesellschaft. Besser wäre das Leitbild einer privilegienfreien Aufstiegsgesellschaft, empfiehlt der frühere langjährige wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Uwe Jens, seiner Partei“ – SZ Nr. 220 vom 20./21.09.2008, S. 24 lt174 „‘Wettbewerb ist solidarisch‘ – Der Wirtschaftsethiker Karl Homann über Globalisierung und Nokias Werkverlagerung“ – SZ Nr. 24 vom 29.01.2008, S. 21; Hans Küng: „Anständig wirtschaften – Warum Ökonomie Moral braucht“, S. 113 ff.

175 Nicolas Richter: „Welt ohne Regeln“ – SZ Nr. 224 vom 25.09.2008, S. 4; Nils Goldschmict u.

Joachim Zweynert: „Gute alte Zauberformel – Der Begriff Ordnungspolitik ist aktueller denn je, doch die modernen Ökonomen halten ihn für überholt. Zu Unrecht, wie die Wirtschaftskrise zeigt“ – SZ Nr. 106 vom 09./10.05.2009, S. 2 und 26 176 Stefan Kornelius: „Die Weltordnungskrise“ – SZ Nr. 238 vom 13.10.2008, S. 4 172

63

Als internationale Exekutive bedarf es internationaler Aufsichts- und Regulierungsbehörden mit dem Ziel, die zu sehr nur ökonomischen Modelle der komplexeren Wirklichkeit anzupassen,177 etwa zur Beendigung unbeschränkter Marktfreiheiten (durch öffentliche Aufsicht, Prüfungen und Kontrollen, auch bei der Schaffung neuer, bislang undurchschaubarer Produkte) und Regulierung der Finanz- und Kapitalströme,178 wie das z.B. von vielen Fachleuten, ehemaligen Staats- und Finanzministern und Politikern der EU-Kommission und EURatspräsidentschaft in einer internationalen Konferenz der großen Industrie- und Schwellenländer schon einmal vorgeschlagen worden war, und erst angesichts der eingetretenen Krise bereits von der französischen Ratspräsidentschaft als eine globale Konferenz zur Neuordnung des Weltfinanzsystems einberufen werden sollte.179 Also für heute und morgen „gestalten“! Auch hier bedarf es vor allem einer grundlegenden Bewußtseinsveränderung, die wirklich Ergebnisse anstrebt und den längst eingetretenen Fakten gerecht wird. Die Politik ist gefragt, nicht nur als stimmungsbildende oder verbaltösende „Kampfgruppen“, nicht als Träger von „Symbolpolitik“ auf der Grundlage populistischer, aber viel zu abstrakter Gemeinplätze und Worthülsen. Nedhmen wir endlich Abschied vom Taktieren, jeglichem Populismus und Schönredereien. Vieles, was bislang gefordert und gesagt wird, beschränkt sich auf eine Milderung der Symptome, erreicht aber nicht die Ursachen der Misere. Man muß klar die Ursachen benennen, sagen was man denkt und konsequent tun, was man sagt (Herrhausen). Das bedeutet: Die Politik versteht sich in erester Linie als ehrliche Verfechter von Sachlösungen, die den Menschen mit allen ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen offen kommuniziert werden.

Immer deutlicher wird, daß die „überglobalisierte und unterregulierte Welt“ sich regel- und führungslos durch immer größere Krisen bewegt. „UNGeneralsekretär Ban Ki Moon hat diesen Mangel an global leadership bitter beklagt; und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hat zu Recht angemerkt, dass der Welt Institutionen fehlen, die ihr moderne Regeln geben könnten.“180 Ein wirklich dauerhaft funktionsfähiger Markt entsteht nicht allein über seine viel beschworenen „Selbstheilungskräfte“, sondern ist immer auch das Ergebnis

177

Vgl. Ulrich Schäfer: „Die Mär vom Markt“ – SZ Nr. 231 vom 04./05.10.2008, S. 4 Friedhelm Hengsbach: „Der Markt muss der Gesellschaft dienen – Erkenntnisse aus dem Zusammenbruch der Banken: Nicht die Akteure sind korrupt – das System, in dem sie agieren, ist es“ – SZ Nr. 229 vom 01.10.2008, S. 2 179 Hans Eichel: „Das Ende des angelsächsischen Modells – Ohne Regulierung der Finanzmärkte werden zahllose Volkswirtschaften in den Abgrund gerissen“ – SZ Nr. 235 vom 09.10.2008, S. 2 180 Nicolas Richter: „Welt ohne Regeln“ – SZ Nr. 224 vom 25.09.2008, S. 4 178

64 einer ordnungspolitisch gestaltenden Wirtschaftspolitik.181 Beispiele dafür gibt es genügend.

Wesentliche Entscheidungen und vor allem auch verbindliche Vorschriften (Verordnungen, Richtlinien, Gesetze) – man spricht schon von 84 Prozent – auf immer mehr Politikfeldern (z. B. Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz, Umweltgesetzgebung, Dienstleistungsfreiheit oder illegale Einwanderung), die für die Bürger unmittelbar maßgebend sind, werden nicht mehr in Berlin, sondern in Brüssel oder anläßlich internationaler Abkommen und Zusammenkünfte getroffen bzw. auf die Bahn gebracht,182 ohne daß sie dafür trotz des Bestehens eines Europäischen Parlaments unmittelbar demokratisch legitimiert sind – der politische Theoretiker Jan-Werner Müller spricht von Europa als einer „antiparlamentarischen Veranstaltung“,183 wobei sich eher solidarisches Handeln und oft das Bemühen um ein Europa um jeden Preis unter den Staaten gegenüber den Wünschen der jeweiligen Staatsbürger unbesehen durchsetzt. Das haben nicht zuletzt die Stützungsaktion und die finanziellen Zusagen an andere EU-Staaten gezeigt, die „ohne Notstandsgesetzgebung“ gegeben wurden und „ohne parlamentarische Repräsentation“, also ohne Beteiligung des Parlaments zu Lasten der Steuerzahler beschlossen und gegeben wurden.184 Inzwischen wurde hierüber – aus Anlaß des sogen. Lissabon-Verfassungsabkommens – sogar vor dem Bundesverfassungsgericht prozessiert185 mit der Folge, daß auch das oberste nationale Gericht jeweils die Zustimmung des deutschen Parlaments für erforderlich hält, sofern nationale Kompetenzen berührt sind: „Das Urteil verurteilt den Bundestag zu mehr Demokratie“.186 Nach einer umfangreichen Studie des amerikani181

Eckhard Behrens, Heidelberg, in seinem Leserbrief „Geldspritzen sind nur Notfallmedizin“ – SZ Nr. 237 vom 11./12.10.2008, S. 42; Nils Goldschmict u. Joachim Zweynert: „Gute alte Zauberformel – Der Begriff Ordnungspolitik ist aktueller denn je, doch die modernen Ökonomen halten ihn für überholt. Zu Unrecht, wie die Wirtschaftskrise zeigt“ – SZ Nr. 106 vom 09./10.05.2009, S. 2 und 26; im gleichen Sinne auch Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 226 ff.

182 Cerstin Gammelin: „Gesetze für Europa – Mehr als die Hälfte aller nationalen Rechtsvorschriften werden inzwischen von der EU vorgegeben“ – SZ Nr. 123 vom 30./31.05.2009, S. 8; siehe zu entsprechenden Gesetzesvorhaben auch http://ec.euroopa.eu/yourvoice; Adrian Lobe: „Irre Effizienzlogik – Waarum das Parlament nicht nur ein lästiges Hindernis beim Regieren ist, sondern das Zentrum unserer Demokratie“ – SZ Nr. 176 vom 02.08. 2011, S. 13 183 Jan-Werner Müller: „Wer ist hier eigentlich der Herr im Haus? – Nur keine Illusionen: Europa ist eine antiparlamentarische Veranstaltung“ – SZ Nr. 228 vom 04.10.2011, S. 11 184 Peter Koslowski: „Solidarität zwischen Nationen – Die Stützung des Euro durch Deutschland verletzt das Grundgesetz“ – SZ Nr. 18 vom 24.01.2011, S. 18 185 Ralf Beste, Dietmar Hipp u. Caroline Schmidt: „Crash der Kompetenzen – Das Verfassungsgericht prüft, ob der EU-Vertrag von Lissabon mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Ein ‚Nein‘ hätte weitreichende Folgen“ – DER SPIEGEL Nr. 7/2009, S. 30 ff.; Heribert Prantl: „Mehr Europa, aber ehrlich“ und Helmut Kerscher: „Bedenken in Karlsruhe – Verfassungsgericht wird EU-Reform wohl nicht ohne Auflagen genehmigen/Einstimmiges Urteil unwahrscheinlich“ – SZ Nr. 35 vom 12.02.2009, S. 4 und 7 186 Heribert Prantl: „Verfasssungsgericht stimmt Lissabon-Vertrag mit Auflagen zu – Bundestag muss sich um Europa kümmern – Karlsruhe verpflichtet die Abgeordneten, den Einigungsprozess

65

schen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center zur Stimmung in Europa versinkt dieses auch nach der Schulden- und Europroblematik ohnehin bereits in einer tiefen Vertrauenskrise. Nur noch jeder dritte EU-Bürger (34 Prozent) glaubt, daß Europa ein Segen für die eigene Heimat sei.187 Kurz vor der Abstimmung über den praktisch rechtsfrei gehaltenen Europäischen Stabilitätsmechanismus (EMS) und den europäischen Fiskalpakt Ende Juni 2012 haben die deutschen Politiker Wolfgang Schäuble, Norbert Lammert und Peer Steinbrück über alle Parteien hinweg übereinstimmend erklärt, daß damit die Grenzen des Grundgesetzes erreicht seien. Wenn man noch mehr Rechte nach Brüssel übdertragen wolle, dann müsse darüber das deutsche Volk als verfassungsgebende Gewalt abstimmen. Nach den bisherigen Entscheidiungen des Bundesverfassunbgsgerichts muß man jedoch annehmen, daß auch jetzt schon die Möglichkeiten, aus dem Grundgesetz in seiner jetzigen Fassung Souveränitätsrechte für Europa zu schöpfen, längst überschritten sind. Daher werden dem Bundesverfassungsgericht erneut zahlreiche Verfassungsbeschwerden, Organklagen und Anträge auf einstweilige Verfügungen eingereicht, um eine Korrektur des Verfahrens zu erreichen.188 Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt weist zwar mit gutem Grund darauf hin, daß „ökonomische Zwänge unserer über alle Ländergrenzen hinweg einheitlichen Volkswirtschaft und zunehmend auch ökonomisch-politische Zwänge des gemeinsamen europäischen Marktes .. zu wachsender Ballung von Kompetenzen im Zentrum, früher in Bonn, heute in Berlin und zunehmend in Brüssel“ führen.189 Nur muß der Weg dahin auf der Grundlage des geltenden Rechts anders gestaltet werden. Mit dem derzeit geltenden Grundgesetz wäre nicht nur ein europäischer Bundesstaat nicht zu machen, sondern nicht einmal eine gemeinsame Verteidigungspolitik.190 Es zeigt sich zumindest, daß sachliche Notwendigkeiten zur Lösung übernationaler Probleme und dementsprechende politische Ziele einerseits und das noch geltende Verfassungsrecht auseinanderklaffen.

Auch der Berliner Historiker Heinrich August Winkler, Kenner zahlreicher Ver-

künftig akribisch zu kontrollieren“ und „Europäische Sternstunde“ – SZ Nr. 148 vom 01.07.2009, S. 1 und 4; ders.: „Die Wiederentdeckung des Souveräns – Mehr Demokratie: Warum die Volksabstimmung mit dem Liassabon-Urteil neue Kraft gewinnt“ – SZ Nr. 155 vom 09.07.2009, S. 4 187 Christian Wernicke: „Bewundert in der Krise – Eine Umfrage zeigt, dass die Europäer die Deutschen mögen“ – SZ Nr. 122 vom 29.05.2012, S. 1 188 Heribert Prantl: „Das Finale nach dem Ende – Alle Stgaatsgewalt dem Volke, und zwar sofort: die Verfassungsklagen gegen ESM und Fiskalpakt“ – SZ Nr. 148 vom 29.06.2012, S. 2 189 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst““, S. 135 190 Thomas Kirchner: „‘Europa in der Zwangsjacke‘ – Immer mehr Kritik am Karlsruher LissabonUrteil“ – SZ Nr. 152 vom 06.07.2009, S. 9; siehe auch den Europarechtler Roland Bieber: „Autistisch und selbstgerecht – Das Bundesverfassungsgericht zelebriert ein Staatsverständnis, das mit der Realität der EU und ihrem Wesen nichts zu tun hat“ – SZ Nr. 164 vom 20.07.2009, S. 2

66

fassungen und ihrer Geschichte, fordert eine neue Verfassung, ein „europäisch revidiertes Grundgesetz“.191 Ein anderer Grund für die Erosion demokratischer Legitimation liegt auch darin begründet, daß immer weniger differenziert das Volk, sondern die Parteien entscheiden. Hier, in einem forgeschrittenen „Parteienstaat“, der eindeutig länderübergreifend zentral organisiert und parteienfinanziert ist,192 hat sich längst ein Interessengegensatz aufgebaut, wonach das berühmte „Wohl des Volkes“ beileibe nicht immer identisch ist mit den institutionellen Interessen der Parteien und ihrem Wunsch nach Machterhalt um jeden Preis. Nochmals der Verfassungsrechtler Dieter Grimm zu den bisherigen zahlreichen Verfassungsänderungen: „Die Differenz zwischen Verfassungsänderungen und alltäglichen politischen Entscheidungen schrumpft dadurch. Es sind dieselben Akteure, die das politische Tagesgeschäft betreiben, die auch Verfassungsänderungen in der Hand haben, und es ist dasselbe Verfahren, in dem die alltäglichen politischen Entscheidungen getroffen werden, das auch für Verfassungsänderungen gilt. Verfassungsänderungen werden nach dem Muster des Vermittlungsausschusses vorbereitet. Die Interessen der Parteien oder Landes- und Bundesinteressen werden zu Kompromisspaketen geschnürt, in denen jede Seite so viel wie möglich von ihren politischen Vorstellungen unterzubringen versucht. Die Verfassung schwillt dann immer weiter an, das verfassungsrechtliche Netz für Mehrheitsentscheidungen wird immer enger knüpft. Der neue Asylartikel ist vierzigmal so lang wie der ursprüngliche.

Die Differenz zwischen Verfassung einerseits, Gesetz und Verordnung andererseits wird eingeebnet.

Politikwechsel können nicht mehr ohne Verfassungsänderung stattfinden. ... Das sist mein wichtigster Grund. Ein zweiter Grund ist der, dass man in diesem Verfahren, das völlig von den politischen Parteien beherrscht wird, gewisse Probleme nicht geregelt bekommt. Das sind diejenigen Probleme, die die politischen Parteien selbst aufwerfen, deren effektive Lösung ihnen aber unwillkommen ist.“193

Man hat daher kritisch und richtigerweise festgestellt: „Kein Treuhänder ist davor gefeit, sein Mandat durch Eigeninteressen zu verfälschen“.“...dramatisch wird die Mandats- und Machtübergabe, wenn Kompetenz und Moral der Machtinhaber nachlassen“194 Nach Ansicht des damaligen Bundesumweltministers Sigmar Gabriel ist die Balance zwischen Markt und Demokratie verloren 191 Zitiert nach Ulrich Schäfer: „Ganz ohne K-Wort – Peer Steinbrück wird im Amerikahaus die Show gestohlen“ – SZ Nr. 226 vom 30,09.2011, S. R 16; ebenso Heribert Prantl: „Die Goldshmiede Europas“ – SZ Nr. 227 vom 01./02./03.10.2011, S. 4 192 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 141; Leserbrief Bernhard Greger, München,: Mehr Demokratie durch Volksentscheide“ unter „Das sieche Grundgesetz – Deutschlands Verfassung krankt am Föderalismus und an häufigen Wahlen – gegen diese Leiden gibt es jedoch ein Mittel“ – SZ Nr. 125 vom 03.06.2009, S. 31; Heribert Prantl: „Die Wiederentdeckung des Souveräns – Mehr Demokratie: Warum die Volksabstimmung mit dem Liassabon-Urteil neue Kraft gewinnt“ – SZ Nr. 155 vom 09.07.2009, S. 4 193 Dieter Grimm: „Ist das Verfahren der Verfassungsänderung selbst änderungsbedürftig?“ – HFR 20/2007, S. 217/218 – www.humboldt-forum-recht.de 194 Vgl. auch Andreas Zielcke: „Im Treibsand: „Trotz guter Verfassung: Die Demokratie stellt sich dumm“ – SZ Nr. 116 vom 22.05.2009, S. 13

67 gegangen.195 Wir werden auf dieses Dilemma in anderem Zusammenhang noch eingehender zurückkommen.

Es ist also nicht falsch, wenn einzelne Mitgliedstatten der Europäischen Union darauf bestanden haben, neue supranationale Verfassungsstrukturen – und sei es auch nur mit den rechtlichen Mitteln völkerrechtlicher Verträge – sich durch das gesamte Volk absegnen zu lassen, auch wenn zuzugeben ist, daß das den zügigen Fortschritt der europäischen Einigung nicht vereinfacht. Aber auch wegen der inneren Akzeptanz dieser Entwicklung bei den jeweiligen nationalen Staatsbürgern ist es wichtig, daß man ihnen mehr als bisher den Sinn, nein die Notwendigkeit eines solchen Prozesses vermittelt und die Vorteile deutlich macht, die sich daraus für alle und damit auch sie ergeben. Hier darf es sich die Politik nicht weiterhin zu leicht machen. Nach Ansicht des Verfassungsrechtlers Horst Dreier nach müßte in Deutschland spätestens über eine neue Verfassung nachgedacht werden, wenn die Verflechtung Europas so weit gehe, daß von einem neuen Staatswesen gesprochen werden müsse.196 Dazu würde vor allem gehören, die Handlungsfähigkeit von Kommission und Ministerrat von nur zweitrangigen Nebengebieten mit viel bürokratischen Regeln immer mehr auf die wichtigen Themen (z. B. eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) zu lenken und die schnellere Entscheidungsfähigkeit (z.B. Lockerung des Einstimmigkeitsprinzps) zu schaffen, die dafür erforderlich ist.197 Wo bleiben weitere Identifikationsbereiche, die auch angesichts der Erwartungen der Welt an Europa so dringend anstehen: Gemeinsame Außenpolitik? Verteidigung unter dem besonderen Aspekts von Kriseneinsätzen in aller Welt?

Die Idee eines auch politisch und gesellschaftlich vereinten Europa ist nicht neu, auch wenn sie hinter der einer europäischen „Wirtschaftsgemeinschaft“ noch hinterherhinkt. Abgesehen von den mühsamen Prozessen zur Schaffung einer Europäischen Grundcharta oder eines Verfassungsvertrages – und bei allen Verdiensten, die bislang auch der deutschen Bundesregierung hierbei zukam – gibt es nach vielen Jahren dahindümpelnder und gleichwohl bürokratisch recht aufwendiger Teilbereiche etwa auf dem Agrarsektor, bei Atom und Montan und ähnlichem nur ein wirklich überzeugendes und zukunftshoffendes Element, deren Wirkung bei ihrer Einführung vielleicht gar nicht von allen so recht gesehen worden ist. Es ist die gemeinsame Währung, der Euro, der zwar in das Gerede 195 Sigmar Gabriel: „‘Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren‘ – Bundesumweltminister Sigmar Gabriel entwirft das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und fordert Mindeststandards für die internationalen Finanzmärkte“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 26 (Auszug aus seinem Buch „Links neu denken“); vgl. als Beispiel auch „‘Wir lassen uns nicht erpressen‘ – Europaparlament widersetzt sich Kompromiss zum EU-Budget“ – SZ Nr. 141 vom 21.06.2013, S. 8 196 So richtig Horst Dreier anläßlich eines Vortrags in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München – vgl. Johan Schloemann:“Kein Fall für den Verfassungsschutz – Horst Dreier bezweifelt die Ewigkeit des Grundgesetzes“ – SZ Nr. 272 vom 22./23.11.2008, S. 14 197 Zum Problem vgl. Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 190 ff.

68

gekommen ist. Aber die wirkliche europäische Krise liegt in den Strukturen begründet (Helmut Schmidt),198 die in ihrer jetzigen Verfassung weder unmittelbar demokratisch legitimiert und kontrolliert (und damit auch bewußt) werden noch in der Lage sind, die wirklichen und maßgeblichen europäischen Probleme sachgerecht zu lösen. Täglich und stündlich erkennen die Menschen in Europa, daß sie sich in einem gemeinsamen Haus bewegen und immer mehr aufeinander angewiesen sind. Sie sind aber ebenso besorgt, daß dieses in der Zukunft keinen sicheren Unterschlupf für alle mehr bieten wird.

Man könnte sich vorstellen, daß eine völlig neue deutsche Verfassung ebenso in einer Volksabstimmung geschaffen wird, in der auch die Entscheidung über eine übernationale europäische Verfassung mit ihren bundesstaatsähnlichen Organen Kommission (Regierung, Exekutive), Europäischer Rat (Länderkammer) und Europäisches Parlament (europäische Legislative) getroffen wird, wie dasw ja bisher trotz des Art. 146 GG nicht geschehen ist.199 Man muß sich immer wieder vor Augen führen, daß das deutsche Grundgesetz nicht unmittelbar vom Volk, schon gar nicht dem gesamtdeutschen abgesegnet worden ist. Das wäre also sehr im deutschen Interesse, aber keinesfalls stets in gleicher Weise der Fall für andere europäische Staaten. Mindestens eine deutliche Reduzierung des nationalen Föderalismus zur Entfesselung dort gebundener Kräfte, Mittel und Entscheidungshürden sind damit unabdingbar geworden. Das wäre endlich auch zur ehrlichen Mobilisierung der Bürger für Europa unverzichtbar.200 Doch wo bleiben auch hier überzeugende deutsche Initiativen und mit hoher Priorität verfolgte Ansätze? Vielleicht ist das Bemühen wenigstens um die Klärung eines europäischen Bürgerbegehrens im Sinne des Art. 11 des EU-Vertrages201 voraussichtlich ab dem Jahre 2012 ein erster – vor allem auch psychologisch – wichtiger Schritt in diese Richtung.

Direkt wählen und entscheiden?

Es ist nach allem, was das Volk von seiner gewählten Repräsentanz erlebt, verständlich, daß die Rufe sund Bemühungen wachsen, durch unmittelbare Prozedu198

Mitteilung in den Nachrichten – tonline.de vom 30.05.2013 So grundsätzlich auch der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen – „‘Weltmeister in riskanten Bankgeschäften‘ – EU-Industriekommissar Günter Verheugen übt scharfe Kritik am Versagen der deutschen Finanzaufsicht“ – SZ Nr. 113 vom 18.05.2009, S. 5 200 „Eine zerissene Union an der Schwelle – Was ist Solidarität und wo verläuft ihre Grenze? Der Philosoph Jürgen Habermas attackiert den Exklusivföderalismus der Bundeskanzlerin in der EuroKrise – und sucht nach Gegenkräften gegen den Sog der Technokratie“ – SZ Nr. 163 vom 17.07.2013, S. 14 201 Martin Winter: „Antrieb von unten – Regeln für europäisches Bürgerbegehren sind geklärt“ – SZ Nr. 289 vom 14.12.2010, S. 7 199

69

ren wie Bürgerbegehren oder Bürgerentscheid mehr politischen Einfluß zu nehmen. Dieser Wunsch ist trotz allen berechtigten Mißtrauens gegen zu viele Formen der direkten Demokratie wegen des durch Stimmungen „leicht entflammbaren, launischen Bürgers“202 die bislang ausdrucksstärkste Reaktion der Menschen auf das Verhalten der politischen Parteien.203 So wehrten sich die Bürger Hamburgs erfolgreich gegen eine allgemeine Primarschule, die der CDUBürgermeister Ole von Beust zusammen mit der grünen Schulsenatorin Christa Goetsch einführen wollten, ohne daß die Bürger je dazu befragt worden wären.204 Auch in Bayern mehren sich die Bürgerbegehren und -entscheide,205 die keinesfalls so problemlos erscheinen, weil beispielsweie bei der Abstimmung über eine weitere Startbahn am Münchener Flughafen ihr Wirkungskreis und der politisch legitimierte Kreis nicht identisch.206 Selbst für die Wahl des Bundespräsidenten unmittelbar durch das Volk finden sich immer wieder Befürworter. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hatte bereits Veränderungen im Wahlrecht angeregt, um der Politikverdrossenheit entgegenzuwirken. Zudem sprach er sich in seiner Berliner Rede für weitere Reformen aus.207 Nach seiner Ansicht hätten direkt vom Volk gewählte Politiker „eine höhere demokratische Legitimation und eine größere Autorität auch gegenüber ihren eigenen Parteien“. Deshalb sollten die Ministerpräsidenten der Länder, der Bundespräsident genau wie Bürgermeister und Landräte direkt gewählt werden. „Die Bürger wählen keineswegs die Freibier-Politiker, sondern Menschen, die sie für fachlich kompetent und charismatisch halten."

Auf die Frage, ob in diesem Falle auch TV-Stars wie Günther Jauch eine Chance hätten, gewählt zu werden, antwortete der Verfassungsrechtler HansHerbert von Arnim, die USA hätten mit den Ex-Schauspielern Ronald Reagan und Arnold Schwarzenegger "gute Erfahrungen gemacht". "Was wäre schlimm 202 Lutz Wingert: „Die Bürger als Zuschauer – Demokratie wird allzu oft als Regieren für das Volk verstanden, nicht das Regieren durch das Volk“ – SZ Nr. 96 vom 27.04.2011, S. 2 203 In diesem Sinne etwa Roland Hinke, Bernau – Leserzuschrift – SZ Nr. 115 vom 19./20.05.2004, S. 44; vgl. dazu auch Felix Berth: „Mehr Plebiszit wagen – Der Trend zur Mitbestimmung: Bürgerentscheide werden zwar häufig behindert, doch allmählich etablieren sie sich in Ländern und Gemeinden“ – SZ Nr. 37 vom 14./15.02.2009, S. 7; Leserbrief Rasmus Ph. Helt, Hamburg: „gelungende Kür des Bundespräsidenten“ unter „Das sieche Grundgesetz – Deutschlands Verfassung krankt am Föderalismus und an häufigen Wahlen – gegen diese Leiden gibt es jedoch ein Mittel“ – SZ Nr. 125 vom 03.06.2009, S. 31 204 Charlotte Frank: „Im Pelzmantel zur Kehrwoche“ – SZ Nr. 249 vom 27./28.10.2012, S. 6 205 Kassian Stroh: „Und immer wieder Verkehr – Die meisten Bürgerbegehren haben nur eine begrenzte Reichweite, manche aber regionale Bedeutung. Eine Auswahl wichtiger Initiativen aus dem Großraum München“ – SZ Nr. 151 vom 03.07.2013, S. R 2 206 Dominik Hutter: „Unser Wille geschehe – Das Volk entscheidet – und alles ist gut? Ach, wenn es so einfach wäre.In Wahrheit bringen Plebiszite in den Kommunen viele Probleme mit sich. Aber eine bessere Lösung weiß keiner“ – SZ Nr. 151 vom 03.07.2013, S. R 2 207 Nico Fried: „Köhler will Einfluss der Wähler stärken – Bundespräsident fordert mehr Mitsprache der Bürger bei den Kandidatenlisten der Parteien“ – SZ Nr. 140 vom 18.06.2008, S. 1

70

daran, wenn die Deutschen einen so klugen Kopf wie Günther Jauch zum Bundespräsidenten wählen würden?" Wenn die Bürger wichtige politische Ämter direkt vergeben könnten, würde dies verhindern, "dass die höchsten Staatsämter in den Ländern und im Bund in Hinterzimmern ausgekungelt werden, wie die Nachfolger von Edmund Stoiber und Johannes Rau".208 Dieses alles hat sicher damit zu tun, daß die Bürger sich ohnmächtig fühlen angesichts eines parteidominanten Verhältniswahlrechts. Aber auch innerhalb der Parteien wäre mehr Breitenbeteiligung vonnöten. Das von arroganter Allherrlichkeit einzelner praktizierte Wendehalsverhalten (Merkel, Seehofer), aber der Mehrheit der Parteimitglieder nicht mehr tolerierte „Auskungeln“ von konkreten Sachzielen, Problemlösungen, Personalentscheidungen und Vorgehensweisen durch ganz wenige im Hinterzimmer der Macht hat beispielsweise zum Sturz des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber geführt, nachdem sich die gewählten Mitglieder verschiedener Gremien immer mehr ausgeschlossen sahen und auch Abgeordnete im Parlament nurmehr abzunicken hatten, was ihnen ihre Alleinherrscher mit dem dauerhaft beschwörenden Hinweis auf notwendige „Geschlossenheit“ laufend vorsetzte.

Hier wäre zudem der vergebliche Versuch der hessischen SPD-Vorsitzenden Andrea Ypsilanti zu nennen, sich im Jahre 2008 ohne Rücksicht auf die Meinung einiger weniger „Abweichler“ zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen, und als dieses mißlang, geradezu ein Haberfeldtreiben der ganzen Partei gegen die Dissidenten zu beginnen. Und wie steht es insoweit mit der großen Koalition in Berlin? Der sogenannte Koalitionsausschuß aus wenigen Vertretern der beiden Regierungsparteien einigten sich beispielsweise über das geradezu ideologisch geprägte, also gesinnungsethische Modell der neuen Erbschaftssteuer mit der Folge, daß fernere Gremien und Mitglieder dieser Parteien sich nicht mehr vertreten fühlen und zunehmend erst im Stillen, dann aber auch unverhohlen lauter werdend dagegen protestieren.

Kurz zuvor war dem ehemaligen nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten und späteren Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, allein schon wegen seiner offen geäußerten kritischen Ansichten zu den hessischen Verhältnissen mit einem Parteiausschlußverfahren gedroht worden. Diese undemokratische Mißachtung divergierender Meinungen selbst in den eigenen Reihen ist nicht Führung, sondern bereits ein Mangel an menschlichem Respekt und – ebenso wie die grundsätzliche Kompromißbereitschaft – an Demokratiebewußtsein. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat dargetan, daß auch Meinungsverschiedenheiten zwischen Politikern derselben Partei nicht Ausdruck von Schwäche sind, sondern zum Wesenskern der Demokratie gehören und letztlich 208 „Deutschland ist keine echte Demokratie mehr“ – Der Bundestag im Reichstag in Berlin - Quelle: imago, erschienen am 04.05.2008 – http:(//nachrichten.t-online.de vom 07.06.2008 (Quelle: imago) erschienen am 04.05.2008 – http:(//nachrichten.t-online.de vom 07.06.2008

71

das Ziel, also „viel wichtiger“ ist, „ob am Ende der Diskussion eine zweckmäßige Entscheidung zustandekommt.“ Und das setzt sehr oft auch eine große Kompromißbereitschaft voraus.209 Es sollte bei den regulären Wahlen wenigstens insoweit mehr Unmittelbarkeit geben, als es die Reihenfolge der einzelnen, zur Wahl stehenden Kandidaten anbetrifft. Der CSU-Politiker Peter Gauweiler forderte etwa, daß die bayerischen Spitzenkandidaten mindesterns von allen Mitgliedern der Partei gewählt werden.

Und der Historiker Arnulf Baring, der ebenfalls der Ansicht ist, daß die demokratischen Parteien reformiert werden müssen, verlangt, daß die Wahlbürger selbst die Reihenfolge der für die Parteien zu wählenden Kandidaten durch seinen demokratischen Entscheid festlegen, wie das schon nach den Wahlbestimmungen einzelner Bundesländer (z. B. Bayern) der Fall und möglich ist.210 Seien wir ehrlich: Eine Demokratie wie die unsere – abhängig von einem pluralistischen Wählerwillen und diversen demokratisch entscheidenden, aber in vielerlei Hinsicht problematisch agierenden Gremien211 – verführt als großer „Langsamkeitsgenerator“212 geradezu zur Schauspielerei, zur Schmeichelei, zu den Halbwahrheiten bis hin zu populistischer Vereinfachung, ja sogar zu Bestechung und Korruption, um an die Handlungsmacht zu gelangen und diese dann auch möglichst effizient zu handhaben. Über die Sprache der Politiker haben wir oben schon gesprochen. Es wird freilich auch für die Politik immer schwieiriger, „für Entscheidungen zu sorgen, die für alle gelten und denen auch jene loyal folgen, die sie so nicht gewollt haben.“213 Sie alle sagen daher „..lieber was ankommt, als worauf es ankommt ...“ Ein Politikerverhalten, das unter dem in seiner ursprünglichen Bedeutung sehr demokratischen Ansatzes des „Populismus“ steht, wird mit guten Gründen als bloße Anbiederung an den kurzfristigen Zeitgeist oder emotionale Stimmungen und Interessen und damit letztlich als „politische Verwahrlosung“,214 ja geradezu als Verrat an der Sache und der Zukunft verdammt. Ein Skandal ist es, daß dieses funktioniert. Die Menschen, die solches immer wieder – auch in den berüchtigten Talkshows – mitansehen müssen, registrieren mit zunehmendem Entsetzen, das Sach- und Problemlösungen so nicht zu erwarten sind. Es gibt offenbar noch zu viele Menschen, die erken209

Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 318 ff.

Vgl. die Gesprächsrunde „Gut, dass Sie da sind“ in Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 13 vom 01.04.2011 („Ist die Politik am Ende?“), S. 20 ff. (24 und 26) 211 Dazu auch Otfried Höffe: „Einigkeit und Recht und Wohlstand – Hat die Demokratie in Zeiten der Finanzkrise noch eine Zukunft?“ – SZ Nr. 51 vom 03.03.2010, S. 13 212 Armin Nassehi: „Die großen Vereinfacher – Populistische Parteien profitieren davon, dass politische Zusammenhänge immer komplexer werden“ – SZ Nr. 97 vom 26.04.2011, S. 2 213 Armin Nassehi: „Die großen Vereinfacher – Populistische Parteien profitieren davon, dass politische Zusammenhänge immer komplexer werden“ – SZ Nr. 97 vom 26.04.2011, S. 2 214 Andreas Zielcke: „Im Treibsand: „Trotz guter Verfassung: Die Demokratie stellt sich dumm“ – SZ Nr. 116 vom 22.05.2009, S. 13 210

72

nen, daß die Welt komplizierter geworden ist, um auf die Verlockungungen der „großen Vereinfacher“215 hereinzufallen.

Eine Rolle spielen dabei sicher auch eine weitgehende Uninformiertheit (statt „Dummheit“, trotz Medienvielfalt, aber wegen „Bruchstückjournalismus“, Fernsehstatements in Sekunden ..., ständige Unterbrechungen an den interessantesten Stellen, einseitige Repräsentanz bei Talkshows usw.) der Öffentlichkeit zu vielen Themen der Zeit. Man spricht bzw. vertritt als unabänderlich die eigene Kalamität (mangelhafte oder einseitige Ausbildung, Mobilitätsdruck, familiäre Probleme, zu geringe Löhne, Entlassungen usw) ohne Bereitschaft, auch die Kehrseite dessen verstehen zu wollen (vielfältige Verpflichtungen auch anderen stakeholdern wie Kunden, Aktionären gegenüber – Wettbewerbsdruck, zu hohe Kosten, mangelnde Wettbewerbsfähigkeit ebenso wie Renditeerwartungen der Kapitalgeber – auch hierzu gibt es einen grausam funktionierenden Markt).216 Nun rechtfertigen manche dieses populistische Gebaren mit Hinweis darauf, daß es ohne Machterhalt (gemeint ist meistens der eigene Erhalt in der jeweils bekleideten Funktion!) keine Lösungen geben kann, weil sie nicht durchsetzbar sind. Nur was nützt auf der anderen Seite die Macht, wenn sie allein deshalb zu Lösungen nicht genutzt werden kann, weil sie – nämlich „das Richtige zu tun“ – die Fortsetzung der Bewahrung der Macht wegen vermeintlich mangelnder Akzeptanz beim Volk gefährden. Zu oft schon waren rechtschaffene Politiker – von Helmut Schmidt bis zu Gerhard Schröder – gerade dadurch gezwungen gewesen, auf ihre Position zu verzichten, weil sie schon in den eigenen Reihen keine Mehrheit fanden und scheiterten.

So hat auch dieses seine zwei Seiten, wenn viele um jeden Preis an ihren Posten und Pfründen hängen!217 Die Wahrheit wird meistens für die meisten Menschen erst spät offenbar, wenn ausnahmsweise die Selbstsorge eines Politikers zumindest indirekt auch dem Volke dient. So hat im Juni 2008 der saarländische Ministerpräsident Peter Müller – wohl aus der Terminfolge begründeter und damit berechtigter Sorge, als solcher im Saarland nicht wiedergewählt zu werden, wohlmöglich sogar dem linken Parteichef und ehemaligen Landeschef des Saarlandes Oskar Lafontaine zu unterliegen, den Vorschlag gemacht, das Ende der großen Koalition in Berlin als ein „Ende mit Schrecken“ dem „Schrecken

215 Armin Nassehi: „Die großen Vereinfacher – Populistische Parteien profitieren davon, dass politische Zusammenhänge immer komplexer werden“ – SZ Nr. 97 vom 26.04.2011, S. 2 216 Vgl. dazu „‘Sie treffen die Schwächsten‘ – Telekom-Vorstandschef René Obermann und Betriebgsseelsorger Erwin Helmer diskutieren über die Schließung von Callcentern, soziales Handeln, unzureichende Renditen und notwendige Härten“ – SZ Nr. 229 vom 01.10.2008, S. 34 217 höl: „Die Macht der Länder“ – SZ Nr. 239 vom 17.10.2003, S. 4; „Bund und Länder uneins bei Föderalismusreform – Kommission nimmt am 7. November ihre Arbeit auf“ – HB Nr. 200 vom 17./18.10.2003, S. 4; Dr. Helmut Lindenmeier, Neusäß – Leserzuschrift – SZ Nr. 115 vom 19./20.05.2004, S. 44

73 ohne Ende“ vorzuziehen.218 Denn was sollte dieses Regierungsbündnis bis zum Beginn der regulär geplanten Bundestagswahlen noch für das Volk bewegen?

Dagegen sträubten sich aus verständlichen, aber nicht billigenswerten Gründen die Amtsinhaber in Berlin, allen voran Angela Merkel selbst, die sichtbar immer mehr Gefallen daran findet, ihr Amt im Lichte der Scheinwerfer zu führen als wirklich noch etwas zu bewegen. Ihre vita219 ist voller Kehrtwendungen und Anpassungen, die es nicht erlauben, ihr noch abzunehmen, daß sie in der Sache und zum Wohle des Volkes wirklich etwas bewegen will. Schon die bisherige Bilanz der Großen Koalition ist mager und hat alle diejenigen enttäuscht, die von ihr ein Lösung all der großen Probleme erwartet hatten, die nun einmal nur von einer breiten Mehrheit hätten bewältigt werden können.220 Immerhin muß man zugeben, daß in besonderem Maße die Fähigkeit der betroffenen Akteure gefordert wird, immer wieder und in jeder noch gering erscheindenden politischen Frage eine ausufernde Vielfalt von Meinungen und Interessen auszuhalten. In seinem Buch und Politikerroman „Nicht die ganze Wahrheit“ hat Dirk Kurbjuweit die bis zur Selbstverleugnung gehende Affektkontrolle, aber auch den hohen Grad von Geduld, Selbstbeherrschung und Zähigkeit eines Berufspolitikers beschrieben, die notwendig sind, damit sie nicht – wie es aber teilweise auch geschieht – affektiv enthemmt, mit unflätigem Sprachgebrauch oder in wüster Demagogie einfach nur ihre enthemmte Wut herauslassen.221 Es geht sogar noch schlimmer – und das gilt nicht nur für deutsche Politiker!

Man denke nur an die Behauptungen, die dem Krieg im Irak vorangestellt worden waren, die zweifelhaften Wahlen von Kenia bis hin nach Rußland, den Verhaltensweisen vieler (nicht aller, aber zu vieler) Manager und Politiker, die unschuldige Menschen zu ihren Opfern machen. Entlarvend sind auch die öffentlichen Reaktionen auf angeblich diskriminierende Äußerungen des Außenministers und FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle zum Erfordernis eines ausgeglichenen Sozialstaats oder auch der drastischen-kritischen Ausdrucksweise des 218

Stefan Braun: „Müller, Merkel und die Macht – Spekulationen und Gerüchte über Wahltermine 2009 im Saarland und im Bund“ – SZ Nr. 129 vom 05.06.2008, S. 5 219 Vgl. dazu auch Nikolaus Blome: Angela Merkel – Die Zauderkünstlerin“ und Günther Lachmann u. Ralf Georg Reuth: „Das erste Lebnen der Angela M.“ – zu ihrem Verhalten in der DDR bis zur Wende.

220 Nico Fried: „Nicht zu fassen – Soll das Wahlkampf sein? Angela Merkel erzählt fröhlich von Themenklau, von Misserfolgen und von Scharmützeln mit dem Koalitionspartner. So etwas geht gfar nicht. Eigentlich. Beobachtungen beim ebenso dreisten wie aussichtsreichen Versuch, Stroh zu Gold zu spinnen“ – SZ Nr. 130 vom 08./09.06.2013, S. 7 221 Zitiert nach Gustav Seibt: „Die Rückkehr der Wut – was einen Zerfall des Parteiensystems so bedrohlich macht“ – SZ Nr. 163 vom 15.07.2008, S. 11; vgl. auch Marc Beise: „Warum Bürger keine Wahrheit wollen“ – Besprechung des Buches von Oswald Metzger: „Die verlogene Gesellschaft“ – Rowohlt Verlag Berlin 2009 – in SZ Nr. 157 vom 11./12.07.2009, S. 34; Detlef Esslinger: „Die Kunst zu überleben“ – SZ Nr. 175 vom 231.07.2013, S. 4

74

Bundesbankers Thilo Sarrazin zur Rolle der Hartz-IV-Empfänger. Man verbeißt sich sofort in Äußerlichkeiten und Nebenkriegsschauplätze mit einer Verve, die keine Aufmerksamkeit und Raum mehr für die wirklich erforderlichen Auseinandersetzungen in den Hauptsachen zuläßt.

Um die erwartete Mischung aus persönlicher Präsenz, Authentizität und Professionalität aufrecht zu erhalten, müssen sie ihre Rolle verinnerlichen. Und das macht es nach Ansicht des Hamburger Psychologen Thomas Kilche dann so schwer, einfach wieder auszusteigen. 222 Die Bundestagswahlen 2009 bescherten besonders den beiden regierenden „Volksparteien“ der großen Koalition, mehr aber noch der längst völlig zerissenen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ein bis dahin nie erlebtes Waterloo.223 Der Tübinger politische Philosoph Otfried Höffe nennt die Politikerkaste „abgehoben, fast schon autistisch“, kritisiert ihre „symbolische Politik“, ständige Diskussionen über „sekundäre Themen“ („Ablenkungsdebatten“) und ihre Neigung zu ineffizienten „Strukturreformen“.224 Selbst Bundespräsident Horst Köhler nutzte seine Berliner Rede dazu, sich einmal die Parteien vorzunehmen und „Kritik loszuwerden. Kritik an viel zu langen Entscheidungsprozessen, Kritik an der Übermacht von Parteien und institutionellen Eigeninteressen, Kritik an zu viel Undurchschaubarem und zu wenig Möglichkeiten an Teilhaberkritik, die so weit geht, dass er politische Parteien auf eine Ebene stellt mit Anwohnergemeinschaften und Lobbyisten ...“225 In diesen Rollen und dem dadurch geprägten Erscheinungsbild der politischen Parteien tragen die gewählten und agierenden Politiker selbst maßgeblich zu einer Politikerverdrossenheit bei, nein sie verkörpern sie geradezu. Sind nun inzwischen die Lügen der Welt die anerkannten Wegweiser für die nächste Zukunft? Brauchen wir nur eine „Rücknahmeverordnung“ für dummes Geschwätz?

Die bisherigen Ausführungen dürften zur Genüge deutlich gemacht haben, daß und wo vor allem Handlungsbedarf besteht. Hier kann man nur noch dem Ausspruch von Norbert Blüm Recht geben und viel Erfolg wünschen: „Handwerk statt Mundwerk“! Was ist aus dem geworden, was wir einmal Vertrauen genannt haben? Wie soll aus den vielen negativen Erfahrungen Weltfrieden entstehen, wenn keiner keinem mehr über den Weg trauen darf? Wo gibt es also heute noch 222

„‘Politiker zu sein, frisst an der Seele‘ – Der Hamburger Psychologe Thomas Kliche über Wahlkampfstress, das Dasein als öffentliche Person und Trauerarbeit nach Niederlagen‘“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 48 223 Siehe dazu auch den Parteienforscher Franz Walter: „Sozialdemokratische Einheitspartei – Wie, um Bebels Willen, hat es zu dieser Honeckerei, zu dieser Fehlerignoranz in der SPD kommen können?“ – Sz Nr. 261 vom 12.11.2009, S. 2 224 Otfried Höffe: „Einigkeit und Recht und Wohlstand – Hat die Demokratie in Zeiten der Finanzkrise noch eine Zukunft?“ – SZ Nr. 51 vom 03.03.2010, S. 13 225 Stefan Braun: „Eine präsidiale Links-rechts-Kombination – In seiner bisher längsten Berliner Rede verteilt Horst Köhler Lob und Tadel so sauber nach allen Seiten, dass die hiebe kaum gespürt werden“ – SZ Nr. 140 vom 18.06.2008, S. 3

75

Politiker, die ihre von wahrer Überzeugung getragenen Gemeinwohlziele verbinden mit der Aufgabe ihrer Funktion, wenn sie nicht mehrheitsfähig sind?

Wie wäre es also künftig mit ehrlicher Authentizität aller Mitspieler, die zwar schnell – dann aber wohl berechtigtereweise – auch zum Amts- und Bedeutungsverlust führen kann? Wie effizient und reizvoll wäre ein neuer Politikstil auf Dauer, der die Anerkennung dedr Wähler gewinnen würde. Für die Stärkung der Demokratie wirkt es jedenfalls wie ein Hoffnungsstrahl, daß die Abgeordneten des Europäischen Parlaments am 24. März 2010 über den aktuellen Stand einer europäischen Bürgerinitiative (Grünbuch vom 11. November 2009) debattiert und die Kommission am 31. März Vorschlag für eine Verordnung über die Bürgerinitiative vorgelegt haben. Die Unterschriften von einer Million EU-Bürger aus mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten sollen genügen, um die Kommission aufzufordern, ein EU-Gesetz zu einem bestimmten Thema auf den Weg zu bringen.

Anachronistischer Föderalismus Deutschland leistet sich als größte Wirtschaftsmacht innerhalb Europas noch immer eine Staatsstruktur, die neben den Kommunen und Gemeinden und einem alles verbindenden und repräsentierenden Gesamtstaat sogenannte „Bundesländer“ umfaßt, die in jeder Beziehung den Charakter und rechtlichen Status eigener Staaten erfüllen. Das bedeutet für Deutschland unter gedanklicher Einbeziehung der Europäischen Union einen vier Strukturebenen umfassenden, also tief gestaffelten Leitungsapparat für die Ausübung hoheitlicher Gewalt, der sich dem immer mehr globalen Wettbewerb stellt und in diesem behaupten soll. Als „deutsche Kleinstaaterei“ kennzeichnete der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die Situation zunehmend undurchsichtiger Vermischungen von Verantwortlichkeiten, von allen historischen Relikten auch diejenige, mit denen sich die Deutschen etwa seit den beginnenden Bemühungen um einen deutschen Nationalstaat durch die Paulskirchen-Versammlung im Jahre 1848/49 noch immer am schwersten tun.226 Die Diskussion über den bundesstaatlichen Föderalismus währt zwar schon lange, gehört aber zu den politischen Themen, die offensichtlich niemals ein zumindest vorläufig oder für die absehbare Zukunft befriedigendes Ende finden.

226

Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 133 ff. (136); Nico Fried: „Kleinstaaterei in Ewigkeit – Die Zusammenlegung von Bundesländern ist eine Lieblingsidee vieler Politiker – ernsthaft verfolgt sie kaum jemand“ – SZ Nr. 47 vom 26.02.2009, S. 6; ebenso der ehemalige FDP-Chef und Bundesaußenminister Klaus Kinkel: „Das Elend der Kleinstaaterei – Eine unglückliche Bestimmung im Grundgesetz verbietet, dass Berlin und die Länder in der Bildung kooperieren. Weg damit!“ – SZ Nr. 248 vom 26./27.10.2013, S. 2

76

Der historische und rechtliche Rahmen Entstanden ist der deutsche Föderalismus aus einer speziellen historischen Situation. Bereits unter dem Otto I. dem Großen, dem König des langobardischitalienischen Reiches, der sich vom Papst zum römisch-deutschen Kaiser krönen ließ, begann im Jahre 962 das „Heilige römische Reich deutscher Nation.“ Diese erste – wenn auch grobe – Zusammenfassung auch deutscher Königreiche, Herzogtümer und anderer Länder währte immerhin beinahe 1000 Jahre bis zum Jahre 1806, als Kaiser Franz II. die Kaiserkrone niederlegte. Die bis zur Schaffung des Norddeutschen Bundes 1867 und dann der Einigung des eigentlichen gesamten Deutschen Reiches 1871 durch Bismarck gegebenen Gliederungen deutscher Länder wurden in gewisser Weise auch danach noch fortgesetzt, ohne die es zum damaligen Zeitpunkt ein einiges Deutsches Reich auch Bismarck’scher Prägung wohl nicht hätte geben können. Ähnlich wie heute die Europäische Einigung wirkte daher noch immer ein historisches Beharrungsvermögen, dem es weiterhin Rechnung zu tragen galt, wenn zugleich übergeordnete, gemeinsame Strukturen für notwendig erachtet wurden und auch real und funktionsfähig entstehen sollten.

In dieser Weise historisch begründet ist daher auch die bewußte Gliederung des Bundes in Länder unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg. Dabei war die Staatsorganisation und die Frage, wie föderalistisch sie gestaltet werden sollte, bereits äußerst kontrovers und auch die Alliierten haben sich dazu vehement eingeschaltet.227 Das neue Grundgesetz wurde schließlich sogar von den Ländern (ohne Bayern) verabschiedet, wobei sie vorrangig deren Existenz sicherten und in der Sicht der Alliierten der Machtteilung dienten – der Politologe Arnulf Baring sprach von einem „Angst-Föderalismus“.228 Man ging nach den Erfahrungen der 227

Dieter Grimm: „Ein Anker für das zerstörte und besiegte Land – Das vor sechzig Jahren geschaffene Grundgesetz macht deutlich: Nicht der Mensch ist für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen. Über Christian Bommarius ‚Biographie‘ unserer Verfassung“ – SZ Nr. 57 vom 10.03.2009, S. 18 (Christian Bommarius: „Das Grundgesetz – Eine Biographie“ – Rowohlt Berlin 2009) 228 So auch Roland Koch in dem Interview: „‘Bulmahn will Kompetenzen – so viele wie möglich‘ – Hessens Regierungschef sieht in den Bundesmitteln für die Umstellung auf neue Studiengänge eine Provokation“ – SZ Nr. 298 vom 23.12.2004, S. 6; vgl. zur Entstehungsgeschichte auch Ralf Husemann: „Die stolze Patchworkfamilie – Vorschläge für Fusionen scheitern am Überlebenswillen der Länder“ – SZ Nr. 158 vom 12./13.07.2003, S. 9; Hans Tietmeyer: „Föderalismus bedeutet Wettbewerb – Unser Land droht im Reformstau zu ersticken. Die Aufgabenkompetenzen von Bund und Ländern sollten deshalb baldmöglichst weitgehend getrennt werden“ – HB Nr. 176 vom 12./13.09.2003, S. 9; unter Hinweis auf den Morgenthau-Plan von 1944 auch Dr. Martin Bohl, Uffing und Dr. Helmut Lindenmeier, Neusaß – Leserzuschriften – SZ Nr. 115 vom 19./20.05.2004, S. 44; Arnulf Baring in einer Talkshow Jan. 2005; vgl. zur Historie auch Heribert Prantl: „Kapitän Ahab

77

Weimarer Republik davon aus, daß jede Option der Beseitigung der Grundlagen des Staates in den Formen des zulässigen Staatshandelns für die Zukunft verhindert werden mußte.229 Das ging schließlich soweit, daß eine besondere Bestimmung im Grundgesetz dafür sorgen sollte, daß selbst eine Fortentwicklung, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder ... geändert wird, unzulässig ist (Art. 79 III GG). Manche schließen daraus, daß der Föderalismus in Deutschland rechtlich überhaupt nie mehr beseitigt werden kann. Das ist jedoch falsch.

Diese sogenannte „Ewigkeitsgarantie“230 hätte nach der ebenso ausdrücklichen Regelung des Grundgesetzes bereits ihr Ende gefunden, wenn „nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk“ eine Verfassung in Kraft getreten wäre, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden wäre (Art. 146 GG). Davon sind auch die Mitglieder des Parlamentarischen Rats seinerzeit ausgegangen, als sie immer wieder das Provisorische des Grundgesetzes (Carlo Schmid: „Bauriss für einen Notbau“) betonten, weil es aus der geschichtlichen Situation heraus nicht in ihrer Macht stand, etwas zu schaffen, was Jahrzehnte überdauern könnte.231 Aber genau dieses ist dann doch der Fall gewesen. Und weil auch aus Anlaß der deutschen Einigung keine neue Verfassung geschaffen wurde, betrachten einzelne Verfassungsjuristen die Öffnung des Art. 146 GG als „verbraucht“, mithin nicht mehr anwendbar. In diesem Sinne wäre der Art. 146 GG ein reiner „Wiedervereinigungsparagraph“ gewesen. „Die Ewigkeitsklausel verhindert ... nicht, dass sich das deutsche Volk eine das Grundgesetz ablösende Verfassung schaffen könnte, auch wenn diese Veränderungen mit sich bringt, die eigentlich durch die Ewigkeitsklausel verhindert werden sollen. Diese Möglichkeit, eine neue Verfassung zu schaffen, sieht Art. 146 GG in der alten wie in der neuen Fassung vor. Einige Verfassungsrechtler haben allerdings angenommen, dass Art. 146 GG a.F. mit der deutschen Wiedervereinigung außer Kraft getreten sei, und dass die neue Fassung unwirksam sei, soweit sie Änderungen betreffe, die nach Art. 79 Abs. 3 GG unzulässig sind. Das Bundesverfassungsgericht sieht Art. 146 GG als wirksam an, hat aber ausdrücklich offen gelassen, ob sogar die verfassungsgebende Gewalt an die in der Ewigkeitsklausel geschützten Grundsätze „schon wegen der Universalität von Würde, Freiheit und Gleichheit“ gebunden ist.“232 und die Idiotenfibel – Wie der Herrenchiemseer Verfassungskonvent vor 60 Jahren in nur 13 Tagen das ganze Grundgesetz entworden hat“ – SZ Nr. 169 vom 22.07.2008, S. 6 und ders.: „‘Auf jedem Komma wuchtet sein Gewicht‘ – Wie Carlo Schmid zum Vater des Grundgesetzes wurde – und Konrad Adenauer zum Großvater der Bundesrepublik“ – SZ Nr. 185 vom 09./10.08.2008, S. 6 229 Siehe etwa Michael Kloepfer: „Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung – Zur Verfassungsgebung im vereinten Deutschland“, S. 24 ff. und BVerfGE 30, 1 ff., 24 230 Mit gutem Grund kritisch zu diesem Begriff ist Hauke Möller: „Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision: Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG und zur verfassungsgebenden Gewalt nach dem Grundgesetz“, S. 15 (Fußn. 3) 231 Robert Probst: „Bonner Provisorium – Genau vier Jahre vergehen von der Kapitulation bis zum Grundgesetz, das die Politiker gar nicht als dauerhaft ansehen“ – SZ Nr. 61 vom 14./15.03.2009, S. 12 232 http://de.wikipedia.org/wiki/Ewigkeitsklausel und BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30. Juni 2009

78

Das ist natürlich so nicht der Fall, weil der originäre Volkssouverän Volk (Pouvoir constituant origineé“) jederzeit das von ihm ausgehende konstitutive Verfassungsrecht („Pouvoir constituant dèrivé“ oder pouvoir constitué“) ändern und auch aufheben kann, ohne an Einschränkungen („unbeschränkbar und unveräußerlich“) gebunden zu sein. Anders ausgedrückt: Art. 79 III GG stellt keinerlei Beschränkung der übergeordneten Volkssouveränität dar.233 „Nach dem Prinzip der Volkssouveränität kann das Volk als originärer Träger des pouvoir constituant jederzeit eine Verfassunggebende Versammlung beauftragen, eine erste oder eine vollkommen neue Verfassung auszuarbeiten, ohne dass hierfür eine besondere geschriebene Rechtsgrundlage besteht. Auch im Verfassungsstaat ist nach dieser Ansicht der pouvoir constituant vorrangig gegenüber den pouvoirs constitués, den verfassten Staatsgewalten. Diese Unterscheidung erklärt, warum das Volk sich im Rahmen einer Revolution eine neue Verfassung geben kann, ohne dass es durch die rechtlichen Regelungen der alten Verfassung gebunden ist. Die vom Volke in Auftrag gegebene und von ihm angenommene neue Verfassung bildet dann die rechtliche Grundlage der so neu konstituierten Staatsgewalten (pouvoirs constitués).“234

Schon in der Weimarer Zeit ging man davon aus, daß es unveränderliche Verfassungsbestimmungen geben muß, die nur durch eine neue Verfassung aufgehoben oder geändert werden können, weshalb der ehemalige demokratische Justizminister E. Schiffer 1932 eine „Kernverfassung“ vorgeschlagen hatte.235 Auch der deutsche Grundgesetzgeber bekennt sich ausdrücklich zu dieser vorverfassungsrechtlichen Macht der Volkssouveränität236 in der Präambel zum Grundgesetz und in Art. 20 II 1 GG, ja selbst in der konsequenten Sondervorschrift des Art. 146 GG, wonach das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tage verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

(http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html) , Abs.-Nr. 217 233 So richtig Hauke Möller: „Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision: Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG und zur verfassungsgebenden Gewalt nach dem Grundgesetz“, insbes. S. 31, 153 ff. sowie 249; Horst Dreier anläßlich eines Vortrags in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München – vgl. Johan Schloemann:“Kein Fall für den Verfassungsschutz – Horst Dreier bezweifelt die Ewigkeit des Grundgesetzes“ – SZ Nr. 272 vom 22./23.11.2008, S. 14; Leserbrief Roland Hinke unter „Das sieche Grundgesetz – Deutschlands Verfassung krankt am Föderalismus und an häufigen Wahlen – gegen diese Leiden gibt es jedoch ein Mittel“ – SZ Nr. 125 vom 03.06.2009, S. 31 234 de.wikipedia – pouvoir constituant 235 Kloepfer, Michael: „Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung – Zur Verfassungsgebung im vereinten Deutschland“, S. 24 ff.

236 Vgl. dazu Bundeszentrale für politische Bildung mit weiteren Nachweisen – http://www.bpb.de/wissen/02188220209589064290666483693342.html und Hauke Möller: „Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision: Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG und zur verfassungsgebenden Gewalt nach dem Grundgesetz“, S. 114, 115

79

Es kann auch gar nicht anders sein, daß – wer die Kompetenz hat, eine formelle Regelung mit Verfassungsrang zu schaffen, diese auch auf Grund ebendieser Kompetenz auch wieder ändern oder abschaffen und durch eine andere ersetzen kann. Wer die Idee der Demokratie („Volksherrschaft“) als übergeordnete Legitimation allen staatlichen Handelns ernst nimmt, kann nicht bestreiten, daß ein Volk als ganzes, auch gegenüber Parlamentarischem Rat und Ländern übergeordnete der eigentliche Souverän und Verfassungsgeber ist und sich jederzeit frei und ungebunden eine neue Verfassung geben kann. Darin liegt ja gerade das Wesen der Demokratie, das Volk jederzeit als obersten Entscheidungsträger („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – Art. 20 GG) anzuerkennen. „Die Ewigkeitsklausel macht eine Auflösung des Bundes während der Gültigkeit des Grundgesetzes unmöglich und verbaut etwa den Weg zu einem zum Beispiel nicht föderal organisierten Staatswesen – etwa nach französischem Vorbild eines zentralistischen Staatsaufbaus. Derartige Änderungen wären nur unter der Voraussetzung einer komplett neuen Verfassung denkbar.“237

Somit gilt die Selbstbindung des Art. 79 III GG nur für den sogenannten verfassungsgebenden oder -ändernden „Gesetzgeber“,238 nicht jedoch für die eigentliche „verfassungsgebende Gewalt“, die allein beim Volk liegt.239 Der bisherige Art. 79 III GG kann also weder das Volk für die Zukunft binden, noch könnte selbst das Volk zu einem beliebigern Zeitpunkt sich zu seinen Lebzeiten herausnehmen, auf ewige Zeiten ganze nachfolgende Generationen zu Strukturen und Regeln zu verpflichten, die den inzwischen vielfältig eingetretenen Veränderungen nicht mehr gerecht werden und seine Existenz gefährden. Der Verfassungsrechtler Horst Dreier bezieht sich u.a. auf das Wort des Staatsrechtlers Theodor Maunz, wenn er von der „normativen Zementierung“ spricht und die Gefahr betont, die von ihr ausgeht.240 Daher regelt Art. 146 GG nicht eine vereinigungsveranlaßte Ausnahme zu Art. 79 II GG, sondern einen ungeschriebenen demokratischen Grundsatz mit der Folge, daß Art. 79 III GG durch eine unmittelbare Abstimmung des Volkssouveräns jederzeit geändert werden kann.241 Die Bestimmung des Art. 146 GG ist 237

de.wikipedia.pdf zum Stichwort „Ewigkeitsklausel“ m. w. Nachweisen Konrad Hesse: „Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“, S. 293 (Rdnr. 702 und 761) 239 Jarass-Pieroth, Rd-Nr. 1 zu Art. 79 GG 240 Horst Dreier anläßlich eines Vortrags in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München – vgl. Johan Schloemann:“Kein Fall für den Verfassungsschutz – Horst Dreier bezweifelt die Ewigkeit des Grundgesetzes“ – SZ Nr. 272 vom 22./23.11.2008, S. 14; Michael Stolleis: „Alles zielt auf Ewigkeit – Horst Dreier fragt nach der Zukunft des Grundgesetzes“ – Besprechung von Horst Dreier: „Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat“, Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Reihe ‚Themen‘, München 2009 – SZ Nr. 16 vom 21.01.2010, S. 12 241 Hauke Möller: „Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision: Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG und zur verfassungsgebenden Gewalt nach dem Grundgesetz“ – dissertation.de - 1. Auflage 2004, S. 31, ISBN 3-898-25848-3 238

80 somit nicht konstitutiv, sondern deklaratorisch zu verstehen,242 denn was sie in Verbindung mit der deutschen Einigung in Erinnerung ruft, würde und müßte auch sonst gelten umso mehr, als das Grundgesetz derzeitiger Geltung und damit auch der darin festgeschriebene Föderalismus – wie oben dargelegt – noch nicht einmal unmittelbar vom gesamten deutschen Volk beschlossen worden ist.

Die praktischen Schwierigkeiten im bestehenden Föderalismus Immer mehr und auf immer zahlreicheren Gebieten erweist sich nun die bestehende föderale staatliche Gliederung der Bundesrepublik Deutschlands in einer schnell vorwärts drängenden globalen Welt mehr als Fluch denn als Segen. Nicht nur sachlich unbegründete Vielfalt zu gleichen Fragestellungen, Abstimmungsaufwände und überlange Entscheidungsdauer, vor allem auch vielfache persönliche Interessen und der erreichte Status der in den Bundesländern agierenden Politiker und Beamte haben zu einer Verfestigung geführt, das offensichtlich deren Wohl mehr dient als dem des Volkes. Es wird daher vor allem von den Bundesländern selbst immer wieder beschwörend darauf hingewiesen, daß sich die föderale Struktur des Grundgesetzes in Deutschland in all den Jahren nach dem Kriege „bestens bewährt“ habe, damit also mit einer abstrakten Worthülse bewertet wird, die alles – vor allem eine substanzielle Begründung im einzelnen – offenläßt. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Hier nur einige zufällig herausgegriffene Beispiele: •

242

Ein moderner Föderalismus darf nicht darauf hinauslaufen, daß Bund und Länder in allen Fragen ständig parallel zueinander dieselben Nüsse knacken und praktisch nur gemeinsam handeln – oder eben gerade nicht mehr – zügig und effizient handeln können. Besonders zeigt sich das in der Rahmengesetzgebung des Bundes und bei den zustimmungspflichtigen Gesetzen, bei denen Bund und Länder involviert sind und immer wieder den gegenseitigen Verdacht hegen, daß der jeweils andere Befugnisse ausüben will, die so und gerade dort nicht sachgerecht wahrgenommen werden können. Angesichts der zunehmend weltweit herrschenden wirtschaftlichen Rationalität müßten auch die politisch zu entscheidenden Rahmenbedingungen für die Wirtschaft eher vereinheitlicht bzw. harmonisiert und schnell entschieden als weiter zersplittert werden. Strukturen und die Ansiedlung von Aufgaben müssen zudem konkreten menschlichen Beziehungen folgen, internen und

BVerfG, NJW 1990, 3003; ebenso Dieter Grimm: „Ist das Verfahren der Verfassungsänderung selbst änderungsbedürftig?“ – HFR 20/2007, S. 216 – www.humboldt-forum-recht.de

81

externen, im Unternehmen den Kunden und im Staat den Bürgern. Derzeit verhindert eine mühsame, dauerhafte und aufwendige Kooperation zwischen Staaten die Handlungsfähigkeit. Ein Souveränitätsverzicht auf aktueller Länderebene würde sie beschleunigen, wie der Erfolg der Europäischen Union auf einigen Gebieten gezeigt hat.243 •

Im wahrnehmbaren und wenig beispielhaaften Vordergrund der Probleme des Föderalismus steht die seit Jahrzehnten nicht befriedigend gelöste Bildungspolitik. Bei aller Erfolglosigkeit verbesserter Ergebnisse langjähriger Bildungspolitik mag wesentlich mitentscheidend gewesen sein, daß die Vielfalt der Bundesländer, das „Gerangel zwischen Bund und Ländern“,244 „Bildungsideologie“, der „Klassenkampf und die Kleinstaaterei“245 und auch der mitunter theatralisch beschworene „Wettbewerbsföderalismus“ – negativ im Beamtenrecht246 – und die zweifelhafte Rolle der Kultusministerkonferenz (KMK) auf dem Bildungssektor nichts bewirken konnten, was sich auch im internationalen Wettbewerb als langfristig erfolgreich und berechenbar stabil hätte erweisen können.

Der Bildungsforscher Klaus Klemm von der Universität Duisburg-Essen hat einmal eine Liste von weit über hundert Verordnungen und Paragraphen zusammengetragen, die es derzeit bundesweit zum Thema „Schulwechsel“ gibt.247 Man spricht mit Recht von einem „Dschungel“.248 Es ist kein gedeihlicher Föderalismus, wenn bei aller Beschwörung von Mobilität sich im Bildungswesen die unterschiedlichen Vorschriftenhürden in 16 Bundeslän-

243 Ulrich Beck, Soziologe an der Universität München: „Schmerzliche Erfahrung – Hilfe, unsere Arbeitsplätze wandern aus!“ – SZ Nr. 244 vom 20.10.2004, S. 13 244 Tanjev Schultz: „Die Bildungslüge“ – SZ Nr. 292 vom 18.12.2009, S. 4; „Das BildungsgipfelDesaster“ – SZ Nr. 132 vom 12./13.06.2010, S. 4; Tanjev Schultz: „Gutachter rügen Bildungspolitik – Experten verlangen Ende des Kooperationsverbots“ – SZ Nr. 45 vom 24.02.2011, S. 6 245 Johann Osel: „Klassenkampf und Kleinstaaterei – Mittelschulen, Werkrealschulen, Stadtteilschulen – jedes Bundesland bastelt am Erziehungssystem“ – SZ Nr. 164 vom 20.07.2010, S. 5; Edmund Stoiber: „Schluss mit Bildungsideologie! – Die 16 Bundesländer sollen aufhören mit ihren Experimenten – solange es noch 16 Bundesländer gibt“ – SZ Nr. 171 vom 28.07.2010, S. 2; Johann Osel: „Willkommen im Dschungel“ – SZ Nr. 197 vom 27.08.2012, S. 4; ebenso der ehemalige FDP-Chef und Bundesaußenminister Klaus Kinkel: „Das Elend der Kleinstaaterei – Eine unglückliche Bestimmung im Grundgesetz verbietet, dass Berlin und die Länder in der Bildung kooperieren. Weg damit!“ – SZ Nr. 248 vom 26./27.10.2013, S. 2 246 Lothar Knopp: „Föderalismus: Reformfalle für Beamte und Hochschullehrer?“ – NJW-Editorial 18/2010, S. 3; Edmund Stoiber: „Schluss mit Bildungsideologie! – Die 16 Bundesländer sollen aufhören mit ihren Experimenten – solange es noch 16 Bundesländer gibt“ – SZ Nr. 171 vom 28.07.2010, S. 2 247 Vgl. dazu Jeanne Rubner: „Im Irrgarten der Pädagogik – 16 Bundesländer, 16 Schulsysteme – durchlässig vor allem von oben nach unten“ – SZ Nr. 290 vom 14.12.2004, S. 8; siehe auch Johann Osel u. Tanjev Schultz: „Schule als Irrgarten – Hunderte Lehrpläne, 96 verschiedene Schularten – wie die Politik das Bildungssystem missbraucht“ – SZ Nr. 99 vom 30.04./01.05.2011, S. 6 248 Johann Osel: „Willkommen im Dschungel“ – SZ Nr. 197 vom 27.08.2012, S. 4

82 dern nur noch als „Schikane“ für die Menschen erweisen.249 Und der Direktor des Deutschen Instituts für Föderalismusforschung in Hannover, HansPeter Schneider, kommt in einer international angelegten Vergleichstudie zu dem Befund: Das deutsche Bildungswesen schneide auch „infolge struktureller und organisatorischer Defizite ... erschreckend schlecht ab“.250 Das würde voraussichtlich mit einer institutionellen speziellen Kompensation der Föderlismusmängel auf diesem Gebiet, etwa einem „Nationalen Bildungsrat“,251 der sich aus Vertretern des Bundes, der Länder, der Wissenschaft und der Praxis zusammensetzt, auch nicht anders sein.

Im Oktober 2012 einigten sich die Bundesländer wenigstens für das Abitur auf einheitliche Prüfungsstandards d.h. als Orientierunghilfe, nicht ein von einer Mehrheit der Eltern gewünschtes Zentralabitur. Erst im Jahre 2013 sollten sodann verbindliche Abiturstandards vereinbart werden.252 Noch als baden-württembergische Kultusministerin sprach Annette Schavan berauscht, aber bereits damals ohne nachvollziehbare Begründung von der Bildungspolitik als „Herzstück der Länderkompetenz“.253 Das hinderte sie nicht daran, später als Bundesministerin – das Sein prägt das Bewußtsein – der Kultusministerkonferenz einen „Hochschulpakt 2020“ vorzuschlagen als gemeinsame Strategie von Bund und Ländern in den nächsten Jahren, weil es einfach sinnvoll ist, daß auch auf Bundesebene hierzu einheitliche Rah249

Heribert Prantl: „Wenn Föderalismus Schikane ist – ...darf der Bundespräsident das sagen: Die Machtspiele in der Bildungspolitik müssen aufhören“ – SZ Nr. 8 vom 12.01.2005, S. 4; Tanjev Schultz: „Bildungspolitik mal 16 – Der Bund verliert Kompetenzen im Schul- und Hochschulrecht“ – SZ Nr. 260 vom 11.11.2005, S. 8; Marco Finetti: „Trommeln gegen die Kleinstaaterei – Seit Monaten warnen Fachleute vor dem Rückzug des Bundes aus der Bildungspolitik – nun finden sie Gehör“ – SZ Nr. 54 vom 06.03.2006, S. 2; Tanjev Schultz: „Bildungswirrwarr hoch sechzehn – In Zukunft darf der Bund bei der Schul- und Hochschulpolitik noch weniger mitreden als bisher“ – SZ Nr. 123 vom 30.05.2006, S. 2; Tanjev Schultz: „Im Schul-Irrgarten“ – SZ Nr. 157 vom 12.07.2010, S. 4; Johann Osel: „Klassenkampf und Kleinstaaterei – Mittelschulen, Werkrealschulen, Stadtteilschulen – jedes Bundesland bastelt am Erziehungssystem“ – SZ Nr. 164 vom 20.07.2010, S. 5 250 Zitiert nach Jan Friedmann: „‘Politik im Blindflug‘ – Nach zahlreichen internationalen Vergleichsstudien ist klar, dass Schulen und Universitäten kräftig reformiert werden müssen. Doch Bund-Länder-Blockaden und bürokratische Verkrustungen hemmen die Erneuerung. Wie kann das deutsche Bildungssystem leistungsfähiger werden?“ – DER SPIEGEL Nr. 34/2005, S. 70 ff. (71); ebenso Tanjev Schultz „Die letzten Lehrer – vom Elend der Schulpolitik: Bei der Bildung bleibt Deutschland Mittelmaß“ – SZ Nr. 211 vom 13.09.2005, S. 4; Marco Finetti: „Zehn-Punkte-Katalog für Bildung und Wissenschaft – Hochschulen appellieren an kommende Regierung – Rektoren verlangen höhere Investitionen in die Forschung sowie Zusammenarbeit von Bund und Ländern“ – SZ Nr. 235 vom 12.10.2005, S. 6 251 Jörg Dräger: Versetzung gefährdet – Bildung ist Ländersache – aus gutem Grund. Doch Eltern und Lehrer sind damit unzufrieden. Ein Nationaler Bildungsrat könnte den Föderalismus retten“ – SZ Nr. 209 vom 10.09.2012, S. 2 252 „Abitur soll überall gleich schwer sein – Bundesländer einigen sich auf einheitliche Prüfungsstandards“ und Johann Osel: „Kleiner Schritt zum Einheitsabitur“ SZ Nr.242 vom 19.10.2012, S. 1 und 7 253 „Schavan boykottiert Kongress“ – DER SPIEGEL Nr. 30/2005, S. 14

83 menregeln gelten.254 „Fesseln, die das verhindern, müssen wir abstreifen ...

Wir brauchen eine Kooperationskultur; kein Kooperationsverbot.“255 Anette Schavan bekennt damit nicht nur, daß die Föderalismusreform des Jahres 2006 mit der Einführung eines „Kooperationsverbotes“ falsch lag – Kooperation ist das ungeschriebene und unverzichtbare Fließelement eines jeden vernetzten Gemeinwesens und darf – das sehen wohl heute die meisten Parteien ebenso – niemals verboten werden!256 Auch unterstützt sie danach Pläne der nordrhein-westfälischen Landesregierung und ihrer grünen Schulministerin Sylvia Löhrmann für eine Grundgesetzänderung, um das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in der Bildung abzuschaffen.257 In den politischen Parteien mehrten sich die Forderungen nach einer nationalen Bildungspolitik und einen größeren Einfluß des Bundes auf die Schulen, nachdem sich gerade auf einem der politisch wichtigsten Vorhaben – der Bildungspolitik – der bundesdeutsche Föderalismus endgültig als eines der größten Hindernisse für ein erfolgreiches Weiterkommen erwiesen hat.258 Die FDP wollte das Thema auf ihrem Parteitag im Mai 2011 behandeln. Nach einer Allensbach-Umfrage für den Deutschen Philologenverband und die Vodafone-Stiftung wünschte sich schon im Jahre 2010 eine Mehrheit der Deutschen (61 Prozent), daß der Bund statt der Länder (dafür nur 21 254

„Nach Neuverteilung der Bildungskompetenzen – Schavan schlägt Pakt vor – Bund und Länder sollen Hochschulen gemeinsam helfen“ – SZ Nr. 290 vom 16.12.2005, S. 8; vgl. auch „‘Eltern und Kinder werden irre‘ – Bundesbildungsministerin Annette Schavan über lästige Sonderwege, die Probleme des Föderalismus und den Kampf um ein höheres BaföG“ – SZ Nr. 164 vom 20.07.2010, S. 5; Tanjev Schultz: „Kooperation in der Bildung – Bund soll mehr Einfluss auf Schulpolitik bekommen“ – SZ Nr. 97 vom 28.04.2011, S. 5; Roland Preuss: „§000 neue Professoren – Hochschulen fordern stärkeres Engagement des Bundes“ – SZ Nr. 111 vom 15.05.2013, S. 6 255 „Bund will Mitsprache bei Schulpolitik“ und „‘Die Bürger erwarten, dass Abschlüsse vergleichbar sind‘ – Bildungsministerin Annette Schavan über ein Deutschlandabitur, die Schwächen des föderalen Schulsystems und die Lehrerausbildung“ – SZ Nr. 111 vom 14./15.05.2011, S. 1 und 6; Robert Roßmann: „Schavan will das Grundgesetz ändern – Derzeit dürfen nur die Länder Einrichtungen von Universitäten fördern – das soll auch dem Bund erlaubt werden“ – SZ Nr. 35 vom 11./12.0202012, S. 6; Roland Preuss: „Überraschender Zuspruch – SPD-Bildungsexperte wirbt bei seiner Partei für Annette Schavans Grundgesetzänderung"“- SZ Nr. 219 vom 21.09.2012, S. 6; der ehemalige FDPChef und Bundesaußenminister Klaus Kinkel: „Das Elend der Kleinstaaterei – Eine unglückliche Bestimmung im Grundgesetz verbietet, dass Berlin und die Länder in der Bildung kooperieren. Weg damit!“ – SZ Nr. 248 vom 26./27.10.2013, S. 2 256 Siehe auch „Das Unsinnsverbot“ – SZ Nr. 100 vom 02.05.2011, S. 4; Jörg Dräger: Versetzung gefährdet – Bildung ist Ländersache – aus gutem Grund. Doch Eltern und Lehrer sind damit unzufrieden. Ein Nationaler Bildungsrat könnte den Föderalismus retten“ – SZ Nr. 209 vom 10.09.2012, S. 2 257 „Schavan für Grünen-Idee“ – SZ Nr. 181 vom 09.08.2010, S. 6; Tanjev Schultz: „Kooperation in der Bildung – Bund soll mehr Einfluss auf Schulpolitik bekommen“ – SZ Nr. 97 vom 28.04.2011, S. 5; Roland Preuss: „§000 neue Professoren – Hochschulen fordern stärkeres Engagement des Bundes“ – SZ Nr. 111 vom 15.05.2013, S. 6 258 Johann Osel: „Große Bühne, undankbare Rolle“ – SZ Nr. 38 vom 14.02.2013, S. 4

84 Prozent) für die Schul- und Bildungspolitik verantwortlich sein sollte.259 Ein Jahr später hat sich diese Mehrheit speziell für die Einführung bundesweit einheitlicher Abschlußprüfungen mit 78 Prozent der Bürger nochmals deutlich erhöht. Selbst die Pädagogen votieren mit 60 Prozent dafür, daß der Bund und nicht die Länder für Bildungspolitik zuständig sein sollten.260 Die SPD-Linke Andrea Nahles sah sogar die Notwendigkeit eines bundesweiten „Ministeriums für Bildung und Integration“, weil ausreichende Bildung nicht nur Ländersache ist, sondern es dafür eine „nationale Verantwortung“ gibt.261 Gleichzeitig bemühten sich die Länder in der aufwendigen und gleichwohl ineffizienten Kultusministerkonferenz (KMK)262 um eine Harmonisierung, d.h. Vereinheitlichung der Schulpläne und neuerdings auch zentrale Prüfungen,263 weil nur so die empirisch erprobte Kleinstaaterei mit den Folgen eines Pisa-Desasters vermieden und auch das Bildungsniveau angehoben werden kann.264 Die Bildungspläne der Länder für die Grundschulen sind bereits 259 „Bund soll für einheitliche Bildungspolitik zuständig sein – Umfrage: Deutsche geben Schulpolitik der Länder mittelmäßige Noten“ – DIE WELT vom 01.04.2010 – www.welt.de – S. 2; Johann Osel: „Willkommen im Dschungel“ – SZ Nr. 197 vom 27.08.2012, S. 4; Jörg Dräger: Versetzung gefährdet – Bildung ist Ländersache – aus gutem Grund. Doch Eltern und Lehrer sind damit unzufrieden. Ein Nationaler Bildungsrat könnte den Föderalismus retten“ – SZ Nr. 209 vom 10.09.2012, S. 2 260 Tanjev Schultz: „Kooperation in der Bildung – Bund soll mehr Einfluss auf Schulpolitik bekommen“ – SZ Nr. 97 vom 28.04.2011, S. 5 261 „‘Bildung darf nicht am Streit um Zuständigkeiten scheitern‘ – Die stellvertretende SPDVorsitzende Andrea Nahles plädiert für eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Schulpolitik“ – SZ Nr. 189 vom 19.08.2009, S. 6 262 Leserbrief Roland Hinke unter „Das sieche Grundgesetz – Deutschlands Verfassung krankt am Föderalismus und an häufigen Wahlen – gegen diese Leiden gibt es jedoch ein Mittel“ – SZ Nr. 125 vom 03.06.2009, S. 31; Tanjev Schultz: „Gutachter rügen Bildungspolitik – Experten verlangen Ende des Kooperationsverbots“ – SZ Nr. 45 vom 24.02.2011, S. 6 263 Siehe dazu auch „Bulmahn stellt Kultusministerkonferenz in Frage – Ministerin wirft Ländern Versäumnisse in der Bildungspolitik vor – Bundesweite Maßstäbe“ – DIE WELT vom 26.07.2004 – www.welt.de; Marco Finetti: „Gemeinsamer Anstieg auf den Zauberberg – Zentrale Prüfungen und einheitliche Bildungsstandards sollen die Leistungen der Schüler vergleichbarer machen und verbessern“ – SZ Nr. 211 vom 11./12.09.2004, S. 2; Tanjev Schultz: „Bildung für alle“ – SZ Nr. 159 vom 13.07.2005, S. 4 264 Hans-Olaf Henkel: „Die Ethik des Erfolgs“, S. 109 unter Hinweis auf das zentralistisch organisierte, aber sehr viel höhere Niveau französischer Schulen.; „Der Weg ins Fiasko“ – SZ Nr. 196 vom 25.08.2004, S. 4; vgl. auch „Pieper will KMK abschaffen“ – SZ Nr. 198 vom 27.08.2004, S. 5; Jeanne Rubner: „Die Bildungsfürsten“ – SZ Nr. 226 vom 29.09.2004, S. 4; Marco Finetti: „Die Neue prescht vor – KMK-Präsidentin Johanna Wanka setzt frühzeitig Zeichen“ – SZ Nr. 6 vom 10.01.2005, S. 10; Tanjev Schultz: „Warnung vor Kleinstaaterei – Ute Erdsiek-Rave sitzt Konferenz der Kultusminister vor“ – SZ Nr. 16 vom 20.01.2006, S. 6; Markus Dettmer, Per Hinrichs u. Horand Knaup: „‘Völlig widersinnig‘ – Die Kritik an den schwarz-roten Bildungsplänen nimmt drastisch zu.

Tenor: Deutschland drohe in die Kleinstaterei abzudriften. Wird die Föderalismusreform noch einmal aufgeschnürt?“ – DER SPIEGEL Nr. 6/2006, S. 26 ff.; Philip Grassmann u. Robert Roßmann: „In der SPD wächst die Unzufriedenheit – Platzeck will Korrektur der Föderalismusreform – Parteichef für

85

personalintensiv „harmonisiert“ worden, was dafür spricht, daß Einheitlichkeit gewünscht wurde.265 Das hat freilich nicht verhindert, daß sich bei der Frage, wie man richtig deutsch schreibt, wieder eine Spaltung zwischen den Ländern ergeben hat, was nicht zuletzt auch die Kulturstaatsministerin Christina Weiss kritisierte.266 Auch die dafür in Zukunft vorgeschlagenen und theoretisch denkbaren „Staatsverträge“ zwischen den Bundesländern sind keinesfalls die einfachste und flexibelste, geschweige denn schnellste oder gar billigste Lösung für den Harmonisierungsbedarf.267 Das zeichnet sich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Studiengebühren auch im Hochschulbereich ab mit den daraus resultierenden Mobilitätshürden der einzelnen Bundesländer.268 Der Bundeselternrat fordert ein Schulrahmengesetz des Bundes, um klare verbindliche nationale Vorgaben zu haben. Gemeinsam mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Bundesschülervertretung dringen sie darauf, die Bildung als gemeinsame Aufgabe zu gestalten und sie nicht auf dem Altar des Föderalismus zu opfern.269 Selbst der ehemalige BDI-Präsident Michael Rogowski warnte: „Dass die Bildungspolitik total in die Hoheit der Länder abwandert, kann

stärkere Rolle des Bundes in der Bildung/Opposition wirft Koalition '‚roben Machtmissbrauch'‘vor"“ u. Heribert Prantl: „Parlare heißt reden, nicht nicken“ – SZ Nr. 58 vom 10.03.2006, S. 1 u. 4; Christine Burtscheidt: „Die falsche Alternative – Bayern kämpft im Bund für den Bildungsföderalismus – und regiert die eigenen Schulen und Unis zentralistisch“ – SZ Nr. 60 vom 13.03.2006, S. 16; Thomas Darnstädt, Jan Fleischhauer, Horand Knaup u. Ralf Neukirch: „Großer Wuf ins Leere – Das erste umfassende Reformwerk der Großen Koalition steht auf der Kippe: Die SPD will die Föderalismuspläne so nicht mehr mittragen. Ein Scheitern wäre nach Meinung vieler Experten kein Unglück – das vorliegende Programm würde mehr Schaden als Nutzen bringen“ – DER SPIEGEL Nr. 11/2006, S. 24 ff.; Michael Bauchmüller, Heidrun Graupner, Joachim Käppner, Heribert Prantl, Tanjev Schultz, Christoph Schwennicke: „Wachsende Zweifel an der Neuordnung der Beziehungen von Bund und Ländern – ‚Die Reform haut uns die Beine weg‘ – Der Föderalismus sollte von Grund auf besser werden, doch Kritiker fürchten, dass der geplante Umbau vieles schlechter macht. Vor allem in der SPD gärt es“ – SZ Nr. 65 vom 15./16.03.2006, S. 10; Uwe Ritzer: „Klare Worte einer Professorin – Jutta Allmendinger will als neue Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für eine deutlichere Ausrichtung sorgen“ – SZ Nr. 166 vom 21.07.2006, S. 18; zur Entstehungsgeschichte der KMK und den irrationalen Hinderungsgründen einer Abschaffung siehe auch Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 40 ff.

265 „Erstmals seit Gründung der gemeinsamen Konferenz 1948 – Einheit der Kultusminister zerbrochen – Niedersachsen will KMK verlassen7Präsidentin Ahnen sieht Föderalismus in Gefahr“, „‘Wulff muss sagen, was er meint‘ – KMK-Chefin geht in die Offensive“ – SZ Nr. 224 vom 27.09.2004, S. 1 u. 2 266 „Unerlaubte Spielchen“ – DER SPIEGEL Nr. 31/2005, S. 18 267 Heribert Prantl: „Wenn Föderalismus Schikane ist – ...darf der Bundespräsident das sagen: Die Machtspiele in der Bildungspolitik müssen aufhören“ – SZ Nr. 8 vom 12.01.2005, S. 4 268 Heribert Prantl: „Es lebe der deutsche Staatenbund – Das Karlsruher Urteil zu den Studiengebühren ist der Todesstoß für die Föderalismusreform“ – SZ Nr. 22 vom 28.01.2005, S. 4; André Luce, Hannover – Leserbrief eines Studenten in SZ Nr. 25 vom 01.02.2005,S. 10 269 „Bundeselternrat fordert Schulrahmengesetz“ – SZ Nr. 288 vom 11./12.12.2004, S. 7

86 nicht in unserem Interesse sein.“270 Nach einer internationalen Vergleichsstudie des hannoverschen Föderalismus-Experten Hans-Peter Schneider gibt es auch keinen anderen föderalistischen Staat von Bedeutung, in dem der Zentralstaat auf dem Bildungssektor nicht substanziell mitwirkt.271 Aber auch im Rahmen der neuen Koalitionsverhandlungen würde sich daran wohl nichts ändern – eher im Gegenteil.272 Unionspolitiker aus den Bundesländern wie der bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle kündigen erneut Widerstand an.273 Der Bildungs- und Gesundheitsforscher Klaus Hurrelmann wartet daher seit rund 20 Jahren noch immer auf eine Antwort zu der von ihm für das wiedervereinte Deutschland geforderten einheitlichen Schulstruktur.274 Es ist dieses angesichts der politisch selbst verordneten und tatsächlich im globalen Wettbewerb nicht zu unterschätzenden Bedeutung von Bildung und Forschung ein wahres Dilemma, das nicht mehr zu verstehen ist und jedenfalls keine baldigen Fortschitte verheißt. Auch hier waren stets Machterhalt wichtiger als ein durchschlagender Erfolg in der Sache. Es scheint, als ob das Volk – wie beim Volksentscheid in Hamburg275 – längst schneller und klarer weiß, was notwendig ist, und sich so in blamabler Weise für die Poli-

270 Vgl. „Köhler sucht Gespräch zur Föderalismusreform“ – SZ Nr. 297 vom 22.12.2004, S. 6; Marco Finetti: „Machtspiel um die Bildung“ – SZ Nr. 57 vom 10.03.2005, S. 4; ebenso Otto Schily und Edelgard Bulmahn angesichts des Kompromisses von Franhz Müntefering mit Edmund Stoiber – vgl. „Kompromiss im Föderalismusstreit“ – DER SPIEGEL Nr. 19/2005, S. 17; Marco Finetti u. Tanjev Schultz: „Bulmahn will Bund stärken – SPD-Bildungsministerin betont Unterschiede zur Union“ – SZ Nr. 188 vom 17.08.2005, S. 5; ebenso Bundesverfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt – vgl. dazu Heribert Prantl: „Säckeweise Kritik – Bei der großen Anhörung gibt es zwar ein vielstimmiges ‚Ja‘ der Experten, aber mit der Anmerkung ‚So nicht‘“ – SZ Nr. 123 vom 30.05.2006, S. 2; Tanjev Schultz: „Der Bund darf weiter zahlen – Zähes Ringen bei der Bildung“ – SZ Nr. 148 vom 30.06.2006, S. 2 271 Zitiert nach DER SPIEGEL Nr. 46/2005, S. 28 272 „Bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin – Union und SPD erzielen Einigung bei Föderalismusreform – Teilnehmer sprechen von ‚Durchbruch‘/Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern im Hochschulbereich sollen genau geregelt werden“ – SZ Nr. 252 vom 02.11.2005, S. 6; Marco Finetti: „Bund vor Kompetenzverlust in der Bildungspolitik – Berlin dürfte nach dem Kompromiss zur Föderalismusreform Schulen nicht mehr finanziell unterstützen“ – SZ Nr. 253 vom 03.11.2005, S. 6; „‘Brüchige Grundlage‘ – Stolz präsentieren Union und SPD ihre Föderalismusreform. Doch nach den nun ausgehandelten Regeln können die Länder dem Bund das Regieren sogar noch schwerer machen als bisher“ – DER SPIEGEL Nr. 46/2005, S. 8 ff.

273 „Umstrittene Schulpolitik – Unionspolitiker gegen größeren einfluss desBundes“ – SZ Nr. 112 vom 16.05.2011, S. 6 274 „‘Es findet sich niemand zurecht‘ – Forscher Klaus Hurrelomann fordert eine klare Struktur“ – SZ Nr. 99 vom 30.04./01.05.2011, S. 6 275 Tanjev Schultz: „Was vom Eifer übrig bleibt“ und Johann Osel: „Klassenkampf und Kleinstaaterei – Mittelschulen, Werkrealschulen, Stadtteilschulen – jedes Bundesland bastelt am Erziehungssystem“ – SZ Nr. 164 vom 20.07.2010, S. 4 und 5

87

tik von den unzähligen, aber wenig überzeugenden angebotenen Modellen absetzt.276 •

Ein nicht minder bedeutsames Problem schafft die geltende Finanzverfassung, wie sie insbesondere als Steuerhoheit und Verteilung der Steueraufkommen für Bund und Länder in den Art. 105 ff. GG geregelt ist, als auch der Länderfinanzausgleich (Art. 107 GG), der mit seinen Bezugsgrößen „unterschiedliche Finanzkraft“ und „Finanzbedarf“ der Länder nicht unbedingt zu „gleichwertigen Lebensverhältnissen“, sondern zu unerwünschten Anreizen führt. Es gibt zahlreiche Anlässe und Gründe, über eine Neuordnung der Finanzverfassung nicht nur nachzudenken, sondern sie auch zu realisieren.277 Es beginnt schon damit, daß die heute bestehenden 16 deutschen Bundesländer eine höchst unterschiedliche Lebenskraft haben, gleichwohl aber alle die gleichen Kompetenzen,278 wenn es etwa um die Mitwirkung im Bundesrat oder um eine zweckmäßige Balance zwischen den Zuständigkeiten der Länder und des Bundes geht. Mit hohem Aufwand muß jedes Jahr wiederum hierum gerungen werden.

Der Verein „Konvent für Deutschland“ hatte schon darauf hingewiesen, daß eine fühlbare Verbesserung der Reformfähigkeit Deutschlands jedenfalls nicht erreicht werde, wenn nicht auch das Finanzgeflecht zwischen Bund und Ländern aufgelöst werde, womit sich die FöderalismusKommission aber nicht befasse. Auch habe diese Reform nur dann eine Chance, wenn sie in der Öffentlichkeit zum Thema werde und die Beteiligten den Druck verspürten.279 Nicht zuletzt Bundeskanzler Schröder plädierte für ein Überdenken der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden.280

276 „Bund soll für einheitliche Bildungspolitik zuständig sein – Umfrage: Deutsche geben Schulpolitik der Länder mittelmäßige Noten“ – DIE WELT vom 01.04.2010 – www.welt.de – S. 2 277 Vgl. dazu Kirsten Witte: „Neuordnung der föderalen Finanzverfassung Deutschlands ab 2020 unter besonderer Berücksichtigung der Kommunen“ – Bertelsmann-Stiftung; Marius Niespor, Wissenschaftliche Dienste: „Vorschläge zur Neuordnung der Finanzverfassung“ – Nr. 21/13 (04. Juni 2013) © 2013 Deutscher Bundestag 278 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 135 279 Detlef Esslinger: „Herzog mahnt mehr Föderalismus an“ – SZ Nr. 115 vom 19./20.05.2004, S. 7; „Bosbach: Föderalismus rasch reformieren“ – SZ Nr. 200 vom 31.08.2005, S. 6 280 Gerhard Schröder in dem Interview: „Ich bin Kanzler, kein Philosoph, ich rede lieber konkret“ – ST Nr. 297 vom 24./25./26.12.2002, ‚S. 7; vgl. dazu auch Nikolaus Piper: „Die kommunale Katastrophe – Viele Städte stehen am Rand der Pleite – eine grundlegende Finanzreform ist unabweisbar“ – SZ Nr. 22 vom 28.01.2003, S. 4; Hanno Kube, Ulrich Palm u. Christian Seiler: „Finanzierungsverantwortung für Gemeinwohlbelange“ – NJW 13/2003, S. 927 ff.; Ulrich Schäfer: „Regierung will föderales Steuerwirrwarr entflechten – Finanzminister Eichel wirbt für getrennte Einnahmequellen von Bund und Ländern/Debatte um zentrales Bundesfinanzamt“ – SZ Nr. 138 vom 18.06.2004, S. 22; vgl. auch Bernd Oswald u. Ulrich Schäfer: „Arm und allein – Eichel zweifelt an Existenzrecht finanzschwacher Bundesländer“ – SZ Nr. 78 vom 06.04.2005, S. 1

88

Es war aber keine wirkliche Überraschung, daß eine RegierungsKommission zur Reform der Gemeindefinanzen zu keiner klaren politischen Zielsetzung oder Willensbildung gefunden hat.281 Dabei ging es u.a. um die traditionelle Gewerbesteuer, ihre „Revitalisierung“, ihre Ausdehnung auch auf freie Berufe282 und den Versuch, sie weniger konjunkturanfällig zu machen, statt sie im Hinblick auf die Ertragssteuerreform wirklich abzuschaffen283 und die Dinge grundsätzlich neu zu denken. Justizministerin Brigitte 281 Vgl. dazu auch Rolf Böhme, ehem. Oberbürgermeister von Freiburg und jetziger Berater des Bundesinnenministers: „Ein verlockendes Angebot an die Kommunen – Zu den Aufgaben einer Kommission/Rathäuser sollen selbst Verantwortung für höhere Steuern übernehmen“ – SZ Nr. 29 vom 05.02.2003, S. 20; Joachim Käppner: „Ohne Schmerzen geht es nicht – Die Reform der Gemeindefinanzen verträgt keinen faulen Kompromiss, doch Eichel strebt ihn an“ – SZ Nr. 74 vom 29./30.03.2003, S. 4; Hans-Jörg Heims: „Finanzreform soll Gemeinden entlasten – Steinbrück drängt Schröder zur Eile“ – SZ Nr. 105 vom 08.05.2003, S. 8; Joachim Käppner: „Experten ohne Ergebnis – Die Kommission für Kommunalfinanzen kann sich nicht einigen“ – SZ Nr. 106 vom 09.05.2003, S. 1 282 Vgl. dazu „Verbände warnen vor Ausdehnung der Gewerbesteuer“ – NJW 25/2003, S. XII; Petra Roth: „Deutschland braucht starke Städte“ – SZ Nr. 160 vom 15.07.2003, S. 2; „Union will Freiberufler schonen – Bayerns Finanzminister Faltlhauser bereit zu Kompromissen bei der Gewerbesteuer/‘Modell der Wirtschaft faktisch tot‘“ – SZ Nr. 165 vom 21.07.2003, S. 17; „Einigung beim Koalitionsgipfel in Hannover – Regierung hilft Städten und Gemeinden aus Finanznot – Eichel: Kommunen werden 2004 um 4,5 Milliarden Euro entlastet/Auch Freiberufler sollen Gewerbesteuer bezahlen“ – SZ Nr. 178 vom 05.08.2003, S. 1 283 Oswald Metzger: „Reform der Gemeindefinanzen – Nicht ‚erneuern‘, sondern abschaffen – Eine revitalisierte Gewerbesteuer würde nicht ins System passen und die wirtschaftliche Misere verschärfen“ – SZ Nr. 90 vom 17./18.04.2003, S. 22; Joachim Käppner u. Robert Jacobi: „Debatte über die Gemeindefinanzen – Mehrheit für Gewerbesteuer – Industriepräsident Rogowski kritisiert ‚Herumbasteln am toten Mann‘/Kommission vertagt sich“ und der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude in dem Interview: „Die Städte müssen Rabatz schlagen – Oberbürgermeister Ude fordert von der Bundesregierung eine rasche Reform der Gewerbesteuer“ – SZ Nr. 107 vom 10./11.05.2003, S. 21 u.

49; Philip Grassmann: „Streit um Gemeinde-Finanzreform – FDP für neue Kommunalsteuer – Die Gewerbesteuer soll nach dem Willen der Liberalen wegfallen“ – SZ Nr. 109 vom 13.05.2003, S. 5; Joachim Käppner: „Die Rettung der Städte“ u. „Hauptversammlung des Deutschen Städtetages – Roth fordert zügige Finanzreform – Vorsitzende appelliert an Bundesrat, dem Gesetz zuzustimmen“ – SZ Nr. 110 vom 14.05.2003, S. 4 u. 6; Joachim Käppner: „Bundespräsident als Anwalt der Kommunen – Rau mahnt Hilfe für Städte an – ‚Krise bedroht Fundament demokratischer Ordnung‘“ – SZ Nr. 111 vom 15.05.2003, S. 7; Joachim Käppner: „Reform der Gemeinde-Finanzen – Städte wollen die Gewerbesteuer – Hauptversammlung lehnt Modell der Industrie ab/ ...“ – SZ Nr. 112 vom 16.05.2003, S. 6; siehe dazu auch Jochen-Konrad Fromme: „Nachfolgeregelung für die Gewerbesteuer“ – ZRP 06/2003, S. 198 ff.; „Wirtschaft: Gewerbesteuer muss weg – DIHK hält Reformmodell der Gemeinden für ‚ökonomischen Schwachsinn‘, BDI fordert Zwischenlösung“ – HB Nr. 112 vom 13./14.06.2003, S. 4; Joachim Käppner: „Lieber nochmal nachrechnen – Verwirrspiele um die Reform der Gemeindefinanzen“ – SZ Nr. 146 vom 21/22.06.2003, S. 5; „Die alte Gewerbesteuer lebt wieder auf – Kommunen setzen sich mit ihren Reformvorschlägen durch – Industrie-Präsident Rogowski: ‚Wir haben verloren‘“ und Axel Schreiner: „Ein Zombie kehrt zurück“ – HB Nr. 126 vom 04./05.07.2003, S. 6 bzw. 11; „Freiberufler sollen alle Steuertricks nutzen – Spitzenverband will seine Mitglieder zum massiven Widerstand gegen die geplante Einbeziehung in die Gewerbesteuer auffordern“ – SZ Nr. 160 vom 15.07.2003, S. 17; Oswald Metzger: „Keine Angst vor der Steuerstrukturreform – Wenn der Staat seinen Bürgern vom Einkommenszuwachs mehr im Portemonnaie lässt, ist das sinnlich wahrnehmbar und gut für das Wirtschaftsklima“ – HB Nr. 215 vom

89

Zypries hatte schon angekündigt, im Zuge der geplanten Entflechtung von Bund-Länder-Kompetenzen284 auch bei den Steuern eine Neuaufteilung vorsehen zu wollen. Danach könnte die Erhebungszuständigkeit zweier Steuerarten getauscht werden und die Kraftfahrzeugsteuer ebenso wie schon die Mineralölsteuer künftig dem Bund, die Versicherungssteuer aber den Ländern zufließen.285 Die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz und hessische Bildungsministerin Karin Wolff mahnte aus ihrer Sicht ebenfalls wie die Kultusministerinnen von Bayern, Monika Hohlmeier, und von BadenWürttemberg, Annette Schavan, eine „tragfähige Neuregelung“ des BundLänder-Finanz-Ausgleichs an.286 Die CSU unter Führung ihres Ministerpräsidenten Horst Seehofer und Finanzminister Markus Söder haben inzwischen den aus ihrer Sicht zu hohen Ausgleichsverpflichtungen Bayerns bis hin zum Bundesverfassungsgericht den Kampf angesagt.287 Die Bertelsmann-Stiftung (s.o.) fordert ihrerseits in einem Positionspapier eine tiefgreifende Reform des Gemeindefinanzsystems, das über die Neuordnung der Gewerbesteuer und der Sozial- und Arbeitslosenhilfe hinaus eine Bürgersteuer und eine lokale Wirtschaftssteuer kombiniert.288 Bei alledem besteht die Gefahr, daß wieder nur einzelne Steuerarten bedacht bzw. hin und hergeschoben werden, ohne daß damit zugleich die Ursachen, soweit sie in der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern begründet sind, berührt werden.

07./08.11.2003, S. 9; „Union will Gewerbesteuer doch abschaffen – Friedrich Merz setzt auf Vorschläge der Stiftung Marktwirtschaft: ‚Ein besseres Angebot werden die Kommunen nie bekommen‘“ u. Ulrich Schäfer: „Charme der neuen Abgabe“ – SZ Nr. 165 vom 20.07.2005, S. 17; Joachim Käppner u. Ulrich Schäfer: „Streit um Reformmodell der Stiftung Marktwirtschaft – Eichel lehnt neue Kommunalsteuer ab – Städtetag bezweifelt Mehreinnahmen von 5,7 Milliarden Euro/‘Unkalkulierbares Experiment‘“– SZ Nr. 226 vom 30.09.2005, S. 21 284 Vgl. dazu auch Brigitte Zypries: „Reform der bundesstaatlichen Ordnung im Bereich der Gesetzgebung“ – ZRP 08/2003, S. 265 ff.

285 „Bund will Aufteilung der Steuern ändern“ – SZ Nr. 90 vom 17./18.04.2003, S. 7; „Bund befürwortet Pläne zum Steuertausch“ – SZ Nr. 217 vom 18./19.09.2004, S. 21; „Eichel will Bier- und KfzSteuer – Finanzminister schlägt Ländern einen Abgabentausch vor“ – SZ Nr. 224 vom 27.09.2004, S. 21; Ulrich Schäfer: „Plan der Länderfinanzminister – Steuerrecht wird entrümpelt – Tausende Vorschriften sollen verschwinden/Länder wollen Kfz-Steuer an Bund abtreten“ – SZ Nr. 229 vom 02./03.10.2004, S. 23; vgl. zu dem derzeitigen Dilemma auch Ulrich Schäfer: „Eichels Frust – die Union geißelt den Finanzminister für Deutschlands Schulden – für die sie mitverantwortlich ist“ – SZ Nr. 276 vom 27./28.11.2004, S. 4 286 Zitiert nach Marten Rolff: „Ministerin Bulmahn startet Förderprogramm – Zweifel am Geld für die Ganztagsschulen“ – SZ Nr. 34 vom 11.02.2003, S. 5; Joachim Käppner: „Koffer voller Cash – Warum die CSU irrt, wenn sie beim Länderfinanzausgleich glaubt: Wer zahlt, schafft an“ – SZ Nr. 32 vom 08.02.2012, S. 4 287 Joachim Käppner: „Koffer voller Cash – Warum die CSU irrt, wenn sie beim Länderfinanzausgleich glaubt: Wer zahlt, schafft an“ – SZ Nr. 32 vom 08.02.2012, S. 4 288 Ulf Brychcy: „Bericht der Bertelsmann-Stiftung – Kritik an Gemeindefinanzen – Experten für neue Bürger- und Wirtschaftssteuer“ – SZ Nr. 35 vom 12.02.2003, S. 6

90

•

Offene Mängel, Ungereimtheiten und mangelnder Zusammenarbeit gab es mehrfach auf dem Sektor der öffentlichen Sicherheit, die in der Hand der Länder bei mehreren Verfassungsschutz- und Polizeibehörden liegt, die sich darin gefallen, alles allein und selbständig erledigen zu wollen, obwohl ihre Möglichkeiten buchstäblich an den Ländergrenzen enden.289 Die lückenund fehlerhafte Bekämpfung der rechtsradikalen Kriminalität (NSU) hat dieses in erschreckender Weise deutlich gemacht.

•

Auch im Aufgabenbereich des Hochwasserschutzes läßt sich allein mit Nothilfemaßnahmen des Bundes und dem Erlaß des Finanzierungsanteils zum Flutopferfonds der Kommunen das Finanzproblem der Länder und Kommunen nicht mehr lösen.290 Die Aufgaben des Hochwasserschutzes und deren Folgenberseitigung und Opferentschädigung haben sich spätestens mit den Überflutungen des Jahres 2013 ebenso klar wie die Energieversorgung als eine nur gemeinsam lösbare Aufgabe aller – Bund und Länder – erwiesen, so daß es keinen Sinn mehr macht, sie bei mehreren öffentlichen Struktureinheiten zu belassen, die sich heute über unzumutbar lange Zeiträume verständigen müssen und meistens auch nur den kleinsten Nenner dafür finden. Selbst das von der bayerischen Staatsregierung beschlossene Sofortprogramm zur finanziellen Entlastung der Kommunen ist beim Bayerischen Städtetag als „falscher Weg“ auf Ablehnung gestoßen.291

•

Ähnlich verhält es sich aber auch in anderen Bereichen wie etwa den nur bürokratisch aufwendigen, aber wenig bewirkenden oder sogar schädlichen Aufsplitterungen des Beamten- und des Beamtenbesoldungsrechts,292

289 z. B.: „Wenig Verständnis für die Ministerin – Bundesländer lehnen eine Zusammenlegung ihrer Verfassungsschutzämter ab“ – SZ Nr. 266 vom 18.11.2011, S.5 290 Robert Jacobi u. Joachim Käppner: „Infusion für die Siechen“ – SZ Nr. 47 vom 26.02.2003, S. 1; „Kommunen werden finanziell entlastet“ – SZ Nr. 78 vom 03.04.2003, S. 7; vgl. auch den NRWInnenminister Fritz Behrens in dem Interview: „‘Investitionskraft stärken‘ – SPD-Politiker für rasche Umsetzung der Reformen“ – SZ Nr. 86 vom 12./13.04.2003, S. 8; Kristina Läsker: „Das Kreditprogramm für Städte ist ein Hoffnungsschimmer, aber nicht mehr“ – SZ Nr. 93 vom 23.04.2003, S. 22 zu einem entsprechenden Zitat des Hauptgeschäftsführers des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Georg Landsberg.

291 „Städtetag lehnt Stoibers Vorschläge ab“ – SZ Nr. 106 vom 09.05.2003, S. 50 292 Joachim Käppner: „Der eiserne Reiter – Dem Berufsbeamtentum steht eine kleine Revolution bevor: Es will sich aus eigener Kraft reformieren“ – SZ Nr. 198 vom 27.08.2004, S. 4; Kassian Stroh: „Schilys Pläne ernten Kritik – Länder wollen Reformen für Beamte selber regeln“ – SZ Nr. 234 vom 08.10.2004, S. 5; Kassian Stroh u. Nina Berendonk: „Länder verlangen mehr Freiraum“ – SZ Nr. 243 vom 19.10.2004, S. 5; Roland Nelles: „Ende der Schonzeit – SPD-Chef Müntefering und der CSUVorsitzende Stoiber wollen zentrale Privilegien des Berufsbeamtentums abschaffen“ – DER SPIEGEL Nr. 50/2004, S. 44 ff.; Heribert Prantl: „‘Gleiches Niveau der Justiz in Gefahr‘ – Vorsitzender des Richterbundes warnt davor, einheitliche Besoldung abzuschaffen“ – SZ Nr. 289 vom 13.12.2004,

91

wenn andererseits auch hier Mobilität und Flexibilität der beschäftigten Menschen in Deutschland und sogar Europa die Herausforderungen unserer Zeit sind. Auch hier müssen – wie anerkannt wird293 – bundesweit einheitliche Standards gewährleistet sein. Welchen Sinn soll es hier also haben, daß die Länder miteinander konkurrieren? Im Gegenteil: Selbst für die Nebeneinkünfte der Parlamentarier wollten sich die Parlamentspräsidenten in einer Sonderkonferenz abstimmen.294 Warum auch sollten hier unterschiedliche Maßstäbe gelten?

•

Oder man denke an die nicht vorhandenen einheitlichen organisatorischen Lösungen bzw. modernen und geschützten digitalen EDV- und Funksysteme für die Datenübermittlung im Bereich der inneren und äußeren (terroristischen) Sicherheit,295 an die Verbesserung der auch vom Bundesrech-

S. 7; Joachim Käppner: „Eine Feste vor dem Fall – Warum es für die sinnvolle Reform des Berufsbeamtentums schon zu spät ist“ – SZ Nr. 292 vom 16.12.2004, S. 4; vgl. für den Bereich öffentlicher Angestellter auch Jonas Viering: „Der zersplitterte Staatsdienst – Die Tarifreform im öffentlichen Dienst reicht weit – aber die Länder setzen ihre Grenzen“ u. ders.: „Länder beim Thema Tarifreform gespalten – Finanzminister der Union und aus Ostdeutschland kritisieren Mehrkosten, NordrheinWestfalen lobt den Abschluss“ – SZ Nr. 34 vom 11.02.2005, S. 4 u. 6; Björn Finke: „FöderalismusReform stößt auf Widerspruch – Beamte gegen Rückzug des Bundes aus der Besoldung/GEW rügt reine Länderhoheit in Bildungsfragen“ – SZ Nr. 258 vom 09.11.2005, S. 6; Michael Fröhlingsdorf u.

Cordula Meyer: „Lauter kleine Meuterer – Die Landesfürsten streiten über ihre künftige Rolle bei der Beamtenbesoldung – und könnten so die Föderalismusreform doch noch in Gefahr bringen“ – DER SPIEGEL Nr. 49/2005, S. 46; Joachium Käppner: „Arme Beamte, reiche Beamte – Kritik an zersplittertem Dienstrecht“ – SZ Nr. 54 vom 06.03.2006, S. 2; Michael Bauchmüller, Heidrun Graupner, Joachim Käppner, Heribert Prantl, Tanjev Schultz, Christoph Schwennicke: „Wachsende Zweifel an der Neuordnung der Beziehungen von Bund und Ländern – ‚Die Reform haut uns die Beine weg‘ – Der Föderalismus sollte von Grund auf besser werden, doch Kritiker fürchten, dass der geplante Umbau vieles schlechter macht. Vor allem in der SPD gärt es“ – SZ Nr. 65 vom 15./16.03.2006, S. 10 293 Zu einem zersplitterten öffentlichen Dienstrecht kritisch Joachim Käppner: „Das wankende Ungetüm – Wenn sich das Beamtentum nicht von sich aus reformiert, wird es seinen Status bald verlieren“ – SZ Nr. 39 vom 17.02.2004, S. 4; Reymer Klüver: „Sager sieht Chancen im FöderalismusStreit – Grünen-Fraktionschefin bescheinigt Kommission ‚konkrete und konstruktive‘ Arbeit“ – SZ Nr. 224 vom 27.09.2004, S. 5; Joachim Käppner: „Die Zukunft der Beamten“ u. „‘Ein Rückfall ins 19. Jahrhundert‘ – Schleswig-Holsteins Innenminister Ralf Stegner (SPD) will sich gegen eine Föderalismusreform zu Lasten der schwächeren Länder wehren“ – SZ Nr. 6 vom 09.01.2006, S. 4 u. 6. Im Bildungswesen siehe jetzt Tanjev Schultz: „Fünf = eins – Mehrere Bundesländer planen gemeinsames Abitur“ – SZ Nr. 285 vom 09.12.2010, S. 1 294 „Parlamentspräsidenten planen Sonderkonferenz“ – DER SPIEGEL Nr. 02/2005, S. 14 295 „Sicherheit – Funksalat beim Bund?“ – DER SPIEGEL Nr. 28/2004, S. 19; „Schily erwartet Einigung mit den Ländern“ u. Peter Lindner: „Digitaler Polizeifunk kommt erst nach 2006“ – SZ Nr. 155 vom 08.07.2004, S. 7 u. 6; Philip Grassmann: „Alleingang beim Polizeifunk – Schily will neues System vorerst ohne Länder einführen“ – SZ Nr. 35 vom 12./13.02.2005, S. 5; Annette Ramelsberger: „Gestörte Kommunikation – Schily und Bundesländer streiten über digitalen Polizeifunk“ u. „‘Wie in Albanien‘ – Siemens fordert einheitlichen digitalen Polizeifunk“ – SZ Nr. 60 vom 14.03.2005, S. 1 u. 22; „Schilys Risiken“ – DER SPIEGEL Nr. 12/2005, S. 22; Leserbrief Roland

92 nungshof geforderten Effizienz von Verfassungsschutz296 und Polizeibehörden oder an ein „Finanzministerium pocht auf Bundesfinanzamt“297 oder auch nur eine einheitliche Software für die Erhebung der Steuern.298 •

Besonders spektakulär wird es freilich – um ein anderes Beispiel zu nennen – , wenn ein Bundesland wie Bayern mit Nachdruck und ohne jegliche Scham eine eigene Vertretung bei der Europäischen Union in Brüssel beansprucht,299 obwohl nicht Bayern, sondern die Bundesrepublik Deutschland das EU-Mitglied ist, es hier also jetzt schon um eine Bundesangelegenheit geht?300

•

Ganz und gar abwegig ist es auch, für eine Reform im föderalistischen System auch noch strukturunabhängige „Bedingungen“ für sachgerechte Zugeständnisse der Länder zu formulieren wie die Absicherung des Solidarpaktes zugunsten der östlichen Bundesländer, und diese auch noch im Grundgesetz zu verankern, wo sie im Prinzip (als Ziel) schon drin stehen.301

Hinke unter „Das sieche Grundgesetz – Deutschlands Verfassung krankt am Föderalismus und an häufigen Wahlen – gegen diese Leiden gibt es jedoch ein Mittel“ – SZ Nr. 125 vom 03.06.2009, S. 31 296 „Leutheusser-Schnarrenberger vor dem Krisentreffen im Kanzleramt – Verfassungsschutz soll völlig umgebaut werden – Wegen ‚unfassbarer‘ Fehler bei der Terrorfahndung empfiehlt die Ministerin Zusammenlegung der 16 Behörden“ und „‘Aufklärung alleine wird nicht ausreichen‘ – Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger plädiert nach der Neonazi-Mordserie dafür, V-Leute bei der NPD abzuziehen“ – SZ Nr. 266 vom 18.11.2011, S.1 und 5; dagegen: „Wenig Verständnis für die Ministerin – Bundesländer lehnen eine Zusammenlegung ihrer Verfassungsschutzämter ab“ – SZ Nr. 266 vom 18.11.2011, S.5; der Bundesrechnungshof hatte seine Empfehlungen bereits 2007 in dem Gutachten „Modernisierung der Verwaltungsbeziehungen von Bund und Ländern“ veröffentlicht.

297 Finanzministerium pocht auf Bundesfinanzamt“ – SZ Nr. 156 vom 09.07.2004, S. 18; a. A. Michael Streck: „Der unausrottbare Irrtum, eine Steuerzentralverwaltung sei effizienter“ – NJWEditorial – NJW 44/2004, S. III 298 „Steuererhebung soll vereinheitlicht werden“ – SZ Nr. 157 vom 10./11.07.2004, S. 7; „Länder einig über Software für Steuern“ – HB Nr. 132 vom 12.07.2004, S. 4 299 „Föderalismus – Buhlen um Brüssel“ – DER SPIEGEL Nr. 41/2004, S. 19 300 Vgl. dazu auch Heribert Prantl u. Nico Fried: „SZ-Interview mit Ministerpräsident Peer Steinbrück: ‚Föderalismus taugt nicht für Europa‘ – SPD-Politiker beklagt ‚kakophonen Chor‘ Deutschlands in der EU/Kanzler Schröder will Länder-Mitsprache stärken“ u. Peer Steinbrück: „‘Einige Herren haben jedes Augenmaß verloren‘ – Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen fordert mehr Verantwortungsbewußtsein der Unternehmer und weniger Einfluss der Bundesländer in Brüssel“ – SZ Nr. 99 vom 30.04./01.05.2005, S. 1 u. 5; zu den umständlichen und meistens zu spät kommenden Entscheidungsstrukturen ebenso Bundesverfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt – vgl. dazu Heribert Prantl: „Säckeweise Kritik – Bei der großen Anhörung gibt es zwar ein vielstimmiges ‚Ja‘ der Experten, aber mit der Anmerkung ‚So nicht‘“ – SZ Nr. 123 vom 30.05.2006, S. 2; Heribert Prantl: „Der Herr, der 16 Namen hat – Das Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag muss den deutschen Föderalismus in Brüssel vereinfachen“ – SZ Nr. 157 vom 11./12.07.2009, S. 4 301 „Umgestaltung der föderalen Verfassung – Neue Hürde für Reform – Ostpolitiker: Den Solidarpakt im Grundgesetz verankern“ – SZ Nr. 291 vom 15.12.2004, S. 5; Philip Grassmann: „Solidarpakt

93

•

Und nun soll ohne erkennbaren sachlichen Grund zu guter letzt auch noch der Strafvollzug aufgesplittert werden.302 Hier wird der Föderalismus zum Selbstzweck, zum Träger von Posten und Pfründen für Politiker schlicht pervertiert, aber nicht mehr zum Wohle der Bürger genutzt.303

•

Ein weiteres Beispiel ist der wiederum einmal allein an Bayern gescheiterte Versuch der großen Koalition, ein bundeseinheitliches Umweltgesetz zu schaffen, weil die Umwelt nun einmal nicht an den bundesinternen Ländergrenzen Halt macht oder zu grundsätzlich unterschiedlichen Lösungen drängt.304

•

Nicht zuletzt bei den Bemühungen um ein generelles Rauchverbot in Deutschland hat sich der Föderalismus als anachronistisches Relikt längst vergangener Zeiten erwiesen. Das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg hat heftige Kritik am bisherigen Nichtraucherschutz in Deutschland geübt. Anstelle einer vollständig rauchfreien Gastronomie gebe es in den einzelnen Bundesländern schwer überschaubare Ausnahmeregelungen, obwohl nach in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts der Schutz vor dem Passivrauchen in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft als ein „überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“ bezeichnet wird.305 Der hessische Ministerpräsident Roland Koch meinte selbst als Repräsentant eines dieser Bundesländer: „Wo die Raucher in der Kneipe

kommt ins Grundgesetz – Ostministerpräsidenten setzen sich durch/Bundeskriminalamt erhält nun doch mehr Kompetenzen“ – SZ Nr. 293 vom 17.12.2004, S. 1 302 Heribert Prantl: „Große Sprünge mit leerem Beutel – Strafvollzug künftig Ländersache?“ – SZ Nr. 54 vom 06.03.2006, S. 2; „Wachsende Kritik an der Reform des Föderalismus – Thierse prangert politische Kleinstaaterei an – Auch die drei Oppositionsfraktionen verlangen Änderungen/Eklat im Bildungsausschuss“ – SZ Nr. 57 vom 09.03.2006, S. 5; Matthias Bartsch, Caroline Schmidt u. Markus Verbeet: „Wettlauf der Schäbigkeit – Jedes Bundesland soll künftig entscheiden dürfen, wie es seine Häftlinge behandelt – Experten warnen vor drohender Kleinstaaterei“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2006, S. 56; Heribert Prantl: „Wehe, wenn sie losgelassen – Warum die Länder beim Strafvollzug unbedingt ein Bundesgesetz als Leitlinie brauchen“ u. ders.: „Strafvollzug als Spielmateriel – Plan der Föderalismusreform, die Regelung der Gefängnisse den Ländern zu überlassen, stößt in Anhörung auf Kritik“ – SZ Nr. 114 vom 18.05.2006, S. 4 u. 6; Heribert Prantl: „Säckeweise Kritik – Bei der großen Anhörung gibt es zwar ein vielstimmiges ‚Ja‘ der Experten, aber mit der Anmerkung ‚So nicht‘“ – SZ Nr. 123 vom 30.05.2006, S. 2; „‘Zu befürchten sind Billiggefängnisse‘ – Professor Schwind zur Föderlismusreform und ihren Gefahren für den Strafvollzug“ – SZ Nr. 146 vom 28.06.2006, S. 5 303 Thomas Wieczorek: „Die verblödete Republik“, S. 45 ff. spricht vom „Mythos gmeinwohlorientierter Politiker“ 304 Stefan Braun: „Aus für Umweltgesetzbuch – Gabriel attestiert der Union ‚Dumpfen Reformunwillen‘“ und „Föderalismus schadet der Umwelt“ – SZ Nr. 26 vom 02.02.2009, S. 5 und 4 305 „Kritik an Raucherkneipen“ – SZ Nr. 282 vom 04.12.2008, S. 7

94

zur Kippe greifen dürfen, regelt jedes Bundesland nach eigenem Gusto.“ Was das Qualmen angeht, ist Deutschland ein Flickenteppich, bilanzierte Koch und forderte unter dem Beifall anderer Landespolitiker eine bundesweit einheitliche Regelung.

•

Warum sollte es für ausländische Investoren in Deutschland einladend sein, sich mit vielerlei wirtschafts- und arbeitsrechtlichen Bedingungen auseinandersetzen zu müssen?306 Warum sollten Lösungen zur Förderung schadstoffarmer Diesel-Autos und damit der allgemeinen Gesundheit schnell und wirksam zustandekommen, wenn sie erst einen unwürdigen Bund-LänderStreit über dessen finanzielle Förderung mit offenem Ausgang notwendig machen?307 Warum soll es für die Bürger, denen mehr und mehr Flexibilität und Mobilität abverlangt wird, nützlich sein, daß – wie es die Vorsitzenden der Landtagsfraktionen der CDU und CSU gefordert haben, „in Zukunft der gesamte Lebensbereich vom Kindergarten bis zur Habilitation Ländersache ist.“?308

Bei allen diesen föderalistischen Merkwürdigkeiten, Ungereimtheiten, ja Erschwerungen ist es nicht verwunderlich, daß sich längst auch maßgebliche Vertreter aus Politik und Wirtschaft teils abfällig, teils empört, zumindestens aber besorgt über den innerstrukturellen Zustand Deutschlands und seine mißlichen Folgen geäußert haben: Der ehemalige CDU-Spitzenpolitiker Lothar Späth meinte schon vor Jahren einmal, daß das Zusammenwirken von Bund und Ländern über den Deutschen Bundesrat inzwischen eine Form angenommen hat, die mit den Länderkonferenzen noch als eine weitere, dritte Institution die zunehmende Unregierbarkeit Deutschlands „sicherstellt.“309 Auch der Verfassungsrechtler Rupert Scholz beklagte ebenfalls schon vor langer Zeit die undurchschaubare Verfilzung der Gewalten im Staat und spottete über die rund 100 Bund-Länder-Gremien als „Fachbruderschaften“, die ohne Einsicht und Kontrolle des Parlaments ein eminentes 306

„Zypries legt Papier zum Föderalismus vor“ – SZ Nr. 245 vom 21.10.2004, S. 5 Wolfgang Roth: „Warnung: Föderalismus schadet der Gesundheit – Der unwürdige Bund-LänderStreit über die Förderung schadstoffarmer Diesel-Autos“ – SZ Nr. 28 vom 04.02.2005, S. 4 308 Kassian Stroh: „Union will für Länder mehr Kompetenzen“ – SZ Nr. 114 vom 18.05.2004, S. 6; „Bildung ist Ländersache“ – SZ Nr. 196 vom 25.08.2004, S. 6; Peter Fahrenholz: „‘Große Gefahr des Scheiterns‘ – CSU warnt Bundesregierung im Streit um Föderalismus“ – SZ Nr. 284 vom 07.12.2004, S. 6; kritisch dazu Bundesbildungsministerin Renate Schmidt in dem Interview: „Schwachstelle Betreuung“– SZ Nr. 35 vom 12./13.02.2005, S. 2 309 Lothar Späth, S. 24 ff. u. 61 ff. („Mehr Wettbewerb zwischen den Ländern – Wir sollten über Reformen unserer Verfassung nachdenken“); vgl. auch Rudolf Wassermann: „Droht Gesetzgebungsstillstand? – Zur Vetomacht des Bundesrats“ – NJW 05/2003, S. 331 ff. und Joachim Käppner: „Im Irrgarten des Föderalismus – Politik paradox: Der Bund regiert in die Länder hinein, und die mischen dafür kräftig in Berlin mit“ – SZ Nr. 177 vom 04.08.2003, S. 4 307

95 Maß an realem politischen Einfluß ausübten.310 Sinn des Bundesrates war es einmal vor allem, die spezifische Interessenlage und Sicht der Länder im Bund einzubringen, nicht aber immer nur den rollenunabhängigen Parteienaspekt zu wiederholen, der regelmäßig zu einer Pattsituation führt. Insbesondere Wirtschaftsminister Wolfgang Clement wollte daher schon hier etwas verändern.311 Auch der ehemalige Hamburger Bürgermeister und SPD-Mitglied Klaus v.

Dohnanyi kritisierte früh die verfassungspolitische Praxis des deutschen Föderalismus. Denn die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern seien mittlerweile so verflochten, daß sie der wesentliche Grund für die Unbeweglichkeit des Landes sind.312 Es herrsche – so sahen es auch der Politikwissenschaftler und Verfassungsrechtlicher Wilhelm Hennis zur Rolle der Bundesparteien und Länderministerpräsidenten in der Bundespolitik,313 aber auch der CDU-Vorsitzende NRW Jürgen Rüttgers314 sowie der ehemalige Haushaltsexperte der Grünen im Bundestag, Oswald Metzger315 – ein System komplex „organisierter Verantwortungslosigkeit“, wie das einmal speziell auch für die Zusammenarbeit der Politik mit den Selbstverwaltungseinrichtungen im Gesundheitswesen schon die frühere Gesundheitsministerin Andrea Fischer ausgedrückt hatte.316 Die ehemalige FDPPolitikerin Hildegard Hamm-Brücher stellte sogar die Frage, ob wir uns den „parteipolitisch instrumentalisierten und bürokratisch verkrusteten Föderalismus von sechzehn, teilweise bankrotten und nicht mehr lebensfähigen Duodez-

310 Rupert Scholz: „Deutschland – In guter Verfassung?“ – C. F. Müller Verlag Heidelberg 2004 und die Besprechung von Rolf Lamprecht: „Verfilzung der Gewalten – Für Rupert Scholz dirigieren ‚Fachbruderschaften‘ den Staat“ – SZ Nr. 295 vom 20.12.2004, S. 11 311 Vgl. „Arbeitsminister: Es gibt zu viele Blockaden – Clement will Kompetenzen des Bundesrats beschneiden“ – SZ Nr. 21 vom 27.01.2003, S. 8; Eva Engelken: „Föderalismusreform – Experten: Verschwendung von Steuergeldern – Bund drängt auf Neugliederung der Länder – Fusionen sollen leere Kassen auffüllen“ – HB Nr. 84 vom 02./03.05.2003, S. 4; vgl. dazu auch Hanno Kube: „Zehn Thesen für Demokratie und Reformfähigkeit in Deutschland“ – ZRP 02/2004, S. 52 ff.

312 Vgl. Detlef Esslinger: „Herzog mahnt mehr Föderalismus an“ – SZ Nr. 115 vom 19./20.05.2004, S. 7; Christoph Schwennicke: „So retten wir Deutschland – Die Zeit drängt, deshalb kurz und knapp: Ein Zwölf-Punkte-Plan mit dem Nötigsten“ – SZ Nr. 231 vom 06./07.10.2006 (SZ WOCHENENDE), S. I 313 Petra Bornhöft, Horand Knaup, Roland Nelles, Ralf Neukirch, Hartmut Palmer, Christian Reiermann u. Christoph Schult: „Aufbruch in die Blockade?“ – DER SPIEGEL Nr. 07/2003, S. 22 ff. (34) 314 Jürgen Rüttgers in dem Leserbrief – DER SPIEGEL Nr. 21/2003, S. 8; vgl. auch Thomas Darnstädt: „Das Prinzip Wettbewerb – Wie der deutsche Föderalismus zu reformieren wäre“ – DER SPIEGEL Nr. 21/2003, S. 52 ff. (53) 315 Oswald Metzger: „Einspruch! ..“, S.201 ff. (Kapitel: „Aktivierender Föderalismus oder organisierte Verantwortungslosigkeit“) den komplizierten Mischfinanzierungen in unserem Föderalismus.

316 Andreas Hoffmann: „Selbstverwaltung – klingt nur gut – Das System, wie Kassen und Ärzte Gesetze umsetzen, geht tatsächlich zu Lasten der Patienten“ – SZ Nr. 11 vom 15.01.2004, S. 4; ähnlich Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 136

96 Provinzen“ noch leisten können.317 Der Wirtschaftsjournalist Gabor Steingart vom SPIEGEL stellt in seinem Buch „Deutschland – Der Abstieg eines Superstars“ fest, daß Deutschland an dem „Systemfehler“ eines „Antiführerstaates“ leidet, der aus Angst vor der Neuauflage der Diktatur Deutschland zwar regierungsfähig, aber nicht reformfähig gemacht habe.318 Und die Kommunen und Landkreise, die überhaupt kaum mehr gefragt werden, sehen normalerweise ihre einzige Chance darin, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.319 Ausgehend von der grundgesetzlichen Vorgabe, daß der Föderalismus als solcher für den Gesetzgeber nicht in Frage stehen dürfe, forderten wie zuvor schon die deutsche Wirtschaft diverse „Reformer“ wie Oswald Metzger, Lothar Späth, aber auch der Staatsrechtler Dieter Grimm und der ehemalige FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff zumindest die Entflechtung und Dezentralisierung von Aufgaben, die keine Verfassungsänderungen nötig machten, und unter den Ländern einen speziellen Wettbewerbsföderalismus.320 Andere gingen über diese Reformansätze der bestehenden Struktur hinaus. Der Staatsrechtler und Journalist Thomas Darnstädt plädierte für eine „Generalüberholung“ des deutschen Grundgesetzes unter ökonomischem Vorzeichen,321 was im Ergebnis vielfach auf ähnliche Maßnahmen hinauslaufen könnte. Ähnlich äußerte sich der Historiker Paul Nolte322 und sein Kollege Heinrich August Winkler im Hinblick auf das sich entwickelnde Europa.323 Und auch BDI-Chef Michael Rogowski forderte

317

Hildegard Hamm-Brücher: „Reformstau in Sachen Demokratie“ – SZ Nr. 29. Vom 05.02.2003, S. 2; vgl. ähnlich Christian Kelders: „‘Wir sind schlechter als wir glauben‘ – Ulrich van Suntum über Reformen von Steuerrecht, Arbeitsmarkt und Föderalismus“ – SZ Nr. 160 vom 14.07.2005, S. 20 318 Gabor Steingart: „Deutschland – Abstieg eines Superstars“ – Piper Verlag 2004 und die Besprechung dazu von Dagmar Deckstein: „Politische Ökonomie des Stillstands“ – SZ Nr. 95 vom 24./25.04.2004, S. 28; ähnlich Christoph Schwennicke: „So retten wir Deutschland – Die Zeit drängt, deshalb kurz und knapp: Ein Zwölf-Punkte-Plan mit dem Nötigsten“ – SZ Nr. 231 vom 06./07.10.2006 (SZ WOCHENENDE), S. I 319 Joachim Käppner: „Der dritte Stand begehrt auf – Verfassungsklagen gegen Hartz IV: Wer nicht mitreden darf, zieht eben nach Karlsruhe“ – SZ Nr. 301 vom 28.12.2004, S. 4 320 Vgl.: Gerhard Cromme u.a..: „Deutschland aus den Problemen herausführen – Unternehmer zu den drängenden Fragen der Gegenwart“ – Initiative für Deutschland, S. 35; „Keine Aufbruchstimmung in Deutschland – Breuer wirft Schröder mangelnde Führung vor“ – HB Nr. 226 vom 22./23.11.2002, S. 6; „Deutsche-Bank-Chef fordert Neuordnung“ – SZ Nr. 13 vom 17.01.2003, S. 21; Dieter Grimm in dem Interview: „Kein Bedarf für eine Generalüberholung – Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm wünscht sich lediglich einzelne Änderungen des Grundgesetzes“ – SZ Nr. 118 vom 23.05.2003, S. 11; Otto Graf Lambsdorff in dem Interview: „Es wird zu wenig reformiert“ – DER SPIEGEL Nr. 46/2003, S. 30 ff. (32); „Ungeliebter Wettbewerb“ – SZ Nr. 128 vom 05./06.06.2004, S. 4 321 Thomas Darnstädt: „Das Prinzip Wettbewerb – Wie der deutsche Föderalismus zu reformieren wäre“ – DER SPIEGEL Nr. 21/2003, S. 52 ff.

322 Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 139 ff.

323 Zitiert nach Ulrich Schäfer: „Ganz ohne K-Wort – Peer Steinbrück wird im Amerikahaus die Show gestohlen“ – SZ Nr. 226 vom 30,09.2011, S. R 16

97 eine Verfassungsreform.324 Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, HansJürgen Papier, sah wenigstens Veränderungsnotwendigkeiten in einer verringernden Neugliederung und einer größeren finanziellen Eigenständigkeit der Bundesländer, sodann im Wahlrecht (Verlängerung der Wahlperiode auf 5 Jahre und Stärkung der Persönlichkeitswahl bis hin zum Mehrheitswahlrecht) und in dem Abbau der Zustimmungsrechte des Bundesrates.325 Vielleicht genügte hier an Stelle des Bundesrates sogar ein Senat, der weniger die Exekutive der jeweiligen Landesregierung repräsentiert, als das Landesparlament bzw. das Volk.326 Selbst eine Mehrheit von 90 Prozent der befragten deutschen Bürger forderte ebenso wie der Sachverständigenrat jedenfalls Verbesserungen in den bundesdeutschen Institutionen,327 auch wenn gerade dieses Thema ansonsten in der Öffentlichkeit nicht besonders präsent ist.328 Nicht zuletzt die Wirtschaft – so etwa Roland Berger, Vorsitzender der Roland Berger Strategy Consultants, und der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann – bemängelte die politischen Entscheidungsstrukturen in Deutschland, welche tiefgreifende Reformen eher behinderten als beförderten und zudem viel zu lange dauern.329 Der ehemalige BDI-Chef Michael Rogowski sah in dem aus der Bahn geratenen Zusammenspiel zwischen Bundesrat und Bundestag die Ursache für den Reformstau in Deutschland.330 Andere sprachen von „LaokoonFöderalismus“331 und davon, daß heute kaum noch feststellbar ist, wer wofür 324

„Rogowski fordert Verfassungsreform“ – SZ Nr. 165 vom 21.07.2003, S. 5 Vgl. dazu Helmut Kerscher: „Kritik am System der Bundesrepublik – Papier beklagt Stillstand der Politik – Verfassungsrichter: Bundesrat hat Blockade-Potential“ – SZ Nr. 114 vom 19.05.2003, S. 5; „Für Wahlperiode von fünf Jahren – Verfassungsrichter Papier will Bundestag stärken“ – SZ Nr. 300 vom 27.12.2004, S. 5; siehe auch Peter Blechschmidt: „FDP unterstützt Staatsreform – Liberale pochen auf Neuordnung der Finanzbeziehungen“ – SZ Nr. 259 vom 10.11.2005, S. 6 und Christoph Schwennicke: „So retten wir Deutschland – Die Zeit drängt, deshalb kurz und knapp: Ein ZwölfPunkte-Plan mit dem Nötigsten“ – SZ Nr. 231 vom 06./07.10.2006 (SZ WOCHENENDE), S. I 326 „Papier: Bundesrat durch einen Senat ersetzen“ – SZ Nr. 85 vom 13.04.2004, S. 7; ebenso Christoph Schwennicke: „So retten wir Deutschland – Die Zeit drängt, deshalb kurz und knapp: Ein Zwölf-Punkte-Plan mit dem Nötigsten“ – SZ Nr. 231 vom 06./07.10.2006 (SZ WOCHENENDE), S. I 327 Vgl. dazu die weltweit größte gesellschaftspolitische Online-Umfrage zusammen mit McKinsey, dem ZDF und dem Stern – T-Online „News“ vom 24.04.2003 sowie „Geringes Vertrauen zu Parteien und Kirchen“ – SZ Nr. 94 vom 24.04.2003, S. 5; ebenso Hans Tietmeyer: „Föderalismus bedeutet Wettbewerb – Unser Land droht im Reformstau zu ersticken. Die Aufgabenkompetenzen von Bund und Ländern sollten deshalb baldmöglichst weitgehend getrennt werden“ – HB Nr. 176 vom 12./13.09.2003, S. 9; Andreas Hoffmann u. Robert Jacobi: „Jahresgutachten des Sachverständigenrats – Heftige Kritik an Finanzpolitik der Regierung – ‚Leitbild der Gesetzgebung nicht erkennbar‘/Experten befürworten Reformpläne für Sozialversicherung und Arbeitsmarkt“ – SZ Nr. 261 vom 13.11.2003, S. 19 328 Detlef Esslinger: „Herzog mahnt mehr Föderalismus an“ – SZ Nr. 115 vom 19./20.05.2004, S. 7 329 Roland Berger: „Ein neuer Konvent für Deutschland“ – HB Nr. 246 vom 20./21.12.2002, S. 9 330 „Rogowski fordert Verfassungsreform“ – SZ Nr. 165 vom 21.07.2003, S. 5 331 Heribert Prantl: „Der Laokoon-Föderalismus“ – SZ Nr. 87 vom 15.04.2004, S. 4 325

98

verantwortlich und damit gegebenenfalls auch woran schuld sei. Heillos verschlungen seien die Zuständigkeiten, fast unentwirrbar das Ausgleichs-, Umlageund Umverteilungsunwesen.332 Alles vermischt sich mit allem. In der Tat: Die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten von Bund, Ländern und Gemeinden sind so verwirrend geregelt, daß auch die Bürger – das stellt auch der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt fest – nicht mehr wissen, wer wofür zuständig ist.333 Als später selbst die Föderalismus-Kommission mit ihren Vorschlägen gescheitert war, hatte sich erneut bestätigt: „Die Bürger wissen nun, dass in dieser Demokratie niemand das Sagen, aber jeder das Neinsagen hat.“334 Deutschland hat – so sah es der Göttinger Politiloge Franz Walter – „viel zu viele Vetomächte.“335 Das nennt sich in der Fachsprache ‚kooperativer Föderalismus‘ – ist aber in der Praxis Wirrwarr.“336

Vermeintliche und wirkliche Reformansätze Es gab erst lange nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes vereinzelte Versuche, die gröbsten Hindernisse des vorgegebenen ausgeprägten Föderalismus zu mindern, wenn schon die Existenz der Bundesländer nicht zu beseitigen war. So hatte Bundeskanzler Willy Brandt 1969 die Absicht verkündet, zumindest eine Neugliederung der Bundesländer in Angriff zu nehmen. Im Jahre 1972 hat sie sogenannte „Ernst-Kommission“ erste konkrete Vorschläge für die Zusammenfassung einzelner Bundesländer vorgelegt, weil die damalige Fassung des Art. 29 GG eine Neugliederung mit entsprechenden Volksentscheiden zwingend vorsah, wenn die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Auf332 Ähnlich Joachim Käppner: „Der Augiasstall des Föderalismus – Eine Bund-Länder-Kommission soll die Zuständigkeiten ordnen – eine herkulische Aufgabe“ – SZ Nr. 196 vom 27.08.2003, S. 4 und Manfred Erhardt: „Wider die Erstarrung der Hochschulen“ – SZ Nr. 49 vom 28./29.02.2004, S. 2 333 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 136 und S. 159 zu dem Fehler der 1969 geschaffenen „Gemeinschaftsaufgaben“ zwischen Bund und Ländern auf dem Sektor der Hochschulen, regionalen Wirtschaftsstrutktur, Agrarstruktur und des Küstenschutzes in Art. 91 a und 91 b GG. 334 Thomas Darnstädt, Konstantin von Hammerstein, Horand Knaup, Sven Röbel u. Christoph Schult: „Die Blamage – Reformwerk für den Papierkorb: Das Scheitern der Föderalismuskommission offenbart den Egoismus der politischen Klasse in Deutschland. Ausgerechnet jener BlockadeMechanismus, den die Parteichefs Stoiber und Müntefering abschaffen wollten, brachte die ‚Mutter aller Reformen‘ zu Fall“ – DER SPIEGEL Nr. 52/2004, S. 22 ff. (23) 335 Franz Walter: „Viel zu viele Vetomächte – Dieses Land verlangt nach aufbruch und nach Konsens zugleich: Also bedarf es einer großen Koalition“ – SZ Nr. 165 vom 20.07.2005, S. 11 336 Heribert Prantl: „Ein Märchen aus uralten Zeiten – Warum sich Vertreter der deutschen Landtage zum ersten ‚Föderalismuskonvent‘ getroffen haben“ – SZ Nr. 76 vom 01.04.2003, S. 4; Otto Graf Lambsdorff – Leserzuschrift in DER SPIEGEL Nr. 21/2003, S. 8; Stefan Brink: „Unreformierter Föderalismus“ – ZRP 02/2005, S. 60 ff.; Christoph Schwennicke: „So retten wir Deutschland – Die Zeit drängt, deshalb kurz und knapp: Ein Zwölf-Punkte-Plan mit dem Nötigsten“ – SZ Nr. 231 vom 06./07.10.2006 (SZ WOCHENENDE), S. I

99 gaben nicht wirksam erfüllen können.337 Vor diesem grundgesetzlichen Hintergrund der „Bedrohung“ der Existenz vieler Politiker wurde die zwingende Bestimmung des Grundgesetzes in eine „Kann“-Bestimmung geändert, wobei die Neugliederung zugleich reine Ländersache (Fusion) wurde. Damit hatten die Politiker ihr persönliches Wohl vor das des Landes und des Volkes gestellt.338 Zu solchen Fusionen ist es nämlich bisher nicht gekommen.

Damit war aber nach uneingeschränkt hohem Lob des Grundgesetzes immerhin eine offene Diskussion über die strukturell-organisatorischen Tauglichkeit unserer Staatsverfassung in Zeiten schneller Veränderungsnotwendigkeiten eingeleitet worden, zumal man nun eine Reihe von „Konstruktionsfehlern“ zu entdecken glaubte, die sich als Blockade der dringend notwendigen Reformen in Politik und Gesellschaft erwiesen, und die angeblich längst (?) von vielen Kennern und auch Staatsrechtlern kritisch gesehen würden.339 Es schien zunächst, als ob sich fast fast alle einig darin waren, wie es wirklich um die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland und ihre Reform- und Entscheidungsfähigkeit bestellt war. Ähnlich erfolglos verhielt es sich sodann mit weiteren „Maßnahmen zur Reform der föderalen Strukturen“, die als notwendig erkannt worden waren, um die vertrackte Situation für die Zukunft zu ändern. Die CDU arbeitete zwar bereits an einer „radikalen Reform des Grundgesetzes“, um den Wettbewerb unter den Ländern auch durch Ausweitung der föderalen Zuständigkeiten und unter Einschränkung der Macht des Bundesrates zu fördern.340 Auch plante Bundesjustizministerin Brigitte Zypries zumindest eine „Modernisierung“ der bundesstaatlichen Ordnung. Neben einer grundsätzlichen Neuordnung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern sollte die Rahmengesetzgebung (Art. 75 GG) durch den Bund wegfallen und teilweise in die konkurrierende Gesetzgebung bzw. ausschließliche Gesetzgebung des Bundes übergehen. Außerdem sollten die Zu337 Vgl. Hermann Funke: „Staatsstreich der Länder – Warum Deutschlands Kleinstaaterei sich hartnäckig hält“ – SZ Nr. 50 vom 02.03.2009, S. 33; ebenso eine Entscheidung des BVerfG von 1961.

338 Vgl. Hermann Funke: „Staatsstreich der Länder – Warum Deutschlands Kleinstaaterei sich hartnäckig hält“ – SZ Nr. 50 vom 02.03.2009, S. 33.

339 Siehe dazu den Staatsrechtler Thomas Darnstädt u. Michael Kloth: „Die Konsensfalle“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2003, S. 34 ff. mit einer Auflistung von zahlreichen „Reformideen“ (S. 37); Thomas Darnstädt: „Die enthauptete Republik – Warum die Verfassung nicht mehr funktioniert“ – ebenda, S. 38 ff.; Peter M. Huber: „Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen?“ − Gutachten D zum 65. Deutschen Juristentag Bonn 2004; Heribert Prantl: „Die deutsche Verfassung ist heute 54 Jahre alt: Was reformiert werden könnte – und was bleiben muss – Das Grundgesetz, der Sündenbock – Das jahrzehntelang gelobte rechtliche Fundament des Staates soll auf einmal schuld sein am Reformstau in Deutschland“ – SZ Nr. 118 vom 23.05.2003, S. 11; Heribert Prantl: „Der Laokoon-Föderalismus“ – SZ Nr. 87 vom 15.04.2004, S. 4; Detlef Esslinger: „Herzog mahnt mehr Föderalismus an“ – SZ Nr. 115 vom 19./20.05.2004, S. 7 340 In Erinnerung an Jalta Henrik Müller: „Zerschlagt die BRD! – Reformstau: Der deutsche Föderalismus passt nicht in eine globalisierte Welt. Und es kommt noch schlimmer: Die EU entwickelt sich zur Super-BRD“ – mm 05/2002, S. 58; „Grundgesetz – Radikale Reformvorschläge“ – DER SPIEGEL Nr. 25/2003, S. 18

100

stimmungserfordernisse des Bundesrates bei Verwaltungsvorschriften und auch die Zustimmung der Länder im Gesetzgebungsverfahren klarer geregelt werden.

Nicht zuletzt sollten die Abstimmungsregeln im Bundesrat zugunsten einer relativen Mehrheit verändert werden. Selbst Bundespräsident Johannes Rau hatte als kundiger ehemaliger Ministerpräsident schon entsprechende Vorschläge gemacht.341 Man durfte gespannt sein, ob und wann es der Bundesregierung gelingen würde, die dahingehenden, von ihr geplanten Änderungen in Kraft treten zu lassen,342 nachdem das Jahr 2003 dafür bereits verloren war. Denn viel zu lange war alles dieses nicht Gegenstand der systematischen und intensiven parteilichen Arbeit, geschweige denn der erklärten und noch auf andere Einzelfragen beschränkten Reformpolitik des Bundeskanzlers.

Die schon mehrfach vergeblich ins Auge gefaßte und auch von Bundesfinanzminister Hans Eichel geforderte Zusammenfassung bzw. Neuordnung einzelner Bundesländer343 ihrerseits gehört zu den Strukturveränderungen, die wirklich dazu beitragen könnten, daß so wirklich potente und auch finanziell handlungsfähige sowie wirtschaftlich idealere Größenordnungen entstehen. Wie eine Befragung ergab, würden 50 Prozent der Befragten eine Verringerung der Bundesländer für „prinzipiell richtig“ halten und nur 42 Prozent ablehnen.344 Selbst in dem weitaus zentralistischer gegliederten Frankreich ist unter den dortigen Parteien unstrittig, daß es auch hier einer territorialen Neuordnung der bisherigen Regionen im Lande – also einer Verringerung von bisher 22 auf künftig fünfzehn oder wenig mehr bedarf.345 Die Reduzierung der bislang 16 Bundesländer auf 341 Vgl. dazu Heribert Prantl: „Ein Märchen aus uralten Zeiten – Warum sich Vertreter der deutschen Landtage zum ersten ‚Föderalismuskonvent‘ getroffen haben“ und Arne Boecker: „Im Wettbewerb mit der EU und dem Bund – Länder wollen Kompetenz-Verlust verhindern“ – SZ Nr. 76 vom 01.04.2003, S. 4 und 7; ebenso Joachim Käppner: „Im Irrgarten des Föderalismus – Politik paradox: Der Bund regiert in die Länder hinein, und die mischen dafür kräftig in Berlin mit“ – SZ Nr. 177 vom 04.08.2003, S. 4 342 Vgl. „Bundesjustizministerin will Reform der föderalen Strukturen“ – NJW 21/2003, S. X 343 Siehe dazu Ralf Husemann: „Die stolze Patchworkfamilie – Vorschläge für Fusionen scheitern am Überlebenswillen der Länder“ – SZ Nr. 158 vom 12./13.07.2003, S. 9; Ulrich Schäfer: „Grundsatzrede in der Berliner Humboldt-Universität – Eichel zeigt Sympathie für Steuer-Vorschlag von Merz – Finanzminister fordert außerdem Verzicht auf einige Urlaubs- oder Feiertage und Fusion von Bundesländern“ – SZ Nr. 255 vom 06.11.2003, S. 6; Oswald u. Ulrich Schäfer: „Arm und allein – Eichel zweifelt an Existenzrecht finanzschwacher Bundesländer“ – SZ Nr. 78 vom 06.04.2005, S. 1; Sven Afhüppe: „In der Fusionsfalle – Finanzminister Eichel will mit einer Neuordnung der Bundesländer Milliarden sparen – ein Trugschluss“ – DER SPIEGEL Nr. 15/2005, S. 27; siehe auch „CDU empört über Gutachten – Experte regt Abschaffung des Stadtstaats Bremen an“ – SZ Nr. 274 vom 28.11.2005, S. 6; Thomas Darnstädt: „Untot in die Pleite – Die reichen Länder wollen finanziell nicht länger für die klammen und hochverschuldeten Regionen in Haftung genommen werden – sie denken immer lauter über eine Neuordnung des bundes nach“ – DER SPIEGEL Nr. 22/2006, S. 44 ff.

344 NFO-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL v. 22.-24. April 2003 – DER SPIEGEL Nr. 18/2003, S. 22 345 Gerd Kröncke: „Neuer Schnitt für Frankreich – Paris plant einen Umbau der Regionen – doch von dort gibt es heftigen Widerstand“ – SZ Nr. 54 vom 06.03.2009, S. 7

101

etwa 8-10, für die sich auch bereits mehrere Politiker aller Parteien ausgesprochen haben, würde „in erheblichem Maße ...Verwaltungskosten sparen“ und wäre mehr noch für die zügige und flexible politische Entscheidungsfindung in Deutschland eine anzustrebende Zielmarke,346 auch wenn es historisch gewachsene Identitäten gibt,347 die derzeit kaum zu überwinden sind,348 deren Schwerpunkte sich aber auch auf die Gemeinden verlagern könnte. Bereits jetzt werden einzelne Landesbehörden wie Landesbanken, Statistik- und Eichämter sowie Datenzentralen in Hamburg und Schleswig-Holstein zusammengelegt, um wirtschaftliche Vorteile zu erzielen.349 Ein Beitrag dazu ist auch die Kommunalreform, bei der in Brandenburg 1500 Gemeinden zu nur noch 500 neuen Großgemeinden zusammengelegt werden, wobei mit Verwaltungseinsparungen in Millionenhöhe gerechnet wird, die Verwaltungsreform in MecklenburgVorpommern350 sowie die geplante Verwaltungsreform in Nordrhein-Westfalen zur Reduzierung der Regierungsbezirke von fünf auf nur noch drei.351 Auch in Bayern gibt es entsprechende Ansätze.352 Bund und Länder sollten ihre Aufgaben wenigstens entzerren und zu wirklich alternativen Zuständigkeiten finden,353 so daß Bund und Länder in ihren jeweiligen Aufgabengebieten möglichst effizient, jeweils eigenständig und damit auch klar und schnell zu Entscheidungen kommen können. Das zeigt sich nirgendwo 346

Vgl. dazu „Kurt Beck für Fusion mit dem Saarland“ – SZ Nr. 16 vom 21.01.2003, S. 7; Länder sollen zusammengelegt werden – NJW 07/2003, S. X; Jörn Axel Kämmerer: „Alle Jahre wieder: Die Länderneugliederungs-Debatte“ – NJW-Editorial 08/2003, S. III; Eva Engelken: „Föderalismusreform – Experten: Verschwendung von Steuergeldern – Bund drängt auf Neugliederung der Länder – Fusionen sollen leere Kassen auffüllen“ – HB Nr. 84 vom 02./03.05.2003, S. 4; Sven Afhüppe: „In der Fusionsfalle – Finanzminister Eichel will mit einer Neuordnung der Bundesländer Milliarden sparen – ein Trugschluss“ – DER SPIEGEL Nr. 15/2005, S. 27 347 Zögerlich für zu einer Änderung deshalb Dieter Grimm in dem Interview: „Kein Bedarf für eine Generalüberholung – Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm wünscht sich lediglich einzelne Änderungen des Grundgesetzes“ – SZ Nr. 118 vom 23.05.2003, S. 11; ähnlich auch Joachim Käppner: „Im Irrgarten des Föderalismus – Politik paradox: Der Bund regiert in die Länder hinein, und die mischen dafür kräftig in Berlin mit“ – SZ Nr. 177 vom 04.08.2003, S. 4 348 Susanne Höll: „Platzeck für Länderfusionen – Ministerpräsidenten lehnen Vorschläge überwiegend ab“ – SZ Nr. 295 vom 23.12.2003, S. 6 349 „Bundesländer legen Behörden zusammen“ – SZ Nr. 29 vom 05.02.2003, S. 7 350 „Brandenburger Landtag billigt Kommunalreform“ – SZ Nr. 281 vom 05.12.2002, S. 5; Arne Boecker: „Knoten in der Koalition – Der Streit um die Verwaltungsreform in MecklenburgVorpommern belastet die rot-rote Regierung“ – SZ Nr. 253 vom 04.11.2003, S. 7; „SPD und PDS uneins über Verwaltungsreform“ – SZ Nr. 62 vom 15.03.2004, S. 5; Arne Boecker: „Zank über Zahl der Kreise – Verwaltungsreform in Mecklenburg-Vorpommern noch vage“ – SZ Nr. 117 vom 22./23.05.2004, S. 6 351 „Fortschritte in NRW bei Verwaltungsreform“ – SZ Nr. 173 vom 30.07.2003, S. 9 352 Peter Fahrenholz: „Oberstes Landesgericht zur Auflösung verurteilt – Ministerrat beschließt die ersten Schritte für die Verwaltungsreform und spart damit zehn Millionen Euro ein“ – SZ Nr. 290 vom 17.12.2003, S. 39 353 Peter M. Huber: „Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen?“ − Gutachten D zum 65. Deutschen Juristentag Bonn 2004

102

eindrucksvoller als in dem zunehmenden und voller Widersprüche gehaltenen Sonderweg Bayerns durch seinen neuen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, der nicht nur ein Bundesland repräsentiert, sondern darüber hinaus auch noch eine eigene, vorwiegend auf regionale Interessen bedachte Partei wie die CSU.354 Das Bundesjustizministerium ist demgemäß auch vom Bundeskanzler beauftragt worden, ein Konzept zur Föderalismusreform zu erarbeiten. Es sollte u.a. den Einfluß der Bundesländer im bzw. über den Bundesrat begrenzen. Auch die Rahmengesetzgebung des Bundes sollte in der bisherigen Form aufgelöst und in die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes oder in die konkurrierende Gesetzgebung überführt werden.355 Im übrigen sollte alles einmal aufgenommen und gemäß dem Auftrag des Bundeskanzlers in der „Verfassungskommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ bzw. „Kommission zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung“ (kurz „Föderalismus-Kommission“) unter der gemeinsamen Leitung von SPD-Fraktionschef Franz Müntefering und CSU-Chef Edmund Stoiber gebündelt werden, so daß endlich Bewegung in eine bislang zähe Debatte zu kommen schien,356 nachdem schon die leidige Frage der richtigen Besetzung dieser Kommission nur mühsam geklärt worden war.357 354

Kassian Stroh: „Gesundheitsfonds, Mehrwertsteuer, Eigenheimzulage – Das Sein bestimmt das Bewußtsein – CSU-Chef Seehofer und seine Art der Politik: Ein Mann spricht, verspricht und widerspricht – sich selbst“ – SZ Nr. 75 vom 31.03.2009, S. 33 355 Vgl. dazu „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ – ZRP 06/2003, S. 222 356 Horand Knaup: „Aktion Staub raus – Endlich kommt Bewegung in eine zähe Debatte: Die Parteien wollen den deutschen Bundesstaat reformieren. Eine Kommission soll darüber beraten, wie Bund und Länder ihre Aufgaben besser verteilen können. Schon in zwei Jahren könnte das Grundgesetz modernisiert sein“ – DER SPIEGEL Nr. 31/2003, S. 34 ff.; „Länder für Konvent zur FöderalismusReform – Parteiübergreifende Kommission soll vor allem Finanzen und Gesetzgebung neu regeln“ – SZ Nr. 176 vom 02./03.08.2003, S. 6; Heribert Prantl: „Außen perfekt, innen defekt – Gerupft, geplündert, umgebracht: Nun beginnen die Reparaturarbeiten am deutschen Föderalismus“, Peter Müller in dem Interview: „Davon profitiert das ganze Land“ sowie Constanze von Bullion: „Die geplante Ehe scheiterte an der Aussteuer – Rund 67 Milliarden Euro Schulden und etliche Ressentiments verhindern eine Fusion der Länder Berlin und Brandenburg“ – SZ Nr. 235 vom 13.10.2003, S. 2; siehe dazu auch das Interview mit Edmund Stoiber: „Wir müssen alle beweglicher werden – Edmund Stoiber zum künftigen Verhältnis von Bund und Ländern sowie zum Streit in der Union um die Sozialreformen“ – SZ Nr. 240 vom 18./19.10.2003, S. 2; „Einsetzung einer gemeinsamen Föderalismuskommission beschlossen“ – NJW45/2003, S. XII; Donata Riedel: „Stoiber bietet dem Bund Rückzug der Länder bei Gesetzgebung an – Föderalismuskomission tritt heute erstmals zusammen“ und dies.: „Deutschlands Chance“ – HB Nr. 215 vom 07./08.11.2003, S. 4 und 9; „Staatsaufbau wird moderner – Föderalismuskommission beginnt mit Beratungen“ – SZ Nr. 257 vom 08./09.11.2003, S. 6; „Föderalismuskommission arbeitet am Umbau des Bundesstaates“ – ZRP 12/2003, S. 477; Heinrich Wilms: „Klarere Verantwortungsregelung von Bund, Ländern und Kommunen“ – ZRP 05/2004, S. 150 ff.

357 „Streit über Teilnahme an Föderalismus-Reform“ – SZ Nr. 177 vom 04.08.2003, S. 6; Susanne Höll: „SPD und Union setzen ihre Vorstellungen durch – Kommission bereitet Föderalismus-Reform vor – Grüne und FDP mit Vorschlag eines großen Konvents gescheitert/Je 16 Vertreter aus Bundestag und Bundesrat“ – SZ Nr. 196 vom 27.08.2003, S. 5; „Stoiber Ko-Chef der Föderalismus-Runde“ – SZ Nr. 225 vom 30.09.2003, S. 2

103

Die Erwartungen an die später eingesetzte sogen. „Föderalismus-Kommission“ waren nach dieser langen vergeblichen Zeit einerseits sehr groß358 − hier sollte „Tempo gemacht“ werden.359 Sie waren andererseits aber wiederum nur eingeschränkt begründet, wie sich schnell zeigte.360 Während man sich über eine Entzerrung in der Gesetzgebung noch einig war – Bundesratspräsident Althaus wollte von den 60 Prozent zustimmungspflichtiger Gesetze auf mindestens 30 bis 40 Prozent herunterkommen,361 begann das eigentliche Problem bei der nicht geklärten Frage, nach welchen Gesichtspunkten und Kriterien die Zuständigkeiten nun konkret zu verteilen sind, um den wahren Erforderlichkeiten besser als bisher gerecht zu werden. Es herrschte viel Unklarheit und erneut die allzu bekannte abstrakte Ideologie, hinter der sich mehr Machtdenken als das eigentliche Ziel eines besseren Funktionierens unseres Staatswesen im Interesse seiner

358 Susanne Höll: „Große Erwartungen an Föderalismusreform“ – SZ Nr. 239 vom 17.10.2003, S. 4; Reymer Klüver: „Sager sieht Chancen im Föderalismus-Streit – Grünen-Fraktionschefin bescheinigt Kommission ‚konkrete und konstruktive‘ Arbeit“ – SZ Nr. 224 vom 27.09.2004, S. 5 359 „Tempo bei der Staatsreform“ – SZ Nr. 294 vom 22.12.2003, S. 6; „Fortschritte bei Reform des Föderalismus“ – SZ Nr. 19 vom 24./25.01.2004, S. 5; Thomas Darnstädt: „‘Da bewegt sich was‘ – Bund und Länder suchen Kompromisse, um Zuständigkeiten und Mitspracherechte neu zu verteilen.

In der Kommission zur Föderalismusreform zeichnet sich ein Deal ab: mehr regionale Verantwortung gegen mehr Handlungsfreiheit für Berlin“ – DER SPIEGEL Nr. 14/2004, S. 38 ff.

360 höl: „Sperriger Föderalismus“ – SZ Nr. 295 vom 23.12.2003, S. 4; Susanne Höll: „Länder wollen mehr Rechte – Konferenz berät über Reform des Föderalismus“ – SZ Nr. 104 vom 06.05.2004, S. 6; Peer Steinbrück in dem Interview: „‘Die Debatte wird wiederum im kleinsten Karo landen‘ – Nordrhein-Westfalens Regierungschef äußert sich verhalten über die Erfolgsaussichten der Föderalismuskommission“ – SZ Nr. 200 vom 30.08.2004, S. 5; „‘Föderalismusreform steht auf der Kippe‘“– SZ Nr. 228 vom 01.10.2004, S. 6; Philip Grassmann: „‘Regierbarkeit ist das Ziel‘ – Bund fordert Kompromisse bei Föderalismuskommission“ – SZ Nr. 239 vom 14.10.2004, S. 6; Heribert Prantl: „Der Föderalismus – Die Reformer stehen vor dem gordischen Knoten der Bund-Länder-Verflechtungen – ohne Erwin Teufel wird es keine Lösung geben“ – SZ Nr. 261 vom 10.11.2004, S. 6; Philip Grassmann: „Föderalismus-Streit dauert trotz neuer Vorschläge an – Justizministerin Zypries empfiehlt klare Trennung der Zuständigkeiten/Länder sollen Beamtenbesoldung allein regeln“ – SZ Nr. 262 vom 11.11.2004, S. 5; Ralf Beste, Petra Bornhöft u. Horand Knaup: „‘Kann ich nicht zulassen‘ – Die Föderalismuskommission will im Dezember einen Vorschlag vorlegen. Doch die erhoffte Einigung wird durch Differenzen zwischen dem Kanzler und SPD-Chef Müntefering erschwert“ – DER SPIEGEL Nr. 44/2004, S. 44 ff.; „Föderalismusreform vertagt“ – SZ Nr. 118 vom 25./26.05.2005, S. 5; Heribert Prantl: „‘Katastrophe und offensichtlicher Unfug‘ – Experten attackieren FöderalismusReform – Bei der Anhörung im Bundestag fordern Staats- und Verfassungsrechtler das Gesetzespaket aufzuschnüren“ u. ders.: „Noch mehr Blockade – Föderalismusreform: Experten zweifeln am Erfolg“ – SZ Nr. 112 vom 16.05.2006, S. 1 u. 6; Heribert Prantl: „Die Ja-aber-Reform – Föderalismus als Deutschland-Puzzle – an jedem Tag der Sachverständigen-Anhörung werden Teile aussortiert“ – SZ Nr. 113 vom 17.05.2006, S. 6; Matthias Bartsch, Caroline Schmidt u. Markus Verbeet: „Wettlauf der Schäbigkeit – Jedes Bundesland soll künftig entscheiden dürfen, wie es seine Häftlinge behandelt – Experten warnen vor drohender Kleinstaaterei“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2006, S. 56 361 „Bundesratspräsident will Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze verringern“ – NJW 19/2004, S. XIV

104 Staatsbürger verbarg. So hatte trotz vieler nützlicher Vorschläge und Ideen362 die Anfangseuphorie bei der Föderalismus-Kommission schnell wieder nachgelassen und große Ernüchterung war an ihre Stelle getreten. Der Fortgang der Dinge litt just an den Struktur- und Entscheidungsproblemen, die besser zu lösen sich die Kommission zur Aufgabe gemacht hatte.363 Dennoch hätten die Aufgabengebiete Forschung und Bildungspolitik ein erster Prüfstein für die Ernsthaftigkeit um die Sache sein können.364 Das schließt etwa im Bildungbereich ein, einheitliche, überordnete Lernziele für ganz Deutschland zu haben. Alles andere, vor allem das „Wie“ der Zielerreichung sollte der nachgeordneten Gestaltungsfreiheit überlassen bleiben – nicht von künstlich dazwischengeschalteten Bundesländern, sondern unmittelbar der insoweit bestehenden Autonomie von Hochschulen und Schulen.365 So verbindet sich Leistungswett362 Heribert Prantl u. Peter Fahrenholz: „Föderalismus-Kommission beendet ihre Arbeit – ‚Die größte Baustelle meines Lebens‘ – CSU-Chef einigt sich mit Müntefering auf gemeinsamen Vorschlag“ u.

Heribert Prantl: „Die Mutter aller Reformen – Deutschland steht vor einer Neuorganisation der Bundesrepublik“ – SZ Nr. 289 vom 13.12.2004, S. 1 u. 4; Philip Grassmann: „Trotz grundsätzlicher Übereinstimmung – Letzte Hürden bei Reform des Föderalismus – In den Bereichen innere Sicherheit, Umwelt und Bildung sperren sich die Länder gegen Zugeständnisse an den Bund“ – SZ Nr. 290 vom 14.12.2004, S. 1 363 Heribert Prantl: „Deutschland ist wie ein toter Vulkan – Modernisierung des Bundesstaates: Die Anfangseuphorie ist verflogen, Bund und Länder führen einen zähen Stellungskrieg“ u. Alois Glück in den Interview: „‘Es wird klappen, weil der Leidensdruck so groß ist‘ – Alois Glück, der Präsident des Bayerischen Landtags, ist bei der Neuordnung des föderalen Systems optimistisch – und sieht vor allem den Bund in der Pflicht“ – SZ Nr. 155 vom 08.07.2004, S. 2; „Stoiber und Müntefering dringen auf Staatsreform“ – SZ Nr. 156 vom 09.07.2004, S. 6; Philip Grassmann: „Wenig Fortschritt in der Föderalismuskommission – Bund und Länder ringen um Kompetenzen – Erstes Reformkonzept soll im Dezember vorliegen/Bisher nur Einigkeit über Beamtenrecht“ – SZ Nr. 240 vom 15.10.2004, S. 1; Reymer Klüver: „Fingerhakeln ums große Ganze – Die Grünen mahnen die Bundesländer, den Erfolg der Föderalismuskommission nicht zu gefährden“ – SZ Nr. 247 vom 23./24.10.2004, S. 10; Thomas Darnstädt, Konstantin von Hammerstein, Horand Knaup, Sven Röbel u. Christoph Schult: „Die Blamage – Reformwerk für den Papierkorb: Das Scheitern der Föderalismuskommission offenbart den Egoismus der politischen Klasse in Deutschland. Ausgerechnet jener BlockadeMechanismus, den die Parteichefs Stoiber und Müntefering abschaffen wollten, brachte die ‚Mutter aller Reformen‘ zu Fall“ – DER SPIEGEL Nr. 52/2004, S. 22 ff.

364 Zweifel daran hat Jeanne Rubner: „Leuchttürme der Forschung“ – SZ Nr. 46 vom 25.02.2004, S. 4; Jeanne Rubner: „Mühsame Entflechtung – Streit um Bildungskompetenzen“ – SZ Nr. 155 vom 08.07.2004, S. 2; Jeanne Rubner: „Freiheit durch zwei Bosse – Wettbewerb der Länder gegen Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse: Über die Zukunft des Föderalismus in der Bildung“ – SZ Nr. 271 vom 22.11.2004, S. 9; Philip Grassmann u. Annette Ramelsberger: „SPD will Bildungspolitik aus Sackgasse holen – Kompromissangebot für Föderalismus-Kommission/Kleine Lösung für das BKA“ – SZ Nr. 275 vom 26.11.2004, S. 6; Philip Grassmann: „Bildungs- und Umweltpolitik belasten Föderalismusreform – SPD-Chef Müntefering ruft Bund und Länder zu mehr Kompromissbereitschaft auf/Einigung in Sichtweite“ – SZ Nr. 285 vom 08.12.2004, S. 6; Heribert Prantl: „Konsens+Konsens+Konsens+Dissens=Dissens – Warum die Neu-Organisation der Bundesrepublik vorerst gescheitert ist, aber nicht scheitern darf“ – SZ Nr. 294 vom 18./19.12.2004, S. 1 u. 4 365 Vgl. dazu auch Elisabeth Dostert: „Der Stoiff, aus dem die Zukunft ist – Bildung schafft wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand. Mehr Wettbewerb auch zwischen Schulen kann das Niveau heben“ – SZ Nr. 285 vom 09.12.2010, S. 18

105

bewerb mit den entsprechenden Anreizen zur Eigengestaltung. Sollte es aus Eitelkeit oder persönlichen Machtgelüsten einzelner nicht möglich sein, eine Hochschule sachgerecht und allen Beteiligten gegenüber fair zu managen,366 so muß eine entsprechende gesetzliche Hochschulverfassung die angemessenen Spielregeln dafür zwingend und justiziabel festlegen. Dahinter verbirgt sich in der Sache schon und bewußt ein hohes Maß von länderübergreifender „Einheitlichkeit“, die zumindest in vielen Bereichen wächst und deren Notwendigkeit immer weniger bestritten werden kann..

Wenn also die übergeordneten bildungspolitischen Leitlinien und Bildungsstandards beim Bund lägen, im übrigen die Schulen und Hochschulen selbst genügend große Freiräume bekommen hätten, nach dem besten Weg zur Erreichung der Ziele zu suchen und so auch qualitativ (als öffentliche Einrichtungen nicht unbedingt auch wirtschaftlich) untereinander zu konkurrieren,367 bedarf es keiner Länderzuständigkeiten und des Aufwandes bisheriger Art mehr. Es ist nicht ersichtlich, warum das strikte Festhalten an der Länderkompetenz gerade für Bildung und Forschung in der bisherigen Art unabdingbar ist, es sei denn – siehe als Beispiel die Rückwärtstendenz von einem Hochschulfreiheitsgesetz zu einem Hochschulzukunftsgesetz in der rot-grünen Landesregierung von Nordrhein-Westfalen – wegen des unsachlichen und eigennützigen Aspekts der Länder zur eigenen Existenzsicherung, wonach die Länder – wie der Mainzer Wissenschaftsminister Jürgen Zöllner feststellte368 – dann nur noch bessere Regierungspräsidien sein würden.

Als es schließlich Anfang 2009 darum ging, ein zweites Konjunkturprogramm aufzulegen, um die zu erwartenden Folgen der Weltfinanzkrise auf die Realwirtschaft abzumildern, schien sich der „Föderalismus derzeitiger Ausblühung“ vollends selbst diskreditiert zu haben. Eine Stimme des Volkes erkannte: „Sechzehn Ministerpräsidenten, sicher pfründend auf dem tradierten Regionalstolz ihrer Bürger, halten gierig die Hand auf für ihren Teil der Bundesrepublik, wollen zum Ganzen jedoch so wenig wie möglich selbst beitragen. Analog zum 366

Vgl. Stefan Kühl: „Die neue Macht der Präsidien und Rektorate – Der Mythos der ‚autonomen Hochschule‘ verdeckt, wer in den Universitäten faktisch das Sagen hat“ – SZ Nr. 234 vom 11.10.2011, S. 11 367 Dafür plädiert Horst Siebert, ehemaliger Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel: „Der Investitionsmotor stottert“ – HB Nr. 99 vom 23./24.05.2003, S. 9; Elisabeth Dostert in ihrem Bericht über Münchner Seminare: „Der Stoff, aus dem die Zukunft ist – Bildung schafft wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand. Mehr Wettbewerb auch zwischen Schulen kann das Niveau heben“ – SZ Nr. 285 vom 09.12.2010, S. 18; abwägend im Hinblick auf „unerwünschte Nebenwirkungen“ Uwe Schneidewind: „Grenzen der Freiheit – Deutschlands Hochschulen brauchen mehr Autonomie, hieß es lange Zeit. Nun aber wachsen Zweifel am Wettbewerb“ – SZ Nr. 267 vom 20.11.2014, S. 2, wobei gerade auch die Überwindung erkannter „Defizite“ eine Hochschule qualitativ weiterbringen würde.

368 Marco Finetti: „Bund-Länder-Streit über Bildung und Forschung – ‚Zuständigkeiten klarer ordnen‘ – Mainzer Wissenschaftsminister legt Kompromiss-Vorschlag vor“ – SZ Nr. 119 vom 24./25.05.2003, S. 6

106

Modell des Freien Marktes herrscht bei diesen Unbelehrbaren wohl die Illusion vor, divergierende Einzelinteressen ergäben wie von selbst unsere Wohlfahrt.“369 Der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident und Bundespräsident Roman Herzog machte dabei in nüchterner Einschätzung der Lage darauf aufmerksam, daß in der Föderlismus-Kommission mehr als der angestrebte Kompromiß derzeit eben nicht machbar sei.370 „Die Parteien (bis auf die Linken) wagen sich an dieses heiße Eisen nicht heran.“371 Das ist wohl richtig gesehen und auch realistisch geurteilt. Aber es zeigt auch das eigentliche Dilemma auf: Es scheint nur noch die Aufrechterhaltung des abstrakten „Prinzips“ des Föderalismus im Wege zu stehen. Dabei bleibt zu fragen, worin sein Wesenselement besteht, welche Bedeutung es einmal hatte und ob diese Bedeutung und Notwendigkeit tatsächlich so fortbestehen, um auch künftig von einer föderalen Ordnung sprechen zu müssen. Mit anderen Worten: Inwieweit muß das bisherige, sehr ausgeprägte föderale Strukturprinzip im Interesse anderer, aktuell wichtigerer Ziele jetzt notgedrungen zur Disposition stehen?

Es gibt bei genauem Hinsehen für die Fortexistenz des bisherigen Föderlismus keine überzeugenden Sachargumente.

•

369

Altbundeskanzler Helmut Schmidt sieht zwar noch immer einen Vorzug des föderativen Staatsaufbaus vor anderen theoretischen Staatsformen darin, daß er die Macht auf verschiedene Ebenen verteilt.372 Ob das für vergleichsweise kleine Regionen weiterhin notwendig ist bzw. im Zuge zunehmender Globalisierung der Interessen und Aufgaben oder der erreichten Integration Deutschlands in die Europäische Union ein relevanter oder gar notwendiger Vorzug bleibt, darf bezweifelt werden, Niemand hat das bisher wirklich untersucht. Auch ist die argumentative Bezugnahme auf die Vergangenheit für die Zukunft schon unlogisch und deshalb falsch, weil die Rahmenbedingungen und Anforderungen sich grundsätzlich geändert haben und weiterhin schnell verändern.373 Globalisierung und die Entwicklung eines gemeinsamen Europa haben zu einem Grad der Verflechtung von Macht, materiellen Werten und Interessen geführt, die eine zusätzliche Absicherung einer formalen Machtverteilung längst entbehrlich sein läßt. Es ist eher umgekehrt:

Volker Gold – Leserbrief „Heißes Eisen“ – SZ Nr. 300 vom 27./28.12.2008, S. 10 Roman Herzog: „Dieser Kompromiss – oder keiner – Die Einigung zur Föderalismusreform macht niemanden glücklich. Aber wer nun Änderungen versucht, handelt tollkühn“ – SZ Nr. 123 vom 30.05.2006, S. 2 371 Volker Gold – Leserbrief „Heißes Eisen“ – SZ Nr. 300 vom 27./28.12.2008, S. 10 372 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 138 373 Karl-Heinz Büschemann: „Wenn Vertrautes verschwindet“ – SZ Nr. 299 vom 24./25./26.12.2004, S. 19; Heribert Prantl: „Der Herr, der 16 Namen hat – Das Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag muss den deutschen Föderalismus in Brüssel vereinfachen“ – SZ Nr. 157 vom 11./12.07.2009, S. 4 370

107

Eine Reform des Föderalismus ist immer wichtiger vor dem Hintergrund des zusammenwachsenden Europas.374 •

Jede „Ewigkeitsgarantie“ – auch die in struktureller Hinsicht – ist entgegen der Aura ihres sprachlichen Wortklangs keineswegs nur Wohltat, sondern immer mehr nur noch eine aufwendige, zeitraubende und schädliche Plage, die in einer sich schnell und flexibel gebenden globalisierten Welt schnell zum entscheidenden Hindernis sogar für die eigene Existenz werden kann.

•

Einige Zeit bemühte man sich darum, als Wert den „Wettbewerbsföderalismus“ zu loben. Ein solches politisches Schlagwort verheißt jedoch nicht per se schon etwas Gutes – man denke nur an die wettbewerbsunabhängige Realität austauschbarer „Standortpolitik“375 oder den mißliche Erinnerungen auslösenden Gegenbegriff der „Kleinstaaterei“.376 Der behauptete Wettbewerb unter den Bundesländern muß als Folge allein ihrer Existenz zu dem konkreten Nachweis führen, daß er von allen gewollt ist, tatsächlich stattfindet und in einer nützlichen Weise funktioniert, d.h. auch „effizient“ und „gerecht“ ist,377 und angesichts des zunehmenden globalen Wettbewerbs noch immer sinnvoll, wertschöpfend und (wann für wen mit welcher Folge?)

374 Vgl. dazu etwa Heike Jochum: „Ist die legislative Kompetenzordnung des Grundgesetzes reformbedürftig?“ – ZRP 06/2002,S. 255 ff.

375 Marc Beise: „Einheitswirtschaftspolitik – Bei Landtagswahlen geht es um vieles – aber nicht um die Ökonomie“ – SZ Nr. 104 vom 07.05.2010, S. 17 376 Siehe zum Diskussionsstand Thomas Darnstädt: ‚Da bewegt sich was‘ – Bund und Länder suchen Kompromisse, um Zuständigkeiten und Mitspracherechte neu zu verteilen. In der Kommission zur Föderalismusreform zeichnet sich ein Deal ab: mehr regionale Verantwortung gegen mehr Handlungsfreiheit für Berlin“ – DER SPIEGEL Nr. 14/2004, S. 38; „Irrwitzige Kleinstaaterei“ – SZ Nr. 254 vom 04.11.2005, S. 4; „Wachsende Kritik an der Reform des Föderalismus – Thierse prangert politische Kleinstaaterei an – Auch die drei Oppositionsfraktionen verlangen Änderungen/Eklat im Bildungsausschuss“ – SZ Nr. 57 vom 09.03.2006, S. 5; Christine Burtscheidt: „Die falsche Alternative – Bayern kämpft im Bund für den Bildungsföderalismus – und regiert die eigenen Schulen und Unis zentralistisch“ – SZ Nr. 60 vom 13.03.2006, S. 16; Thomas Darnstädt, Jan Fleischhauer, Horand Knaup u. Ralf Neukirch: „Großer Wuf ins Leere – Das erste umfassende Reformwerk der Großen Koalition steht auf der Kippe: Die SPD will die Föderalismuspläne so nicht mehr mittragen. Ein Scheitern wäre nach Meinung vieler Experten kein Unglück – das vorliegende Programm würde mehr Schaden als Nutzen bringen“ – DER SPIEGEL Nr. 11/2006, S. 24 ff.; Matthias Bartsch, Caroline Schmidt u. Markus Verbeet: „Wettlauf der Schäbigkeit – Jedes Bundesland soll künftig entscheiden dürfen, wie es seine Häftlinge behandelt – Experten warnen vor drohender Kleinstaaterei“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2006, S. 56; „‘Mehr Arbeit für Juristen‘ – Ex-Minister (Manfred Kolbe) fürchtet Rechts-Chaos“ u. Johan Schloemann: „Verdruss am Flickenteppich – Die Kleinstaaterei und das Missfallen darüber sind in Deutschland etwa gleich tief verwurzelt“ – SZ Nr. 148 vom 30.06.2006, S. 2 377 Norbert Berthold, Volkswirtschaftler an der Universität Würzburg: „Das Pferd, das den Karren zieht – Was Unternehmer brauchen, um sich wieder in Deutschland zu engagieren/Der Wettbewerb entscheidet“ – SZ Nr. 69 vom 24./25.03.2005, S. 26

108 hilfreich ist.378 Die Ansicht des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der die „Vielfalt“ als eine Chance lobt und daran glaubt, daß allein besonders gute Beispiele sich von selbst durchsetzen,379 ist wohl doch allzu idealistisch und optimistisch. Im Bildungswesen findet Wettbewerb überhaupt nicht statt, denn Kinder, deren Eltern in Hamburg leben, können nicht aus Wettbewerbsgründen in Bayern in die Schule gehen. Es scheint zudem eher so zu sein, daß ideologische Gründe derart dominieren, daß man den Ehrgeiz und die Eitelkeit, es gerade anders zu machen, über alles stellt. Ein ergebniswirksamer Wettstreit findet aus vielerlei Gründen nicht wirklich statt.380 Bei unterschiedlichen Standortbedingungen für Unternehmen ließe sich das noch vorstellen. Sie sind aber ebenfalls kaum vorhanden.

Ein ganz entscheidendes Element eines Wettbewerbsföderalismus wäre es im übrigen, daß die Länder in ihrem Zuständigkeitsbereich nicht nur von einem Länderfinanzausgleich leben oder über ihre Ausgaben entscheiden, sondern – wie in den Schweizer Kantonen – zunächst einmal über ihre Einnahmen. Hier vor allem findet Wettbewerb statt! Der Aufgabenverteilung entsprechend muß also auch über eine neue Finanzverfassung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden nachgedacht werden, die die Zuständigkeit für Steuereinnahmen und Ausgaben – anders als beispielsweise derzeit bei der Umsatzsteuer, die derzeit Bund und Ländern gemeinsam zusteht381 – allein an der neuen Aufgabenverteilung und jeweiligen Zuständigkeit und Eigenverantwortung orientiert. Auch die Deutsche Bundesbank spricht hier von der „klaren finanziellen Eigenverantwortung“,382 Otto Graf Lambsdorff

378

Z. B. durch wechselseitige Lernprozesse – siehe dazu Hans Tietmeyer: „Föderalismus bedeutet Wettbewerb – Unser Land droht im Reformstau zu ersticken. Die Aufgabenkompetenzen von Bund und Ländern sollten deshalb baldmöglichst weitgehend getrennt werden“ – HB Nr. 176 vom 12./13.09.2003, S. 9; vgl. auch Henrik Müller: „Zerschlagt die BRD! – Reformstau: Der deutsche Föderalismus passt nicht in eine globalisierte Welt. Und es kommt noch schlimmer: Die EU entwikkelt sich zur Super-BRD“ – mm 05/2002, S. 58; Reymer Klüver: „Zauberwort ‚Gleiche Lebensqualität‘ – Ministerpräsidenten begegnen Reformvorschlägen der Bundesregierung mit Misstrauen“ – SZ Nr. 98 vom 29.04.2003, S. 9; „SZ-Interview mit dem Rektor der größten bayerischen Universität – ‚Zu kurzsichtig, zu langsam‘ – LMU-Chef Bernd Huber wirft der Staatsregierung vor, mit ihrem Reformkurs der Wissenschaft zu schaden“ – SZ Nr. 82 vom 11.04.2005, S. 41 379 Roman Herzog: „Dieser Kompromiss – oder keiner – Die Einigung zur Föderalismusreform macht niemanden glücklich. Aber wer nun Änderungen versucht, handelt tollkühn“ – SZ Nr. 123 vom 30.05.2006, S. 2 380 Vgl. auch Heribert Prantl: „Sechzehnmal Deutschland – König Artus und das Camelot-Prinzip: Warum der deutsche Föderalismus stets das Große will, doch meist das Kleine schafft“ – SZ Nr. 175 vom 01.08.2007, S. 8 381 Vgl. dazu „Bund will offenbar höheren Anteil am Erlös fordern – Streit über Umsatzsteuer – Länder und Gemeinden wehren sich gegen Pläne Berlins“ – SZ Nr. 174 vom 31.07.2003, S. 6 382 Deutsche Bundesbank – vgl. „Wege aus der Krise“, S. 12

109

im Namen der Föderalismus-Kommission bei der Friedrich NaumannStiftung sogar von „ausschließlicher Steuerhoheit der Länder.“383 •

383

Kennzeichen abstrakter Ideologie oder vorgebrachter Scheinbegründungen sind ebenso andere mächtige Begriffe und Leerformeln wie „originäre Ländersache“ oder die Erfüllung „regionaler Bedürfnisse“,384 wobei noch immer unklar bleibt, welche und warum sie das konkret sind und welche Schlußfolgerungen daraus zu ziehen wären. Warum sollten regionale Bedürfnisse nicht auch oder sogar besser von den Kommunen erfüllt werden?

Verteufelt von den Ländern wird seit langem jegliche Form von „Zentralismus“,385 auch wenn er im eigenen Bundesland gegenüber den nachgeordneten Kommunen seinerseits vehement praktiziert wird.386 Alles dieses ist so noch wenig hilfreich und erlaubt keine konkreten Antworten nach dem Warum bzw. den jeweiligen Gestaltungsformen und ihren speziellen Folgen. So wie „Einheitlichkeit“ abstrakt und allein betrachtet noch kein Argument für zunehmenden Zentralismus ist, allenfalls für eine effizientere Wahrnehmung der Aufgaben für den Staat oder seine Bürger im gesamten Bundesstaat, sprechen mehr „Eigenständigkeit“387 oder das „Subsidiaritätsprinzip“388 (was sind eigentlich seine konkreten Wirk-Elemente bei der Anwendung auf bestimmte Sachgebiete, und sind sie auch mit Blick

Otto Graf Lambsdorff – Leserzuschrift in DER SPIEGEL Nr. 21/2003, S. 8; „FDP fordert Kürzung des Länderfinanzausgleichs“– SZ Nr. 299 vom 30.12.2003, S. 6; vgl. auch Bernd Huber, Finanzwissenschaftler, stv. Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates beim BMF und Rektor der LMU München: „Weg mit dem Schein-Föderalismus – Bundesländer müssen selbstverantwortlich Steuern erheben können/Der Wettlauf nach unten findet nicht statt“ – SZ Nr. 298 vom 23.12.2004, S. 22 384 Bernd Huber, Finanzwissenschaftler, stv. Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates beim BMF und Rektor der LMU München: „Weg mit dem Schein-Föderalismus – Bundesländer müssen selbstverantwortlich Steuern erheben können/Der Wettlauf nach unten findet nicht statt“ – SZ Nr. 298 vom 23.12.2004, S. 22 385 Ebenso (erstaunlicherweise!) Bernd Huber, Finanzwissenschaftler, stv. Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates beim BMF und Rektor der LMU München: „Weg mit dem ScheinFöderalismus – Bundesländer müssen selbstverantwortlich Steuern erheben können/Der Wettlauf nach unten findet nicht statt“ – SZ Nr. 298 vom 23.12.2004, S. 22 386 Christine Burtscheidt: „Die falsche Alternative – Bayern kämpft im Bund für den Bildungsföderalismus – und regiert die eigenen Schulen und Unis zentralistisch“ – SZ Nr. 60 vom 13.03.2006, S. 16 387 Vgl. dazu das Interview mit Alois Glück: „Wir wollen keine weitere Zentralisierung Deutschlands – CSU-Fraktionschef Glück erhofft sich von der Föderalismus-Reform mehr Eigenständigkeit in der Landespolitik“ – SZ Nr. 198 vom 29.08.2003, S. 45; Christine Burtscheidt: „Die falsche Alternative – Bayern kämpft im Bund für den Bildungsföderalismus – und regiert die eigenen Schulen und Unis zentralistisch“ – SZ Nr. 60 vom 13.03.2006, S. 16 388 Lt. Sozialenzyklika Quadragesimo anno von Pabst Pius IX – veröffentlicht 1931: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.“ – vgl. SZ Nr. 155 vom 08.07.2004, S. 2

110

auf den Aufwand und die Folgen stets und überall richtig?) auch nicht unbesehen schon dagegen.389 Alles dieses sind abstrakte Positionen und damit nichts anderes als föderalistische „Selbstgewißheiten“, die im einzelnen Anwendungsfall so doch nicht stimmen.390 Es zeigte sich jedenfalls beispiels-, aber nicht überraschenderweise, daß in nahezu allen gesetzlichen Materien, die in der Föderalismus-Kommission konkret zur Diskussion standen, der Bund die Probleme besser lösen kann als die Gliedstaaten.391 Zu den fehlenden Sachargumenten für einen Fortbestand des Föderalismus gesellen sich aber vor allem zahlreiche persönliche Widerstände. Denn gemeinsam sind allein die Zielvorstellungen, den Föderalismus bisheriger Prägung schon um der vielen Amtsträger und Einflußschneisen willen in keinem Falle antasten zu wollen und sie damit wohlmöglich zum persönlichen Nachteil geraten lassen. Verfassungsrechtler Dieter Grimm meint: „Diejenigen, welche die Kompetenz zur Verfassungsänderung haben, müssten ja bereit sein, ihre Macht zumindest teilweise aus der Hand zu geben. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht groß. Das kann aber für die Wissenschaft kein Grund zum Schweigen sein. Wenn das Problem nicht einmal benannt wird, gibt es überhaupt keine Aussicht auf Besserung.“392

389

Zweifelnd bzw. offen dazu auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier in dem Interview: „Das tangiert die Grundfesten“ – DER SPIEGEL Nr. 39/2003, S. 28 ff. (29); unklar in der Begründung auch der Sozialethiker Wolfgang Ockenfels – siehe „Moralische Krise des Sozialstaats – Walter-Eucken-Institut berät über Ordnungsökonomik“ – SZ Nr. 224 vom 29.09.2003, S. 22; siehe dazu auch Andreas Reich: „Föderalismusreform“ – 01/2004, S. 27 ff.

390 Heribert Prantl: „Der Laokoon-Föderalismus“ – SZ Nr. 87 vom 15.04.2004, S. 4; ähnlich auch „‘Ich plädiere für Ehrlichkeit‘ – Bundespräsident Horst Köhler über das Neuwahlbegehren des Kanzlers, die Gefahren der Globalisierung und seine Wünsche an die Parteien im beginnenden Bundestagswahlkampf“ – DER SPIEGEL Nr. 24/2005, S. 33 ff. (37). „Bildung als hundertprozentige Ländersache ist zu rigoristisch.“ 391 Thomas Darnstädt, Konstantin von Hammerstein, Horand Knaup, Sven Röbel u. Christoph Schult: „Die Blamage – Reformwerk für den Papierkorb: Das Scheitern der Föderalismuskommission offenbart den Egoismus der politischen Klasse in Deutschland. Ausgerechnet jener BlockadeMechanismus, den die Parteichefs Stoiber und Müntefering abschaffen wollten, brachte die ‚Mutter aller Reformen‘ zu Fall“ – DER SPIEGEL Nr. 52/2004, S. 22 ff. (26); zum Umweltrecht vgl. „Minister kritisieren Föderalismusreform“ – DER SPIEGEL Nr. 5/2006, S. 16; Michael Bauchmüller, Heidrun Graupner, Joachim Käppner, Heribert Prantl, Tanjev Schultz, Christoph Schwennicke: „Wachsende Zweifel an der Neuordnung der Beziehungen von Bund und Ländern – ‚Die Reform haut uns die Beine weg‘ – Der Föderalismus sollte von Grund auf besser werden, doch Kritiker fürchten, dass der geplante Umbau vieles schlechter macht. Vor allem in der SPD gärt es“ – SZ Nr. 65 vom 15./16.03.2006, S. 10; Heribert Prantl: „‘Katastrophe und offensichtlicher Unfug‘ – Experten attackieren Föderalismus-Reform – Bei der Anhörung im Bundestag fordern Staats- und Verfassungsrechtler das Gesetzespaket aufzuschnüren“ u. ders.: „Noch mehr Blockade – Föderalismusreform: Experten zweifeln am Erfolg“ – SZ Nr. 112 vom 16.05.2006, S. 1 u. 6; Heribert Prantl: „Die Ja-aber-Reform – Föderalismus als Deutschland-Puzzle – an jedem Tag der SachverständigenAnhörung werden Teile aussortiert“ – SZ Nr. 113 vom 17.05.2006, S. 6 392 Dieter Grimm: „Ist das Verfahren der Verfassungsänderung selbst änderungsbedürftig?“ – HFR 20/2007, S. 221 – www.humboldt-forum-recht.de

111

Von wirklichen Reformen betroffen würde in erster Linie das anscheinend unausrottbare „System der finanziellen Selbstbedienung“ von Parteien, Fraktionen, Parteistiftungen und Volksvertretern samt allen dazugehörigen Privilegien aus Steuermitteln sein.393 Andererseits ist dieses kein Thema, das die Parteien trennt.

Auch die CDU-Ministerpräsidenten beharren immer wieder strikt und eigensüchtig auf ihren föderalen Zuständigkeiten ohne Sinn und Bereitschaft, einen Beitrag für das Ganze zu leisten, wie sich besonders immer wieder auf dem Bildungssektor zeigt.394 Unsäglicher Föderalismus. Selbst bundeseinheitliche Abschlußprüfungen werden bereits als unzulässige Zurückdrängung des Föderalismus der Bildungspolitik empfunden.

Einigen wenigen ginge es schon um die Sache, anderen aber nur um die existenzsichernde Macht,395 obwohl das natürlich in Fensterreden bestritten wird.396 Wenn es zum Schwur kommt, will niemand Kompetenzen abgeben.397 Das zeigte sich nicht zuletzt daran, wie schnell und leichtfertig in der FöderalismusKommission von vornherein die wichtigsten Fragen wie die Neugliederung der Bundesländer oder die Finanzverfassung schlicht „ausgeklammert“ worden waren, die natürlich zum Gegenstand der Erörterung gehören ungeachtet der Frage, wofür sich dann letztlich auch die erforderlichen Mehrheiten finden.398 Das ist 393

Vgl. z.B. so Hildegard Hamm-Brücher: „Reformstau in Sachen Demokratie“ – SZ Nr. 29. Vom 05.02.2003, S. 2; im Ergebnis auch Hermann Funke: „Staatsstreich der Länder – Warum Deutschlands Kleinstaaterei sich hartnäckig hält“ – SZ Nr. 50 vom 02.03.2009, S. 33; Hans-Herbert von Arnim: „Die Selbstbediener“ - 2013 394 Johann Osel: „Große Bühne, undankbare Rolle“ – SZ Nr. 38 vom 14.02.2013, S. 4 395 Peter Fahrenholz: „Fortschritte bei Gesprächen über Reform des Föderalismus – Bund und Länder verteilen Macht neu – Bundesländer sollen sich an Strafgeldern für Euro-Stabilitätspakt beteiligen“ – SZ Nr. 288 vom 11./12.12.2004, S. 1; Thomas Darnstädt, Konstantin von Hammerstein, Horand Knaup, Sven Röbel u. Christoph Schult: „Die Blamage – Reformwerk für den Papierkorb: Das Scheitern der Föderalismuskommission offenbart den Egoismus der politischen Klasse in Deutschland. Ausgerechnet jener Blockade-Mechanismus, den die Parteichefs Stoiber und Müntefering abschaffen wollten, brachte die ‚Mutter aller Reformen‘ zu Fall“ – DER SPIEGEL Nr. 52/2004, S. 22 ff. (24); Marco Finetti: „Machtspiel um die Bildung“ – SZ Nr. 57 vom 10.03.2005, S. 4; Heribert Prantl: „Zirkus Politik“ – SZ Nr. 65 vom 19./20.03.2005, S. 4; Jeanne Rubner: „Machtkampf um die Schulen – Die Länder sehen die Bildungshoheit als existenzielle Frage“ – SZ Nr. 294 vom 18./19.12.2004, S. 5; Heribert Prantl: „Wenn Föderalismus Schikane ist – ...darf der Bundespräsident das sagen: Die Machtspiele in der Bildungspolitik müssen aufhören“ – SZ Nr. 8 vom 12.01.2005, S. 4 396 „‘Lieber keine Reform als bundesdeutsches Mittelmaß‘ – Landtagspräsident Alois Glück warnt vor dem Aufbau neuer Prestige-Hürden in der Föderalismus-Kommission“ – SZ Nr. 9 vom 13.01.2005, S. 42 397 Gerd Kröncke: „Neuer Schnitt für Frankreich – Paris plant einen Umbau der Regionen – doch von dort gibt es heftigen Widerstand“ – SZ Nr. 54 vom 06.03.2009, S. 7 398 Peter Blechschmidt: „FDP unterstützt Staatsreform – Liberale pochen auf Neuordnung der Finanzbeziehungen“ – SZ Nr. 259 vom 10.11.2005, S. 6; Heribert Prantl: „Das Deutschland-Puzzle ... wird neu gelegt: Und ob etwas wirklich Gutes herauskommt, ist noch gar nicht gewiss“ – SZ Nr. 260 vom 11.11.2005, S. 8; zu entsprechenden Aussagen auch des Bundesrechnungshofs vgl. Tobias Matern: „‘Unwirtschaftliches staatliches Handeln‘“– SZ Nr. 288 vom 14.12.2005, S. 7; Bruno Merk:

112

dann erst eine Frage der Umsetzung. Strukturen sind vor allem Reviere und Macht- und Einflußbereiche für die Herrschenden, der Personen ebenso wie der Parteien.399 Und daran festzuhalten steht allemal über sachlichen Lösungen.

Bildung und Forschung scheinen für die Länder die einzige wirklich wichtige, ja die Existenz der Länder begründende Aufgabe und Zuständigkeit zu sein, die ihnen geblieben ist.400 Der hessische Ministerpräsident Roland Koch und auch der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff meinten ausdrücklich: „Wir sind keine Verwaltungsprovinzen“.401 Aber ist das wirklich ein zielführendes sachliches Argument für die Gestaltung der Zukunft? Von den Staatsbürgern und der Wirtschaft, ja nicht zuletzt auch für die Funktionalität und Wirtschaftlichkeit staatlicher Aufgaben, für die das alles hilfreicher sein soll als bisher, ist dabei in Wahrheit nicht oder kaum die Rede.

Solange auf diesem Niveau gestritten wird,402 geht es nicht wirklich um die Sache, nicht um eine Verbesserung der Chancen junger Menschen in Europa und in der Welt, sondern allein um den Erhalt der Länder in ihrer bisherigen Form, um Machtkämpfe zwischen denen, die jetzt die Macht haben bzw. denen, die sie künftig für sich beanspruchen.403 Es ist dieses alles eine reine Verhaltensfrage der beteiligten Politiker und Parteien, die den Bundesrat oder gar die Verfassung am Rande der Zielidee des Grundgesetzes oder sogar im klaren Widerspruch zu ihnen schlicht nur in ihrem eigenen gegenwärtigen Sinne nutzen. Und genau aus diesen Gründen wird es so schnell auch nicht zu sachgerechten, geschweige denn schnellen Ergebnissen kommen.404 Damit war die Reform vorerst erneut ge-

„Deutschland hat zehn Ministerpräsidenten zu viel – Das Problem des deutschen Föderalismus sind 16 Länder, die in dieser Strukitur unfähig zu effizientem Arbeiten sind“ – SZ Nr. 146 vom 28.06.2006, S. 2; siehe dazu auch das Urteil des BVerfG vom Okt. 2006 – Markus Feldenkirchen u.a.: „Das Berlin-Experiment“ – DER SPIEGEL Nr. 43/2006, S. 22 ff.

399 Leserbrief Roland Hinke unter „Das sieche Grundgesetz – Deutschlands Verfassung krankt am Föderalismus und an häufigen Wahlen – gegen diese Leiden gibt es jedoch ein Mittel“ – SZ Nr. 125 vom 03.06.2009, S. 31 400 Jeanne Rubner: „Nach dem Scheitern der Föderalismuskommission – Meine Schulen sind nicht deine Schulen – Bevor neue Gespräche zwischen Bund und Ländern beginnen können, muss der Grundsatzstreit um die Bildungspolitik beigelegt sein“ – SZ Nr. 296 vom 21.12.2004, S. 10 401 Roland Koch in dem Interview: „Wir sind keine Verwaltungsprovinzen“ – DER SPIEGEL Nr. 51/2004, S. 21; Philip Grassmann: „Länder pochen auf Zuständigkeit für die Bildung – Wulff: Wir wollen nicht zu Verwaltungsprovinzen werden/Wenig Aussicht auf Einigung im Föderalismusstreit“ – SZ Nr. 301 vom 28.12.2004, S. 6 402 Jeanne Rubner: „Die Kunst des kleinsten Nenners – Bund und Länder streiten, wer in der Bildungspolitik was entscheidet – und wer was zahlt“ – SZ Nr. 144 vom 25.06.2004, S. 8 403 So auch Heribert Prantl: „Wenn Föderalismus Schikane ist – ...darf der Bundespräsident das sagen: Die Machtspiele in der Bildungspolitik müssen aufhören“ – SZ Nr. 8 vom 12.01.2005, S. 4 404 Marco Finetti u. Armin Himmelrath: „Chronik eines absehbaren Stillstands – Bildung ist endlich ein Thema – doch gerade deshalb dürfte sich 2005 in der Bildungspolitik fast nichts tun“ – SZ Nr. 1 vom 03.01.2005, S. 9; Heribert Prantl: „Wenn Föderalismus Schikane ist – ...darf der Bundespräsident das sagen: Die Machtspiele in der Bildungspolitik müssen aufhören“ u. Susanne Höll: „Köhler

113

scheitert, auch wenn sich Bundeskanzler Schröder und andere weiter um eine Fortsetzung der Gespräche bemühten.405 Doch politische Feigheit – so resümierte Guido Bohsem in der Süddeutschen Zeitung406 – ist nicht das Einzige, was die Forderung nach einem bundesweit DIN-geprüften Eck-Raucherkneipen-Verbots-Beschluss offenbart. „Der Vorschlag zeigt ein weiteres Mal, wie weit die Ambitionen der Länder und ihre Durchsetzungsfähigkeit auseinanderklaffen. Beständig pochen die Ministerpräsidenten auf ihre föderalen Rechte – und das besonders laut, wenn sie aus so kleinen Ländern kommen wie dem Saarland oder Bremen. ...

Beispiel Erbschaftssteuer: Um Streit um diese Reform haben die Länder darauf bestanden, dass der Bund einen Vorschlag vorlegt – und das, obwohl die Steuer reine Ländersache ist. Der Bund sieht keinen Cent der Einnahmen. Weiteres Beispiel: Krankenhaus-Finanzierung: Nach geltender Regelung sind die Länder dafür zuständig....Oder das Beispiel Föderalismus-Kommission I: Monatelang pochten die Länder in den Verhandlungen auf die alleinige Zuständigkeit für die Bildungspolitik, um dann bei der ersten Gelegenheit die Milliarden des Bundes zum Ausbau der Krippenplätze zu kassieren... ...Das Versagen der Länder in ihren Kernkompetenzen weckt Zweifel am Föderalismus und seiner Tauglichkeit in der globalisierten Welt. Dem müssen die Länder mit mehr Mut und Eigenverantwortung entgegentreten. Ansonsten stellt sich die Frage, ob es nicht zu kompliziert ist, dass jedes Bundesland eine eigene Regierung hat. Und es statt dessen nicht besser, wäre, den Flickenteppich Föderalismus einfach abzuschaffen“.

ruft zur Einigung über Staatsreform auf – Treffen beim Bundespräsidenten endet ohne Ergebnis/CSU-Chef fordert Zugeständnisse des Bundes“ – SZ Nr. 8 vom 12.01.2005, S. 4 u. 6 405 „Neuordnung der Bundesrepublik gescheitert – ‚Eine große Chance leichtfertig vertan‘ – Stoiber bedauert Misserfolg bei Föderalismus-Reform – Ursache war der Streit über die Bildungspolitik“ u.

Heribert Prantl: „Konsens+Konsens+Konsens+Dissens=Dissens – Warum die Neu-Organisation der Bundesrepublik vorerst gescheitert ist, aber nicht scheitern darf“, Philip Grassmann: „Das langsame Sterben – Kamingespräche, Fraktionssitzungen, Geheimtreffen – und am Ende bleiben Schuldzuweisungen“ – SZ Nr. 294 vom 18./19.12.2004, S. 1, 4 u. 5; Philip Grassmann: „Vor neuem Anlauf zur Föderalismus-Reform – Bundespräsident mahnt zur Eile – Köhler für baldige Gespräche/Bulmahn kündigt Vorschläge zur Bildungspolitik an“ – SZ Nr. 295 vom 20.12.2004, S. 1; Thomas Darnstädt, Konstantin von Hammerstein, Horand Knaup, Sven Röbel u. Christoph Schult: „Die Blamage – Reformwerk für den Papierkorb: Das Scheitern der Föderalismuskommission offenbart den Egoismus der politischen Klasse in Deutschland. Ausgerechnet jener Blockade-Mechanismus, den die Parteichefs Stoiber und Müntefering abschaffen wollten, brachte die ‚Mutter aller Reformen‘ zu Fall“ – DER SPIEGEL Nr. 52/2004, S. 22 ff.; „Schröder will Front der Länder aufbrechen“ – DER SPIEGEL Nr. 1/2005, S. 1; Sebastian Fischer: „‘Der Reformdruck ist jetzt da‘ – Experten und Politiker wieder optimistisch in Föderalismusfrage“ – SZ Nr. 7 vom 11.01.2005, S. 9; Robert Roßmann: „Gemeinsame Klausurtagung der Fraktionsvorstände in Wörlitz – Müntefering stoppt Verkehrspläne der Grünen – SPD vertagt auch Reform der Pflegeversicherung/Beide Parteien wollen FöderalismusKommission wiederbeleben“ – SZ Nr. 12 vom 17.01.2005, S. 5; Christoph Schwennicke: „Die Frösche und die Ingenieure – Der zweite Anlauf zur Reform des Föderalismus in Deutschland steht unter einem besseren Stern“, Nico Fried u. Robert Roßmann: „Stoiber will Müntefering schon bald treffen – Neue Gespräche über die Föderalismusreform wahrscheinlich bereits Anfang April“ – SZ Nr. 72 vom 30.03.2005, S. 4 u. 5 406 Guido Bohsem: „Weckducken, wenn es ernst wird – Was die Forderung nach einem einheitlichen Rauchverbot über den Zustand des Föderalismus verrät“ – SZ Nr. 181 vom 05.08.2008, S. 4

114

Der wahre Grund für die Reformunfähigkeit in Sachen „Föderalismus“ ist also keineswegs die oft zu Unrecht bemühte verfassungsrechtliche Ausgangslage, sondern allein die entgegenstehende „politische Wirklichkeit“407 als Summe der Interessen und Meinungen all derer, die als ausübende Träger öffentlicher Gewalt am Föderalismus partizipieren und spezielle eigene Vorteile damit verbinden. Mag sein, daß auch einige Bürger „starke Gefühle der Eigenart, der Eigenständigkeit und auch des Eigensinns“ 408 hegen, die der Abschaffung der Bundesländer, ja sogar ihrer Neugliederung oder teilweise Zusammenfassung im Wege stünden. Altbundeskanzler Helmut Schmidt sieht selbst die Widerstände gegen eine Neugliederung oder gar Verschmelzung einzelner Bundesländer im Sinne des Art. 29 GG – die Bemühungen um Berlin und Brandenburg haben es gezeigt – als so populär an, daß es entgegen aller Vernunft und immer einmal wieder auch der Forderungen einzelner Politiker wie des Peter Struck409 dazu nicht kommen wird. Er rät daher aufgrund realistischer Einschätzung der Machbarkeit und praktischer politischer Erfahrung ab von den Ideen einer umfassenden Neugliederung der Länder.410 Aber sehr rational und in ihrem wohlverstandenen objektiven Interesse ist das alles nicht. So besteht der Föderalismus fort; zumal auch die wenigen Reformansätze nicht zum Kern der Problematik vorgestoßen sind. Es wird zu keiner Änderung kommen. Dennoch – es bleibt nach alledem dabei: Der Föderalismus heutiger Geltung gehört auf den Prüfstand.411 An erster Stelle und auch am Anfang des Procedere stehen dabei klare und einvernehmlich ausgehandelte bzw. koordinierte Ziele. Der SPD-Vorsitzende, Franz Müntefering, hatte schon Recht mit seiner Fragestellung: „Ich frage mich: Wie muss das Land aufgestellt sein, damit es zukunftsfähig ist? Erst wenn Sie drauf eine klare Antwort gefunden haben, können sie sich der zweiten Frage zuwenden: Wer ist zuständig?“412 Im Vordergrund müßte das Ziel stehen, den 407 So richtig Horst Dreier anläßlich eines Vortrags in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München – vgl. Johan Schloemann:“Kein Fall für den Verfassungsschutz – Horst Dreier bezweifelt die Ewigkeit des Grundgesetzes“ – SZ Nr. 272 vom 22./23.11.2008, S. 14 408 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 139 409 Nico Fried: „Kleinstaaterei in Ewigkeit – Die Zusammenlegung von Bundesländern ist eine Lieblingsidee vieler Politiker – ernsthaft verfolgt sie kaum jemand“ – SZ Nr. 47 vom 26.02.2009, S. 6 410 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 139; vgl. auch Nico Fried: „Kleinstaaterei in Ewigkeit – Die Zusammenlegung von Bundesländern ist eine Lieblingsidee vieler Politiker – ernsthaft verfolgt sie kaum jemand“ – SZ Nr. 47 vom 26.02.2009, S. 6; ähnlich im Ergebnis Hermann Funke: „Staatsstreich der Länder – Warum Deutschlands Kleinstaaterei sich hartnäckig hält“ – SZ Nr. 50 vom 02.03.2009, S. 33 411 Joachim Käppner: „Koffer voller Cash – Warum die CSU irrt, wenn sie beim Länderfinanzausgleich glaubt: Wer zahlt, schafft an“ – SZ Nr. 32 vom 08.02.2012, S. 4 412 Franz Müntefering in dem Interview: „‘Es gibt kein Ausruhen‘ – Der sozialdemokratische Parteiund Fraktionschef Franz Müntefering über die deutsche Hilfe nach der Flutkatastrophe, das abrupte Scheitern der Föderalismuskommission und sein Verhältnis zu Bundeskanzler Gerhard Schröder“ – DER SPIEGEL Nr. 02/2005, S. 48 ff. (49); Peter Fahrenholz: „Müntefering glaubt an Reform-

115

Staat handlungsfähiger zu machen, um im globalen Wettbewerb sofort oder jedenfalls schneller als bisher reagieren zu können oder auch effizienter die drängenden Probleme zu lösen, die sich der gesamten Menschheit stellen. Diese verbesserte Handlungs- und Wettbewerbsfähigkeit steht im Dienste des von Wolfgang Schäuble formulierten Oberziels, alle Voraussetzungen zu schaffen, „das wir auch in Zukunft unseren Wohlstand halten und uns soziale Sicherheit leisten können.“413 Ziel kann andererseits nicht sein, die Zahl der Bundesländer und die föderale Ordnung in jeder Beziehung und um jeden Preis unangetastet bzw. unverändert zu lassen.414 Erst im weiteren geht es darum, die Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben effizienter und kostengünstiger zu gestalten. Das grundsätzlich richtige, tatsächlich aber längst zum leeren Prinzip erhobene Kampfwort der „Subsidiarität“ bedarf einer Konkretisierung. Das will sagen, daß grundsätzlich jede thematische Entscheidungszuständigkeit (also das Vorrecht!) analog dem Art. 30 GG weiterhin bei den jeweils kleineren, nachgeordneten Gemeinschaften liegt, soweit und solange sie in der Lage sind, ihre Angelegenheiten auch wirklich effizient regeln können,415 so daß gegenüber den Städten und Kommunen der Bund allenfalls „hilfsweise“ eine eigene Zuständigkeit beanspruchen kann, wenn es denn unbedingt im Interesse der Sache sein muß („Erforderlichkeit“ entspr. der Neuregelung des Art. 72 II GG416). Immerhin sind gerade unsere politischen Parteien und das System ihrer Finanzierung fast ausschließlich bundeseinheitlich verfaßt und bilden schon aus diesem Grund ein klares zentralistisches Gewicht.417 Wie schwer das im Einzelfall angesichts zunehmender Komplexität und Verflechtungen auf allen Gebieten immer wieder konkret zu erkennen und auch zu Erfolg“ – SZ Nr. 9 vom 13.01.2005, S. 6; ähnlich auch der Vorstandsvorsitzende der BASF, Jürgen Hambrecht: „Wie wollen wir in Deutschland leben?“ – vgl. „Forum: Kritik an der Wirtschaft – Wir brauchen mehr Kapitalismus – Ohne Wagemut kann nichts Neues entstehen/Zur Globalisierung gibt es keine Alternative/Gemeinwesen mündiger Bürger“ – SZ Nr. 103 vom 06.05.2005, S. 22 413 Wolfgang Schäuble in dem Interview: „‘Ein verlorenes Jahr‘ – Der frühere CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble über Fehler und Versäumnisse in der Reformdebatte“ – DER SPIEGEL Nr. 50/2004, S. 24 414 „CDU empört über Gutachten – Experte regt Abschaffung des Stadtstaats Bremen an“ – SZ Nr. 274 vom 28.11.2005, S. 6; Bruno Merk: „Deutschland hat zehn Ministerpräsidenten zu viel – Das Problem des deutschen Föderalismus sind 16 Länder, die in dieser Strukitur unfähig zu effizientem Arbeiten sind“ – SZ Nr. 146 vom 28.06.2006, S. 2; Christoph Schwennicke: „So retten wir Deutschland – Die Zeit drängt, deshalb kurz und knapp: Ein Zwölf-Punkte-Plan mit dem Nötigsten“ – SZ Nr. 231 vom 06./07.10.2006 (SZ WOCHENENDE), S. I 415 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 136 unter Hinweis auf den Jesuitenpater Oswald NellBreuning 416 Vgl. dazu Josef-Franz Lindner: „Zur Änderungs- und Freigabekompetenz des Bundesgesetzgebers nach Art. 125 a II GG“ – NJW 07/2005, S. 399 ff.

417 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 141 ff.; Gert G. Wagner: „Verblühte Hoffnungen – Bis ins Jahr 2010 treten lange bekannte, doch ignorierte Folgen der deutschen Wiedervereinigung zutage“ – SZ Nr. 231 vom 06.10.2010, S. 18

116

begründen ist, haben nicht zuletzt die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 27.7.2004 und zu den Studiengebühren gezeigt, welche die bundeseinheitlich geregelten „Junior-Professuren“ und das Verbot der Studiengebühren wegen Kompetenzüberschreitung für nichtig erklärt haben.418 Man denke auch an die zahlreichen „Verbundwirtschaften“ auf dem Gebiet der Steuern, der Sozialversicherung, der Arbeitsorganisation und eines zunehmend in die Kritik geratenen länderübergreifenden Finanzausgleichs.419 Nach der Wiedervereinigung ist ein spezieller West-Ost-Ausgleich noch hinzugekommen. Hier wäre also genügend Stoff gegeben, konkret einzusteigen und eine genauer begründete Abgrenzung zwischen bundeseinheitlicher und dezentraler Zuständigkeit zu erarbeiten.

Alle diese teils bescheidenen, teils nur auf spezielle Aspekte abstellenden Reformansätze dürfen jedoch bis zum heutigen Tage im Ergebnis als gescheitert betrachtet werden. Was „Reformen“, insbesondere der bisherigen „Föderalismus-Kommission“ erarbeitet worden ist, verdient diesen Namen nicht, denn maßgebliche Ziele aus negativen Folgen des bestehenden Föderalismus – insbesondere eine deutlichere Trennung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern – werden weiterhin nicht gelöst, wie aus den Zahlen des Bundesrates zu den zustimmungspflichtigen Gesetzen (vor der Reform 41 Prozent, jetzt sogar 53 Prozent) hervorgeht.420 Entgegen der an sich schon wenig ambitionierten Zielmarke von 35 Prozent (ursprüngliche Forderungen bewegten sich zwischen 20 und 25 Prozent) bestehen die Probleme mehr als zuvor mit teils veränderten Aussehen weiter fort.

Noch besser als eine solche halbherzige Reform wäre in der Tat die Abschaffung der Länder überhaupt und eine Entzerrung sämtlicher Aufgaben zwischen dem Bund auf der einen Seite und den Kommunen bzw. selbständigen Einrichtungen wie beispielsweise Schulen und Hochschulen auf der anderen Seite. Empfehlenswert ist in jedem Falle eine sorgfältige Einzelfallanalyse zu den zu refor418 BVerfG vom 27.7.2004 – NJW 39/2004, S. 2803 ff. und BVerfG vom 26.01.2005 – NJW 08/2005, S. 493 ff.; vgl. dazu auch Ulrich Preis: „Verfassungswidrigkeit der HRG-Novelle – Kontraproduktive Folgen der Nichtigkeit der Befristungsregeln“ – NJW 39/2004, S. 27832 ff.; ebenso Michael Sommer in dem Interview: „Mehr Mitbestimmung heißt mehr Erfolg“ – DGB-Chef fordert mehr Macht für die Aufsichtsräte und warnt bei der Föderalismusreform vor ‚Kompetenz-Gier der Länder‘: Künftig 16 Kündigungsschutzgesetze?“ – SZ Nr. 248 vom 25.10.2004, S. 8; „Schelte aus Berlin“ – DER SPIEGEL Nr. 47/2004, S. 18; Helmut Kerscher: „Karlsruhe stärkt erneut die ‚Rechte der Länder – Richter sehen keine Anhaltspunkte dafür, dass Studenten bei der Erhebung von Gebühren benachteiligt würden“ u. Marco Finetti: „Ein schöner unschöner Tag – Karlsruher Richterspruch löst vielfältiges Echo aus“ – SZ Nr. 21 vom 27.01.2005, S. 5 419 Joachim Käppner: „Koffer voller Cash – Warum die CSU irrt, wenn sie beim Länderfinanzausgleich glaubt: Wer zahlt, schafft an“ – SZ Nr. 32 vom 08.02.2012, S. 4 420 „Föderalismusreform wirkt nicht“ und Roland Preuß: „Macht der Länder ungebrochen – Die Föderaluismusreform hat ihr Ziel verfehlt, dem Bundestag mehr Spielraum zu geben“ – SZ Nr. 110 vom 15./16.05.2010, S. 1 und 6

117

mierenden Gegenständen mit sorgfältigem Abwägen des pro und contra der Gegenstände und ihrer Auswirkungen, die sich im Augenblick als die besonderen Hürden für schnelle und flexible Entscheidungen erweisen. Je eher man auf das allgemeine Machtgetöse verzichtet und sich der sachlichen mühsamen Kleinarbeit widmet, um so eher darf auch mit vernünftigen und wirklich hilfreichen Ergebnissen gerechnet werden.

Bei dem „Wie“ der Aufgabenteilung selbst muß darauf geachtet werden, daß sie den Bürgern und wirtschaftenden Einheiten eine möglichst große Unterstützung nicht nur im nationalen Wettbewerb untereinander („Wettbewerbsföderalismus“), sondern mehr noch im internationalen und globalen Wettbewerb angedeihen und die staatlichen Aufgaben auch wirtschaftlich bestmöglich erfüllen läßt. Dabei geht es abstrakt weder um ein Umstrukturieren von unten nach oben oder umgekehrt421 – auch nicht um die Frage, welche Entscheidungen „wichtiger“ sind als andere.422 Es geht allein um die sachlich-inhaltliche richtige Entscheidung, auf welcher politischen Ebene welche Gegenstände im Interesse der Staatsbürger und ihrer Standortsituation besser, effizienter und schneller, möglicherweise aber im Interesse der Flexibilität und einer eher wieder schwindenden Mobilität423 auch einheitlicher und deshalb einfacher wahrgenommen werden sollten als anderswo, wobei die gemeinsamen Rahmenbedingungen für eine ganze wirtschaftliche Großregion und damit deren Wettbewerbsfähigkeit angesprochen ist. Das allein ist wirkliche „Bürgernähe“ und der entscheidende Grund – und nicht eine schwammige „volkswirtschaftliche Bedeutung“,424 etwa die Standards des Bildungswesens wenigstens auf nationaler Ebene anzusiedeln.

Entscheidend für die sogenannte und populistisch vielbemühte „Bürgernähe“ ist ja auch nicht, wer Regelungen trifft, in diesem Sinne also regional „zuständig“ ist, sondern wie diese ihrem Inhalt nach aussehen, und ob sie von daher betrachtet mehr oder weniger im wirklichen Interesse der Bürger sind, die – nochmals – mehr und mehr gehalten sind, grenzüberschreitend flexibel und mobil zu sein. Welchen Sinn hat es dabei, wenn es zu möglichst vielen Gegenständen in den einzelnen Bundesländern – und sei es auch nur formal – unterschied-

421 So aber Thomas Darnstädt: „Das Prinzip Wettbewerb – Wie der deutsche Föderalismus zu reformieren wäre“ – DER SPIEGEL Nr. 21/2003, S. 52 ff. (53) 422 So angeblich der Deutschland-Chef von McKinsey, Jürgen Kluge – zitiert von Thomas Darnstädt: „Das Prinzip Wettbewerb – Wie der deutsche Föderalismus zu reformieren wäre“ – DER SPIEGEL Nr. 21/2003, S. 52 ff. (54); vgl. zu dem beginnenden Kampf um Kompetenzen Susanne Höll: „Streit um Reform des Föderalismus – Die Länder wollen mehr Eigenständigkeit – Bund soll Kompetenzen abtreten/‘Die Republik verträgt mehr Unterschiede zwischen den Regionen‘“– SZ Nr. 183 vom 11.08.2003, S. 5 423 Stefan Müller, Personalentwicklung und Laufbahnberatung Stuttgart: „Jobnomaden schlagen Wurzeln“ – SZ-Management – SZ Nr. 8 vom 12.01.2004, S. 20 424 So aber Thomas Darnstädt: „Das Prinzip Wettbewerb – Wie der deutsche Föderalismus zu reformieren wäre“ – DER SPIEGEL Nr. 21/2003, S. 52 ff. (57)

118

liche Vorschriften gibt, die sich nur noch als schwer zu überwindende Hürden darstellen und begreifen lassen?

Wir müssen uns endlich bewußt werden, daß sich nicht nur die politischen, sondern vor allem auch die regionalen Reichweiten seit 1949 grundsätzlich erweitert und die Märkte vergrößert haben, so daß alle Bewahrung von Nachkriegs-Kleinstaaterei hier eher hemmend als förderlich ist. Hilfreich für die Flexibilität des politischen Handelns wird sich dieses bereits auswirken, je mehr Zuständigkeiten auf europäischer Ebene ausgeübt werden, die derzeit ebenfalls noch allzusehr von den nationalen Staaten mehr blockiert, allenfalls auf kleinstem Nenner akzeptiert als wirklich im Interesse der beteiligten Mitgliedstaaten und ihrer Bürger umfassend befördert werden.425 Was sich also inzwischen mit der Öffnung nach Europa bereits vollzogen hat, muß jetzt auch innerstaatlich in größeren Dimensionen gesehen und entsprechend nachgezogen, aber eben auch klargestellt werden.426 In diesem Sinne allenfalls gilt „so viel Bundeseinheitlichkeit wie nötig“ und „so viel Föderalismus, wie“ dann noch sinnvoll und „möglich“.427 Der Föderalismus hatte zweifellos in Deutschland allein schon insoweit seine Berechtigung, als er zum einen historisch gewachsen ist, zum anderen nach dem zweiten Weltkrieg eine wichtige Voraussetzung für die Neubildung eines demokratischen Staatswesens war.428 In dem Maße, wie sich die Bundesrepublik aber zunehmend auch in Europa integriert, ja dieses geradezu der einzig gangbare Weg ist, viele der aktuellen Probleme übernational lösen zu können, und Hoheitsbefugnisse dorthin abgibt, findet jedoch immer mehr eine neue, übergeordnete europäische Machtteilung statt429 – eine Art „europäischer Föderalismus“ – 425 Auf das Verhältnis zur Europäischen Union verweist auch Roland Berger: „Ein neuer Konvent für Deutschland“ – HB Nr. 246 vom 20./21.12.2002, S. 9; vgl. hierzu im übrigen Heinrich Wilms: „Überlegungen zur Reform des Föderalismus in Deutschland“ – ZRP 03/2003, S. 86 ff.

426 Insoweit richtig der CSU-Fraktionsvorsitzende Alois Glück in seinem Interview: „Wir wollen keine weitere Zentralisierung Deutschlands – CSU-Fraktionschef Glück erhofft sich von der Föderalismus-Reform mehr Eigenständigkeit in der Landespolitik“ – SZ Nr. 198 vom 29.08.2003, S. 45; Interview mit Edmund Stoiber: „Wir müssen alle beweglicher werden – Edmund Stoiber zum künftigen Verhältnis von Bund und Ländern sowie zum Streit in der Union um die Sozialreformen“ – SZ Nr. 240 vom 18./19.10.2003, S. 2; Markus Verbeet: „Kleinkarierter Größenwahn – die Bundesländer rüsten ihre Vertretungen in Brüssel auf. Die Bundesregierung aber kämpft darum, dass Deutschland in Europa endlich mit einer Stimme spricht – und unterschlägt dabei Abstimmungsprobleme zwischen ihren Ministerien“ – DER SPIEGEL Nr. 46/2004, S. 80 ff.

427 Heribert Prantl: „Dem Bund, was des Bundes ist – Im Streit um die Föderalismusreform setzen die Länder auf einen faulen Kompromiss“ – SZ Nr. 283 vom 06.12.2004, S. 4; Christoph Schwennicke u.

Michael Bauchmüller: „Verdruss am Schluss – Bundesregierung und Länder haben die Reform vereinbart – nun begehren Parlamentarier auf“ – SZ Nr. 54 vom 06.03.2006, S. 2 428 Vgl. auch Johan Schloemann: „Verdruss am Flickenteppich – Die Kleinstaaterei und das Missfallen darüber sind in Deutschland etwa gleich tief verwurzelt“ – SZ Nr. 148 vom 30.06.2006, S. 2 429 Vgl. auch Holger Spreen: „Wachsende Zuständigkeiten von Bund und EU – Sind die Bundesländer noch zu retten?“ – ZRP 02/2004, S. 47 ff.

119

mit der Folge, daß diese im innerstaatlichen Föderalismus tendenziell zurückgenommen werden muß und kann. Föderalismus bedeutet nicht, daß der konkrete, sehr stark zergliederte Zuschnitt, der nach dem 2. Weltkrieg gute Gründe hatte, auch bei zunehmender Integration in Europa und globalem Wettbewerb noch immer richtig ist, vor allem wenn er auch noch schlecht organisiert bleibt und sich viele dringende Probleme nicht mehr in angemessener Zeit und mit vertretbarem Aufwand lösen lassen.430 Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm meinte dazu: „Man konnte 1949 bei der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nicht ahnen, wieviele Probleme sich bald nicht mehr im kleinräumigen Rahmen der Länder lösen ließen, sondern nur noch auf Bundesebene. Man reagierte in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf die damalige Wirtschaftskrise mit einem stärkeren Verbund-Föderalismus, der sich unter den andersartigen Verhältnissen des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts in vielem als hinderlich erwies. Man konnte auch die Gründung der EU und ihre Entwicklung zu einem allgegenwärtigen Mitspieler in der nationalen Politik nicht voraussehen.“431

Ein guter Weg wäre es, wenn aus mehrfach gegebenem Anlaß nun sowohl das europäische Verfassungsabkommen als auch ein gleichzeitiges Weniger an innerdeutschem Föderalismus dem deutschen Volk zur Entscheidung vorgelegt werden würde, um auch auf diesem Weg das gemeinsame Europa zu einer angelegenheit des Volkes werden zu lassen, was es bisher viel zu wenig ist.432 Das gilt umso mehr, als bzw. wenn nun tatsächlich durch den sogen. LissabonVertrag sogar eine Art europäischer „Oberverfassung“ entsteht und der Europäische Gerichtshof zum Oberverfassungsgericht für alle EU-Staaten wird.433 Den 430

Heribert Prantl u. Nico Fried: „SZ-Interview mit Ministerpräsident Peer Steinbrück: ‚Föderalismus taugt nicht für Europa‘ – SPD-Politiker beklagt ‚kakophonen Chor‘ Deutschlands in der EU/Kanzler Schröder will Länder-Mitsprache stärken“ u. Peer Steinbrück: „‘Einige Herren haben jedes Augenmaß verloren‘ – Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen fordert mehr Verantwortungsbewußtsein der Unternehmer und weniger Einfluss der Bundesländer in Brüssel“ – SZ Nr. 99 vom 30.04./01.05.2005, S. 1 u. 5; Heribert Prantl: „Kompromiss der Erschöpften – Die Länder weiten ihren Einfluss auf die Gesetzgebung aus – das Gegenteil war geplant“ u. ders.: „Gesetzgebung im Schweinsgalopp – Wenn Recht im Hauruck-Stil durchgepeitscht wird, degeneriert das Parlament zum Abnickverein“ – SZ Nr. 148 vom 30.06.2006, S. 2 u. 4 431 Dieter Grimm: „Ist das Verfahren der Verfassungsänderung selbst änderungsbedürftig?“ – HFR 20/2007, S. 216 – www.humboldt-forum-recht.de 432 Für mehr Volksentscheidungen grundsätzlich auch der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen – „‘Weltmeister in riskanten Bankgeschäften‘ – EU-Industriekommissar Günter Verheugen übt scharfe Kritik am Versagen der deutschen Finanzaufsicht“ – SZ Nr. 113 vom 18.05.2009, S. 5; kritisch auch Alfred Grosser: „Deutschland auf dem Sonderweg – Die Verfassungsrichter sind für ihr Urteil zur EU bejubelt worden – und ahnen nicht, was sie ausgelöst haben“ und Heribert Prantl: „Der Herr, der 16 Namen hat – Das Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag muss den deutschen Föderalismus in Brüssel vereinfachen“ – SZ Nr. 157 vom 11./12.07.2009, S. 2 und 4; Martin Winter: „Europa ohne Schwung“ – SZ Nr. 207 vom 08.09.2010, S. 4 433 So auch der Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek: „Das Ende des Grundgesetzes – 60 Jahre Bundesrepublik: Die deutsche Verfassung im letzten Jahr ihres Bestehens – schuld ist der EU-

120

Skeptikern, die eine Beendigung des deutschen Föderalismus und die Zustimmung für die europäische Verfassung (wenn auch nur als Vertrag!) derzeit für aussichtlos halten, muß entgegengehalten werden, daß man in der Demokratie für beides intensiv argumentieren und politisch werben muß, sonst bestätigt sich auch von da aus das Demokratiedefizit. Denn gerade auch hier, in der mentalen und überzeugenden Verankerung des politischen Geschehens im eigenen Volk, sind in der Vergangenheit allzu große Mängel festzustellen. 434

Das Bildungsdesaster Auf keinem politischen Feld ist in den vergangenen Jahrzehnten schon so viel „reformiert“, umgebaut, verändert, neu und wieder rückgängig gemacht und dabei fast nichts erreicht worden wie auf dem Bildungssektor. Fachleute, Pädagogen und Bildungspolitiker vertreten im Verlaufe der Zeit ständig sich widersprechende Ansichten und betonen angebliche Wesenselemente meistens nach Form, eher weniger nach Inhalt, Qualität und Effizienz, die sich – man denke nur an die unheilvolle und ineffiziente Strukturdiskussionen für Schulen, zuletzt am Beispiel der Gymnasialdauer G8 oder G9435 – als Folge ideologischer Realitätsferne teilweise weit voneinander unterscheiden oder sogar widersprechen.436 Erfolgreiche Bildungspolitik dürfte sich freilich schon gar nicht an der persönlichen oder parteipolitischen Interessenlage der an diesem Prozeß zahlreich Beteiligten Personen und Bundesländer ornientieren, sondern allein an sachlichen Notwendigkeiten und Zielen, die uns die konkret absehbare Realität beschert und den Menschen frei macht ungeachtet eines ökonomischen Kalküls oder der erstrittenen formalen Zertifikate.437 Für die Durchführung einer auch im Ergebnis erfolgreichen Bildungsarbeit sind weniger Strukturen maßgeblich – formal gestaltbar ist alles, auch nicht die „Kollegstufe“ bei den Gymnasien oder die Verschulung der Universitäten (Bachelor, Master), als eine intensive persönliche und Vertrag von Lissabon“ – SZ Nr. 88 vom 17.04.2009, S. 2; anderer Ansicht der Bielefelder Staatsrechtler Franz Mayer: „Ein Gespenst wird gemacht – Der EU-Vertrag von Lissabon soll das Ende des Grundgesetzes sein? Wer das glaubt, deutet den Vertrag völlig falsch“ – SZ Nr. 92 vom 22.04.2009, S. 2 434 Martin Winter: „Europa ohne Schwung“ – SZ Nr. 207 vom 08.09.2010, S. 4 435 Roland Preuss: „‘Das bringt die Qualität sicher nicht voran‘ – Warum der Pisa-Forscher Manfred Prenzel die Rückkehr zu neun Jahren Gymnasium für einen Riesenfehler hielte“ – SZ Nr. 80 vom 05./06.04.2014, S. 2 436 Burkhard Müller: „Wer spricht von Siegen, wenn Überstehen alles ist – Warum alle Bildungsreformen wie Pendelschläge verfahren und nie befriedigende Resultate zeitigen“ – SZ Nr. 191 vom 20./21.08.2011, S. 13 437 Tanjev Schultz: „Ohne Maß – Bildung entzieht sich dem ökonomischen Kalkül. Sie lässt sich nicht in Euro ausdrücken – aber sie macht den Menschen frei“ – SZ Nr. 269 vom 22.11.2011, S. 26

121

individuelle Förderung und Betreuung der Schüler und Studenten. Das erfordert schlicht Investitionen in die Zahl und Qualität der Bildungseinrichtungen und ihrer Lehrer.438

Vorbereitung auf veränderte Herausforderungen Eine zeitliche Rückschau bedeutet im besten Sinne „Lernen aus Erfahrungen“, im weniger weitreichenden Sinne wenigstens die künftige Vermeidung gemachter schwerer Fehler. Der Nutzen erweist sich in der Regel erst in der Zukunft.

Manchmal nehmen wir uns tatsächlich etwas vor, was wir künftig anders, vielleicht besser machen wollen. Aber wer weiß oder ahnt schon hinreichend genau, was die Zukunft uns neu abverlangt und ansonsten bietet. Sie ist in ihren Herausforderungen noch soviel offener und ungewisser, als wir es unserem Bedürfnis nach Zuversicht439 und existentieller Sicherheit zumuten können, selbst wenn sich manches offen abzeichnet und auch hierzu schon wiederholt versucht worden ist, die wesentlichen Aspekte zu konkretisieren. Auch von daher ist es oft verlockend zu sagen, wir wollen nur nach vorn schauen, weil ein schonungsloser Rückblick peinliche Einsichten vermittelt und Aufarbeitung erfordert, die mühsam, zeitaufwendig und für die Wirkung in der Vergangenheit ohnehin nutzlos erscheint.

Besonders selbstbewußt und zufrieden macht es den Menschen, wenn er erfolgreich ist und aus eigener Kraft selbstverantwortlich für seinen Lebensunterhalt sorgen kann. Die Jahre des Aufbaus nach dem zweiten Weltkrieg haben das erneut in einmaliger Weise gezeigt. Es gab hinreichend gewichtige Anreize, wieder hin zu einem besseren Lebensstandard zu kommen, jedoch auch die Bereitschaft, sich selbst mit Fleiß und Disziplin „ins Zeug zu legen“. So entstand das sogenannte deutsche „Wirtschaftswunder“ und immer mehr auch Wohlstand für alle.440 Diese Erfolgsgeschichte mit ihren Voraussetzungen und Bedingungen ist freilich nicht nur historisch gültig, sondern immer, also auch für die weitere Zukunft. Die Menschen sollten sich das immer wieder neu klarmachen.

Auch wenn viele Menschen die Realitäten noch nicht recht übersehen können, zeichnet sich doch ab, daß vieles verändert werden muß, um sich auf die neuen Herausforderungen des Lebens so einzustellen, daß es auch weiterhin gelingt, nicht nur die eigene Existenz zu sichern, sondern das auch unter den anspruchsvollen Bedingungen zu erreichen, die vor allem die bisherigen Industrieländer als 438

Vgl. auch Johann Osel: „Warme Worte, faule Säcke“ – SZ Nr. 266 vom 17./18.11.2012, S. 4 Nach Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“, S. 164 die inzwischen „knappste Ressource“.

440 Siehe auch Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“. S. 54 ff.

439

122

Lebensstandard gewohnt waren. Hier gilt das Goethewort: „Nur was sich ändert, bleibt.“ Zumindest eine neue Herausforderung der schnell fortschreitenden Globalisierung ist die Tatsache, daß es wohl überhaupt keine Haltepunkte oder Ruhephasen mehr geben wird, auf die man sich in jungen Jahren einrichten kann und die dann für einen großen Teil des Lebens stabil und berechenbar bleiben.441 Gleichzeitig ergeben sich daraus Rückwirkungen auf das allgemeine und private Miteinander. Immer mehr Menschen, die zugleich Wähler und oberster Souverän in einem demokratischen Staat sind, verstehen von vielem, das sich außerhalb ihres engen Berufsfeldes abspielt, überhaupt nichts mehr. Als Begründung hat der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner Hamburger „Freitagsgesellschaft“ zum Austausch von Wissen, Einsichten und zur Anregung von Ideen darauf hingewiesen, daß viele Menschen bereits allzusehr dazu neigen, ihren Freundes- und Bekanntenkreis auf das berufliche Umfeld zu beschränken und angesichts einer solchen „geistigen Unzucht“ Informationen jenseits ihres beruflichen Interesses nur noch über die Massenmedien aufzunehmen. „Die Gefahren einer Aufspaltung unserer Gesellschaft in egoistische Interessengruppen und die damit einhergehende Verflachung unserer Kultur sind längst schon sichtbar geworden“.442 Nicht alle waren bei dieser Auseinanderentwicklung in die verschiedensten Richtungen allein ihres Schicksals Schmied. Schon die Startbedingungen waren und sind naturgemäß unterschiedlich. Immer schon gab es auf dieser Welt arm und reich ebenso wie gesund und krank. Auch die Gründe für diese unterschiedliche Ausstattung der Menschen mit materiellen Gütern sind seit eh und je verschieden. Die einen werden in den Reichtum hineingeboren wie andere in die Armut. Wenn sie Glück haben, erwerben sie eine Erbschaft oder gewinnen in der Lotterie. Alle anderen müssen sich ihre Existenz mühsam über Arbeit selbst schaffen, und auch dabei hat nicht jeder die Chance, das seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten entsprechend zu tun.

Zum weiteren gab und gibt es es ideelle und mentale Unterschiede im jeweiligen Elternhaus, also etwa bei der Frage, was wirklich wichtig und erfolgreich ist im Leben und was nicht, bei der Ausgestaltung und dem Vorleben bestimmter Werte und der eigenen Bildung und Erziehung. Sie prägen so maßgeblich und 441

Vgl. etwa Stefan Heumann: „Arbeit 4.0 – Die Berufswelt wandelt sich immer schneller, der Staat müste dringend in Qualifizierung investieren, anstatt an ihr zu sparen“ – SZ Nr. 211 vom 12.09.2016, S. 2 442 Helmut Schmidt (Hrsg.): „Vertiefungen – Neue Beiträge zum Verständnis unserer Welt – Protokolle der Freitagsgesellschaft“ – 3. Auflage Siedler Verlag München 2010, S. 10; vgl. dazu auch Frank Schirrmacher: „Ego – Das Spiel des Lebens“ – Blessing Verlag 2013 und die Besprechung von Andreas Zielcke: „Das Monster in uns – Am Anfang war nur eine Fiktion: der Homo oeconomicus.

Doch längst hat dieses Modell die Macht über die reale Ökonomie, vor allem aber über die Individuen gewonnen. Frank Schirrmachers Buch ‚Ego‘ lehrt uns das Grauen“ – SZ Nr. 40 vom 16./17.02.2013, S. 13

123

von Anfang an das persönliche Fortkommen der eigenen Kinder auch dann, wenn sie materiell nicht so gut ausgestattet sind, während andere es einfach laufen lassen. Es scheint wie ein Naturgesetz zu sein: Die Menschen sind und bleiben untereinander verschieden und zwar auch in vielerlei Hinsicht, die ihre Entwicklungmöglichkeiten angehen. Der Historiker Paul Nolte stellt richtigerweise fest: „Bildung und Besitz sind immer noch die Grundlage dieser neu-alten Klassengesellschaft“.443 Und verschieden wie die Umstände, die persönlichen, politischen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen, die das noch zusätzlich beeinflussen und so das Schicksal der Menschen bestimmen, sind auch die Folgen.

Das ist trotz aller „Entwicklung“, welche die Menschen genommen haben, grundsätzlich bis zum heutigen Tage so geblieben und wird sich wohl auch dem Grunde nach nie ändern, auch wenn hier wegen zunehmender wechselseitiger Abhängigkeit eine weltweit größere Ausgewogenheit in aller Interesse wäre.444 Auch wenn sich das in den traditionellen Industriestaaten dank ihres immer mehr auch ausgebauten Sozialstaats in den letzten Jahren weniger auffällig gezeigt hat, und der Glaube an einen dauerhaften Wohlstand für lange Zeit schon fast zur Gewißheit geworden war, so geben doch andererseits viele Menschen noch immer ein trauriges Zeugnis ab von ihrer Lebens- oder besser gesagt Überlebenssituation. Inzwischen haben alle wieder erfahren und gelernt, daß die Welt kein perpetuum mobile ist, auch wenn Deutschland insbesondere die große Wirtschafts- und Finanzkrise dank rechtzeitiger Anpassungsmaßnahmen in der Wirtschaft zur Verbesserung der Wettbewerbssituation und der Mithilfe der Politik durch die Agenda 2010, die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes und von Finanzhilfen relativ gut überstanden hat.445 Aber nichts ist nur gut oder nur schlecht. Es wird Zeit, auch Veränderungen nicht nur als lästige neue Aufgaben zu beklagen, sondern ihre Vorteile zu nutzen und ihre Schwächen zu bekämpfen, gerade auch um die Vorteile nicht zu gefährden.

Inzwischen verändern sich die bekannten Gegebenheiten und Rahmenbedingungen für die Menschen auf dieser Erde weiter in einer zunehmenden Geschwindigkeit, wie das in keiner Generation bisher erlebt wurde oder auch nur vorstellbar erschien. Die weltweit gespeicherten, ausgetauschten und verarbeiteten Informationen wachsen seit Jahrzehnten exponentiell.446 Die Zeiten, in denen 443

Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 35 Bob Geldof: „Wohlstand für alle – oder für niemanden – Die simplen Gesetze der Wirtschaft: Wer die Krise bekämpfen will, muss die Armut von drei Milliarden Menschen bekämpfen“ – SZ Nr. 32 vom 09.02.2009, S. 2; Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 35 sieht hier noch immer das Abbild der alten Klassengesellschaft.

445 Marc Beise: „Ein letztes Hurra – Deutschland geht es hervorragend. Womöglich nicht mehr lange“ – SZ Nr. 88 vom 15.04.2011, S. 17 446 Christopher Schrader: „Explosion des Cyberspace – Die weltweit ausgetauschte Informationsmenge wächst seit Jahrzehnten exponentiell – erstmals ziehen Forscher Bilanz“ – SZ Nr. 34 vom 11.02.2011, S. 18 444

124

sich gesichert erscheinendes Wissen halbiert, d.h. nicht zur Hälfte unrichtig wird, aber nur noch halb-zureichend ist, um eine tragfähige Grundlage für einen aktuellen Verwendbarkeitsnutzen und damit für eigenes gedeihliches Handeln zu sein (sogen. „Halbwertzeiten“), werden immer kürzer. Man nimmt an, daß sich das Wissen der Menschheit insgesamt jetzt schon alle vier Jahre verdoppelt.447 Damit einher geht der Wandel der Einschätzung dessen, was für die Menschen wichtig ist oder nicht, was richtig oder falsch ist. Das kann für verschiedene Kulturkreise höchst unterschiedlich sein, so daß das immense Wissen immer wieder neu die verschiedensten Filter durchläuft. Der allgemeine, traditionelle Wissenskanon verliert ebenso seine Dominanz wie die Rolle sogenannter Experten.448 Es gehört nicht viel Phantasie dazu vorauszusagen, daß angesichts dessen und der jeweils neu verfügbaren und immer leistungsfähigeren Technik, deren Weiterentwicklung ebenfalls exponentiell verläuft, jede einzelne Innovation selbst zahllose weitere generiert und so fort.449 Man wird daher aus heutiger Sicht als sicher annehmen können, daß der technische und medizinische Fortschritt weiter voranstürmt: „Der Phantasie, was künftig in der Therapie, auch durch Medikamente, möglich wird, sind kaum Grenzen gesetzt“.450 Die Menschen werden immer intensiver damit konfrontiert werden. Wie wir diese Fülle dann noch überschauen und sinnvoll verarbeiten können, ist eine der Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Der Computer als „Geistverstärkung“ wird uns weiterhin viel Denk- und Planungsleistungen abnehmen, von denen viele nicht einmal ansatzweise verstehen, was dabei passiert. Spätestens zur nächsten Jahrtausendwende wird die Menschheit die Globalisierung heutiger Lesart überwunden haben und sehr konkret ihre Fühler in den Weltraum ausstrecken, also die Erde verlassen und schließlich andere Himmelskörper besiedeln, so wie es die Europäer einst nach den Entdeckungen des Seefahrers Christoph Columbus auf dieser Erde mit dem neuen Kontinent Amerika getan haben.

Was bedeutet schon das allein für ein Bildungskonzept, das nicht weiter darin bdestehen kann, immer mehr Wissen in die Köpfe zu bekommen, sondern das vorhandene Wissen sich bedarfsgerecht verfügbar zu machen? Welche Konsequenzen hat das wiederum für die Methoden des Wissensmanagements?

447

Peter Hahne: „Schluss mit lustig..“, S. 129 „‘Wer mit Ausbildung argumentiert, macht sich lächerlich‘ – Harvard-Forscher David Weinberger über die Zukunft der Wissensgesellschaft – und Alternativen zum klassischen Expertentum“ – SZ Nr. 162 vom 16.07.2013, S. 12 449 Vgl. dazu auch Antonio Schnieder u. Tom Sommerlatte (Hrsg.): „Die Zukunft der deutschen Wirtschaft – Visionen für 2030“ – Publicis Verlag Erlangen 2010 450 z. b. Otto-Albrecht Müller: „Ein schier unübersehbares Arsenal – Die enorme Erweiterung des diagnostischen Spektrums und große Fortschritte in der Therapie kennzeichnen die Entwicklung der Inneren Medizin“ – SZ Nr. 256 vom 05.11.2010, S. 31; Nina v. Hardenberg: „Der teure Gang zum Radiologen – Ärzte lassen ihre Patienten immer häufiger mit Hilfe modernster Technik durchleuchten – die Krankenkassen warnen vor steigenden Behandlungskosten“ – SZ Nr. 26 vom 02.02.2011, S. 7 448

125

Schon hier muß man jedoch auch als Tatsache feststellen, daß neben dem verfügbaren Wissen immer wieder die Fähigkeit zu entwickeln bzw. zu verändern ist, sich in den wechselnden Situationen und unter Menschen verschiedener Herkunft und Kultur, Ausbildung, Funktion und Erwartung angemessen, d.h. respektvoll und wertschätzend zu bewegen. Voraussetzung dafür ist die Einsicht, daß inzwischen vieles an traditionellen Werten und Moralvorstellungen unter dem ständig waqchsenden Druck und Eindruck einer harten, bisweilen schon skrupellosen Wettbewerbsgesellschaft verloren gegangen ist, was in früheren Generationen anscheinend selbstverständlich zur Verfügung stand. Hierbei geht es nicht nur um die Akzeptanz und Würdigung der Mitmenschen als solche, sondern nicht zuletzt auch um die Effizienz in der Sache, die ohne Beachtung der Spielregeln zur Schaffung und Erhaltung tragfähiger und vertrauensvoller Beziehungen nicht zu erreichen ist.

Das alles wird – wie schon in der Vergangenheit – nicht ohne Auswirkungen auf die Menschen, ihre Berufe, ihre Flexibilität und Mobilität und ihren Lebensstandard bleiben. Vor allem hat das ungeahnte Auswirkungen auf unsere Bildungsanstrengungen. Schlüsselfunktion wird es daher sein, diesen Entwicklungen vor allem geistig und mental gewachsen zu bleiben, was die Notwendigkeit und permanente Bedeutung rechtzeitiger und weitestgehender Ausbildung und ständiger Übung und Weiterbildung in geradezu einfachster und naheliegender Weise belegt.451 Unter dem vorausweisenden Titel: „Wie wir arbeiten werden“ hat der Club of Rome schon Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts versucht, die Bedingungen und Strukturen aufzuzeigen,452 die im Arbeitsleben der Zukunft gelten werden. Inzwischen zeigen sich auch in der Realität gravierende Einschnitte gegenüber dem, was die Menschen bislang gewohnt waren, die der Globalisierung, dem technischen Fortschritt, aber auch etwa den Erfahrungen aus der noch immer nachwirkenden großen Finanzkrise geschuldet sind. Als Teil der Weltwirtschaft steht auch die deutsche Wirtschaft nicht nur weiterhin vor einem beachtlichen und fortlaufenden Strukturwandel, denn sie muß, um erfolgreich zu 451 Daniela Kuhr: „Kündigung wegen fehlender Qualifikation ist auch nach 40 Jahren zulässig – Landesarbeitsgericht: Arbeitnehmer müssen sich im Zweifelfsfall selbst darum kümmern, dass sie mit der zunehmenden Technisierung im Job mithalten können“ – SZ Nr. 261 vom 12.11.2009, S. 20 452 Orio Giarini u. Patrick M. Liedtke: „Wie wir arbeiten werden – Der neue Bericht an den Club of Rome“ – Heyne Sachbuch 19/664 – Wilhelm Heyne Verlag München 1997; siehe jetzt auch Karin Kaudelka u. Gerhard Kilger (Hrsg.): „Die Arbeitswelt von morgen – Wie wollen wir leben und arbeiten?“ – Transcript Verlag Bielefeld 2010; Dieter Schweer: „Industrie im Jahr 2030 – Technologische Umbrüche sind nicht aufzuhalten. Und das Tempo der Veränderungen nimmt deutlich zu“ – SZ Nr. 29 vom 04./05.02.2012, S. 2; Lyna Gratton: „Job Future – Future Jobs – Wie wir von der neuen Arbeitswelt profitieren“ – Hanser Verlag München 2012; Ulrich Walwei: „Gute Arbeit, schlechte Arbeit – Der Wandel der Erwerbsformen hat nicht unbedingt negative Folgen für die Arbeitnehmer“ – SZ Nr. 92 vom 20.4.2012, S. 18 m. Hinweis auf das Buch „Die zukunft der Arbeit“ – SZ-Wirtschaftsredaktion 2012.

126

bleiben, ebenso wie die europäische Wirtschaft in einem bisher nicht gekannten Ausmaß flexibel sein und schnell und wirksam reagieren können. Das erfordert ein Höchstmaß an Handlungsfreiheit und Entbürokratisierung der Unternehmen, die in anderen Staaten dieser Welt – u.a. USA, aber auch beispielsweise Dänemark – jetzt schon gegeben sind und mit denen wir konkurrieren. Hier wirken sich alle Elemente starrer Regulierung, wie wir sie in Deutschland kennen und die wir noch immer als erreichte soziale Absicherung feiern, als hemmend aus.

Sie beeinträchtigen tendenziell die neuen Erfordernisse wie etwa eine noch frühere und intensivere Einbindung von Kunden und Stakeholdern sowie auch die zunehmende Auflösung klassischer Branchengrenzen.453 Wird das nicht verändert, führt es zu wirtschaftlichen Abstrichen im weltweiten Konkurrenzkampf, die damit zur Einschränkung der Mittel, die zur Finanzierung eines anspruchsvollen Sozialstaates unabdingbar bleiben.

Alles dieses hat einen grundlegenden Wandel der Arbeitswelt zur Folge.454 Die EDV-Technik wird eine noch größere Rolle spielen und die Ansprüche an qualifizierte Menschen mit der Fähigkeit zu selbtständigen Arbeiten werden weiter steigen. Die Individualisierung wird sich ebenso fortsetzen, weil man immer öfter auch die Anwesenheit im Büro nicht mehr benötigt. Andererseits wächst angesichts der Demographie der Bedarf an sozialer Arbeit, der von den berufstätigen Familienmitgliedern immer weniger geleistet werden kann. Freizeit wird zum Luxusartikel.455 Daraus folgt unmittelbar eine grundsätzliche Abkehr auch von den gewohnten lebenslangen Daueranstellungen im Berufsleben. „Nichts ist“ – wie der Soziologe Ulrich Beck das formulierte456 – „so gewiß sein wie ein unsicherer Job.“ Die Menschen werden in ihrem Leben immer häufiger verschiedene, vergangenheitsorientiert noch immer als „atypisch“ bezeichnete Beschäftigungen und Berufe aneinanderreihen, mehr und auch mehrere Teizeitjobs innehaben (derzeit 2,7 Mio Arbeitnehmer, d.h. knapp 9 Prozent), befristet arbeiten und vor allem stets örtlich mobil sein müssen.457 Letzteres hat wiederum 453 Dieter Schweer: „Industrie im Jahr 2030 – Technologische Umbrüche sind nicht aufzuhalten. Und das Tempo der Veränderungen nimmt deutlich zu“ – SZ Nr. 29 vom 04./05.02.2012, S. 2 454 Siehe auch Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“. S. 48 ff. und 69 ff.; Sibylle Haas: „Mobiler, weiblicher, älter – Von Selbstvermarktung, mehr Bildung und mehr Wissen – zehn Trends bestimmen die Arbeitswelt von morgen“ – SZ Nr. 275 vom 29.11.2011, S. 26 – dort auch: „Die Serie im Überblick – Die Zukunft der Arbeit hat viele Facetten.

Die Bedingungen, unter denen die Menschen arbeiten, verändern sich bereits heute. Das ist eine große Herausforderung, die es zu nutzen gilt“.

455 So auch „‘Geld kann man nicht essen‘ – Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, über den Wert menschlicher Arbeit, Gewerkschaften und sein Leben als Pfarrer in Rheinhausen“ – SZ Nr. 130 vom 07.06.2011, S. 2 456 „‘Nichts ist heute so gewiss wie ein unsicherer Job‘ – Der Soziologe Ulrich Beck über das Ende der Wirtschaftswunder-Republik, die Probleme moderner Partnerschaften und die Frage, was er an Helmut Kohl schätzt“ – SZ Nr. 35 vom 12.02.2010, S. 30 457 Thomas Öchsner: „Alarmierende Zahlen zur Erwerbstätigkeit in Deutschland – Unsichere Arbeitsplätze werden zur Regel – Unternehmen stellen die Hälfte aller Beschäftigten nur noch befristet

127

Auswirkungen auf unsere familiären Strukturen (Ehen und Partnerschaften, Wohnsitze, Aufenthalt und Ausbildung der Kinder usw.).458 Jedes unternehmerisches Handeln ist auch daran zu messen, ob und wieweit es der Allgemeinheit und nicht den Arbeitsplatzbesitzenden dient.459 Gleichzeitig fordert es die bislang erreichte und formal abgesicherte soziale Sicherheit heraus, die zumindest in ihrer formalen Ausgestaltung aufgeschlossen werden muß, um für eine weiterhin berechtigte Zielsetzung neue und flexible, und damit auch für sie im Ergebnis erfolgreiche Wege zu finden. Vorrangig stellt sich die Frage, wie sich die Menschen – junge vor der Berufswahl stehende ebenso wie bereits im Berufsleben befindliche – zur Aktualisierung ihrer Qualifikation und Anpassung an die neuen Herausforderungen sinnvoll und vor allem nachhaltig vorbereiten können.

Mit der Zeit und dem Rhythmus von Jahrzehnten und Jahrhunderten wechseln vor allem die Generationen. Die nachwachsenden Menschen dürfen jetzt – jeder für sich – für ihr eigenes Leben noch einmal die gleichen Fehler machen, welche die vorangegangenen, jetzt älteren sie zu ihrer Zeit – wenn auch unter anderen Umständen – auch gemacht haben. Daraus erwachsen nun auch für sie die notwendigen höchstpersönliche Erfahrungen und Orientierungen, die sich unter Menschen „erfahrungsgemäß“ leider nicht von einer Generation auf die andere, von einem Älteren auf den Jüngeren übertragen und so als nachgelassene persönliche Erbschaft weitergeben lassen. Jeder muß immer wieder von neuem seine eigenen Erfahrungen machen. Dieser mühsame Prozeß des Gewinnens eigener Einsichten aus Erfahrungen ist nicht nur deshalb unvermeidlich, weil die Menschen andere sind, sondern auch Dinge sich verändert haben, die als „Lebensbedingungen“ in ihrer Zeit anders wirken als die Umstände der Vorzeiten.

Insbesondere wird es bei speziellen sozialen Auswirkungen unter dem Einfluß eines zunehmenden Wettbewerbdrucks verbleiben, mit denen viele Menschen zu kämpfen haben, die sich nicht rechtzeitig auf neue oder absehbare Bedingungen einstellen. Die Struktur der Arbeitsplätze verändert sich immer mehr von den lange Jahrzehnte durch Ausbildung gut beherrschten und gewohnten Dauerarbeitsplätzen hin zu fragmentierter Arbeit mit völlig veränderten Anforderungen, in Teilzeitjobs, befristeten Arbeitsverhältnissen und ähnlichen Vielfalten, die ein/Junge Leute besonders betroffen“ und Marc Beise: „Sicherheit ist nicht mehr normal – Die rapide steigende Zahl befristeter Jobs ist das Ventil eines überregulierten Arbeitsmarktes“ – SZ Nr. 63 vom 17.03.2010, S. 1 und 4; Charlotte Frank: „Frist oder stirb – Ein Haus, zwei Autos, der Arbeitsplatz bis zur Rente: Das war die Welt der Eltern. Wer heute jung ist, kann froh sein, wenn er einen Zeitvertrag über zwei Jahre bekommt. Eine ganze Generation lebt in der Warteschleife – bis zum nächsten Job“ – SZ Nr. 113 vom 19.05.2010, S. 3 458 Vgl. auch Norbert Blüm: „Familie am Ende – Ehenen werden nur noch auf Zeit gescghlossen, Kinder vom Staat betraut: Damit verliert die Gesellschaft ihren Zusammenhalt“ – SZ Nr. 104 vom 06.05.2013, S. 2 459 „‘Wettbewerb ist solidarisch‘ – Der Wirtschaftsethiker Karl Homann über Globalisierung und Nokias Werkverlagerung“ – SZ Nr. 24 vom 29.01.2008, S. 21

128

sehr zur Verunsicherung der Menschen beigetragen haben. Einfache Arbeiten fallen massiv weg und werden entweder ersatzlos von der Technik übernommen oder längst in gleicher Qualität, aber zu erheblich geringerem Lohn in Schwellen- und Entwicklungsländern zu deren Vorteil geleistet. Verändert haben sich auch Verhaltensweisen im Beruf mit der Folge, daß sich die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit immer mehr verwischt. Dazu gehört nach Feststellungen des Sozialwissenschaftlers Hilmar Schneider auch, daß Beschäftigte in Zukunft deutlich mehr unternehmerische Risiken tragen.460 „Fernbeziehungen, Dienstreisen, Laptops und Smartphones halten den Menschen ständig in Bewegung“. .. „Immer schneller, immer mehr: In der modernen Welt wird der Mensch zum Getriebenen. In der Kommunikationsflut ist es schwer genug, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.“461 Gering qualifizierte Arbeitskräfte lassen sich nicht – und schon gar nicht schnell auf höher qualifizierte Arbeitsplätze hin entwikkeln, obwohl gerade dort der Ersatzbedarf wächst (z. B. Ingenieure). Gut ausgebildeter Nachwuchs hingegen wandert oft ins Ausland ab, weil er dort mehr verdienen kann, und steht für die dringend benötigte Qualitätssicherung im Inland nicht mehr zur Verfügung. Denn auch die Einkommensverhältnisse sind teilweise deutlich schlechter geworden. Die Diskussion um „Mindestlöhne“ und „Kombilöhne“ zeigt das ebenso wie die teils angebliche, teils tatsächlich ausbleibende Teilhabe am wirtschaftlichen Aufschwung. Die Schere aus Arm und Reich vergrößert sich mehr und mehr, auch wenn deren Größenordnung möglicherweise noch zu ausschließlich hervorgehoben und dramatisiert wird.462 Das einmal schon weitgehend erreichte Ziel eines „Wohlstandes für alle“ bröckelt.

Dennoch: Die Spaltung in Arm und Reich nahm zu. Die Menschen wollen diesen Finanzkapitalismus nicht wiederhergestellt sehen, damit er so ungerecht und auf ihre Kosten weiterläuft wie bisher.463

460 „‘Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verwischt‘ – Beschäftigte müssen in Zukunft deutlich mehr unternehmerische Risiken tragen, sagt der Sozialwissenschaftler Hilmar Schneider. Das verändert auch den Alltag“ – SZ Nr. 119 vom 24.05.2011, S. 26 461 Vgl. den Bericht über eine Diskussionsrunde im Bayerischen Rundfunk und der Süddeutschen Zeitung von Silke Bigalke: „Mit dem Blackberry im Bett – Immer schneller, immer mehr: In der modernen Welt wird der Mensch zum Getriebenen. In der Kommunikationsflut ist es schwer genug, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen“ – SZ Nr. 121 vom 26.05.2011, S. 18; Alexandra Borchardt: „Verhinderte Superstars – In einer Welt der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten stoßen immer mehr Menschen an ihre eigenen Grenzen“ und „‘Viele halten das Tempo nicht mehr aus‘ – Die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz nehmen zu, doch man kann sich darauf einstellen. Werner Fürstenberg und sein Team helfen Beschäftigten in Not“ – SZ Nr. 164 vom 19.07.2011, S. 26 462 Kurt Kister: Mehr als Arm und Reich“ – SZ Nr. 300 vom 29./30.12.2012, S. 4 463 Thomas Wiedzorek: „Die DAX-Ritter – Wie Manager unser Land ruinieren“ – Knaur Taschenbuch Verlag; Alexander Hagelüken: „Weltwirtschaft am Abgrund“ – SZ Nr. 229 vom 01.10.2008, S. 4; August-Wilhelm Scheer: „Verloren in der Welt der Modelle – Ökonomen lernen im Studium zu viel über Zahlen und zu wenig über Menschen – auch und darum sind sie der Krise nicht gewachsen“ sowie Nils Goldschmict u. Joachim Zweynert: „Gute alte Zauberformel – Der Begriff Ordnungspoli-

129

Dazu kommt etwas anderes, das im allgemeinen sehr hoch gewichtet wird und worauf deshalb niemand verzichten will: Die Handlungsfreiheit jedes einzelnen, mit persönlichem Einsatz und Engagement etwas aus seiner Situation für sich zu machen oder auch nicht, möglicherweise sogar zu resignieren oder sich auf die faule Haut zu legen. Dabei unterscheiden sich persönliche Fähigkeiten nicht minder als die Bereitschaft, zur Verfolgung der Lebensziele höhere oder nur geringe Risiken einzugehen. Dabei ist offensichtlich, daß nur eine im weltweiten Wettbewerb wieder erfolgreiche Wirtschaft mit entsprechendem Wachstum auf Dauer in der Lage ist, erneut stabile Beschäftigung für möglichst viele und dann auch eine angemessene Bezahlung für diese Beschäftigung zu schaffen. Ob des freilich dabei zu all den Veränderungen kommen wird, die insbesondere in Fragen der Führung und Zusammenarbeit vorhergesagt werden,464 bleibt durchaus offen, denn sie übersehen, daß der Mensch in seinen grundlegenden Wünschen und Bedürfnissen – das ist weitaus mehr und intensiver als vordergründige „Besitzstandswahrung“ – sich nicht grundsätzlich ändern wird.

Diese Verschiedenheit in den Rahmenbedingungen wie auch als Folge der individuellen Handlungsfreiheit bedingt alles in allem ein hohes Maß von Ungleichheit bei den Ergebnissen für jeden einzelnen. Die Folgen waren und sind gesellschaftliche Klassen (Karl Marx), Klassenkämpfe, soziale Bewegungen und das zwar gut gemeinte, aber nicht nur theoretisch, sondern nun auch empirisch widerlegte Gesellschaftsbild des Kommunismus und Sozialismus.465 Jede Interessengruppe definiert auch bei uns nach wie vor hemmungslos ihre ganz speziellen und situationsabhängigen Erwartungen, Ansprüche und Entscheidungskriterien allein im Sinne eines „immer mehr“ für sich bzw. „nun reicht es aber“ mit den Zumutungen für die Leistenden, und jeder richtet seine Forderung dabei naturgemäß jeweils an die anderen, notfalls auch an wen immer es angeht. Vieles davon segelt inzwischen international auch unter der Flagge religiöser Bewegungen, von Stammesauseinandersetzungen und sogar Kriegen, die je nach Leidensdruck und Zivilisationsgrad dann – jenseits organisierter Konfliktlösungsmechanismen – in mehr oder auch „weniger geordneten“ Bahnen verlaufen.

Und damit dieses auch künftig so bleibt, bildet jeder, je nachdem, welcher Kategorie er sich überwiegend zugehörig fühlt, gern Sektionen und Selektionen, um sich von der Allgemeinheit erkennbar abzusetzen, wenigstens im Kreise gleich Betroffener und ähnlich Gesinnter verstanden zu werden, aber auch die als spezifisch empfundenen Lebensdefizite anderen deutlicher zu machen und daraus Forderungen an sie abzuleiten. Wir sprechen vom Kampf der „organisierten tik ist aktueller denn je, doch die modernen Ökonomen halten ihn für überholt. Zu Unrecht, wie die Wirtschaftskrise zeigt“ – SZ Nr. 106 vom 09./10.05.2009, S. 2 und 26 464 Sibylle Haas: „Arbeiten ohne Chef – Personalexperte Thomas Sattelberger über den Büroalltag der Zukunft“ – SZ Nr. 104 vom 06.05.2013, S. 19 465 Richtig Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 198

130

Interessen“, wobei die großen und traditionellen Volksparteien diese immer gleichzeitig verfolgen wollen, in Wahrheit aber immer weniger abdecken können.

Die Unternehmen erkennen so nach und nach, daß auch sie als sogenannte „Global Player“ von den Nachteilen unmittelbar betroffen sein können und denken mehr und mehr darüber nach, von sich aus eine „unternehmerische Verantwortung“ (Corporate Social Responsibility – CSR) anzuerkennen. Und wenn sie es ernst meinen und wirklich wirksame Effekte damit erzielen wollen, sorgen sie dafür, daß diese Verantwortung nicht nur irgendwo als ein medienwirksames Alibi-Projekt als Kompension für den Vertrauensverlust im eigentlichen Kerngeschäft nebenher betrieben wird, sondern zu einem integralen Bestandteil sowohl der Unternehmensstrategie als auch den Verhaltens jedes einzelnen Mitarbeiters im Unternehmen wird.466 Selbstverständlich versteht sich mittlerweile die Europäische Union nicht nur als eine Handels- und Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch als eine „Sozialgemeinschaft“,467 eine europäische Sozialunion.

Die zunehmende Abhängigkeit, aber auch der mobile regionale Austausch und die Zuwanderungen überall auf der Welt berühren notgedrungen auch die in den jeweiligen Ländern gewachsenen kulturellen Werte und Grundanschauungen der Lebensweise. Aus vielerlei Gründen bekennen wir uns zu einem hohen Maß an Toleranz und Respekt vor allem, was in diesem Sinne noch fremd erscheint.

Gleichzeitig müssen wir uns schützen vor Gewalt und Aggressionen, die im vermeintlichen Namen ideologischer oder religiöser Bekenntnisse ausgeübt werden. Mit einem Wort: Die Welt – und auch wir in ihr – benötigen eine langfristige Handlungsstrategie für den Umgang etwa mit dem Islam,468 die dann auch das konkrete politische Tagesgeschäft leitet. Über die Bedeutung des Wissens nicht nur für die Kultur eines Landes, sondern auch für die Wirtschaft in einer ansonsten rohstoffarmen Gesellschaft ist schon viel Richtiges gesagt worden.469 Wissen ist dabei weitaus mehr als bloße Information, die auch Unsinn, Lüge und Irrtum umfaßt. Notwendig und entscheidend ist die „qualitativ ausgelesene und somit wirkliche werthaltige Nach466 Vgl. etwa Michael Otto: „Unternehmerische Verantwortung im Rahmen der Globalisierung“ in Helmut Schmidt (Hrsg.): „Vertiefungen – Neue Beiträge zum Verständnis unserer Welt – Protokolle der Freitagsgesellschaft“ – 3. Auflage Siedler Verlag München 2010, S. 35 ff.; Nils Goldschmidt u.

Karl Homann: „Mehr Verantwortung für die Unternehmen – Warum Unternehmen die Gestaltung der Wirtschaft nicht den Politikern und Meinungsführern allein überlassen dürfen“ – SZ Nr. 296 vom 23.12.2011, S. 18 467 Ulrich Becker, Hans Günter Hockerts und Klaus Tenfelde (Hrsg.): „Sozialstaat Deutschland – Geschichte und Gegenwart“ – Dietz Verlag Bonn 2010 und seine Besprechung von Werner Bührer: „Von der Zukunft des Sozialstaates“ – SZ Nr. 192 vom 21./22.08.2010, S. 30 468 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 185, 186 469 U. a. Sibylle Haas: „Rohstoff Wissen – Immer mehr Menschen haben hoch qualifizierte Berufe oder sind Dienstleister – der klassische Arbeiter verliert an Bedeutung“ – SZ Nr. 119 vom 24.05.2011, S. 26

131

richt(en) durch ihren tatsächlichen und zuverlässigen Wissensgehalt in der Wirklichkeit von Natur, Gesellschaft oder Wirtschaft“, um es dort auch nutzbringend zu verwenden. Zu diesem Wissen gesellt sich das Können und der Wille, davon in wechselnden Situationen auch nutzbringend und verantwortungsbewußt Gebrauch zu machen, also auch die erforderliche emotionale Intelligenz.470 Den neuen Berufszielen entsprechend muß sich die Ausbildung anpassen.

Dabei geht es weniger um eine äußerlich gleichmäßige, aber noch nichts bewirkende neue Etikettierung der Schulen471 oder formale Systematisierung der Ausbildungswege – etwa die Bologna-Reform: Bachelor, Master in Europa oder das geplante Qualifikationsraster „Deutscher bzw. Europäischer Qualifikationsrahmen (DQR, EQR)“, die noch immer nicht bundesweit allgemein anerkannten Abschlüsse für Lehramtskandidaten oder die Wettbewerbsdiskussion über den Wertevergleich von Abitur und beruflicher Ausbildung in Deutschland472 – als um eine personelle und inhaltliche Ausrichtung an den Erfordernissen der neuen Rahmenbedingungen mit dem Ziel; statt eines schnell veraltenden großen und breiten Spezialwissens tatsächlich die Fähigkeiten zum Selbstlernen, zu analytischem Denken und kreativen Problemlösungen zu verbessern.473 Im deutschen Bildungswesen herrscht bis zum heutigen Tage ständige Bewegung, aber kaum ein überprüf- bzw. feststellbarer Fortschritt. Immer wieder wird diese Tatsache – sicher mit Recht – kritisiert.474 Was ist hier in den letzten Jahrzehnten nicht schon alles geredet, versucht, auch in Ansätzen unternommen und nach dem Rat angeblicher Fachleute verändert worden! Die Vorschläge von sogenannten Experten überschlagen sich, sind aber keineswegs identisch, so daß

470 Hubert Markl: „Forschung und Innovation in Deutschland“ in in Helmut Schmidt (Hrsg.): „Vertiefungen – Neue Beiträge zum Verständnis unserer Welt – Protokolle der Freitagsgesellschaft“ – 3.

Auflage Siedler Verlag München 2010, S. S. 195 ff. (200, 201) 471 Johann Osel: „Eine Schule ohne Sitzenbleiber“ – SZ Nr. 40 vom 16./17.02.2013, S. 4 472 Kritisch dazu auch Tanjev Schultz: „Ohne Maß – Bildung entzieht sich dem ökonomischen Kalkül. Sie lässt sich nicht in Euro ausdrücken – aber sie macht den Menschen frei“ – SZ Nr. 269 vom 22.11.2011, S. 26; „Scharfe Kritik an Studienreform – Hochschuldirektoren bezweifeln Erfolgsmeldungen der Regierung“ und „‘Der Jugendwahn ist vorbei‘ – Die größte Studienreform seit Jahrzehnten habe wichtige Ziele verfehlt, kritisiert der Präsident der Hochschuldirektoren, Horst Hippler. Die Wirtschaft benötige Persönlichkeiten – und solche könnten die Universitäten in sechs Semestern bis zum Bacherlor kaum formen“ – SZ Nr. 187 vom 14./15.08.2012, S. 1 u. 6 473 Klaus Schwab: „Das Ende des Kapitalismus – und was nun? – Die entscheidenden Wettbewerbsfaktoren der Zukunft sind Kreativität und Innovationskraft“ – SZ Nr. 84 vom 11.04.2012, S. 18 474 Neuerdings Julian Nida-Rümelin in seinem Essay „Der Akademisierungswahn“ – vgl. „Der Bachelor of Haareschneiden – Julian Nida-Rümelin übt scharfe Kritik am deutschen Hochschulwesen: So wie s ist, schadet es der universitären Lehre ebenso wie dem Handwerk“ – SZ Nr. 248 vom 28.10.2014, S. 15

132 man schon deshalb am erforderlichen Sachverstand zweifeln kann.475 Vieles ist schon begonnen, aber nur wenig zu einem guten Ende geführt worden.476 Und das alles ereignet sich in einem Land, in dem Bildung „der Stoff, aus dem die Zukunft ist“, darstellt,477 unter einer Regierung, die seit langem sich verbal nicht genug damit tun kann, dem Bildungswesen als dem „Ernährer der Zukunft“ die Priorität einzuräumen, die es für ein rohstoffarmes Land haben muß. So gefällt sich die Politik seit vielen Jahren allein darin, mit hoher Abstraktion die Bedeutung, die Notwendigkeit und daher auch Verbesserungen des Bildungswesen – leider auch weniger aus pädagogischen als auch machtpolitischen Gründen – mit aufgeblasenen Backen zu verkünden und in bunten Farben an die Wand zu malen, ohne dann auch danach zu handeln.478

Strukturfragen für Schulen und Hochschulen Nochmals – und man kann es nicht oft genug sagen: Unter Bildung ist weitaus mehr zu verstehen als die eine oder andere strukturelle Veränderung oder gar eine formelle Rechtschreibreform, deren auch noch klägliches Scheitern in peinlicher Weise gezeigt hat, wo wir tatsächlich stehen. Es ist interessant zu beobachten, daß sich politische Änderungsvorschläge im wesentlichen immer wieder nur auf äußere Formalien konzentrieren, neuerdings auf die völlig unbedeutende Frage, ob die Schreibschrift („Kurrentschrift“) neben der Druckschrift durch eine formale Grund- oder Quasi-Druckschrift als alleinige Schrift abgelöst werden soll,479 weil es schon immer eindrucksvoller erschien, sichtbar zu machen, daß überhaupt etwas geschieht. Dabei schreckte man auch nicht davor zurück, mit dem Argument der Vereinfachung der angeblichen Überforderung der Kinder beim Lernen eher eine Wissens- oder Befähigungslücke zu installieren als wirklich die Lerneffizienz zu verbessern und damit etwas Sinnvolles zu eher mehr Wissen und Können zu bewirken. Vieles kreiste dabei um letztlich wenig ent475

Alexander Kissler: „Zauberei und Zwecke – Ein Rückblick auf 60 Jahre bundesdeutscher Bildungspolitik“ – Besprechung des Buches von Jürgen Baumert (Hrsg,): „Einfallsreichtum – 60 Jahre Forschen und Lernen in der Bundesrepublik Deutschland“ – C. H. Goetz Verlag Potsdam 2009 – in SZ Nr. 172 vom 29.07.2009, S. 14 476 „Oberflächliche Bildungspolitik“ – SZ Nr. 207 vom 09.09.2009, S. 4; „Das BildungsgipfelDesaster“ – SZ Nr. 132 vom 12./13.06.2010, S. 4 477 Elisabeth Dostert: „Der Stoiff, aus dem die Zukunft ist – Bildung schafft wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand. Mehr Wettbewerb auch zwischen Schulen kann das Niveau heben“ – SZ Nr. 285 vom 09.12.2010, S. 18 478 Christa Eder: „‘Wir müssen dafür sorgen, dass die Richtigen Lehrer werden‘ – Studiendirektor Hans-Ulrich Hesse über ängstliche Pädagogen, unmotivieerte Schüler, Eltern ohne Präsenz und Hürden der Bürokratie“ – SZ Nr. 134 vom 15.06.2009, S.52 479 Lothar Müller: „Lasst die Schnörkel leben! – Ein großes Mißverständnis: Die Schreibschrift überfordert angeblich die Kinder und soll abgeschafft werden“ – SZ Nr. 282 vom 07.12.2011, S. 11

133

scheidende und darum unergiebige Themen wie Schulstrukturen (Konfessionsoder öffentliche Gemeinschaftsschule, Privatschulen, Gesamtschulen, Primarschulen, Abschaffung der Hauptschulen bzw. Zusammenfassung mit Realschulen zu Oberschulen), 480 Stoffülle und Bildungskanon, immer wieder auch „Bildungsnotstand“, „Bildungskatastrophe“ – beide Begriffe stammen aus dem vorigen Jahrhundert von dem Bildungsreformer Georg Picht481 – oder „Erziehungsnotstand“ und „Mut zur Erziehung“, schließlich sogar so etwas wie formale „Bildungsexpansion“ bis hin zu der Frage, wer hier welche Rolle (Eltern, Staat – sogar unterschieden nach Bund oder Ländern) einzunehmen hat, ohne daß sich unter dem Strich wirklich etwas signifikant zum Besseren gewendet hat.482 Bei einer solchen allein auf den Abschluß hin ausgerichteten bloßen Bezeichnungsinflation der Schulen verwundert es nicht, daß die als Eingang und für die Grundlagen wichtigen Grund- und Hauptschulen zu wenig Geld und Wertschätzung erhalten.483 Ein sehr einschneidendes Beispiel für die Betonung der Formalproblematik und der nutzlosen reformerischen Bildungsmechanik war auch der sogenannte „Bologna-Prozeß“, der in der gesamten Europäischen Union die jeweils nationalen Hochschulabschlüsse (in Deutschland vor allem auch das hoch anerkannte „Diplom“ und den bisher in der Wirtschaft erfolgreichen Fachhochschulabschluß) durch die gestuften Prüfungen zum „Bachelor“ und „Master“ ersetzte.

Ob es sich auch hier um wirklich erreichte Verbesserungen und Vergleichbarkeit handelt, mag man getrost bezweifeln,484 denn es handelte sich zunächst nur um 480

Tanjev Schultz: „Lernort, nicht Sortieranlage“ – SZ Nr. 20 vom 26.01.2010, S. 4; „Grundschule überlebt Großreform – Einführung der Primarschule in Hamburg bei Volksentscheid gescheitert/Wahlbeteiligung eher gering“ – SZ Nr. 163 vom 19.07.2010, S. 6; Edmund Stoiber: „Schluss mit Bildungsideologie! – Die 16 Bundesländer sollen aufhören mit ihren Experimenten – solange es noch 16 Bundesländer gibt“ – SZ Nr. 171 vom 28.07.2010, S. 2; Claus Hulverscheidt: „‘Es muss besser werden‘ – Auf ihrem Parteitag streitet edie CDU über die Hauptschule, vertasgt die Entscheidung zum Betrreuungsgeld – und Fraktionschef Kauder rügt die ‚Performance‘ der Koalition“ – SZ Nr. 264 vom 16.11.2011, S. 5 481 Hellmut Flashar: „Bildungsnotstand – Georg Picht , vor 100 Jahren geboren, prägte die Reformdebatten der Bundesrepublik – bis heute“ – SZ Nr. 156 vom 09.07.2013, S. 13 482 Vgl. dazu u.a. Tanjev Schultz: „Dissonanter Bildungskanon – Von der Konfessionslehranstalt zur PISA-Studie: Das Schulwesen verändert sich ständig, ganz zufrieden sind die Betroffenen nie“ – SZ Nr. 89 vom 18./19.04.2009, S. 10; Petra Gerster u. Christian Nürnberger: „Der Erziehungsnotstand: Wie wir die Zukunft unserer Kinder retten“ – Rowohlt Berlin 2002 und dies.: „Stark für das Leben: Wege aus dem Erziehungsnotstand“ – Rowohlt Berlin 2003 sowie Bernhard Bueb: „Von der Pflicht zu führen – Neun Gebote der Bildung“ – Ullstein 2008; Tanjev Schultz: „Mehr Lehrer und bessere Lehre – Zehntausende Schüler und Studenten treten in Bildungsstreik“ – SZ Nr. 134 vom 15.06.2009, S. 1 483 Johann Osel: Interview mit dem Bundesvorsitzenden des Verbandes Bildung und Erziehung Udo Beckmann: „‘Es fehlt an der Wertschätzung‘ – Pädagogen fordern b essere Ausstattung der Grundschulen“ – Sz Nr. 287 vom 12.12.21012, S. 6 484 Robert Stockhammer: „Im Interesse der Studenten? Warum Bologna sinnvolles Studieren unmöglich macht“ – SZ Nr. 149 vom 02.07.2009, S. 11; Gustav Seibt: „Unfreie Universitäten – Bologna

134

neue Etiketten und damit äußerlich und strukturell andere Ausrichtungen als gemeinsamer europäischer Hochschulrahmen u.a. mit dem Ziel besserer Vergleichbarkeit und erleichterter Mobilität485 zwischen den europäischen Hochschulen. Und warum soll des dabei nicht Wettbewerb geben zwischen den Bildungseinrichtungen aller Länder nach dem Ziel, wer es im Ergebnis am besten kann?

Die innere fachliche und didaktische Ausgestaltung dieser neuen Strukturen blieb im wesentlichen den Mitgliedsländern bzw. Hochschulen überlassen, was diese viel zu oft ohne Kontakt zu den Studenten und im Ergebnis viel zu überlastet taten. Die „Mechanisten“ in der Politik – und das sind neuerdings immer mehr auch die sich nur in abstrakter Symbolpolitik verlierenden politischen Parteien486 – unterrscheiden sich insoweit nur wenig von denen in der Wirtschaft, weil sie nicht erkennen, um wieviel wichtiger und effizienter als veränderte formale Kriterien Bemühungen um die beteiligten Menschen wären. Die Effizienz und Ergebniswirkung bei Lehrern und Schülern. Verbesserungen in der Qualifikation der Lehrer487 oder in der Lernstoffvermittlung können strukturelle Mängel – wenn es sich denn wirklich um solche handelte – stets ebenso überspielen wie und Hartz IV: Reformen aus einem Geist“ – SZ Nr. 161 vom 16.09.2009, S. 11; „‘Der Bachelor ist wertlos‘ – Bildungsgewerkschaft kritisiert Studienreform“ – SZ Nr. 209 vom 11.09.2009, S. 6; Thomas Steinfeld: „Handel mit Scheinqualifikation – Bologna-Exzellenz: Der Plan der Universitätsreform ist gescheitert“ – SZ Nr. 247 vom 27.10.2009, S. 11 (u.a. zu Jürgen Kaube: „Die Illusion der Exzellenz. Lebenslügen der Wissenschaftspolitik“ – Wagenbach-Verlag Berlin 2009); Peter Strohschneider: „Alles für alle! – Bologna und seine Widersprüche“ – SZ Nr. 285 vom 10.12.2009, S. 15; Thomas Steinfeld: „Wie bei der Rechtschreibreform – Die Schwächen der neuen Studienordnung lassen sich nicht durch ein paar Korrekturen beheben“ – SZ Nr. 287 vom 12./13.12.2009, S. 4; Volker Breidecker: „Quadratur des Geistes – Zehn Jahre Bologna: Eine Bilanz auf dem Frankfurter Römerberg“ – SZ Nr. 89 vom 19.04.2010, S. 12; „Scharfe Kritik an Studienreform – Hochschuldirektoren bezweifeln Erfolgsmeldungen der Regierung“ und „‘Der Jugendwahn ist vorbei‘ – Die größte Studienreform seit Jahrzehnten habe wichtige Ziele verfehlt, kritisiert der Präsident der Hochschuldirektoren, Horst Hippler. Die Wirtschaft benötige Persönlichkeiten – und solche könnten die Universitäten in sechs Semestern bis zum Bachelor kaum formen“ – SZ Nr. 187 vom 14./15.08.2012, S. 1 u. 6; der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl: „Schafft die Leistungspunkte ab! – Die BolognaReform hat das Studium im Ausland systematisch erschwert“ – SZ Nr. 189 vom 17.08.2012, S. 13 485 Kim-Björn Becker: „Die weite Ferne in weiter Ferne – Kultusminister wollten die Mobilität der Studenten erhöhen – in der Praxis warten aber Hürden“ – SZ Nr. 95 vom 26.04.2011, S. 40 486 Claus Hulverscheidt: „‘Es muss besser werden‘ – Auf ihrem Parteitag streitet edie CDU über die Hauptschule, vertasgt die Entscheidung zum Betrreuungsgeld – und Fraktionschef Kauder rügt die ‚Performance‘ der Koalition“ – SZ Nr. 264 vom 16.11.2011, S. 5 487 Christa Eder: „‘Wir müssen dafür sorgen, dass die Richtigen Lehrer werden‘ – Studiendirektor Hans-Ulrich Hesse über ängstliche Pädagogen, unmotivierte Schüler, Eltern ohne Präsenz und Hürden der Bürokratie“ – SZ Nr. 134 vom 15.06.2009, S.52; Michael Felten: „Auf die Lehrer kommt es an – Nach zehn Jahren Bildungsdebatte bleibt die Erkenntnis: Papiere und Konzepte sind schön.

Menschen sind besser“ – SZ Nr. 294 vom 21.12.2011, S. 2; Johann Osel: „Warme Worte, faule Säcke“ – SZ Nr. 266 vom 17./18.11.2012, S. 4; Jörg Dräger: „Thema verfehlt – G8 oder G9? Darüber streiten Eltern, Lehrer, Schüler erbittert. Doch das wahre Problem des Gymnasiums liegt woanders“ – SZ Nr. 105 vom 08.05.2014, S. 2

135

eine individuellere Zuwendung auf die einzelnen Schüler, in welchen formalen Rahmenbedingungen das auch immer geschieht.

Den Studenten hat der Bologna-Prozeß daher bislang nicht viel Gutes gebracht.

Macht eine weitgehende Verschulung des Studiums selbständiger im Umgang mit der Materie und der Stoffülle? Dreht sich damit immer mehr eine „Spirale des Zertifikate-Sammelns“,488 ohne daß diese wirklich als akzeptierte Nachweise der erreichten Fähigkeiten gelten. Wo bleiben nun die Freiräume für spezielle Interessen und Queraktivitäten? Nicht einmal die materielle Grundlage für ein Studium bleibt erhalten, wenn Studenten auf Teilarbeit zum Geldverdienen angewiesen sind. Das alles kommt nicht zuletzt darin kritisch zum Ausdruck, daß die Schüler und Studenten vermehrt gegen die formal neue Verhältnisse und ihre sich selbst nur lobenden Urheber aufbegehrten, denen sie nunmehr ausgesetzt sind.489 Eine ganz andere – und durchaus offene – Frage ist auch, warum man sich von auch in den USA angesehenen Bildungsgängen auf der Grundlage der Humboldtschen Ideen trennen muß490 und ob sich die neuen Hochschulabschlüsse ihrer Qualität nach als ähnlich wirksame „Marken“ in der praktischen Welt der Arbeit und Wissenschaft erweisen und etablieren werden wie die bisherigen, weshalb die Technischen Hochschulen das Diplom inzwischern auch wieder zusätzlich verleihen wollen.491 488 Tanjev Schultz: „Ohne Maß – Bildung entzieht sich dem ökonomischen Kalkül. Sie lässt sich nicht in Euro ausdrücken – aber sie macht den Menschen frei“ – SZ Nr. 269 vom 22.11.2011, S. 26 489 Tanjev Schultz: „Protest in Sicht – Schüler und Studenten eifern den Franzosen nach und planen einen bundesweitens ‚Bildungsstreik‘“ – SZ Nr. 118 vom 25.05.2009, S. 47; Christine Burtscheidt: „Bologna bleibt den Bayern fremd – Die nach der italienischen Stadt benannte Hochschulreform wird im Freistaat nach wie vor unterlaufen“ – SZ Nr. 129 vom 08.06.2009, S. 34; Tanjev Schultz: „Mehr Lehrer und bessere Lehre – Zehntausende Schüler und Studenten treten in Bildungsstreik“ – SZ Nr. 134 vom 15.06.2009, S. 1; „Nachbessern an der Uni – Ministerin Schavan fordert Korrektur der Studienreform“ – SZ Nr. 154 vom 08.07.2009, S. 7; Tanjev Schultz: „Studenten beschimpfen ‚weltfremde Rektoren‘ – Demonstranten halten Hörsäle an 50 Universitäten besetzt/Kultusminister sagen Verbesserungen zu“ – SZ Nr. 263 vom 14./15.11.2009, S. 6; Johann Osel: „Der Sektempfang soll ausfallen – Bologna-Reformer feiern die neuen Studiengänge und Abschlüsse – doch viele Studenten sind unzufrieden“ SZ Nr. 58 vom 11.03.2010, S. 6; Volker Breidecker: „Quadratur des Geistes – Zehn Jahre Bologna: Eine Bilanz auf dem Frankfurter Römerberg“ – SZ Nr. 89 vom 19.04.2010, S. 12; Johann Osel: „Desaster zum den Master – Der Unmut über die Zulassung zur zweiten Stufe des Systems flaut nicht ab – denn angesichts der Akzeptanzprobleme des Bachelor ist der Andrang groß“ – SZ Nr. 95 vom 26.04.2011, S. 40; Tanjev Schultz: „Aufstand gegen den Autismus – Die Studenten demonstrieren gegen die ‚Leistungsmaschine‘ Universität – zu Recht“ – SZ Nr. 266 vom 18.11.2011, S. 4; kritisch auch Julian Nida-Rümelin in seinem Essay „Der Akademisierungswahn“ – vgl. „Der Bachelor of Haareschneiden – Julian Nida-Rümelin übt scharfe Kritik am deutschen Hochschulwesen: So wie s ist, schadet es der universitären Lehre ebenso wie dem Handwerk“ – SZ Nr. 248 vom 28.10.2014, S. 15 490 Julian Nida-Rümelin – zitiert nach Volker Breidecker: „Quadratur des Geistes – Zehn Jahre Bologna: Eine Bilanz auf dem Frankfurter Römerberg“ – SZ Nr. 89 vom 19.04.2010, S. 12 491 „Zurück zum Diplom“ – SZ Nr. 176 vom 03.08.2010, S. 6; „Umstrittene Titelvielfalt – UniRektoren uneins über Wiedereinführung der Diplome“ – Sz Nr. 300 vom 28.12.2010, S. 5

136

Betrachtet man ungeachtet aller Struktur- und Vorgehensfragen die Ergebnisse unseres Bildungssystems, so finden sich dazu zahlreiche Vergleichsstudien.

Allein in einem neueren „Fortschrittsbericht“ der Bundesregierung von 2012 zeigt sich einerseits ein Anstieg bei den 18- bis 24-Jährigen ohne Schulabschluß oder Berufsausbildung von 12,6 im Jahre 2002 auf 12,9 im Jahre 2007 – erst nach dem Dresdner Bildungsgipfel sank sie von 8 Prozent allein für die Schulabschlüsse in den Jahren 2008 bis 2011 nur auf 6,2 Prozent.492, andererseits ein Sinken der Zahl derer, die ein Studium antreten wollen, von 37,5 im Jahre 2004 auf 34,6 im Jahre 2007.493 Deutschlands Grundschüler erzielen nach dem Ergebnis der internationalen Schulstudie Tirnss und Iglu unter Leitung des Dortmundcer Professors Wilfried Bos im internationalen Vergleich zwar überdurchschnittliche Leistungen, auch wenn sie trotz der bisherigen Fördermaßnahmen beim Lesen von Platz 9 auf Platz 17 und bei Mathematik und in den naturwissenschaftlichen Aufgaben vom 12. Auf den 16. Bzw. 17 Rang zurückgefallen sind.

Ein Sonderthema für diese Sicht sind die Migrantenkinder, die nach wie vor schlechter abschneiden, jedoch auch deutlich Fortschritte gemacht haben.494 Im Jahre 2011 gab es lt. einer Studie der Bertelsmann-Stiftung jedenfalls in der Bundesrepublik 50000 Schüler, der Jahrgangsstufen fünf bis zehn, die von einer höheren auf eine niedrigere Schulart wechseln müßten (Absteiger), während nur 23 000 den umgekehrten Weg schafften. Es gab also mehr als doppelt so viele Absteiger wie Aufsteiger.495 Nach einer aktuellen Studie des Essener Bildungsforschers Klaus Klemm für den Deutschen Gewerkschaftsbund im Jahre 2012496 gibt es noch immer „Zu 492

„Maue Bilanz für die ‚Bildungsrepublik‘“ – SZ Nr. 299 vom 28.12.2012, S. 6 Guido Bohsem: „Mehr Gewicht, weniger Grips – FDP präsentiert eigene Bilanz der großen Koalition“ – SZ Nr. 102 vom 05.05.2009, S. 5; Tanjev Schultz: „Jeder siebte Berurseinsteiger ohne Abschluss – Bildungsministerin Schavan warnt vor Fachkräftemängel/Hauptschulabgänger sollen Hilfe erhalten“ und „Im Land der Bildungsmuffel – Immer mehr jungen Menschen fehlt selbst das Basiswissen, das sie für den Berufseinstieg brauchen“ – SZ Nr. 98 vom 29.04.2010, S. 5 und 4 494 Tanjev Schultz: „Wege zur Bildungssprache – Wie ein Programm über föderale Grenzen hinweg Migranten hilft“ – SZ Nr. 134 vom 15.06.2009, S.44; Roland Preuss: „Dedutsche Grundschüler lassen nach – Trotz intensiver Förderung fallen Viertklässler in internationalen Vergleich zurück.

Beim Lesen und Rechnen liegen sie über dem Durschnitt, aber andere Nationen ziehen vorbei“ u. ders.: „Wenn die Leistung nicht lohnt“ – SZ Nr. 287 vom 12.12.2012, S. 1 und 4; Johann Osel u.

Roland Preuss: „Schwächen im System – Die internationalen Leistungsstudien zeigen: Die deutschen Grundschüler rangieren weiter im oberen Bereich. Doch ihr Können stagniert. Und das Elternhaus spielt nach wie vor eine entscheidende Rolle für das Fortkommen“ – SZ Nr. 287 vom 12.12.2012, S. 6 495 Roland Preuss: „Das Absteiger-System – Etwa doppelt so viele Schüler wechseln auf eine niedrigere Schulart als umgekehrt“ – SZ Nr. 252 vom 31.10.2012, S. 6 496 Vgl. Thomas Öchsner: „Zu viele Abgehängte – Die von der Kanzlerin ausgerufene ‚Bildungsrepublik Deutschland‘ hat wichtige Ziele verfehlt. Zu viele Jugendliche brechen die Schule ab, Millionen junger Menschen haben keine Ausbildung. Der DGB fordert eine neue Strategie“ – SZ Nr. 4 vom 07.01.2015, S. 6 und „DGB-Studie - Bildungspolitik hinkt selbstgesteckten Zielen hinterher - Bil493

137

viele Abgehängte – Die von der Kanzlerin ausgerufene ‚Bildungsrepublik Deutschland‘ hat wichtige Ziele verfehlt. Zu viele Jugendliche brechen die Schule ab, Millionen junger Menschen haben keine Ausbildung. Der DGB fordert eine neue Strategie.“ Vergleichsweise Probleme hat Deutschland auch mit seinen Studierenden: Im OECD-Schnitt beginnen nach der von der Zählweise des Statistischen Bundesamtes abweichenden Erfassung 56 Prozent eines Jahrganges ein Studium, während es in Deutschland noch immer nur 36 Prozent (Stat. Bundesamt 39 Prozent) seien. Ähnliches gilt für die Weiterbildung der Arbeitnehmer an den Hochschulen. Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland vergleichsweise noch immer schlecht ab. Während hier 25 Prozent der Studenten ein Studium erfolgreich beenden, sind es im Schnitt der wichtigsten Industrienationen 38 Prozent.497 Erstaunlich ist andererseits, daß nach Einschätzungen des Wissenschaftsrates 80 Prozent der Studenten an deutschen Hochschulen 2011 mit der Note „gut“ oder „sehr gut“ abschlossen, während das 11 Jahre zuvor nur 70 Prozent der Studierenden gelang. Nur noch 1,1 Prozent müssen sich mit einer Abschlußquote „ausreichend“ zufrieden geben. Dabei gibt es große Notenunterschiede zwischen einzelnen Hochschulen.498 Nun mag zwar nicht zu Unrecht kritisiert werden, daß die Berufsausbildungswege und Hochschulsysteme der Länder nur bedingt miteinander vergleichbar seien. Daher kann man sich dann auch über die bessere Position der Deutschen hinsichtlich der Studienabbrecher mit nur 23 Prozent gegenüber dem OECDDurchschnitt von 31 Prozent) nur bedingt freuen.

Der renommierte Pädagoge und Psychoanalytiker Kurt Singer – Autor der Bücher „Die Schulkatastrophe“ und „Tatort Schule“ zeigte sich enttäuscht darüber, wie wenig sich das Schulsystem in den vergangenen Jahrzehnten geändert hat.499 „Die angekündigte Bildungsoffensive hat sich als regelrechte Mogelpakkung erwiesen“ meinte auch DIW-Präsident Klaus Zimmermann.500 dungsgipfel - eine Zwischenbilanz: "Bildungsrepublik Deutschland bleibt ein gespaltenes Land" vom 07.01.2015, 13:08 Uhr | t-online.de, AFP 497 „Zu wenig Hochschulabsolventen“ und „Stefan Braun: „‘Bildung lohnt sich‘ – Jeder Uniabsolvent bringt dem Staat 150 000 Euro – dennoch investiert Deutschland weniger als die meisten Industrieländer in Hochschulen“ – SZ Nr. 207 vom 08.09.2010, S. 1 und 5 498 Roland Preuss: „Zu gute Noten an deutschen Hochschulen – Wisenschaftsrat: 80 Prozent der Studenten schlossen 2011 mit ‚gut‘ oder ‚sehr gut‘ ab. Das sind deutlich mehr als vor zehn Jahren.

Experten warnen vor ‚schleichender Noteninflaation“ und „Setzen, sehr gut!“ – SZ Nr. 260 vom 10./1112.2012, S. 1 und 4 499 Monika Goetsch: „Plädoyer für das Wohl des Kindes – ‚In unseren Schulen herrscht das Prinzip Scheitern‘ – Der Pädagoge und Psychoanalytiker Kurt Singer zeigt elementare Fehler und Irrtümer unseres Bildungssystems auf“ – SZ Nr. 107 vom 11.05.2009, S. 48; Thomas Öchsner: „Die Statistik täuscht – Bei der Ausbildung von Jugendlichen läuft vieles schief“ – SZ Nr. 236 vom 14.10.2009, S. 19 500 Markus Balser: „Gips statt Grips – Wirtschaftsforscher: Bund und Länder geben Konjunkturmilliarden falsch aus – sie investieren zu wenig in die Zukunft“ – Sz Nr. 207 vom 09.09.2009, S. 19

138

Das gilt etwa für das Teilthema „Migranten“,501 aber nicht nur. „Viele Ganztagsschulen sollten entstehen, in Wahrheit gibt es oft nur ein paar unverbindliche Betreuungsstunden. Die frühkindliche Bildung sollte gestärkt werden, in Wahrheit sind oft nur ein paar Kita-Plätze vorhanden – und die Zahl der Erzieherinnen ist nicht größer, die Qualität der Angebote nicht besser geworden“.502 Die Schulen verfallen weiter, es gibt so viele Schularten wie noch nie, eine Million Schulstunden in der Woche fallen aus503 und auf den Universitäten fehlt es in überfüllten Vorlesungen und Seminaren an den nötigen personellen und sächlichen Ausstattungen.

Statt der angestrebten Ziele der vereinheitlichten und vergleichbaren Abschlüsse und durchaus auch, aber nicht nur Bachelor und Master im Sinne des Bologna-Prozesses)504 wie etwa auch einer erleichterten Studienphase im Ausland sind sie als Folge der weitgehend reglementierten Durchstrukturierung des Studienweges nicht eingetreten. Die Mobilität der Studenten ist geringer geworden.

Jetzt haben entgegen einer Studie des Internationalen Zentrums für Hochschulforschung in Kassel mit einer Vermischung verschiedener Formen von Auslandsaufenthalten lt. einer Umfrage des Hochschul-Informations-Systems (HIS) aus dem Jahre 2007 nur noch 15 Prozent der Universitätsstudenten und 13 Prozent der Fachhochschulen eine Studienzeit, Sprachkurse oder Praktika im Ausland absolviert, während in den bisherigen Diplomstudiengängen etwa noch jeder dritte Student eine Zeit im Ausland gewesen war.505 Auch die Zahl der Studienabbrecher hat sich nicht verringert. Die Studienpläne sind oft so starr und intensiv, daß wenig Freiheiten für anderes verbleiben. Sie setzen mehr auf Zwang und Kontrolle als auf Anreize und Angebote.506 Ehrenämter oder auch das notwendige Geldverdienen sind erschwert worden. Der Prüfungsstreß hat sich deutlich erhöht. Auf dem Arbeitsmarkt verunsichern die neuen Abschlüsse, weil nicht klar ist, ob sie und welche die erforderlichen Kenntnisse garantieren.

501 Tanjev Schultz: „Wege zur Bildungssprache – Wie ein Programm über föderale Grenzen hinweg Migranten hilft“ – SZ Nr. 134 vom 15.06.2009, S.44 502 „Oberflächliche Bildungspolitik“ – SZ Nr. 207 vom 09.09.2009, S. 4 503 Johann Osel: „Willkommen im Dschungel“ – SZ Nr. 197 vom 27.08.2012, S. 4 504 Gustav Seibt: „Unfreie Universitäten – Bologna und Hartz IV: Reformen aus einem Geist“ – SZ Nr. 161 vom 16.09.2009, S. 11 505 Bericht des Hochschul-Informationssystems – vgl. „Unbeglicher Bachelor“ – SZ Nr. 111 vom 15.05.2009, S. 6; ähnlich auch Gustav Seibt: „Unfreie Universitäten – Bologna und Hartz IV: Reformen aus einem Geist“ – SZ Nr. 161 vom 16.09.2009, S. 11; Thomas Steinfeld: „Wie bei der Rechtschreibreform – Die Schwächen der neuen Studienordnung lassen sich nicht durch ein paar Korrekturen beheben“ – SZ Nr. 287 vom 12./13.12.2009, S. 4; Kim-Björn Becker: „Die weite Ferne in weiter Ferne – Kultusminister wollten die Mobilität der Studenten erhöhen – in der Praxis warten aber Hürden“ – SZ Nr. 95 vom 26.04.2011, S. 40 506 Gustav Seibt: „Unfreie Universitäten – Bologna und Hartz IV: Reformen aus einem Geist“ – SZ Nr. 161 vom 16.09.2009, S. 11

139

Deshalb ist der Bachelor vor allem auch bei den kleineren Unternehmen noch immer nicht akzeptiert.507 So ist es erneut das Schicksal einer sogenannten „Bildungsreform“, daß sie wegen ihrer vorrangig strukturell-bürokratischen Elemente und der Vernachlässigung inhaltlicher Ziele und ergebnisorientierter Effizienz nicht nur weiterhin heftig umstritten ist, sondern von den Politikern wieder ernsthaft über Konsquenzen nachgedacht wird.508 Obwohl von der Notwendigkeit weitgehend überzeugt – auch hierbei gibt es freilich Ausnahmen wegen weiterer spezifischer Besonderheiten im deutschen System und in der vergleichsweise zu geringen finanziellen Ausstattung509 – fehlt es noch immer an klaren und überzeugenden Bildungszielen, die sich nicht allein in einer kurz absehbaren Berufsausbildung erschöpfen, sondern auch an einem wirklich schlüssigen und tragfähigem Konzept und deshalb auch an einer überzeugenden Mehrheit, solches rasch in die Tat umzusetzen. Statt europaweit vergleichbarer Bachelor- und Masterabschlüsse hätte es durchaus auch genügt, die Studienziele bei allen Abschlüssen innerhalb der Europäischen Union transparent zu halten, wie das jetzt über einen „Europäischen Qualitätsrahmen (EQR)“ und sein deutsches Pendant DQR geschehen soll,510 und es im übrigen einem Wettbewerb weitgehend autonom gewachsener 507 „‘Der Bachelor ist wertlos‘ – Bildungsgewerkschaft kritisiert Studienreform“ – SZ Nr. 209 vom 11.09.2009, S. 6; Tanjev Schultz: „Studieren mit Gewinn – Auch die Arbeitgeber müssen für einen besseren Bachelor kämpfen“ – SZ Nr. 288 vom 14.12.2009, S. 17 508 Birgit Taffertshofer: „Zeit der Korrekturen – Bachelor und Master: Die Unzufriedenheit mit den Effekten der neuen Studienstruktur zwingt zu einer Reform der Reform“ – SZ Nr. 85 vom 14.04.2009, S. 38; Christine Burtscheidt: „Nach der Umstellung auf die Bachelor- und Masterabschlüsse – Zu starr und zu verschult – Professoren und Studenten der Universität Erlangen kritisieren das neue Studiensystem“ – SZ Nr. 90 vom 20.04.2009, S. 45; Tanjev Schultz: „Vorlesung mit Anwesenheitskontrolle – eine umfassende Reform bracvhte den deutschen Universitäten Bachelor, Master und viel Ärger – nun beraten Politiker über Konsequenzen“ sowie das Interview mit einem Studenten: „‘Die Vorgaben sind zu strikt‘ – Schlechtere Bedingungen verärgern Leipziger Studenten“ – SZ Nr. 87 vom 28.04.2009, S. 7; Tanjev Schultz: „Mehr Lehrer und bessere Lehre – Zehntausende Schüler und Studenten treten in Bildungsstreik“ – SZ Nr. 134 vom 15.06.2009, S. 1; Robert Stockhammer: „Im Interesse der Studenten? Warum Bologna sinnvolles Studieren unmöglich macht“ – SZ Nr. 149 vom 02.07.2009, S. 11; Tanjev Schultz: „Weniger Prüfungen, verschlankte Lehrpläne – Kultusministerkonferenz plant Nachbesserungen an den neuen Bachelor- und Masterstudiengängen“ – SZ Nr. 236 vom 14.10.2009, S. 6; Tanjev Schultz: „Weniger Prüfungen – Kultusminister wollen Studien-Reform entschärfen“ – SZ Nr. 239 vom 17./18.10.2009, S. 6; Peter Strohschneider: „Alles für alle! – Bologna und seine Widersprüche“ – SZ Nr. 285 vom 10.12.2009, S. 15; Johann Osel: „Das große Bachelor-Basteln – Ein halbes Jahr nach den Protesten wird an vielen Hochschulen die Bologna-Reform korrigiert“ – SZ Nr. 89 vom 19.04.2010, S. 43; Edmund Stoiber: „Schluss mit Bildungsideologie! – Die 16 Bundesländer sollen aufhören mit ihren Experimenten – solange es noch 16 Bundesländer gibt“ – SZ Nr. 171 vom 28.07.2010, S. 2 509 Jeanne Rubner: „Die Unis der anderen – Eine Reform der Bologna-Reform löst deutsche Probleme nicht“ – SZ Nr. 300 vom 30.12.2009, S. 14 510 „Campus München: Das nächste große Ding aus Brüssel – Das heitere Beruferastern – Bildungsforscher Rudolf Tippelt über geplante EU-weite Qualifikationsniveaus“ – SZ Nr. 219 vom 23.09.2009, S. 41

140 Systeme – vor allem auch unter größerer Beteiligung der Kommunen511 – zu überlassen, wie und von wem sie am besten erfüllt werden.

Und natürlich ist mit der sogenannten „Föderalismus-Reform“ eine entscheidende Voraussetzung vertan worden, dem Bildungswesen in Deutschland auch eine effiziente Entscheidungsbasis zu geben, andererseits so den Betroffenen viel Mühe bei Überspringen der mobilitätsbedingten Grenzüberschreitungen zu ersparen.512 Auch die deutschen Hochschulen sehen in der Alleinverantwortung der Länder für die Hochschulen nur die Gefahr, zu Geiseln der Politik gemacht zu werden, was mit Wissenschaft nichts zu tun habe. Sie befürchten so das Ende ihrer nationalen wie internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Der Bund muß aus ihrer Sicht in wichtigen Fragen wie beispielsweise dem Zugang zum Studium und der Anerkennung der Hochschulabschlüsse einheitliche Bedingungen an den Hochschulen garantieren. Entsprechendes gilt auch für die Finanzierung der Hochschulen.513 Im übrigen sollen die Länder die Universitäten weniger gängeln.514 Man denke auch an die Zuständigkeit für Forschungsorganisationen angesichts einer dringend notwendigen nationalen Forschungsanstrengung, die daher ebenso

511 Katja Riedel: „Bildungsbürgermeister – Kommunen wollen mehr Teilhabe an der Schulpolitik“ – SZ Nr. 197 vom 27.08.2012, S. 33; dafür auch Jörg Dräger: Versetzung gefährdet – Bildung ist Ländersache – aus gutem Grund. Doch Eltern und Lehrer sind damit unzufrieden. Ein Nationaler Bildungsrat könnte den Föderalismus retten“ – SZ Nr. 209 vom 10.09.2012, S. 2 512 Tanjev Schultz: „Gutachter rügen Bildungspolitik – Experten verlangen Ende des Kooperationsverbots“ – SZ Nr. 45 vom 24.02.2011, S. 6 513 Marco Finetti: „Rektoren verteidigen Einfluss des Bundes – ‚Alleinverantwortung der Länder für Hochschulen wäre Ende der Wettbewerbsfähigkeit‘“ – SZ Nr. 232 vom 06.10.2004, S. 5; „Zypries legt Papier zum Föderalismus vor“ – SZ Nr. 245 vom 21.10.2004, S. 5; Jeanne Rubner: „Scheidung auf föderalistisch“ – Der Vorsitzende des Wissenschaftsrates befürchtet, dass der Bund seine Kompetenz für den Hochschulbau verliert – zu Lasten der Universitäten“ – SZ Nr. 249 vom 27.10.2004, S. 10; ebenso Alt-Bundespräsident Roman Herzog in dem Interview: „‘Sieben verlorene Jahre‘ – Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog über die Reformunlust der Deutschen, den Regulierungswahn der Ministerialbürokratie und den Geist des Götz von Berlichingen“ – DER SPIEGEL Nr. 03/2005, S. 30 ff.; „Arbeitsteilung bei Hochschulen – Schily sieht neue Chance für FöderalismusReform“ – SZ Nr. 24 vom 31.01.2005, S. 6; „Bewegung in der Bildungspolitik“ – DER SPIEGEL Nr. 05/2005, S. 17; Jeanne Rubner: „Aufstand der Rektoren – Universitäten ärgern sich über die Wissenschaftspolitik der Union“ – SZ Nr. 28 vom 04.02.2005, S. 7; Jeanne Rubner: „Leere Gießkanne – Hochschulen müssen sich ihre Studenten selbst aussuchen dürfen“ – SZ Nr. 83 vom 12.04.2005, S. 11; Michael Bauchmüller, Heidrun Graupner, Joachim Käppner, Heribert Prantl, Tanjev Schultz, Christoph Schwennicke: „Wachsende Zweifel an der Neuordnung der Beziehungen von Bund und Ländern – ‚Die Reform haut uns die Beine weg‘ – Der Föderalismus sollte von Grund auf besser werden, doch Kritiker fürchten, dass der geplante Umbau vieles schlechter macht. Vor allem in der SPD gärt es“ – SZ Nr. 65 vom 15./16.03.2006, S. 10 514 Jeanne Rubner: „Länder sollen Universitäten weniger gängeln – Rektoren fordern mehr Freiheit für Hochschulen und die weitere Beteiligung des Bundes an der Finanzierung“ – SZ Nr. 238 vom 13.10.2004, S. 6

141

wie das Umweltrecht – man denke nur an die länderübergreifenden Hochwasserkatastrophen – beim Bund angesiedelt sein sollte.515 Notwendig und richtig ist alles, was im Ergebnis zu mehr Bildung, d.h. zum Kennenlernen, Verstehen und auch in veränderten Situationen Anwenden des Gelernten führt ungeachtet der Frage, wie man dazu kommt, also weniger ideologiegetriebene Strukturreformen als praktischer und sofort wirksamer Effizienzwettbewerb. Wirksame Bildung findet ungeachtet der Schulart vorrangig durch Verminderung äußeren Drucks und individuelle Förderung516 in der menschlichen, verstehenden und respektvollen Beziehung statt, also zwischen Kindern und Eltern und dann zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Professoren und Studenten. Das umfaßt weitaus mehr als nur abfragbares abstraktes Wissen mit anschließendem Notendruck.. Altkanzler Helmut Schmidt sprach einmal von einem Versagen insbesondere der Erziehung zu Würde und Freiheit der einzelnen Person seit Generationen.517 Dafür bedarf es jedoch völlig anderer Prioritäten: Freiheit und Wettbewerb für die Bildungsinstitutionen, moderne, auch verhaltensorientierte Aus- und Fortbildung für Lehrende, ausreichende Ausstattung mit Lehrkräften und die reale Möglichkeit, auf einzelne Lernende hinreichend einzugehen, und nicht zuletzt ein Spielfeld, auf dem das Gelernte auch einmal zur Stärkung des Lernbewußtseins erfolgreich angewendet werden kann.

Schulen, Justiz und andere öffentliche Ersatzeinrichtungen Die Qualität der Schulausbildung bewegt sich im internationalen Vergleich allenfalls im Mittelfeld. Noch fataler ist, daß im Jahre 2008 bereits 65 000 Schüler, 515

Hans-Olaf Henkel in dem Interview: „‘Forschungsminister wäre mein Traumjob‘ – Hans-Olaf Henkel, seit drei Jahren Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, über Egoismus in der Wissenschaft und verfehlte Politik“ – SZ Nr. 185 vom 12.08.2004, S. 9; Ernst-Ludwig Winnacker, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG): „Forschung durch Prämien fördern“ – SZ Nr. 2 vom 04.01.2005, S. 2; zum Umweltrecht vgl. auch „Minister kritisieren Föderalismusreform“ – DER SPIEGEL Nr. 5/2006, S. 16 u. Helmut Röscheisen: „Kompetenz-Ping-Pong beim Umweltschutz – Mit der Föderalismusreform droht eine parallele Gesetzgebung von Bund und Ländern, die der Natur schaden muss“ – SZ Nr. 54 vom 06.03.2006, S. 2; Michael Bauchmüller, Heidrun Graupner, Joachim Käppner, Heribert Prantl, Tanjev Schultz, Christoph Schwennicke: „Wachsende Zweifel an der Neuordnung der Beziehungen von Bund und Ländern – ‚Die Reform haut uns die Beine weg‘ – Der Föderalismus sollte von Grund auf besser werden, doch Kritiker fürchten, dass der geplante Umbau vieles schlechter macht. Vor allem in der SPD gärt es“ – SZ Nr. 65 vom 15./16.03.2006, S. 10; Michael Bauchmüller: „Die Ausnahme wird zur Regel – Im Umweltrecht sollen die Länder eigene Wege gehen – Kritiker warnen vor einem Flickenteppich“ – Sz Nr. 123 vom 30.05.2006, S. 2 516 Johann Osel: „Willkommen im Dschungel“ – SZ Nr. 197 vom 27.08.2012, S. 4 517 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 89

142

das waren knapp 8 Prozent des Jahrgangs, nicht einmal den Hauptschulabschluß schafften. Die auf dem „Bildungsgipfel“ in Dresden angekündigte Halbierung dieser Zahlen wurde nicht annähernd erreicht. Im Jahre 2011 verfehlten noch immer 50 000 Schüler und damit 6,2 Prozent einen Abschluß.518 In dem Maße, wie auch die Eltern darin versagen, ihren Kindern die Lebensmaßstäbe, aber auch ungeachtet ihres sozialen Status in der Gesellschaft Lebenshilfen zu vermitteln, die diese benötigen, um den Anforderungen der Bewältigung ihrer Existenz gewachsen zu sein, werden danach staatliche Einrichtungen damit belastet, in die Lücke zu springen, ohne daß sie dafür gedacht waren und auch die entsprechenden Kapazitäten und Finanzmittel dafür zu haben.

Wenn Kinder frustriert und ungeliebt aufgezogen dann hemmungslos Gewalt ausüben, um ihr Selbstbewußtsein zu zelebrieren, wird die Schule gefordert, hier die notwendigsten Reparaturen zu bieten. Die wachsende Jugendkriminalität und dabei vor allem die Gewaltverbrechen sind mit polizeilichen und justiziellen Mitteln kaum mehr zu steuern, allenfalls zu sanktionieren. Wenn Menschen aus falsch verstandenem Egoismus nicht mehr miteinander reden, steigen die Zahlen für Nachbarschaftsprozesse.

Probleme mit der Forschungsförderung Ein besonders trauriges Schicksal unter den schon lange angemahnten Reformvorhaben leiden neben Bildung auch Forschung und Wissenschaft. Es geht – und jeder weiß das inzwischen nicht nur, sondern kaum einer widerspricht – um zumindest mittel- bis langfristige Investitionen in einem Land, das keine Rohstoffe oder andere, den wirtschaftlichen und sozialen Standard erhaltenden Investitionsbestand kennt und deren existenzielle Bedeutung für die künftige Wettbewerbsfähigkeit mehr als bisher auf höheren und schnelleren Leistungen gerade auf diesem Sektor beruht.519 Der Biologe und vormalige Präsident der MaxPlanck-Gesellschaft, Hubert Markl, hat für die erfolgreiche „Forschung und Innovation in Deutschland“ vier Grundvoraussetzungen formuliert: Ein hochentwickeltes Bildungs- und Ausbildungssystem, eine freiheitliche gesellschaftliche Ordnung, die den kreativen Wettbewerb begünstigt, die hohe Wertschätzung schöpferischer Fähigkeiten auch, um die notwendigen Investitionen für Forschung und Entwicklung zu fördern und schließlich die ausreichende Verfügbarkeit „menschlicher Ressourcen“, also von jungen, strebsamen und begabten und

518

Zu einer entsprechenden Studie der Bertelsmann-Stiftung und Schulforschern der Universitäten Jena und Dortmund vgl. Johann Osel: „Achillesferse des Bildungssystems – In den neuen Ländern schaffen bis zu 13 Prozent der Jugendlichen keinen Abschluß“ – SZ Nr. 144 vom 25.06.2013, S. 6 519 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 248 ff.; 270

143

leistungswilligen Menschen, die sich von den Rahmenbedingungen auch angezogen fühlen.520 Von alledem sind wir weit entfernt.

Traurige und wenig zukunftsträchtige Ereignisse vollziehen sich beispielsweise auf dem Gebiet der wissenschaftlicher Gen-Forschung. Da gibt es zwar seit einiger Zeit die – vielleicht illusorische, vielleicht aber auch begründete – Hoffnung, kranken und bislang unheilbaren Menschen durch gezielte Embryonenforschung helfen zu können, schon streitet sich alle Welt – jeder auf seine ihm gemäße, aber nicht selten eigentümliche und immer auch durch Interessengruppen und die Medien lautstark begleitete Weise – um die Zulässigkeit und ethische Vertretbarkeit der Verwendung von Embryos zu Forschungszwecken. In ganz ähnlicher Weise verhält es sich mit den benachbarten Thema der Präimplantationsdiagnostik (PID) bei einer künstlichen Befruchtung bzw. der die Nichtimplantation oder Beendigung einer Geburt im frühembryonalen Stadium bei zu erwartenden schweren, genbedingten Defekten und Behinderungen. Schon wie unterschiedlich diese Fragen gestellt und nuanciert werden, zeigt das Denk- und Meinungsbildungsdilemma in seinem ganzen Umfang. Ein weiteres Streitthema, das wissenschaftliche Forschung in Deutschland behindert, ist die Genforschung für landwirtschaftliche Produkte.

Auffallend ist schon die Unfähigkeit verschiedener Fakultäten und Interessengruppen, wirklich miteinander zu sprechen, sich verständlich für den jeweils anderen Gesprächspartner zu artikulieren und von diesem auch so verstanden zu werden, wie es gemeint war. Das wäre zumindest eine Voraussetzung dafür, dann in einem weiteren Schritt auch unvoreingenommen die Gedanken der anderen Seite zu verarbeiten. Jedenfalls scheinen solche Schwierigkeiten die Vorgehensweisen und immer noch ausbleibenden Ergebnisse der verschiedenen Räte und Kommissionen zu diesem Thema zu belegen.521 Was diskutiert, geredet und als wesentlich behandelt wird, ist kaum mehr nachvollziehbar, und für den normalen Staatsbürger ohnehin nicht mehr verständlich.

Inhaltlich macht verdrießlich, daß der Bogen oft viel zu weit gespannt wird.

Hier werden „ethische Argumente“, ganz allgemein „die Moral“ oder der „Verstoß gegen die guten Sitten“ angeführt,522 ohne klar und präzise zu sagen, welche und warum dabei gemeint sind. Alle abstrakten oder ideologisch hochgespielten Überlegungen und angeblichen naturwissenschaftlichen Belege dafür, wann das Leben eines Menschen beginnt, sind willkürlich und damit eigentlich nicht zu 520 Hubert Markl: „Forschung und Innovation in Deutschland“ in in Helmut Schmidt (Hrsg.): „Vertiefungen – Neue Beiträge zum Verständnis unserer Welt – Protokolle der Freitagsgesellschaft“ – 3.

Auflage Siedler Verlag München 2010, S. S. 195 ff.; Klaus Schwab: „Das Ende des Kapitalismus – und was nun? – Die entscheidenden Wettbewerbsfaktoren der Zukunft sind Kreativität und Innovationskraft“ – SZ Nr. 84 vom 11.04.2012, S. 18 521 Vgl. z.B. Alexander Kissler: „Zur Freiheit, zur Wonne – Ein Jahr nach seiner ersten Sitzung steht der ‚Nationale Ethikrat‘ vor einer dunklen Zukunft“ – SZ Nr. 168 vom 23.07.2002,S. 11 522 Siehe Heidrun Graupner: „Der patentierte Mensch“ – SZ Nr. 170 vom 25.07.2002, S. 4

144

beantworten, aber für alle möglichen und unterschiedlichen Folgen auch nicht entscheidend. Geht man von unserer Verfassungsrechtslage aus, das im Sinne eines lebenserhaltenden gesellschaftlichen Konsenses mit höchster Rechtswirkung die Würde des Menschen schützt und das Lebensrecht jedes Menschen (Art. 1 und 2 GG), so knüpft sie an „individualisiertes Leben“ an. Dieses existiert nicht bereits für jede befruchtete artspezifische Eizelle, von denen nach medizinischer Erkenntnis die beachtliche Zahl von zwei Dritteln die Einnistung in den Uterus der Frau ohnehin nicht gelingt, womit sie ganz natürlich absterben. Entscheidend ist frühestens die sogenannte Nidation, also der Einnistung der Eizelle in der Gebärmutter etwa 12 bis 14 Tage nach der Befruchtung der Eizelle. Alle Handlungen vor diesem Zeitpunkt verstoßen damit nicht gegen Grundrechte unserer Verfassung.523 Wenn das menschliche Leben die Folge eines längeren Prozesses ist und die Menschwerdung somit eine kausale Kette von Bedingungen, Ereignissen und Zwischenergebnissen darstellt, ist es niemals möglich, irgendeine Stelle dieses Prozesses naturwissenschaftlich als den Beginn des menschlichen Lebens festzulegen. Jede dieser Bestimmungen, die zudem den Anspruch der Naturwissenschaftlichkeit erhebt, bleibt letztlich willkürlich und gerade nicht wissenschaftlich begründbar. Es ist sogar umgekehrt: Keine der naturgegebenen Abfolgen im Sinne einer ‚Conditio qua non‘ kann hinweggedacht werden, weil dann schon naturwissenschaftlich keine Menschwerdung mehr stattfindet. Für diese ist nicht ein irgendwie künstlich begründeter Zeitpunkt relevant, sondern die gesamte verbundene Kette bis zur Menschwerdung.524 Für die an Forschung und Wissenschaft gestellten Fragen ist also nicht entscheidend, wann menschliches Leben beginnt. Entscheidend ist allein, wann, warum und inwieweit sich die menschliche Gesellschaft dafür oder dagegen ausprechen will bzw. muß, befruchtete Eizellen oder menschliche Embryonen, damit also ein Element aus der Ereignis- und Ursachenkette der Menschwerdung, auch tatsächlich zu menschlich nützlichen Forschungszwecken zu verwenden. Das oft am Beginn stehende ethische Argument, Embryonen für Forschungszwecke nicht zuzulassen, resultiert aus dem Schutzerfordernis für werdendes Leben.525 Das Ziel kann und muß man auf der einen Seite uneingeschränkt bejahen, und eigentlich tun das auch alle, wie sich beispielsweise an dem Protest und Widerstand von 14 Organisationen, darunter den Regierungen von Deutschland, Italien und den Niederlanden gegenüber dem patentierten kommerziellen „Nutzungsrecht“ auf die Entnahme von Zellen aus menschlichen 523

Horst Dreier: „Diesseits der Grenze zum Menschen – Die Implantationsdiagnostik verstößt nicht gegen die Grundrecvhte der Verfassung“ – SZ Nr. 86 vom 13.04.2011, S. 12 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

524 Vgl. dazu auch Rainer Beckmann: „Wachsendes Lebensrecht?“ – ZRP 03/2003, S. 97 ff.

525 Vgl. Horst Dreier: „Stufungen des vorgeburtlichen Lebensschutzes“ – ZRP 09/2002, S. 377 ff.

145

Embryonen, der gentechnischen Manipulation dieser Zellen und der Züchtung von gentechnisch manipulierten Menschen aus diesen Zellen durch die Universität Edinburg zusammen mit der australischen Firma „Stemm Cell Sciences“ beim Europäischen Patentamt in München gezeigt hat.526 Hier liegt also – obwohl heiß diskutiert – überhaupt nicht das ethischmoralische Problem. Die Schwierigkeit einer Entscheidung folgt nicht aus der Bejahung des werdenden Lebens, sondern erst daraus und nur insoweit, als der Zweck und der Nutzen einer solchen Emryonenforschung eine „therapeutische“ für bereits geborene, aber kranke oder gar dem Tode geweihte Menschen ist.

Auch diese können den gleichen Schutz ihres Lebens, auf Existenzerhaltung für sich in Anspruch nehmen wie das werdende menschliche Leben, und daher mit gleichem Recht auf eine Forschung drängen, die möglich und erfolgversprechend erscheint, ihnen im Sinne ihrer Existenzerhaltung zu helfen. Warum sollen Embryonen nicht zu anderen Zwecken verwendet werden als zu dem, für den es von der Natur her vorgesehen ist, wenn es den Menschen gelungen ist zu erkennen, daß die „Vorsehung der Natur“ auch den Schutz des geborenen Lebens in diese gefährdenden Situationen umfassen kann. Es folgt dieses ganz unmittelbar aus der Existenzerhaltungsnotwendigkeit des Menschen überhaupt. Das Dilemma besteht also darin, daß ehrlicherweise eine Abwägung „geborenes Leben“ gegen „ungeborenes Leben“, ja weitergehend auch leidensfähiges, bewußtes Leben in Würde gegen noch nicht leidensfähiges, unbewußtes Leben stattfinden muß, die nicht die Schutzfunktion für menschliches Leben generell berührt, sondern damit entscheidend konkrete weitere Gesichtspunkte auf dem Wege der Menschwerdung bis hin nach der Geburt einbeziehen muß. Das Problem bleibt, sich vor allem hier für den einen oder anderen entscheiden zu müssen.

Ganz ähnlich verhält es sich bei der sogen. „Präimplantationsdiagnostik (PID) mit dem Ziel, schwere und voraussehbare Erbschäden nach Möglichkeit zu vermeiden527. Dabei sollte es auch nicht allein um die Eltern und ihr Leid gehen, wenn sie ansonsten mit Fehl- oder Totgeburten rechnen müssen oder später noch erlaubt Abtreibungen vornehmen dürfen. Es geht vor allem um das werdende Leben selbst, das in seiner ganzen kommenden menschlichen Existenz mit schweren Hypotheken belastet sein wird. Auch das ist „Schutz des Lebens“, nicht des ungeborenen und noch unbewußten – nichtleidensfähigen – Lebens, sondern derer, die nach ihrer Geburt selbst Leid empfinden können und sich 526

Vgl. dazu Heidrun Graupner: „Die Ware Leben – Streit vor dem Europäischen Patentamt um Züchtung von Emryonen“ – SZ Nr. 169 vom 24.07.2002, S. 1; dies.: „Der Embryo darf nicht zur Ware werden“ – SZ Nr. 170 vom 25.07.2002, S. 1 zum Widerruf der Entscheidung des Europäischen Patentamts.

527 Zur Diskussion hierüber auf dem CDU-Parteitag vgl. Nina von Hardenberg: „Das zweifelnde Nein der CDU – Der Parteitag fordert ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik, die Mehrheit aber ganz knapp“ und Stefan Braun: „Die Seele der Union – Nach langer Diskussion setzen sich die Gegner der präimplantationsdiagnostik durch“ – SZ Nr. 266 vom 17.11.2010 S. 4 und 5

146

tagtäglich mit ihren schweren Gebrechen plagen und in dieser Welt behaupten müssen. Wenn sich die „Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellenforschung“ für das „therapeutische Klonen“ ausspricht, müßte deutlich werden, warum sie das tut, unter welchen Bedingungen, zu welchem konkreten Zweck und wie die Abwägungsalternativen im Hinblick auf ihre Folgen zu gewichten sind.

Die Abwägung erfordert die mindestens ebenso sichere oder wahrscheinliche Erfüllung der Schutzfunktion auch der lebenden bzw. kranken Menschen durch erfolgreiche Forschung. Man kann und muß sich auch Gedanken darüber machen, ob, warum oder wann gegebenenfalls ein noch nicht geborener Mensch ohne das Bewußtsein seines Lebens etwas ist, daß angesichts schwer leidender lebender Menschen dann zurückgestellt werden kann, wenn man dadurch gleichzeitig bereits vorhandenes Leben erhalten kann. Es ist in unserer Gesellschaft kein neuer Grundsatz, daß sich bedrohtes menschliches Leben wehren darf, und zwar auch gegenüber einem anderen Menschen, wenn er ihn bedroht. Nun handelt zwar ein Embryo in diesem Sinne nicht „gegen“ einen anderen, und schon gar nicht verwerflich. Der Verzicht auf eine mögliche Forschung wurde aber im Ergebnis doch darauf hinauslaufen. Da bei einer zukunftsorientierten Forschung immer ungewiß ist, inwieweit man den Forschungserwartungen entsprechen wird, bleibt nur, auf der verbindlichen Definition und Durchsetzung eines dementsprechenden strikten Zweckbindung zu bestehen. Es sist sicher nicht zu bestreiten, daß bei Forschern auf diesem Gebiet wie etwa dem Bonner Neurologen Oliver Brüstle „hochrangige Forschungsziele“ vorliegen. Eine Entscheidung darüber soll sogar bei dem Berliner Robert-Koch-Institut liegen. Ein hochrangiges Forschungsziele wäre durchaus, Deutschland „bestimmte ökonomische Chancen in einr Schlüsseltechnologie“ zu erhalten, die ansonsten von anderen Ländern wahrgenommen werden, die hier weniger strikt verfahren.

Statt der scheinnaturwissenschaftlichen oder philosophischen Streitereien kommt es somit darauf an, eine zweckorientierte Willensbildung, eine politische Sollvorstellung zu entwickeln und zu formulieren, die dann auch mit Hilfe qualifizierter Forscher, aber auch einer sachkundigen Überprüfung und Abwägung zu den Alternativen umgesetzt wird. Dabei ist die Gefahr des Mißbrauchs niemals ein Totschlgsargument: So wie ein Messer zur Tötung von Menschen mißbraucht werden kann, aber ansonsten ein unverzichtbares nützliches Instrument der menschlichen Gesellschaft geworden ist, sollte und kann man nicht jegliche Emryonenforschung nur deshalb verbieten, weil auch sie mißbraucht oder außerhalb ihrer Zweckbindung eingesetzt werden kann. Möglicher Mißbrauch hat noch nie auf der Welt das Entstehen von etwas verhindert, was als nützlich oder gar notwendig für bestimmte Zwecke erkannt und dessen Herstellung auch möglich geworden ist.

147

Nach alledem ist auch die ebenso abstrakte Diskussion um „Embryonen als Ware“ 528 so in Wahrheit nicht sinnvoll oder das Problem. Der Mensch ist natürlich keine Ware, und das gilt auch in seinen „Stationen“ der Menschwerdung, also auch den Embryo. In dem Rahmen jedoch, der nach sorgfältiger Abwägung „Leben gegen Leben“ als ethisch vertretbare therapeutische Zielrichtung anerkannt wird, findet natürlich auch alles das statt, was sonst zur Herstellung von Medikamenten oder Heil- und Hilfsmittel üblich ist. Das ist der Wettbewerb derer, die Heilmittel produzieren, auch Patente anmelden und natürlich Gewinne erwarten, soweit dafür wie bei Wirtschaftsunternehmen ökonomische Kriterien eine Rolle spielen. Es wäre zudem falsch und realitätsfremd, in diesem Zusammenhang den globalen Wettlauf derer zu ignorieren, die sich um den wissenschaftlichen Fortschritt, die Weiterentwicklung des eigenen know-how und letztlich auch um Patente bemühen.

Endlich ist die deutsche Bundeskanzlerin nun auch der Ansicht, für eine erfolgreiche medizinische Forschung müsse das Grundgesetz geändert werden, um die Voraussetzungen zur Spitzenforschung – insbesondere Kooperationen zwischen Forschungseinrichtungen und Universitäten – zu verbessern.529

Wo bleiben die Investitionen?

Von einer Priorisierung530 dieser „Investition in die Zukunft“ in einem rohstoffarmen Land kann jedoch – abgesehen, was dann inhaltlich Sinnvolles und Wirksames daraus folgt – schon materiell keine Rede sein, weil die öffentlichen Haushalte nicht konsequent entsprechend vorrangig dotiert werden. Es fehlt in diesem Sinne seit langem an dem erforderlichen Geld oder der Bereitschaft, trotz knapper Kassen der Bildung den Vorrang einzuräumen.

Schon in der Mitte der siebziger Jahre, zu Beginn der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt, wurde zwar eine überproportionale Steigerung der Ausgaben für Bildung und Wissenschaft angestrebt, konnte aber in der Praxis auch der nachfolgenden Regierungen nie verwirklicht werden.531 In der Ära Kohl wurde hier528

Vgl. dazu den gleichnamigen Artikel von Markus Balser – SZ Nr. 172 vom 27./28.07.2002, S. 19 „Merkel will Forschung fördern“ – SZ Nr. 273 vom 28.11.2012, S. 6 530 „‘Demnächst wird eine gepfefferte Rechnung präsentiert‘ – Wolfgang Franz, der Chef der Wirtschaftsweisen, über Luftschlösser im Wahlkampf, den Herbst der Wahrheiten und die Folgen der Finanzkrise“ – SZ Nr. 222 vom 26./27.09.2009, S. 27; Tanjev Schultz: „Im Schul-Irrgarten“ – SZ Nr. 157 vom 12.07.2010, S. 4; Stefan Bach, Marcel Fratzscher u. Peter Haan: „Reformieren statt Steuern erhöhen – Deutschland braucht Geld für Investitionen, aber die Regierung hätte alternative Einnahmemöglichkeiten“ – SZ Nr. 237 vom 14.10.2013, S. 18 531 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 220 ff.; Hannah Beitzer: „Zu kleine Elite – Deutschland fällt laut einer OECD-Studie bei der Zahl der Hochschulqualifizierten zurück/Kritik an niedrigen Ausgtaben für Bildung“ – SZ Nr. 212 vom 14.09.2011, S. 5 529

148

über wenig gesprochen. Auch die Regierung Schröder hat zwar mehrfach angekündigt, den Etat für Forschung und Bildung entsprechend einer europäischen Zielsetzung von damals 2,5 auf mindestens 3 Prozent des Inlandssozialprodukts anzuheben, dieses aber nie erreicht.532 Endlich – erst in der zweiten Hälfte des Jahres 2008! – wollte sich die Regierungspartei CDU dafür einsetzen, die staatlichen Ausgaben für Bildung und Forschung um mehrere Milliarden Euro zu erhöhen und bis zum Jahre 2015 zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung zu investieren. Eine Zusammenkunft der Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Regierungschefs der Länder auf dem sogenannten „Bildungsgipfel 2008“ in Dresden zeitigte jedoch selbst theoretisch nur magere Ergebnisse. Aber in einem Wahljahr lassen sich hieraus kurzfristig keine positiven Effekte für den Machterhalt ableiten. Deshalb wurde die „heikle Finanzfrage“ einfach auf die Zeit nach der Wahl verschoben.533 Bundeskanzlerin Angela Merkel rief zwar die „Bildungsrepublik Deutschland“ aus, nachdem das Bildungswesen gerade als Ergebnis der ersten FöderalismusKommissionsarbeiten noch deutlicher als bisher den Bundesländern überantwortet und damit eine alleinige Länderzuständigkeit festgelegt worden war. Aber noch immer blieb unklar, wie das finanziert werden sollte. Die FDP konterte mit dem kritischen Hinweis, ob die CDU wisse, daß sie seit drei Jahren an der Regierung sei und immerhin auch in den meisten Ländern Verantwortung für die Bildungspolitik trage.534 Als sie später selbst mit in der Koalition war, änderte sich freilich auch nichts. Auch jetzt also noch weiterhin nur irreales Fordern, beschwichtigendes Reden und angebliches Priorisieren, wie das auch die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) Annegret Kamp-Karrenbauer (CDU) getan hat, indem sie auf eine im Oktober getroffene Vereinbarung von Bund und Ländern verwies. Danach sollen die Bildungsausgaben bis zum Jahre 2015 auf sieben Prozent am Bruttoinlandsprodukt steigen, zuzüglich 3 Prozent für die Forschung, wobei allerdings schon wieder die privaten Bildungsausgaben (?) mit eingerechnet worden sind.535 Auch die Studenten mokieren sich längst „das Gerede von einer Bildungspolitik, die es bisher nicht einmal geschafft hat, den massenhaften Ausfall von Unterricht und die Überfüllung der Hörsäle zu verhin-

532

„Schröder: Mehr Geld in Bildung investieren“ – SZ Nr. 217 vom 18./19.09.2004, S. 8 „Oberflächliche Bildungspolitik“ – SZ Nr. 207 vom 09.09.2009, S. 4; „Das BildungsgipfelDesaster“ – SZ Nr. 132 vom 12./13.06.2010, S. 4 534 „CDU plant ‚Bildung für alle‘ – Partei legt Konzept vor, lässt aber die Finanzierung offen“ – SZ Nr. 236 vom 10.10.2008, S. 7 535 Tanjev Schultz: „Staat tut zu wenig für die Bildung“ – SZ Nr. 281 vom 03.12.2008, S. 6 unter Bezugnahme auf den aktuellen Bildungsbericht 2008 des Statistischen Bundesamtes.

533

149 dern.“536 So sollte u. a. auch die Zahl der Schüler ohne Abschluß auf 4 Prozent halbiert werden. Von 2008 bis 2011 sank sie jedoch nur auf 6,2 Prozent.537 Sogar die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit OECD hat inzwischen mehrfach dazu aufgerufen, daß Deutschland stärker in die Bildung investieren müsse.538 Vor allem sollte der Staat umso mehr Geld dafür ausgeben, je jünger ein Kind sei. Das bedeutet nach einer weiteren Untersuchung der OECD, die auch die PISA-Studien verantwortet, für Industriestaaten wie Deutschland eine grundlegende Korrektur der Bildungsausgaben, denn noch immer geht der größte Teil des Budgets an Kinder im schulpflichtigen Alter. Die frühe Kindheit kommt in fast allen untersuchten Staaten zu kurz.539 Aber konkret getan wird so gut wie nichts!

Der konkrete Verlauf und Vergleich der Bildungsausgaben in den vergangenen Jahren ist nicht einfach zu ermitteln. Die jeweils gerechneten und anzustrebenden Anteile am Bruttoinlandsprodukt sind offensichtlich nicht kompatibel, wohl weil immer nur verschiedene Rechnungsgrundlagen (Bund und/oder Länder) berücksichtigt werden: Die öffentlichen und privaten Ausgaben für Bildung lagen nach einer von der Zählweise des Statistischen Bundesamtes abweichenden Erfassung in Deutschland im Jahre 2006 mit 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (das ist die viertletzte Stelle von 16 Vergleichsstaaten) deutlich unter dem Durchschnitt der OECD-Länder (6,1 Prozent). Daran hat sich nach den Ermittlungen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und der Deutschen-Telekom-Stiftung bis heute praktisch nichts verändert. Noch immer wird nur etwa 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung aufgewendet und Deutschland liegt international mittelmäßig auf Platz 17 von 28 untersuchten Nationen.540 In der nationalen Statistik lag der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt bei 6,2 Prozent. Selbst aus den zur Stabilisierung der Konjunktur zur Verfügung gestellten nicht unerheblichen Mitteln flossen nach einer Studie 536 Tanjev Schultz: „Aufstand gegen den Autismus – Die Studenten demonstrieren gegen die ‚Leistungsmaschine‘ Universität – zu Recht“ – SZ Nr. 266 vom 18.11.2011, S. 4 537 „Maue Bilanz für die ‚Bildungsrepublik‘“ – SZ Nr. 299 vom 28.12.2012, S. 6 538 Varinia Bernau und Tanjev Schultz: „Deutschland bleibt bei der Bildung zurück – OECD kritisiert zu niedrige Ausgaben für Schulen und Hochschulen“ – SZ Nr. 207 vom 09.09.2009, S. 6; Hannah Beitzer: „Zu kleine Elite – Deutschland fällt laut einer OECD-Studie bei der Zahl der Hochschulqualifizierten zurück/Kritik an niedrigen Ausgtaben für Bildung“ – SZ Nr. 212 vom 14.09.2011, S. 5; vgl. auch Tanjev Schultz: „‘Bildungsrepublik in weiter Ferne‘ – DGB erkennt keine Fortschritte bei Krippenausbau, Schulpolitik und Uni-Reform“ – SZ Nr. 242 vom 20.10.2011, S. 5; 538 „Note: befriedigend – Die OECD lobt das deutsche Bildungssystem – mit Abstrichen“ – SZ Nr. 215 vom 16.09.2016, S. 6 539 Felix Berth: „Je früher, desto besser – Die OECD rät den Industriestaaten, ihre Bildungsausgaben umzuschichten – Kleinkinder sollten stärker gefördert werden“ – SZ Nr. 97 vom 28.04.2011, S. 5 540 Vgl. auch den ehemaligen FDP-Chef und Bundesaußenminister Klaus Kinkel: „Das Elend der Kleinstaaterei – Eine unglückliche Bestimmung im Grundgesetz verbietet, dass Berlin und die Länder in der Bildung kooperieren. Weg damit!“ – SZ Nr. 248 vom 26./27.10.2013, S. 2

150

des Instituts für Wirtschasftsforschung (DIW) im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) 70 Prozent in die reine Instandhaltung von Gebäuden oder der Infrastruktur und damit nicht einmal ein Drittel in zukunftsorientierte Wirtschafts-Projekte oder Investitionen in die Bildung. Allein von der deutschen Wirtschaft wurden über die öffentlichen Mittel und die klassischen Drittmittel aus der Industrie hinaus im Jahre 2009 für Praktikumsplätze, Stipendien, Stiftungsprofessuren und als direkte Spenden rund 2,2 Milliarden Euro aufgewendet.541 Man beziffert allein die Anzahl der so gesponserten Stiftungsprofessuren auf zwischen 600 und 1000.542 Nach einer OECD-Studie lagen die Bildungsausgaben des Jahres 2007 in Deutschland mit 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts unter dem OECDMittelwert von 5,7 Prozent. Dagegen bildeten Länder wie Island (7,8 Prozent), die USA (7,6 Prozent) und Dänemark (7,1 Prozent) die Spitze der Investitionsanstrengungen. Aber selbst Staaten wie Korea (7,0 Prozent), Frankreich (6,0 Prozent) und Österreich (5,4 Prozent) liegen noch deutlich über dem deutschen Wert. Dabei würde sich eine deutliche Verstärkung der Bildungsinvestitionen speziell für den Hochschulbereich auch für den Staat mehr als lohnen, weil jeder Uni-Absolvent ihm über höhere Einkommen, Steuern und Abgaben und weniger Arbeislosigkeit wieder 150 000 Euro einbringt543 Das hat sich nach der Studie der OECD auch 2008 nicht grundsätzlich verbessert. Jetzt verharrte Deutschland bei 4,8 gegenüber einem etwas gestiegenem OECD-Durchschnitt von 5,9 vom BIP, während Island mit 7,9, Korea mit 7,6, Israel und Norwegen mit 7,3 knapp vor den USA mit 7,2 lagen. Im September 2016 lagen die Investitionen für Bildungsinstitutionen noch immer nur bei 4,2 Prozent, d.h. weiterhin unter dem OECD-Durchschnitt.544 Selbst im Jahre 1995 lag Deutschland mit 5,1 Prozent über den jetzigen Ausgaben für Bildung. Das Problem liegt nach wie vor vor allem in der Vorschul- und Grundschulbildung.545 Laut Zählweise des aktuellen Bildungsberichts 2008 des Statistischen Bundesamtes sank der Anteil der staatlichen Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt zwischen 1995 und 2005 sogar von 4,1 auf 3,9 Prozent. Für 2008 rechneten die Statistiker noch mit 3,7 Prozent. Dabei – einige Punkte hin oder her – 541 So eine Studie des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft und des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) – vgl. „Milliarden für Akademiker“ – SZ Nr. 268 vom 19.11.2010, S. 21 542 Tanjev Schultz: „Forschung am Gängelband – Deutsche Bank sponsert Universitäten – keineswegs selbstlos“ – SZ Nr. 124 vom 30.05.2011, S. 1 543 „Zu wenig Hochschulabsolventen“ und „Stefan Braun: „‘Bildung lohnt sich‘ – Jeder Uniabsolvent bringt dem Staat 150 000 Euro – dennoch investiert Deutschland weniger als die meisten Industrieländer in Hochschulen“ – SZ Nr. 207 vom 08.09.2010, S. 1 und 5 544 „Note: befriedigend – Die OECD lobt das deutsche Bildungssystem – mit Abstrichen“ – SZ Nr. 215 vom 16.09.2016, S. 6 545 Hannah Beitzer: „Zu kleine Elite – Deutschland fällt laut einer OECD-Studie bei der Zahl der Hochschulqualifizierten zurück/Kritik an niedrigen Ausgtaben für Bildung“ – SZ Nr. 212 vom 14.09.2011, S. 5

151

wäre in der freien Wirtschaft ein über Jahre hin derart mittelmäßiges bzw. erfolgloses Management angesichts des Drucks im Wettbewerb existenzbedrohend. Und für die weitere Zukunft Deutschlands ist es das zweifellos auch. Was hilft es da, wenn Bundesbildungsministerin Annette Schavan angesichts dieser Zahlen wieder einmal nur verbal darauf verweist, daß die Bildung in Deutschland höchsten Rang genieße und deshalb auch die Anstrengungen erhöht werden müßten. Wer wundert sich eigentlich noch, daß die Menschen der Politik, die sich mehr und mehr auf das „Gesundbeten“546 zurückzieht, nicht mehr glauben und ihr auch wirkliche Lösungen nicht mehr zutrauen?

Ob sich hier nun endlich ein Schwerpunkt, auch über das abstrakte Versprechen hinausgehende Projekte bei den weiteren Verhandlungen ergeben, erscheint eher weiterhin zweifelhaft,547 auch wenn sich die Vertreter der beiden neugewählten Koalitionsparteien dafür einsetzen und das Ziel der Ausgaben für Bildung und Forschung für Bund und Länder bis zum Jahre 2015 noch immer bei zehn (derzeit noch unter neun) Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also bei 280 Milliarden Euro sehen.548 Die erneuten, aber nach wie vor vagen und nun auch noch mit merkwürdigen Berechnungsmethoden verwässerten Versprechungen dürften nicht zuletzt wegen der Folgen der Wirtschaftskrise eher wieder in den Hintergrund treten,549 obwohl Bildung gerade auch hier als eine der wichtigsten Zukunftsinvestition zur langfristigen Lösung der Probleme immer wieder hervorgehoben wird. Die Menschen glauben nicht mehr daran. Jedenfalls sind nach einer neuen Forsa-Umfrage im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) 84 Prozent von ihnen der Ansicht, daß Bund und Länder nicht genügend Geld bereit stellen, damit Deutschland eine „Bildungsrepublik“ werden kann.

546

Interview mit Wolfgang Streeck, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung: „‘Politik besteht heute vor allem aus Gesundbeten‘ – Ein Soziologe glaubt, dass die Mächtigen nicht genau wissen, was sie tun. Entscheidungen werden schwieriger, weil alte Gewissheiten wegbrechen“ – SZ Nr. 207 vom 08.09.2010, S. 20 547 Stefan Braun: „Anfang ohne Zauber – Schwarz-Gelb fehlt die Überschrift, dabei gäbe es eine Aufgabe: Bildung, Bildung, Bildung“ – SZ Nr. 228 vom 05.10.2009, S. 4; Tanjev Schultz: „Die Bildungslüge“ und „Kritik an Schulreformen“ – SZ Nr. 292 vom 18.12.2009, S. 4 und 6 548 „Bildungspolitiker fordern Milliarden – Koalition erwägt Aufwertung des Forschungsministeriums“ – SZ Nr. 234 vom 12.10.2009, S. 6; Stefan Braun u. Claus Hulverscheidt: „Merkel verspricht Ländern mehr Geld für Bildung – Kanzlerin will aber nur konkrete Projekte unterstützen/Ministerpräsidenten fordern dauerhaft höheren Steueranteil“ – SZ Nr. 291 vom 17.12.2009, S. 1; „Eine neue Ordnung mit bewährten Prinzipien – Schwarz-gelber Schulterschluss: Norbet Röttgen (CDU) und Christian Lindner (FDP) plädieren für eine Besinnung auf die soziale Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 71 vom 26.03.2010, S. 5 549 Tanjev Schultz: „Protest in Sicht – Schüler und Studenten eifern den Franzosen nach und planen einen bundesweitens ‚Bildungsstreik‘“ – SZ Nr. 118 vom 25.05.2009, S. 47; ders.: „Forscher und Studenten profitieren“ – SZ Nr. 245 vom 24./25.10.2009, S. 6; Johann Osel: „Empörung über Ministerpräsidenten – Studenten und Politiker kritisieren Ergebnis des Bildungsgipfels als viel zu vage“ – SZ Nr. 292 vom 18.12.2009, S. 7

152

Und 79 Prozent glauben nicht mehr daran, daß das Ziel einer Bildungsrepublik überhaupt noch ernsthaft verfolgt wird.550

Schulden- und Finanzkrise Welcher verantwortliche Politiker hat beispielsweise die große weltweite Finanzkrise 2009 kommen sehen und rechtzeitig verantwortlich gegengesteuert?

Konsum, verlorene Kosten und auch in Zeiten steuerlicher Mehreinnahmen zur Rückzahlung von Staatsschulden zu verwenden statt immer neue Staatsschulden anzuhäufen551 rangieren vor wachstumsfördernden Investitionen. Was ist wirklich geschehen auf dem Sektor der langfristigen Sicherung der Sozialsysteme?

Wirtschaftskrise, hohe Staatsschulden und eine gewisse Sorglosigkeit und Verdrängungsmentalität der politischen Parteien haben in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, daß die absehbaren Probleme auf diesen Sektor bis heute nicht gelöst sind. Selbst ein CSU-Mitglied und Chef der CSU-Zukunftskommission wie Manfred Weber hat einmal offen bekannt: „Diese Bundesregierung hat, insbesondere bei den sozialen Sicherungssystemen bisher keine Antworten. Da war sogar die große Koalition besser“552 – was letzteres man freilich weder für die Kranken- noch für die Pflegeversicherung wirklich behaupten kann..

Wenn es um die Fähigkeiten einer demokratisch verfaßten Staatenwelt, ihrer Politiker und ihrer aktuellen Handlungserfordernisse bzw. die der abseharen Zukunft geht, dann hat sich dafür nichts als anschaulicher erwiesen als die vor allem von den USA ausgehende und Europa ergreifende Finanz- und Schuldenkrise. Natürlich ging es auch um die Folgen der weltweit schnellen und nach allen Seiten offenen Kapitalströme, wobei Investoren und Banker mehr noch als andere die Wirtschaft in den vergangenen Jahren „nur auf maximale Rendite getrimmt“ hatten. Risiken spielten offenbar kaum mehr eine Rolle.

Das ist zunächst nicht nur markttypisch regelkonform, solange die geltenden Bedingungen für Finanzmärkte derartige Verhaltensweisen ermöglichen bzw. auch technisch erleichtern. Trotzdem beschimpften viele angesichts grenzenlos ausufernder Entwicklungen schnell und populistisch die Banken553 und die 550

SZ: „‘Die Bildungsrepublik ist nur eine Worthülse‘“ – SZ Nr. 229 vom 04.10.2010, S. 38 Claus Hulverscheidt: „Schulden doppelt so hoch – Nettokreditaufnahme steigt auf 36,8 Milliarden Euro“ – SZ Nr. 19 vom 24./25.01.2009, S. 5; “Schulden steigen auf zwei Billionen“ – SZ Nr. 61 vom 14./15.03.2009, S. 6; Alexander Mühlauer: „Die Schuldenmacher – Für die Politik spielt die Generationengerechtigkeit keine Rolle mehr“ – SZ Nr. 43 vom 22.02.2010, S. 17 552 Zit. nach Stefan Braun: „‘Die Union leidet am Pragmatismus‘ – Manfred Weber, Chef der CSUZukunftskommission, warnt seine Partei davor, die Grünen zu imitieren“ – SZ Nr. 94 vom 23./24./25.04.2011, S. 6 553 Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“, S. 121 ff.

551

153

weltweit agierenden Spekulanten. Immer mehr „Bewegungen“ (Attac) und Stimmen geißelten den „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt)554 und „Die Gier des Marktes“ (Claus Koch).555 Marion Gräfin Dönhoff forderte: „Zivilisiert den Kapitalismus – Grenzen der Freiheit“.556 Der frühere Automanager Daniel Goeudevert beklagte, daß wir nicht die Durchsetzung des Ökonomischen erlebten, sondern seine Pervertierung, und kämpfte gegen Gier und für deutliche Regulierungen.557 Dabei muß man sehen, daß nicht in erster Linie die Banken und ihre Gier das Debakel ausgelöst haben, also nicht so sehr der „Kapitalismus“ als Teil eines marktwirtschaftlichen Gesamtsystems, sondern eine falsche amerikanische Sozialpolitik die ersten Ursachen für die ausufernden Finanzmärkte gesetzt und von da her eine erste Krise ausgelöst haben.558 Der ehemalige IBMManager und BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel hält die amerikanische Politik, die patriotisch-moralischen Initiativen einiger US-Präsidenten zu einer sozial gerechten, toleranten und wunschgemäß wählenden Nation verbunden mit einer extrem niedrigen Zinspolitik der amerikanischen Notenbank für die eigentlichen Ursachen der Misere, die sich ja zuerst auf dem amerikanischen Immobiliensektor gezeigt hatte.559 So ist offenbar, daß letztlich bei all dem Geschehen die Politiker die Verantwortung dafür tragen, was den aktuellen Stand des Geschehens und die Unfähigkeit anbetrifft, nur über ein ständig teurer werdendes Aufschieben einer wirksamen Therapie wirkliche Problemlösungen zu finden und konsequent umzusetzen.

Für die Herausforderungen an das weltweite Wirtschaftssystem und seine Ordnungsregeln, das auch den berechtigten sozialen und ökologischen Erfordernissen ausreichend Rechnung trägt, gab es nicht einmal ein Konzept bei den Wirtschaftswissenschaftlern560 oder Instituten. Politiker haben auch einen weiteren

554

Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 255 ff.

Claus Koch: „Die Gier des Marktes – Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft“ – Carl Hanser Verlag München Wien 1995 556 Marion Gräfin Dönhoff: „Zivilisiert den Kapitalismus – Grenzen der Freiheit“ – DVA Stuttgart 1997 – These 11, S. 223; ähnlich Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Woran der Kapitalismus krankt – Die Krise liegt im System. Eigentum muss dem Gemeinwohl dienen“ – SZ Nr. 94 vom 24.04.2009, S. 8; siehe neuerdings auch Klaus Schwab: „Das Ende des Kapitalismus – und was nun? – Die entscheidenden Wettbewerbsfaktoren der Zukunft sind Kreativität und Innovationskraft“ – SZ Nr. 84 vom 11.04.2012, S. 18; Andreas Oldag: „Die Gier nach Geld“ – SZ Nr. 156 vom 09.07.2012, S. 17 557 Vgl. Hans Leyendecker: „Verantwortung wäre schon genug“ – Buchbesprechung Daniel Goeudevert: Das Seerosen-Prinzip. Wie uns die Gier ruiniert“, Dumont Köln 2008 – SZ Nr. 222 vom 23.09.2008, S. 16 558 Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Woran der Kapitalismus krankt – Die Krise liegt im System.

Eigentum muss dem Gemeinwohl dienen“ – SZ Nr. 94 vom 24.04.2009, S. 8; Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 17 ff. (34) und S. 67 ff. (79) 559 Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 17 ff. (34) u. 42 ff.

560 Siehe aber neuerdings Franz Josef Radermacher/Josef Riegler/Hubert Weiger: „Ökosoziale Marktwirtschaft – Historie, Programm und Perspektiven eines zukunftsfähigen globalen Wirtschafts555

154

wichtigen Einflußfaktor für das immer weiter ausufernde Finanzgeschehen zu vertreten, nämlich die geradezu hemmungslos gestiegenen Staatsverschuldungen, die sich überall ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Situation eines Landes von Jahr zu Jahr ständig vergrößerten. Das führte nicht nur zu neuen und umfangreichen „Anlagemöglichkeiten“ all derer, die ihr Geld durch den Kauf von Staatsanleihen gut verzinst unterbringen wollten, sondern auch zu erweiterten Abhängigkeiten der Haushaltspolitiker von den Finanzmärkten. Die Banken nutzten hier als „Detektoren für Risiken“ lediglich die gegebene Konstellation und Gelegenheit, wobei sie sich weiterhin durchaus konsequent verhielten, indem sie bei ihren Handlungen in der Logik des Systems verblieben. Im übrigen war der „Kern der Wirtschaft... das Herstellen, Verkaufen und Kaufen von Gütern, die reale Wertschöpfung“ offenbar nicht primär in Gefahr.561 Was die Eurozone anbetrifft, so war es u.a. Deutschland, das unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder zuerst die vereinbarte Schuldengrenze von 3 Prozent des Bruttosozialprodukts vertragswidrig überschritt. Ähnlich verhielten sich nach diesem wenig vorbildlichen Verhalten schnell auch andere nationale Politiker, indem sie die Staatsschulden zur Stützung bzw. Verbesserung ihrer Konjunktur immer nur vergrößerten, aber niemals eingedämmten.562 Mißachtet wurde einmal die Regel, Schuldengelder vorrangig zur Finanzierung investiver Projekte, von denen man sich in der Zukunft Erträge verspricht, zu verwenden und nicht auch für konsumptive und soziale Ausgaben.563 Vernachlässigt wurde zum anderen auch der zweite Teil der Schuldenregeln von John Maynard Keynes, die Schulden wenigstens in besseren Zeiten zu tilgen.

Innerhalb Europas rächte sich, daß es zwar einen Stabilitätspakt, aber weiterhin keine Sanktionen bei Verstößen dagegen, auch über die Einführung einer gemeinsamen Währung (Eurozone) hinaus keine Wirtschafts- und Fiskalunion gab.

Soweit es überhaupt gemeinsame Regelungen innerhalb der europäischen Union galten, führte eine falsch verstandene Liberalität564 eher zur weiteren Verschärfung der Krise als zu ihrer Behebung, auch wenn sie später – auch von der

systems“ – Oekom Verlag München 2011 mit Besprechung von Indira Gurbaxani: „Das Ende des radikalen Marktes“ – SZ Nr. 186 vom 13./14./15.08.2011, S. 34 561 Marc Beise: „Die Lehren aus der Krise“ – SZ Nr. 221 vom 22.09.2008, S. 4 562 Simone Boehringer, Helga Einecke und Cerstin Gammelin: „Die Schuldenmacher – Der Rettungsfonds EFSF leiht sich erstmals Geld an Kapitalmarkt. Seine Anleihen entscheiden über das Schicksal der Krisenstaaten“ – SZ Nr. 19 vom 25.01.2011, S. 24; Markus Balser: „Politik der zugenähten Taschen – Deutschlands Spitzenökonomen fordern von der Bundesregierung einen raschen Schuldenabbau“ – SZ Nr. 101 vom 03.05,2011, S. 18 563 Hanno Beck u. Aloys Prinz: „Staatsverschuldung – Ursachen, Folgen, Auswege“ – C. H. Beck Verlag München 2012 und die Besprechung von Werner Bührer: „Offene und versteckte Schulden“ – SZ Nr. 121 vom 26./27.05.2012, S. 28 564 Alexander Hagelüken: „Vermeidbar: die Finanzkrise – Um das nächste Desaster zu verhindern, müssen Politiker handeln“ – SZ Nr. 22 vom 28.01.2011, S. 17

155 Kommission – intensiv betrieben wurde.565 Unklare politische Ziele und Vorgaben, der Mangel an Orientierungen und Regeln für eine gemeinsame Wirtschafts- und Haushaltspolitik und für Finanzprodukte, national geprägte Abstimmungen und Handlungsweisen ließen bei den Mitgliedstaaten ein Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit und Wachstumsgrößen in einer Weise zu, die sich zunehmend als ernsthafte Bedrohung für die gemeinsame Euro-Währung erwiesen.566 Das vorläufige Ende der so eingeleiteten Entwicklung war trotz zahlreicher finanzieller Stützungs- und Rettungsmaßnahmen untereinander, daß sich die Misere nur zeit- und kostenaufwendig verschob, aber nicht wirklich gelöst wurde. Je notleidender ein Staat finanziell wurde, um so mehr erwartete er solidarisches Verhalten der anderen, um die sich immer schneller aufreißenden Löcher wenigstens vorübergehend zu stopfen. An eine wirklich eigenverantwortlichen Behebung der Situation durch innerstaatliche Strukturreformen und gezielte Investitionen zur Verbesserung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit wurde um so weniger gearbeitet, je einfacher es war, von anderen die gewünschten Hilfen zu erhalten.

Es waren also nicht nur in den USA, sondern auch in Europa die Politiker, die mit ihrem viel zu langen, tatenlosen Zusehen innerhalb der seit Jahren offen daliegenden negativen Entwicklung in der Eurozone567 zu den wesentlichen 565 Cerstin Gammelin: „Kommission für schärferen Euro-Stabilitätspakt – EU will Schuldenländer hart bestrafen – Staaten sollen mit hohen Geldbußen gezwungen werden, die Defizitgrenze einzuhalten und Reformen einzuleiten“ – SZ Nr. 226 vom 30.09.2010, S. 1; Alexander Hagelüken: „Strenge Regeln für Europa: Wie der Stabilitätspakt Schulden stopnnen sollte – und was jetzt geschieht – Deutscher Traum, deutsches Trauma – Erst wollte die Bundesrepublik harten Normen für den Euro, dann brach sie sie selbst – und schließlich sah sie zu, wie Griechen und andere die Währung schwächten“ – SZ Nr. 226 vom 30.09.2010, S. 19 566 „‘Jetzt haben wir den Salat‘ – Ex-Bundesbank-Chef Karl Otto Pöhl, 80, über die Rettungspakete für südeuropäische Staaten, die Rolle der Geldpolitik in der Krise und die Zukunft der Gemeinschaftswährung“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2010, S. 85 ff.; Nikolaus Piper: „Risiko Deutschland“ – SZ Nr. 119 vom 27.05.2010, S. 4; Martin Winter: „Europa wankt“ – SZ Nr. 120 vom 28.05.2010, S. 4; Alexander Jung u.a..: „“Der ausgehöhlte Euro – Um die Europäische Währungsunion wirklich zu retten, müssen der Finanzspritze der Mitgliedsländer grundlegende Reformen folgen. Die größte Gefahr aber droht von der EZB;: Sie hat ihre Rolle als Garantin der Geldwertstabilität aufgegeben, die Inflationsgefahr wächst“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2010, S. 72 ff.; Heiner Flassbeck u. Friederike Spiecker: „Die Politik ist überfordert – Warum für die Eurokrise keine Lösung gefunden und die Finanzmarktregulierung torpediert wird“ – SZ Nr. 131 vom 11.06.2010, S. 24; Andreas Oldag: „Stabilität durch klare Regeln – Europa braucht wirksame Sanktionen gegen Defizitsünder und muss diese auch konsequent einsetzen“ und Marc Beise: „In der Schuldenfalle – Die Staaten leben über ihre Verhältnisse – mit fatalen Folgen für künftige Generationen und die Weltwirtschaft“ – SZ Nr. 222 vom 25./26.09.2010, S. 30 u. 31; Joschka Fischer: „Und koste es das Amt – Angela Merkel und Nicolas Sarkozy müssen die EU retten – indem sie die Wirtschaftsunion durchsetzen“ – SZ Nr. 283 vom 07.12.2010, S. 2; Martin Hesse: „Harte Wahrheiten“ – SZ Nr. 283 vom 07.12.2010, S. 4; Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“, S. 126 ff.

567 „‘Wir erleben dramatische Zeiten‘ – Jean-Claude Trichet, 67, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), über die gewaltigste Rettungsaktion, die Europa je gesehen hat, Rolle und –Bedeutung

156

Ursachen der Krise beigetragen haben und teilweise auch danach noch immer oder immer wieder erneut in ratloser „Schockstarre“ verharrten.568 Das gilt insbesondere auch für die Schuldenpolitik und die korrupten Strukturen Griechenlands. Die Krise wäre schon in den USA – wie später ein Ausschuß des USKongresses untersucht hat – vermeidbar gewesen, hätten zentrale Akteure in der Firmen- und Politikwelt anders gehandelt.569 Ein gravierender Vorwurf richtet sich in Europa an jene Politiker in den EU-Mitgliedstaaten, aber auch in den Brüsseler Institutionen, die durch mangelnde Aufsicht und Kontrolle den Schaden nicht rechtzeitig vorhergesehen und dann auch rechtzeitig verhindert haben.

Entgegen ihrem Amtseid, „dem Wohle des Volkes zu dienen“ und „Schaden von ihm zu wenden“ haben sie die Dinge zu lange einfach laufen lassen, weil sie entweder selbst davon profitierten oder zu wenig von dem verstanden, was da auf alle zukam bzw. sich dann ereignete.570 Die enormen Staatsverschuldungen sind „Folge politischen Handelns, deren Repräsentanten nun die Konsequenzen nicht tragen wollen, und daher irgendwelche ‚Märkte‘ denunziern“ (Werner Plumpe).571 Auch nachdem das Kind im Brunnen lag, verhielten sich die politischen Akteure zunächst äußerst hilflos. Der Rat der Fachleute, die sich hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen zunächst einmal weitgehend einig waren,572 wurde von der Politik nicht gesucht oder arrogant beseite geschoben. Man rettete sich und die wirtschaftlich überschuldeten Staaten zunächst mit Milliardengarantien, um auch einfach nur Zeit zu gewinnen. Denn wäre nicht sofort solidarisch geholfen worden – und es mußte schnell geholfen werden ohne sichere Aussicht, die hierfür eingesetzten Milliarden einmal zurück zu erhalten,573 wären die negativen wirtschaftlichen Folgen zwar zunächst noch gravierender ausgefallen. der Spekulanten und die Schwäche der Politik“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2010, S. 77 ff.; Guy Kirsch: „Sorgfältig geplante Katastrophe – Die Politik irrt sich in ihrem Feind: Nicht die Spekulanten haben das Debakel ausgelöst – sie selbst ist dafür verantwortlich“ – SZ Nr. 115 vom 21.05.2010, S. 2; Nikolaus Piper: „Risiko Deutschland“ – SZ Nr. 119 vom 27.05.2010, S. 4; Alexandra Borchardt: „Gute Feine, böse Feinde – Am Verhalten der Spekulanten lässt sich ablesen, warum die Krise nur durch beides zu bewältigen ist: Wachstum und Sparen“ – SZ Nr. 120 vom 28.05.2010, S. 2 568 Stefan Kormelius: „Unfähig zur Therapie – Europa verharrt in Schockstarre, statt aus der Krise zu lernen“ – SZ Nr. 222 vom 25./26.09.2010, S. 31 569 Alexander Hagelüken: „Vermeidbar: die Finanzkrise – Um das nächste Desaster zu verhindern, müssen Politiker handeln“ – SZ Nr. 22 vom 28.01.2011, S. 17 570 Vgl. dazu Thomas Wiedzorek: „Die Stümper – Über die Unfähigkeit unserer Politiker“ und ders.: „Dilettanten – Wie unfähig unsere Politiker wirkklich sind“ – Knaur Taschenbuch Verlag 571 Werner Plumpe: „Wir kämpfen, retten, bändigen bis zur Zahlungsunfähigkeit – Ein entspannteres Kapitalismus-Bild könnte uns vom teuren Albtraum des Gleichgewichts befreien“ – SZ Nr. 243 vom 21.10.2011, S. 12 572 Markus Balser: „Politik der zugenähten Taschen – Deutschlands Spitzenökonomen fordern von der Bundesregierung einen raschen Schuldenabbau“ – SZ Nr. 101 vom 03.05,2011, S. 18 573 Karl-Heinz Büschemann: „Der Traum vom Aufschwung – Vieles spricht dafür, dass die Wirtschaft noch einen Rückschlag erleidet“ – SZ Nr. 110 vom 15./16.05.2010, S. 21

157

Den Banken ist allenfalls vorzuwerfen, daß sie in kürzester Zeit Milliardenbeträge auf der Basis von sogen. Leerverkäufen und sekundenschnellen Computerdispositionen mit Geldemengen umging, die sich der Höhe nach weit von der Realwirschaft entfernt hatten (sogen. Luftnummern). Zu den Folgen dieser enthemmten Entwicklung auf den Finanzmärkten zählten schließlich nicht nur die Schweiz mit ihren Verführungen zur Steuer-Unmoral, sondern auch die Stadt London die insoweit bis heute eine Vorreiterrolle spielt.574 Das dabei bestehende, international unklare und hektische, nicht sorgfältig abgewogene Nebeneinander der nationalen interessengeleiteten Vorstellungen zur Behebung der Krise führt zu offenkundig falschen, gegen die bisherigen Verträge verstoßenden und auch sinnlosen Maßnahmen,575 die Spekulanten geradezu weiterhin einluden, die Grenzen des jeweiligen einen oder anderen Bereichs konsequent auszureizen.576 Der Nutzen der einen, etwa der Banken, die für das von ihnen angerichtete Desaster nun nicht durch eine angemessene Gläubigerhaftung zur Verantwortung und Schadengutmachung herangezogen wurden, ging ausschließlich zu Lasten der anderen, also aller Steuerzahler, die sich keineswegs und auch nicht für alle Zukunft als selbstverständliche Garanten empfanden bzw. empfinden können. Finanz- und Bankenexperten wie Prof. Gehrke und Ifo-Chef Hans-Werner Sinn sahen in den bisherigen Sofortmaßnahmen schon frühzeitig ebenso wie bei der Transaktionssteuer eine bloße Weitergabe dieser Steuerbelastungen an die Steuerzahler und Kunden und vermissten eine unmittelbare eigene Beteiligung der Banken als haftende Anleger im Sinne eigener Verlustbeteiligung, und sei es auch nur als sogenannte „Umschuldung light“.577 Denn würde 574

Andreas Oldag: „Die Gier nach Geld“ – SZ Nr. 156 vom 09.07.2012, S. 17 Nikolaus Piper: „Risiko Deutschland“ – SZ Nr. 119 vom 27.05.2010, S. 4; Marc Beise: „Der Flop – Das Sparpaket wird zu Recht kritisiert. Aber was ist wirklich zu tun?“ – SZ Nr. 132 vom 12./13.06.2010, S. 23; Wolfgang Franz: „Vorsicht vor dem Lehrmeister – Wie kommt man aus der Krise raus? Die Amerikaner tragen mit großem Selbstbewusstsein schlechte Forderungen vor“ – SZ Nr. 135 vom 16.06.2010, S. 2; Claus Hulverscheidt, Martin Balser u. M. Kläsgen: „Genug der Solidarität – Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Sarkozy lehnen Euro-Bonds ab. Wie wollen Wirtschaftskraft neu bewerten“ – SZ Nr. 287 vom 11./12.12.2010, S. 25 576 Moritz Schularick: „Die Rückkehr der Spekulanten – Europa leidet unter einer Plage, die es früher auch schon gab: Die Märkte treiben die Politik vor sich her“ – Stz Nr. 118 vom 26.05.2010, S. 2 577 Marc Beise: „Zwischen Zorn und Spott – Volkes Seele kocht, das Ausland lacht: Merkel macht es keinem recht“ – SZ Nr. 116 vom 22./23./24.05.21010, S. 25; Armin Steinbach u. Philipp Steinberg: „Nach der Krise ist vor der Krise – Haben wir die richtigen Lehren gezogen, und was bleibt zu tun?“ – Metropolis Verlag 2010 und Besprechung dazu von Moritz Koch: „Alles eine Frage deer Haftung“ – SZ Nr. 47 vom 26./27.02.2011, S. 34; Hans-Werner Sinn: „Tickende Zeitbombe – Was Merkel und die Bundesbank verschweigen: Der Rettungsschirm rettet den Euro nicht – aber er lastet Deutschland ungeheure Risiken auf“ – SZ Nr. 77 vom 02./03.04.2011, S. 24; „Umschuldung light“und „‘Ohne Schuldenschnitt kommt Athen nicht aus dem Teufelskreis‘ – An einem Schuldenerlass für Griechenland müssen sich alle beteiligen, private wie öffentliche Hand, fordert der Ökonom Thomas Straubhaar. Die Zeit drängt“ – SZ Nr. 114 vom 18.05.2011, S. 4 und 18; ebenso Claus Hulverscheidt: „Nur noch schwammig – Ein Politikum: Der Vertragsentwurf zum Rettungsschirm ESM schont Banken, Fonds und Versicherer“ – SZ Nr. 115 vom 19.05.2011, S. 17; ähnlich auch Martin Hesse: „Der 575

158

man das Transferverhalten zum Ausgleich der Schulden einzelner Staaten fortsetzen, lädt dies zu einer übermäßigen Verschuldung auch in der Zukunft geradezu ein, ohne daß die vorhandenen .Schulden auch nur die Chance gehabt hätten, sich zu verringern.578 Wie soll auch ein auf undifferenzierten und übermäßigen Sparkurs verpflichtetes Griechenland und einer gerade dadurch zu befürchtenden Deflation so je wieder wirtschaftlich auf die Beine kommen und seine Schulden zurückzahlen können? Das Problem der Überschuldung Griechenlands wurde auf diese Weise nur auf die lange Bank geschoben und seine Lösung damit weiter verteuert. Die weitere Entwicklung hat genau dieses auch gezeigt.

Auch Griechenland ist nicht nur immer wieder einmal in kurzfristigen Zahlungsschwierigkeiten, sondern dauerhaft zahlungsunfähig.579 Ein „Rettungsschirm“ der Euro-Länder mit Garantiezahlungen wurde angeführt von Deutschland mit 119390 Milliarden Euro, gefolgt von Frankreich mit 89657 Milliarden Euro und Italien mit 78785 Milliarden Euro.580 Derartige staatliche Unterstützungsmaßnahmen sollten freilich nicht nur den überschuldeten Staaten kurzfristig neue Mittel verschaffen und deren Bankengläubiger ihre Zinseinnahmen sichern helfen, sondern sie bedienten allgemein populäre, aber problematische Ansichten über die Bekämpfung der Krisenursachen (Kapitalmarktsteuer, Transaktionssteuer,581 Bankenabgabe), die von Fachleuten aus ökofalsche Weg – Eine Spekulationssteuer stillt Sehnsüchte, löst aber keine Probleme“ – SZ Nr. 225 vom 29.09.2011, S. 17 578 Claudia Buch: „Auch die Gläubiger müssen dran glauben – Wenn die Anleger nie einRisiko eingehen, könnte es künftig eine Schuldenkrise nach der anderen geben“ – SZ Nr. 147 vom 29.06.2011, S. 2 579 Martin Hesse, Cathrin Hoffmann und Nikolaus Piper: „Die Angstwirtschaft – An den Börsen wird spekuliert, dass Steuererhöhungen und harte Sparprogramme den Aufschwung abwürgen“ und Martin Winter: „Streit um den Stabilitätspakt – Der Umgang mit Staaten, die extrem hohe Schulden haben, spaltet die EU in zwei Lager. Bis Herbst soll ein Reformpaket stehen“ – SZ Nr. 116 vom 22./23./24.05.21010, S. 25 und 27; Alexander Hagelüken: „Wo bleibt die Reform? – Die EU schweigt zu Griechenland, obwohl der Rettungsplan scheitern könnte“ – SZ Nr. 46 vom 25.02.2011, Catherine Hoffmann: „Die Banken müssen zahlen“ – SZ Nr. 177 vom 02.08.2012, S. 15S. 4; Catherine Hoffmann: „Das Endspiel – Ein Schuldenschnitt für Athen ist die einzig vernünftige Lösung“ – SZ Nr. 89 vom 16./17.04.2011, S. 23; Sibylle Haas: „Mehr Disziplin – Die Bundesbank kritisiert die jüngsten Griechenlandhilfen. Die Haushaltslage des Landes wird immer prekärer“ – SZ Nr. 193 vom 23.08.2011, S. 19; Cerstin Gammelin u. Claus Hulverscheidt: „Griechenland-Hilfe hat bisher keinen Erfolg – Trotz EU-Krediten schrumpft die Wirtschaft und steigt das Defizit/Bundesrat will Mitsprache bei Rettungsaktionen“ – SZ Nr. 203 vom 03./04.09.2011, S. 1; Catherine Hoffmann: „Die Banken müssen zahlen“ – SZ Nr. 177 vom 02.08.2012, S. 15; Hans-Helmut Kotz: „Für einen lebensfähigen Euro – Bei der Einführung der gemeinsamen Währung wurde die Wirtschaftstheorie ignoriert.

Aber noch muss der Euro nicht auseinanderbrechen“ – SZ Nr. 186 vom 13.08.2012, S. 2 580 Simone Boehringer, Helga Einecke und Cerstin Gammelin: „Die Schuldenmacher – Der Rettungsfonds EFSF leiht sich erstmals Geld an Kapitalmarkt. Seine Anleihen entscheiden über das Schicksal der Krisenstaaten“ – SZ Nr. 19 vom 25.01.2011, S. 24 581 Cerstin Gammelin: „Brüssel bereitet Steuer auf Finanzgeschäfte vor – Während Deutschland und Frankreich noch mit den anderen Staaten rangelt, prescht die EU-Kommission vor“ – SZ Nr. 216 vom 19.09.2011, S. 17; „Banken sollen für Krise zahlen – EU-Kommissionschef Barroso will son-

159

nomischen Gründen abgelehnt werden, weil auch sie zunächst an den wirklichen Fragen und Ursachen vorbeigehen582 In hektischen Konferenzen, die endlich auch die haushaltspolitische Rolle und Verantwortung der nationalen Parlamente einbezog, wurde schließlich im Oktober 2011 eine deutliche Aufstockung des gemeinsamen Rettungsschirms verbunden mit einer – wie sich schnell zeigte – durchaus zweifelhaften „FinanzHebelung“583 auf ein noch weitaus großeres Finanzvolumen sowie ein „Schuldenschnitt“ beschlossen, der Grtiechenland in einer Größenordnung von 50 Prozent seiner Schulden auch und vor allem zu Lasten privater Gläubiger-Banken aus der Verpflichtung entläßt. Die Menschen, die ohnehin mehr und mehr ihre demokratische Mitwirkung in den immer atemberaubenderen Themen, Größenordnungen und Reichweiten vermissen,584 wurden fortlaufend mit dem falschen Gerede der Alternativlosigkeit dessen abgespeist, was die Politik sich viel zu spät, dann aber auch zu hastig und unvollkommen ausgedacht hatte. Auch ihnen wurden so keine schlüssigen und sie überzeugenden Lösungsangebote für eine dauerhafte Krisenvermeidung gemacht. Das Wahljahr 2009 taumelte von da her betrachtet in eine ungewisse Zukunft.585 Es war absehbar, daß auch dieses noch keineswegs der letzte Schritt sein würde. Denn auch die Belastung der Europäischen Zentralbank oder die Einführung von Eurobonds – wie überhaupt alle gegenseitigen Finanzhilfen, die ausschließlich diskutiert wurden, helfen nur vorübergehend, die steigenden Staatsschulden dersteuer für Finanzgeschäfte“ u. Martin Hesse: „Der falsche Weg – Eine Spekulationssteuer stillt Sehnsüchte, löst aber keine Probleme“ – SZ Nr. 225 vom 29.09.2011, S. 20 und 17; Cerstin Gammelin: „Der doppelte Charme eines alten Huts – Fast alle Vorbehalte gegen die Transaktionssteuer sind auszuräumen, nur noch Uneinsichtige sperren sich“ – SZ Nr. 8 vom 11.01.2012, S. 2 582 Martin Hesse: „Nur ein Trostpflaster – Die geplante Bankenabgabe löst die Probleme der Finanzbranche nicht"“- SZ Nr. 119 vom 27.05.2010, S. 17; Marc Beise: „Der Flop – Das Sparpaket wird zu Recht kritisiert. Aber was ist wirklich zu tun?“ – SZ Nr. 132 vom 12./13.06.2010, S. 23; „Theo Zellner kritisiert Bankenabgabe – Der neue Präsident des Sparkassenverbandes ist auch gegen die geplante EU-Einlagensicherung“ und ‚Ein klassisches Eigentor‘ – Börse München: Transaktionssteuer hilft wenig und schadet viel“ – SZ Nr. 180 vom 07./08.08.2010, S. 25; Marc Beise: „Ein Politiker, der sich auskennt – Mario Monti sieht die Finanztransaktionssteuer skeptisch – zu Recht“ – Sz Nr. 10 vom 13.01.2012, S. 17 583 Harald Freiberger u. Hans-Jürgen Jakobs: „Her mit dem ‚Hebel‘ – Allianz-Manager Paul Achleitner freut sich, dass sich seine Idee durchgesetzt hat. Doch manche Experten glauben nicht so rechtr an den Erfolg“ – SZ Nr. 250 vom 29./30.10.2011, S. 32; Cerstin Gammelin: „Rettungsfonds als Pflegefall – Der EU fällt es schwer, Käufer für neue Euro-Papiere zu finden“ – SZ Nr. 257 vom 08.11.2011, S. 1 584 Joschka Fischer: „Demokratien in Gefahr – Diese Krise ist keine, die kommt und einfach wieder geht. Ihre Energien werden sich noch entladen – die Frage ist nur: wo?“ – SZ Nr. 120 vom 28.05.2010, S. 2; Sebastian Schoepp: „Es brodelt in Europa – Die UN-Arbeitsorganisation ILO sieht in den Krisenländern des Kontinents ein wachsendes Risiko für soziale Unruhen“ – SZ Nr. 82 vom 09.04.2013, S. 7 585 Thomas Öchsner: „Milliardenschwere Erblasten – Die nächste Bundesregierung muss auf dem Arbeitsmarkt noch viele Probleme lösen“ – SZ Nr. 203 vom 04.09.2009, S. 19

160

auszugleichen, nicht aber sie zu dauerhaft zu verringern oder gar zu tilgen. So dienten die sogenannten Rettungsmaßnahmen nicht zuletzt die Maßnahmen und Milliarden, die zur Stabilisierung der Euro-Währung und der Finanzmärkte ins Auge gefaßt wurden, zunächst nur dem Zweck einer akuten Krisenbewältigung, während überzeugende Maßnahmen zur dauerhaften Lösung der Probleme, die wirklich schnell an den Ursachen der Misere ansetzen, weiterhin ausblieben.

Mit den eingeleiteten Maßnahmen zur Rettung des Euro als gemeinsame Währung wurde also erneut das Problem selbst nicht gelöst, sondern nur weiter schuldenbringend und konjumkturdämpfend vor sich hergeschoben. Es stand bereits früh fest, daß im Jahre 2012 im Euro-Raum 800 Milliarden Euro neu finanziert werden müssen! Jetzt wurde es unter dem Druck der Zeitnot für alle immer teurer. Die Hoffnung, die Kapitalmärkte mit immer mehr Geld beruhigen zu können, war ein Trugschluß.586 Was hätte man etwa auf dem Schul- und Bildungssektor in Bayern mit den durch die Bayerische Landesbank versenkten 3 Milliarden Euro nicht alles tun und erreichen können und auch müssen. Nun war dafür wieder kein Geld da. Wo blieben etwa eine klare Schuldenbremse für die nationalen Haushalte mit Sanktionsfolgen aus europäischer Sicht, Maßnahmen für gestraffte und effiziente Staatsverwaltungen, gezielte Investitionen und Wachstumsförderung für die Wirtschaften der notleidenden Staaten sowie nicht zuletzt auch die viel diskutierte Bankenregulierung?587 Wenig überzeugend – wenn auch aus deren notleidender Inteeressenlage verständlich - war auch die zunehmende Forderung einzelner Staaten, eine einheitliche Staatsanleihe sowie weitere Vergemeinschaftungen der Schulden der Euroländer zu schaffen, die erneut einen Transfer ausschließlich zugunsten der riskant wirtschaftenden Länder und zulasten der sparsamen und wettbewerbsstarken EUMitglieder hergestellt hätte, ohne weitere Anreize zu Verbesserung der Sitation bei den Verursachern etwa durch konsequenten Abbau der Staatsschulden zu schaffen.588 Unmittelbar vor dem europäischen Krisengipfel am 26.6.2012 hatten in ähnlicher Weise „die großen Vier“ (Kommissions- und Ratspräsident, Präsident der Eurozone und EZB) fast ausschließlich Vorschläge zur weiteren Transferhaftung gemacht, die jedoch von den Vertretern der Nordstaaten in der EU unter der Meinungsführerschaft der deutschen Kanzlerin Angela Merkel strikt abgelehnt wurden. Was dann tatsächlich auf diesem Gipfel geschehen ist, die teils äußerst vage Verabredung eines „Wachstumpaktes“ und eines „Stabili586 Friedrich Sell u. Hans-Werner Sinn: „Das Euro-System steckt in einer Sackgasse – Eine Erwiderung auf die Kritiker: Die Hoffnung, die Kapitalmärkte mit immer mehr Geld zu beruhigen, ist ein Trugscbhluß“ – SZ Nr. 182 vom 08.08.2012, S. 20 587 Martin Hesse: „Reformstau – Die Politik muss die Bankenregulierung vorantreiben – jetzt erst recht“ – SZ Nr. 128 vom 08.06.2010, S. 17 588 Cerstin Gammelin: „Brüssel fordert drastischn Sparkurs in Europa – Währungskommisar Rehn: EU-Länder müssen Schuldenabbau verdoppeln/Grpße sorgen um Portugal und Spanien“ – SZ Nr. 8 vom 12.01.2011, S. 1

161

tätspaktes“ verbunden mit direkten Hilfen des ESM an die nationalen Banken (wenn auch unter europäischer Aufsicht, bei der lange Zeit vieles unklar und offen geblieben war, dann aber eine Einigung erfolgte589) hilft zwar den akut notleidenden Staaten Spanien und Italien kurzfrstig aus der Patsche, aber wiederum auch nur vorübergehend – „wirklich nur übergangsweise“.590 Auch kommen die erneuten Geldmittel nicht in der Realwirtschaft an. Es gibt auf europäischer Ebene weder ein klares Konzept, wohin es politisch gehen soll oder kann noch deshalb eine politische und damit auch wirtschaftliche Lösung.591 Das Euro-System steckt in einer Sackgasse.592 Immerhin gingen die Beschlüsse des Gipfeltreffens vom 22. Juli 2011 in die richtige Richtung, als im Interesse der Stabilität des Euro ein Mix von Maßnahmen beschlossen wurde, der einen teilweisen – wenn auch noch zu geringen – Schuldenerlaß zu Lasten der privaten Gläubiger verbindet mit weiteren harten Sparbedingungen für Griechenland und Fördermaßnahmen für die griechische Wirtschaft.593 Nur würde das schon eine ausreichende Regelungsgrundlage für die mittlere und weitere Zukunft sein? Wahrscheinlich nicht. Skeptiker erhoben ihre Stimmen.594 Einen vorsichtigen Neuanfang und ersten Schritt dazu haben die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französiche Staatspräsident Nicolas Sarkozy gemacht, als sie schon Mitte August 2011 über die bisherigen Beschlüsse hinaus eine allgemeine Schuldenbremse in allen Euro-Staaten, eine „Wirtschaftsregierung“ innerhalb der EU und die Einführung einer Transaktionssteuer vorschlugen.595 Mit Ausnahme von Großbritannien haben sich alle Euro-Länder und ein Großteil der übrigen EU-Länder auf ihrer Konferenz im Dezember 2011 wenigstens mit den Vorschlägen zu einer Haushaltsstabilisierung, zu Schulden589

Cerstin Gammelin: „Kleine Schritte, langer Weg“ – SZ Nr. 289 vom 14.12.2012, S. 4 Alexander Hagelüken. „Euro-Präsident Draghi“ – SZ Nr. 178 vom 03.08.2012, S. 17 591 Marc Beise: „Wenn die EZB den Euro rettet - ... müssen die Deutschen entscheiden, ob sie das bezahlen wollen“ u. Catherine Hoffmann: „Neue Hoffnung, alte Zweifel – Nach dem Gipfel fließt Steuergeld in marode Banken. Europas Probleme löst das nicht“ – SZ Nr. 150 vom 02.07.2012, S. 17 592 Friedrich Sell u. Hans-Werner Sinn: „Das Euro-System steckt in einer Sackgasse – Eine Erwiderung auf die Kritiker: Die Hoffnung, die Kapitalmärkte mit immer mehr Geld zu beruhigen, ist ein Trugscbhluß“ – SZ Nr. 182 vom 08.08.2012, S. 20 593 Catherine Hoffmann: „Der Weg in die Transferunion – Ökonomen sind überzeugt: In Europa haftet demnächst jeder für jeden. Auch deutsche Steuerzahler wird es treffen“ – Sz Nr. 168 vom 23./24.07.2011, S. 28 594 Stefan Braun: „‘Viele wissen nicht mehr, was richtig ist‘ – In der Unionsfraktion droht wegen des Euro zwar keine Rebellion – aber es grassiert die Angst, dass den Politikern alles über den Kopf wächst“ – SZ Nr. 183 vom 10.08.2011, S. 5 595 Claus Hulverscheidt: „Der Zauber einer Null – Sollten Merkel und Sarkozy die Schuldenbremse in Europa durchsetzen, wäre das ein historischer Erfolg“ und Martin Winter: „Reform der Reform“ – SZ Nr. 189 vom 18.08.2011, S. 2 und 4; Cerstin Gammelin: „Der doppelte Charme eines alten Huts – Fast alle Vorbehalte gegen die Transaktionssteuer sind auszuräumen, nur noch Uneinsichtige sperren sich“ – SZ Nr. 8 vom 11.01.2012, S. 2 590

162

bremsen, die automatische Sanktionen vorsehen für den Fall, daß ein Mitgliedstaat gegen die Stabilitätsregeln verstoßen sollte, und einer engeren wirtschaftsund finanzpolitischen Zusammenarbeit einverstanden erklärt.

Bald schon gerieten nämlich die „Rettungsmaßnahmen“ finanzieller Art angesichts ausufernder Volumina selbst zum Problem. Soweit man sich später für das weitere Ziel im groben einigte, fehlten fundierte und koordinierte Vorstellungen über den richtigen Weg, um die Krise auch in angemessener Zeit wirksam zu beenden, nach deren Überwindung neu gewonnene Erkenntnisse die Frage beantworten helfen, unter welchen Bedingungen die Staaten wirtschaften und wie eine langfristige „Normalisierung“596 der staatlichen Haushalte und der Weltwirtschaft aussehen kann, ohne wieder aus vergleichbaren Ursachen und Gründen in eine ähnliche Misere zu fallen. Diskutiert – wenn auch letztlich verworfen – wurde sodann die Notwendigkeit oder Möglichkeit eines formalen Insolvenzverfahrens für einen Einzelstaat,597 da die Eurozone sich bislang als ein Haftungs- und Transferverbund verstand. Aber nachdem die bisherigen sogenannten „Rettungsmaßnahmen“ das Problem der notleidenden Euroländer nicht gelöst, sondern nur zeitlich verschoben und somit auch vergrößert hatten – „die Verringerung der Schulden durch Wachstum und sparsame Haushaltspolitik sowie höhere Steuern war bislang erfolglos“,598 schien die Ansicht auch seitens der fünf deutschen Wirtschaftsweisen vorzuherrschen, daß ein teilweiser Schuldenerlaß für Griechenland von 50 Prozent unvermeidlich ist.599 In neuester Zeit haben der Präsident der Europäischen Zentralbank Draghi („... alles zu tun, um den Euro zu retten“) und ihm folgend weitere EU-Staaten erwogen, nun dem Rettungsfond ESM unbegrenzt Kredit bei der Zentralbank einzuräumen. Damit sollten Anleihen von Krisenländern gekauft werden. Das würde bedeuten, den europäischen Schutzschild mit einer praktisch unbegrenzten Finanzmenge auszustatten, obwohl die EU-Verträge es verbieten, daß die Notenbank Staaten finanziert, außerdem der Druck auf die bedürftigen Staaten sich verminderte, an den eigentlichen Problemursachen zu arbeiten und schließlich

596

Michael Hüther: „Die Normalität als Ernstfall – Die eigentliche Herausforderung kommt für den Staat erst nach dem Ende der Weltwirtschaftskrise. Er bewegt sich dabei auf schmalem Grat“ – SZ Nr. 236 vom 14.10.2009, S. 22; siehe auch Stefan Braun: „‘Viele wissen nicht mehr, was richtig ist‘ – In der Unionsfraktion droht wegen des Euro zwar keine Rebellion – aber es grassiert die Angst, dass den Politikern alles über den Kopf wächst“ – SZ Nr. 183 vom 10.08.2011, S. 5 597 In diesem Sinn: „‘Jetzt haben wir den Salat‘ – Ex-Bundesbank-Chef Karl Otto Pöhl, 80, über die Rettungspakete für südeuropäische Staaten, die Rolle der Geldpolitik in der Krise und die Zukunft der Gemeinschaftswährung“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2010, S. 85 ff.; Claus Hulverscheidt: „Nur noch schwammig – Ein Politikum: Der Vertragsentwurf zum Rettungsschirm ESM schont Banken, Fonds und Versicherer“ – SZ Nr. 115 vom 19.05.2011, S. 17 598 Catherine Hoffmann: „Die Banken müssen zahlen“ – SZ Nr. 177 vom 02.08.2012, S. 15 599 Catherine Hoffmann: „Vier Szenarien für die Euro-Rettung – Europa steckt in der Schuldenfalle.

Jetzt dringen die ‚Fünf Weisen‘ auf den großen Wurf“ – SZ Nr. 165 vom 20.07.2011, S. 17

163

eine solche Lösung keinerlei parlamentarischer Kontrolle der nationalen Parlamente mehr unterläge.600 Man fühlte sich erinnert an die zunächst durchaus solidarische Handlung des heiligen Martin, der seinen Mantel mit einem Bettler teilte. Nur wenn man dieses über den befristeten Einmalfall hinaus zum Prinzip erhebt, wird der Mantel immer wieder neu und solange nur geteilt, bis am Ende alle frieren. Alle sozialistischen Modelle haben solches auch längst in der Praxis belegt, weil Anreize fehlen, in die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu investieren, Arbeitsplätze zu schaffen, neue Mäntel zu produzieren und so nicht nur die eigene Notlage bei den Ursachen anzugehen, sondern möglichst auch noch mehr zu exportieren. Es war also nicht falsch – eher eine berechtigte und abzuwägende Kehrseite der beschlossenen Maßnahmen, daß die deutsche Bundesbank den kritischen Einwand erhob, daß eine zunehmende Vergemeinschaftung und Aufbürdung von Risiken auf alle Bürger der Euroländer die Anreize bei den Schuldenländern verringerten, die Staatsfinanzen zu konsolidieren und auch künftig eigenverantwortlich für solide Staats- und Haushaltsfinanzen zu sorgen.601 Schon lange hätte es also einer klaren, schlüssigen Konzeption und politischen Priorisierung bedurft, was eigentlich das Ziel der Maßnahme ist. Man mußte erkennen, daß nun endlich eine neue grundsätzliche und an den Ursachen der Probleme ansetzende politische Strategie erforderlich ist, um für die Europäer und ihre Mitgliedstaaten die weitere Zukunft zu gestalten und auch durch attraktive Perspektiven und ehrlicher Kommunikation die demokratische Mitwirkung der Menschen zu gewinnen. Was über viele Jahrzehnte innerhalb der Industriestaaten zumindest national und ausreichend wirksam austariert schien, die Balance zwischen Handlungsfreiheit und ihren Grenzen, dann aber auch zwischen Erfolg im Wettbewerb und sozialer Teilhabe an diesem Erfolg durch die Menschen etwa im Modell der „sozialen Marktwirtschaft“, stellt sich nun internatio600

Vgl. dazu Art. 4a, 104, 105 ff..EGV, Art. 2 ff. d. Prot. z. EU sowie Cerstin Gammelin u. Claus Hulverscheidt: „Euro-Schutzschirm ohne Limit – EU-Staaten erwägen, dem Rettungsfond ESM unbegrenzt Kredit bei der Zentralbank einzuräumen. Damit sollen Anleihen von Krisenländern gekauft werden. Der Plan gefährdet Merkels Koalition“ sowie H. J. Jakob, M. Zydra u. Alexander Hagelüken: „Kräftemessen im Tower – Weidmann gegen Draghi, Bundesbank gegen EZB: Der Streit über die große Geldvermehrung in Europa“ – SZ Nr. 175 vom31.07.2012, S. 2; Markus Zydra u.

Claus Hulverscheidt: „EZB will wieder Staatsanleihen kaufen – Zentralbank plant, gemeinsam mit Rettungsfonds ESM Schulden von Krisenländern zu finanzieren. Die konzertierte Aktion soll die Zinslast von Spanien und Italien deutlich mindern“ – SZ Nr. 177 vom 02.08.2012, S. 1; ebenso „‘Mit 220 auf der Autobahn‘ – Der Bonner Wirtschaftsprofessor Manfred Neumann kritisiert die Europäische Zentralbank. Sie kungele mit der Politik. Und der Doktorvater von Bundesbank-Präsident Jens Weidmann hält Griechenland für einen hoffnungslosen Fall“ – SZ Nr. 195 vom 24.08.2012, S. 19 601 „Bundesbank bleibt kritisch – Weidmann warnt Steuerzahler vor Folgen des Gipfel-Beschlusses“ – SZ Nr. 168 vom 23./24.07.2011, S. 25; Marc Beise: „Die große Wette auf Europa – Gipfelbeschlüsse stabilisieren Griechenland und die Märkte, aber sie öffnen die Schleusen“ – SZ Nr. 169 vom 25.07.2011, S. 4; Sibylle Haas: „Mehr Disziplin – Die Bundesbank kritisiert die jüngsten Griechenlandhilfen. Die Haushaltslage des Landes wird immer prekärer“ – SZ Nr. 193 vom 23.08.2011, S. 19

164

nal als völlig neue Aufgabe und damit auch in Deutschland wieder als grundsätzlich ungelöst dar. Der ehemalige Bonner Wirtschaftsprofessor Manfred Neumann hat eindringlich und kritisch auf die weniger ökonomisch als politisch motivierten Angstmaßnahmen der wundersamen Geldvermehrung vor den Märkten durch Draghi hingewiesen.602 Nationalstaatliche Souveränität und gemeinsame europäische Währung gehen auf Dauer nicht zusammen.603 Am Anfang steht daher zwangsläufig die Frage, wie das Europa der nächsten Jahrzehnte aussehen soll. Welche Bedeutung haben die weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Veränderungen durch das schnelle Erstarken der lateinamerikanischen und osteuropäischen Staaten (BRICC) künftig für das Bestehen und die Wettbewerbsfähigkeit der Europäer insgesamt?

Sollte darauf ein Rückfall in die politischen nationalen Strukturen wirklich die Antwort damit zugleich auf die künftige Rolle Europas in der Welt sein?604 Man wird sich zmindest perspektivisch entscheiden müssen, ob das nicht nur wirtschaftliche, sondern politische Großprojekt Europa605 unabhängig von vielen noch zu klärenden Strukturfragen606 mit allen seinen ausgleichenden Mechanismen und langfristigen Zukunftsperspektiven eines Tages Wirklichkeit werden soll oder nicht. Denn es geht auch künftig nicht nur um mehr oder weniger gemeinsame abstrakte Politik, sondern erneut um viel Geld,607 auch wenn das aktuell vielen nicht so deutlich vor Augen steht, aber eben nicht nur. Über die Gründe dafür muß endlich eine nachvollziehbare Zielvorstellung transparent gemacht und die nächsten Schritte ausreichend demokratisch legitimiert werden.608 Alt-

602

Caspar Busse: „Die Abrechznung – Der Wirtschaftsprofessor Manfred Neumann übt harte Kritik am Vorgehen von EZB-Präsident Mario Draghi – und er rechnet mit einer deutlich steigenden Inflation“ – SZ Nr. 287 vom 12.12.2012, S. 22 603 Thomas Steinfeld: „Gemeinschaft der Konkurrenz – Langsam dämmert es Europa: Staatliche Souveränmität und gemeinsame Währung gehen nicht zusammen“ – SZ Nr. 181 vom 07.08.2012, S. 11 604 George Soros: „Echte Europäer statt Wahre Finnen – Die Finanzpolitik der EU ist gescheitert, der Populismus erstarkt. Die Gemeinschaft braucht jetzt einen ‚Plan B‘“ und „‘Die Krise kehrt im Herbst zurück‘ – Der Wirtschaftsweise Laars Feld erwartet neue Turbulenzen auf den Finanzmärkten und warnt doch vor einer Abkehr von der Vision des gemeinsamen Europa“ – SZ Nr. 176 vom 02.08.

2011, S. 2 und 19 605 „‘Der Weg wird steinig‘ – Der Unternehmensberater Bert Rürup über die Euro-Schuldenkrise, Deutschlands sehr gute Wachstumsperspektiven und seine Griechenlabnd-Bonds“ – SZ Nr. 207 vom 08.09.2011, S. 18 606 Für stabile gemeinsame Strukturen auch Gerhard Illing, Sebastian Jauch u. Michael Zabel: „Die Größe des Kuchens – Europa braucht Solidarität – sonst kommt es zum Anlageschrott, den viele beklagen“ – SZ Nr. 186 vom 13.08.2012, S. 18 607 Marc Beise: „Wege zur Rettung“ – SZ Nr. 226 vom 30.09.2011, S. 4 608 Dieter Frey und Andreas Lenz: „Der Euro ist kein Selbstzweck – Das europäuische Gesellschaftssystem kann nur gerettet werden, wenn die Krisenländer ihre Entwicklungspotentiale aaktivieren“ – SZ Nr. 207 vom 08.09.2011, S. 18; dafür auch der Politiloge Werner Weidenfeld – vgl. Malte Conradi: „‘Die Situation ist beherrschabar‘ – Der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld ist ein Euro-

165

kanzler Helmut Schmidt hat dazu auf dem Parteitag der Sozialdemokraten in Berlin am 3.12.2011 klare und beachtenswerte Worte gesagt.609 Er beschwor die Beteiligten, ausschließlich nationale Interessen und Denkweisen bei den Wirtschaftswissenschaftlern, den Politikern und den Medien zu überwinden610 und nach einem solidarischen Weg zu suchen, der die schwachen Mitgliedstaaten in der EU und in der Eurozone hält und ihnen dabei eine realistische Perspektive eröffnet, selbst aus seiner Rolle als Problemstaat herauszufinden.

Erst aus alledem resultiert die künftige soziale Akzeptanz einer internationalen Marktwirtschaft, eines weiteren Zusammenrückens der Europäischen Länder, wenn nicht sogar eines für alle Menschen wirksamen demokratischen Systems.611 Ein solche wäre es beispielsweise, wenn die Empfänger solidarischer EU-Leistungen gleichzeitig bereit wären, dafür nationale Hoheiten an die Gemeinschaften abzugeben und damit – wie das auch der Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, schon einmal gefordert hatte – gleichzeitig ein Tor hin zu einer auch wirtschaftlichen und politischen Union zu öffnen,612 um die Mängel einer ausschließlichen Währungsunion zu kompensieren.

Solidarität ist stets ein wechselseitiges Prinzip. Alles andere „entbehrt der ethischen und ökonomischen Grundlage.“613 Auf der Grundlage einer Grundsatzeinigung zwischen den EU-Staaten müssen zwingend Maßnahmen getroffen bzw. Vereinbarungen und Regelungen zwiOptimist. Seine Lösung für die aktuellen Probleme: mehr Macht für die Europäische Union. Das hört man von Ökonomen nur noch selten“ – SZ Nr. 243 vom 21.10.2011, S. 18 609 Vgl. Susanne Höll: „Er kann es – Steinbrück? Steinmeier? Gabriel? Nein, es gibt nur einen, dem die Sozialdemokraten bedingungslos folgen: Helmut Schmidt. Zum Auftakt des Parteitages erteilt er ihnen eine gehörige Geschichtslektion – und stellt damit alle andere in den Schatten“ – SZ Nr. 280 vom 05.12.2011, S. 3 610 Vgl. auch Andreas Oldag: „Unerträgliche Schulmeisterei – Die Deutschen blockieren die nötigen Rettungswege für den Euro“ – SZ Nr. 281 vom 06.12.2011, S. 17 611 Warnend dazu auch Günter Grass: „Die Steine des Sisyphos – Über das Verhältnis von Journalismus und Politik, die Geschwindigkeit der Zeitläufte und die Macht der Konzerne“ – SZ Nr. 151 vom 04.07.2011, S. 11; siehe im übrigen zur Entwicklung in Griechenland Tasos Telloglou: „Wer diskutiert, bekommt Prügel – In Griechenland geht nun die Saat des Populismus auf: Entrüstete Bürger meinen, ein Recht auf Gewalt zu haben“ – SZ Nr. 175 vom 01.08.2011, S. 2; Sebastian Schoepp: „Es brodelt in Europa – Die UN-Arbeitsorganisation ILO sieht in den Krisenländern des Kontinents ein wachsendes Risiko für soziale Unruhen“ – SZ Nr. 82 vom 09.04.2013, S. 7 612 Claus Hulverscheidt, Martin Balser u. M. Kläsgen: „Genug der Solidarität – Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Sarkozy lehnen Euro-Bonds ab. Wie wollen Wirtschaftskraft neu bewerten“ – SZ Nr. 287 vom 11./12.12.2010, S. 25; Cerstin Gammelin: „Das Tor ist geöffnet – Souveränität gegen Geld – Finanzminister Schäuble weist den unbequemen Weg aus der Euro-Krise“ – SZ Nr. 285 vom 09.12.2010, S. 4; „‘Automatisch schnell und so effektiv wie möglich‘ – EZBPräsident Jean-Claude Trichet fordert mehr Kontrolle der europäischen Wirtschaftspolitik“ – SZ Nr. 168 vom 23./24.07.2011, S. 23; Catheerine Hoffmann: „Klub der Illusionisten – Ohne gemeinsame Finanzpolitik ist die Krise in Europa nicht zu lösen“ – SZ Nr. 203 vom 03./04.09.2011, S. 23 613 Peter Koslowski: „Solidarität zwischen Nationen – Die Stützung des Euro durch Deutschland verletzt das Grundgesetz“ – SZ Nr. 18 vom 24.01.2011, S. 18

166

schen den Euro-Ländern hinzugefügt werden, welche im Sinne der einmal von Bundeskanzlerin Angela Merkel durchaus richtig beschriebenen Weise als „kontrollierter und beherrschbarer Prozess aufeinander folgender Schritte“614 die Ursachen der Verschuldung beseitigen, das Wirtschaftswachstum in den besonders bedrängten Ländern fördern und damit einen Mangel in der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Zusammenarbeit und Steuerung beseitigen, der seit Einführung des Euro als gemeinsame europäische Währung von Anfang an bestand.

Erste Schritte dazu wären die vertragliche Erweiterung zu einer europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik, die eine unheilvolle Ausweitung einer sich immer schneller drehenden Schuldenspirale stoppt und den Mangel auf diesem Sektor gegenüber der bestehenden Währungsunion ausgleicht bzw. dafür sorgt, daß unter Androhung automatisch wirkender Sanktionen konsequent gespart wird?615 Vor allem aber wird nur ein Langfristkonzept in den grundsätzlichen Zielen es erlauben und erleichtern, jetzt schon – nämlich vorübergehend! – Maßnahmen zu ergreifen, die schnell auf aktuelle Probleme zugeschnitten sind, ohne als Dauerlösung auf ewige Zeit festgeschrieben zu werden. Wenn man also der europäischen Idee aus übergeordneten, auch die Zukunftsperspektiven Europas in der Welt, die Sicherheit und auch künftigen Ökonomie einbeziehenden politischen Gründen den Vorrang einräumt vor einer ausschließlich ökonomischen und kurzfristigen Betrachtung der Situation oder gar der taktischen Interessen einzelner politischer Parteien, dann muß Europa sich finden in einem fast gleichwertigem Dreiklang aus konsequentem Schuldenabbau in den Staatshaushalten, in gezielten Wachstumanreizen für die Wirtschaften und die Industrien der Mitgliedstaaten sowie eine überzeugende Finanzmarktregulierung, die noch immer ein viel zu weites Auseinanderdriften zwischen Realwirtschaft und Finanzwirtschaft ermöglicht – die Bilanzsumme der Banken ist in Deutschland dreimal so groß wie die Wirtschaftsleistung616 – und damit eine der Ursachen für die gegenwärtige Krisensituation gesetzt hat. Aber die Politik traut sich offensichtlich nicht, den Bankern endlich einmal Grenzen zu setzen.617 In erster Linie bleibt also das sachliched Ziel bestehen und vorrangig weiter zu verfolgen, daß die nationalen Staaten schnellstmöglich ihre Haushaltsschulden auf das erträgliche und durch ihre eigene Wirtschaftsleistung beherrschbare Maß zurückführen. Nachdem es aber in einigen Staaten schon heute feststeht, daß sie das aus eigener Kraft allein nicht werden schaffen können – im Jahre 2013 waren 614

Zitiert nach Cerstin Gammelin: „Deutschlands Zögern verärgert EU-Partner – Spanien und Italien wollen schnellere Hilfe für Griechenland/Merkel: Schuldenkrise nicht auf einen Schlag lösbar“ – SZ Nr. 165 vom 20.07.2011, S. 1 615 Marc Beise: „Endspiel um den Euro – Zur Rettung der Währungsunion hat die Politik nur noch einen Schuss“ – SZ Nr. 273 vom 26./27.11.2011, S. 25 616 Catherine Hoffmann: „Too big to save – So viel Bank verträgt kein Staat: eine Konsolidierung tut not“ – SZ Nr. 288 vom 14.12.2011, S. 17 617 Andreas Oldag: „Die Gier nach Geld“ – SZ Nr. 156 vom 09.07.2012, S. 17

167 die Euro-Länder verschuldet wie nie zuvor,618 muß ranggleich mit dem Schuldenabbau ihre Wettbewerbsfähigkeit entwickelt und gestärkt werden. Das muß nicht nur Geld kosten, solange es Handlungsbedarf auf dem Gebiet struktureller Veränderungen und der Effizienzverbesserung möglich ist, vorhandene Spielräume einfach nur zügig und konsequent anzugehen. Sofern es dann doch auch finanzieller Mittel bedarf, sind diese entweder bereits seitens der Europäischen Kommission verfügbar bzw. hierfür zu priorisieren. Aber auch gezielte Förderungsprogramme („Marshall-Plan“) mit begrenztem Geldvolumen und Zeitrahmen sind vorstellbar.

Schließlich muß die Rolle der Banken und ihr Handlungsrahmen für die Übernahme von Risiken überdacht und im Sinne einer sozial ausgewogenen Verantwortung teilweise weiter reguliert werden. Da sich der Markt entgegen Adam Smith keineswegs immer selbst korrigiert, damit also nicht alle Probleme löst, müssen weltweit verbindliche Regeln und Rahmenbedingungen geschaffen werden, um eine Balance herzustellen und ähnlich schädliche Auswüchse zu verhindern.619 So stellte sich immer deutlicher die Frage, ob ein derart grenzenloser Markt – d. h. nicht nur regional, sondern vor allem inhaltlich gegenständlich ohne Schranken – von dem Willen der Menschen getragen wird, die derzeit fast ausschließlich die Risiken der „Rettung“ tragen und daher von den Folgen mehr als die Marktplayer selbst betroffen sind.620 Die von der Bundesregierung zunächst ins Auge gefaßte internationale „Bankenabgabe“ dürfte letztlich nicht geeignet sein, zukünftige „Spekulationsblasen“ zu verhindern, auch wenn sich Europäer und Amerikaner darin weitgehend einig waren.621 Sie ist einmal viel zu gering. Sie setzt zum weiteren nicht an den Ursachen des Übels an, also an dem schnell gewachsenen Finanz- und Spekulationskapital, das von Arbeit und der Realwirtschaft nicht mehr erwirtschaftet wurde.622 Die Akteure wurden geschont. Es gab in Wahrheit bis dahin keine echte 618 Cerstin Gammelin: „Euro-Länder verschuldet wie nie zuvor – Obwohl viele hart sparen, geraten vor allem die Etats der südlichen Staaten aus dem Lot. Italien beunruhigt Brüssel am meisten, weil die Regierung wenig gegen die Krise unternimmt“ u. dies.: „Sorge um Italien“ – SZ Nr. 168 vom 23.07.2013, S. 1 u. 4 619 Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz: „Das Geheimnis der unsichtbaren Hand – Vom großen Irrtum des Adam Smith – und vier weitere Lehren, die das Jahr 2009 bereithielt“ – SZ Nr. 301 vom 31.12.2009/01.01.2010, S. 26; Björn Finke: „Keynes ist zurück“ – SZ Nr. 187 vom 16.08.2010, S. 14, siehe dazu auch Michael Hüther: „Die disziplinierte Freiheit – Eine neue Balance von Markt und Staat“ – Murmann Verlag Hamburg 2011 und die Besprechung von Winfried Kretschmer: „Keynes nur im Krisenfall“ – SZ Nr. 71 vom 26./27.03.2011, S. 36 620 Catherine Hoffmann: „Die Banken müssen zahlen“ – SZ Nr. 177 vom 02.08.2012, S. 15 621 Nikolaus Piper: „G-20-Staaten beraten Bankensteuer – Europäer und Amerikaner sind sich einig.

Die Schwellenländer übernehmen mehr Verantwortung in der Weltwirtschaft“ – SZ Nr. 94 vom 24./25.04.2010, S. 27 622 Catherine Hoffmann: „Too big to save – So viel Bank verträgt kein Staat: eine Konsolidierung tut not“ – SZ Nr. 288 vom 14.12.2011, S. 17

168 Gläubigerhaftung.623 Da wäre eher noch eine Finanztransaktionssteuer oder eine Börsenumsatzsteuer denkbar, wie sie offenbar den Wunschvorstellungen des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel entspricht, auch wenn sie – selbst bei ortsunabhängiger Geschäftstätigkeit und alleiniges Abstellen auf die Ansässigkeit der Finanzakteure – leicht durch den Wechsel zu anderen Akteuren zu umgehen oder letztlich doch nicht von den Banken, sondern von deren Kunden zu tragen ist,624 selbst wenn man Finanzinstitute (z. B. Volks- und Genossenschaftsbanken) nicht einbezieht, die sich ohnehin keinerlei Verfehlungen schuldig gemacht haben. Nicht ohne guten Grund wird die Transaktionssteuer von dem gelben Koalitionspartner FDP ebenso abgelehnt wie von dem fachkundigen italienischen Minsiterpräsidenten Mario Monti skeptisch betrachtet.625 Seit geraumer Zeit hatte man sich auch um die Beseitigung von „Steueroasen“ bemüht, im Ergebnis aber nur wenig erfolgreich. Bestimmte Termin-Geschäfte hätten für die Regulierung der Finanzmärkte beispielsweise auf das Absichern von Fremdwährungsrisiken begrenzt, andere wie Spekulationen über Derivate und Optionsscheine auf Lebensmittel, Rohstoffe und fallende Kurse gänzlich geächtet oder steuerlich erheblich belastet werden können.626 Die erzielten Gewinne vieler Jahre wurden von den jeweiligen Akteuren selbstverständlich eingestrichen, auch wenn Fachleute und zahlreiche informative Veröffentlichungen immer wieder vor möglichen negativen Folgen gewarnt hatten. Die Begrenzung der Relation von Risiko und Gewinnchance auf den Finanzmärkten, größere Sorgfalt bei der Kreditvergabe und vor allem ein europäischer finanz- und wirtschaftspolitischer Regelungsrahmen wären denkbare Regelungsinhalte für ein international abgestimmtes Vorgehen, wodurch das verloren gegangenen Vertrauen627 wiedergewonnen werden könnte. Damit einhergehend böten neue Anreiz- und Vergütungssysteme für Finanzmanager, die nicht den kurzfristigen Profit um jeden Preis belohnen, eine sinnreiche Entspan623

„‘Banken sollten selber haften‘ – Bafin-Präsidentin Elke König über riskanten Eigenhandel, die Regierungspläne von SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und ihre Unabhängigkeit von der Regierung. Deutschlands oberste Finanzaufseherin möchte die europäische Bankenaufsicht nicht in die Hände der Europäischen Zentralbank geben“ – SZ Nr. 237 vom 13./14.10.2012, S. 27 624 Martin Hesse: „Der falsche Weg – Eine Spekulationssteuer stillt Sehnsüchte, löst aber keine Probleme“ – SZ Nr. 225 vom 29.09.2011, S. 20 und 17; a. A. Cerstin Gammelin: „Der doppelte Charme eines alten Huts – Fast alle Vorbehalte gegen die Transaktionssteuer sind auszuräumen, nur noch Uneinsichtige sperren sich“ – SZ Nr. 8 vom 11.01.2012, S. 2; Marc Beise: „Ein Politiker, der sich auskennt – Mario Monti sieht die Finanztransaktionssteuer skeptisch – zu Recht“ – Sz Nr. 10 vom 13.01.2012, S. 17; zur dann geplanten Verlagerung ihrer Finanzgeschäfte nach London siehe „Allianz-Chef droht Bundesregierung“ – SZ Nr. 11 vom 14./15.01.2012, S. 30 625 Marc Beise: „Ein Politiker, der sich auskennt – Mario Monti sieht die Finanztransaktionssteuer skeptisch – zu Recht“ – SZ Nr. 10 vom 13.01.2012, S. 17 626 Kurt Lennartz und Heiko Barske – Leserbriefe in SZ Nr. 92 vom 22.04.2010, S. 31 627 Alexander Hagelüken: „Weltwirtschaft am Abgrund“ – SZ Nr. 229 vom 01.10.2008, S. 4

169

nung der noch immer anhaltenden Hektik auf diesem Gebiet. Das gilt um so mehr, als es sich bei der Beteiligung privater Gläubiger nicht nur um verbindliche Vorgaben in der richtigen und wirksamen Weise handelt – also besser etwa als neue Aktien im Gegenzug für staatliche Einlagen bei den Banken, sondern diese nach dem Umtausch alter gegen neue Anleihen von neuen Garantien des Europäischen Rettungsfonds (EFSF) profitieren.628 Hier bedarf es also weiterhin bei jedem entlastenden Geldtransfer strikter begleitender und wirksam sichernder Bedingungen vor allem für die Staaten, aber auch für Banken, um nicht letztlich die Steuerzahler allein mit den Folgen der Misere allein zu lassen. Es muß ein Zusammenhang zwischen Handeln und Konsequenzen hergestellt werden, zwischen Risiko und eigener Haftung.629 Nur wäre das allein immer noch zu wenig, auch wenn die Regierungen sich künftig strikt an ihre eigenen Vereinbarungen halten würden, was sie angesichts einiger Bürgerproteste und Furcht um die eigenen Ämter bei anstehenden Wahlen auch nur verhalten tun.630 Man muß sehen, daß auch mit einem klaren und überzeugenden europäischen Gesamtkonzept zunächst nur längerfristig eine wirksame Weichenstellung erfolgen kann. Denn es gibt derzeit kein Land unter den europäischen Staaten und Völkern, die den Schritt vom Bund souveräner Staaten zum europäischen Bundesstaat zu gehen bereit sind. Und selbst wenn das in einigen weiteren Jahren zumindest bei einigen erreicht würde, wäre das so geschaffene „Kern-Europa“ wesentlich kleiner als heute.631 Kurzfristig sind die Schuldenländer in einer wirklich verzweifelten Lage, immer wieder zwischen Sparmaßnahmen und Investitionen zur Verbesserung ihrer Wirtschaft abwägen und entscheiden zu müssen. Und bevor es zu einem wirklich gemeinschaftlichen Europa kommen wird, bedarf es wohl doch erst eines zumindest Teilzerbrökkelns der bisherigen Euro-Zone.

Dabei wird es auch künftig nicht ohne die gezielten Hilfen der übrigen EULänder gehen, so daß auch sogen. Eurobonds oder andere Formen des Haf628 Harald Hau: „200-Milliarden-Geschenk für Europas Reiche – Die Beteiligung privater Gläubiger an der Umschuldung entpuppt sich als Farce“ – SZ Nr. 181 vom 08.08.2011, S. 20 629 Marc Beise: „Wege zur Rettung“ – SZ Nr. 226 vom 30.09.2011, S. 4; vgl. auch Hans-Helmut Kotz: „Für einen lebensfähigen Euro – Bei der Einführung der gemeinsamen Währung wurde die Wirtschaftstheorie ignoriert. Aber noch muss der Euro nicht auseinanderbrechen“ – SZ Nr. 186 vom 13.08.2012, S. 2; Banken sollten selber haften‘ – Bafin-Präsidentin Elke König über riskanten Eigenhandel, die Regierungspläne von SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und ihre Unabhängigkeit von der Regierung. Deutschlands oberste Finanzaufseherin möchte die europäische Bankenaufsicht nicht in die Hände der Europäischen Zentralbank geben“ – SZ Nr. 237 vom 13./14.10.2012, S. 27 630 Vgl. die Übersicht „Der verschuldete Kontinent – Weil die Bürger protestieren und die Regierenden um ihre Ämter fürchten, verliert Angela Merkel in der Euro-Zone zunehmend Verbündete für ihren strikten Sparkurs“ – SZ Nr. 96 vom 25.04.2012, S. 5; Thomas Urban u. Sebastian Schoepp: „Europa streikt – Gewerkschaften mehrerer Länder fordern ein Ende der ‚selbstmörderischen Sparpolitik‘, bei Ausschreitungen werden Dutzende verletzt“ – SZ Nr. 264 vom 15.11.2012, S. 7 631 Martin Winter: „Vertrauensfragen“ – SZ Nr. 191 vom 20.08.2012, S. 4

170

tungstransfers zumindest vorübergehend und damit strikt befristet ebenso wenig aus jeder die Solidarität bejahenden Diskussion zu eliminieren sind wie der Aufkauf staatlicher Anleihen aus den Problemstaaten durch die Europäische Zentralbank. Ebenso wichtig nicht zuletzt auch für die soziale Akzeptanz bei den Menschen wird es sein, die Steuerzahler aus der alleinigen Haftung für alles, was nicht gelingt, zu entlassen und statt dessen über eine volle Tilgung oder Vergemeinschaftung der Bankschulden hinaus endlich einen deutlichen weiteren Schuldenerlass zu exekutieren, der zu Lasten der Gläubiger als aktiver Teilnehmer am Finanzmarktgeschehen und damit für ihr eigenes Anlageverhalten Verantwortliche gehen muß. Alternative dazu sind direkte Geldtransfers der helfenden EU-Länder ohne Rückzahlungsverpflichtungen, also schenkungshalber.632 Es kann und darf nicht dabei bleiben, daß alle Hilfsmaßnahmen an die notleidenden Staaten letztlich immer nur wieder eine wirkliche Problemlösung nur verschieben und als Zinszahlungen voll an die Gläubiger zurückfließen, diese also erneut und immer wieder nicht Verlierer, sondern nur Gewinner sind. 633 Es bedarf also alles in allem einer sich wechselseitig unterstützenden Kombination aus ursachenorientierter wirklicher Problemlösung endlich auch durch die Politik und eines wirtschaftlichen Aufbaumodells, das den Krisenländern schnell wieder „Luft zum Atmen“634 verschafft, so daß sie baldmöglichst selbst ihre Probleme lösen können. Auch Deutschland wird sich in diesem Sinne einer weiteren Solidarität in diesem Sinne nicht entziehen können – die Schulden der anderen sind nicht zuletzt zu einem großen Teil seine Exportüberschüsse.635 Das bedeutet also nicht, daß die Schulden von heute auf morgen vergemeinschaftet werden müssen. Vor dem Hintergrund einer klaren und vermittelbaren Strategie werden weitere derartige Übergangslösungen (Haftungsunion, Euro-Bonds, Tilgungsfonds oder Banklizenz auch als Teillösungen)636 unvermeidbar sein,637 sofern sie an strikte Auflagen (striktes Schuldenlimit, Strukturreformen, wettbewerbsfördernde Maßnahmen) geknüpft und befristet bleiben, weil sie mit der jeweiligen Zielerreichung obsolet geworden sind. Der ehemalige Finanzminister 632

Claus Hulverscheidt: „Milliardengeschenk soll Griechen retten – Euro-Länder erwägen erstmals, Athen direkt aus ihren nationalen Etats zu unterstützen. Die bisheer geplanten Hilfspakete reichen nicht aus, um das Land aus der Schuldenkrise zu befreien“ und ders.: „Das kleine Einmaleins der Euro-Rettung“ – SZ Nr. 264 vom 15.11.2012, S. 1 u. 4 633 Catherine Hoffmann: „Die Banken müssen zahlen“ – SZ Nr. 177 vom 02.08.2012, S. 15 634 Catherine Hoffmann: „Wenn die Ökonomen streiten – In der Debatte um die Euro-Rettung folgt ein Manifest aufs andere. Nun gibt es einen neuen Vorstoß, der europawerit Unterstützer findet“ – SZ Nr. 170 vom 25.07.2012, S. 19 635 „‘So etwas tun Kapitäne nicht‘ – Der Ökonom Norbert Walter über die Deutschen in der Europäischen Zentralbank, die Rettung von Griechenland und die Zukunft von Angela Merkel“ – SZ Nr. 252 vom 02.11.2011, S. 18 636 Christiane Schlötzer: „Griechische Bilanz – Ohne tief greifendfe Reformen des Staatsapparats ist Griechenland nicht zu retten“ – SZ Nr. 274 vom 27.11.2012, S. 25 637 Claus Hulverscheidt: „Einer haftet für den anderen“ – SZ Nr. 180 vom 06.08.2012, S. 4

171

Peer Steinbrück spricht davon, daß „in der richtigen Reihenfolge“ zuerst eine Verantwortungsgemeinschaft zwischen den Euro-Ländern gegründet werden muß, wobei diese „nationale Souveränitätsrechte insbesondere in der Fiskalpolitik auf europäische Institutionen übertragen und diesen zugleich die nötigen Kontrollrechte einräumen.“ Erst danach kann es auch eine gemeinsame Schuldenhaftung geben.638 Immerhin kennt Deutschland bereits einen jedenfalls bislang einigermaßen funktionierenden Länderfinanzausgleich zwischen den einzelnen Bundesländern. Gefragt aber ist vor allem „Mut und Entschlossenheit der Politiker“, auch Überzeugungskraft (Rudolf Hickel,639 ähnlich Helmut Schmidt), um die Vision einer einheitlichen vergemeinschafteten Währung, aber auch Finanz- und Wirtschaftspolitik endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Der Weg ist lang, die Schritte klein.640 Deutschland leidet – wie viele andere Staaten – als Folge jahrzehntelang fortwährender Neuverschuldungen inzwischen an einem Schuldenvolumen, das den Haushalt von Jahr zu Jahr mit einer steigenden Zinsbelastung versieht und den Staat für Neuinvestitionen und Zukunftsaufgaben immer mehr einengt. Zu dieser an sich schon mißlichen Ausgangslage kamen in den letzten Jahren eine Reihe weiterer Herausforderungen für die öffentlichen Haushalte hinzu, die es ohne weiteres erlaubten, die in Art. 115 GG festgelegte Begrenzung öffentlicher Kreditaufnahme „zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ zu überschreiten.641 Ähnlich wird es wohl auch künftig bei der ab dem Jahr 2020 geltenden „Schuldenbremse“ mit ihren vorsorglich geregelten Ausnahmen sein.642 Herausfordernd waren zum einen die deutsche Wiedervereinigung,643 sodann die große Finanz- und Wirtschaftskrise und schließlich auch Hilfsmaßnahmen zugunsten anderer EU-Länder, um den Euro und damit das europäische Währungssystem im Interesse aller Euro-Staaten nicht zu gefährden,

638 „‘

Das wird schwer für die SPD‘ – Peer Steinbrück ist zurück aus dem Urlaub und bester Laune – noch, denn ihm schwant, welche Schwierigkeiten auf seine Partei zukommen. Ein Gespräch über Frust und Ressentiments der Bürger in der Euro-Krise, Wahlchance4n und den Wunsch nach einer Vermögensteuer“ – SZ Nr. 185 vom 11./12.08.2012, S. 8 8; ähnlich Hans-Helmut Kotz: „Für einen lebensfähigen Euro – Bei der Einführung der gemeinsamen Währung wurde die Wirtschaftstheorie ignoriert. Aber noch muss der Euro nicht auseinanderbrechen“ – SZ Nr. 186 vom 13.08.2012, S. 2 639 Rudolf Hickel: „Dagobert Duck läßt grüßen – Deutsche Unternehmen und die Bürger horten Hunderte Milliarden Euro auf Bankkonten. Für die Wirtschaft ist die Bargeldschwemme verheerend“ – SZ Nr. 189 vom 17.08.2012, S. 18 640 Cerstin Gammelin: „Kleine Schritte, langer Weg“ – SZ Nr. 289 vom 14.12.2012, S. 4 641 Heribert Prantl: „Maß und Anmaßung“ – SZ Nr. 38 v0m 16.02.2011, S. 4 642 „‘Die Droge der Politik‘ – Staatsrechtler Stefan Korioth über den Reiz der Kredite“ – SZ Nr. 35 vom 11./12.02.2011, S. 8 643 Gert G. Wagner: „Verblühte Hoffnungen – Bis ins Jahr 2010 treten lange bekannte, doch ignorierte Folgen der deutschen Wiedervereinigung zutage“ – SZ Nr. 231 vom 06.10.2010, S. 18

172

obwohl damit ein noch weitergehendes unkalkulierbares Risiko verbunden war.644 Alles dieses erforderte hohe Milliardenbeträge, die schlicht nicht vorhanden waren, nicht einmal durch veränderten Prioritätenbildung im Haushalt gelöst werden wollten – das tun Politiker gleich welcher Partei in einer Wählerdemokratie nie! – und deshalb einfacher neu aufgenommen wurden.

So betrug der deutsche Schuldenberg für Bund, Länder und Gemeinden Ende September 2010 immerhin 1.791,3 Milliarden Euro, d.h. daß nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes Ende November 2010 jeder der etwa 82,17 Millionen Bundesbürger mit durchschnittlich 21.882 Euro in der Kreide stand.645 Bis zum Ende des Jahren stiegen sie weiterhin auf 2,1 Billionen Euro. Das entspricht 83 Prozent der Wirtschaftsleistung. Sie hat sich damit seit 1990 vervierfacht und im Vergleich zu 1980 verzehntfacht.646 Die wahren, enorm hohen Milliarden-Belastungen – nein: „BillionenAusgaben“ für Pensionen aktiver und vor allem auch ehemaliger Staatsbediensteter privatisierter Unternehmen in den nächsten Jahren sind dabei noch nicht einmal in die Haushaltsplanungen eingerechnet, geschweige denn Rücklagen dafür gebildet worden.647 Allein bis zum Jahre 2013 fehlen dem Staat trotz steigender Steuereinnahmen 39 Milliarden Euro, um dann über die Steuern wieder so viel Geld einzunehmen, wie er das vor der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 bereits getan hat.648

Nochmals – weil es wirklich bemerkenswert ist: Es gab in den letzten Jahrzehnten keine deutsche Regierung, welcher parteilichen Zusammensetzung auch immer, unter der sich die Schuldenaufnahme nicht vermehrt hätte. Der ehemalige IBM-Manager und BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel hat darauf hingewiesen, daß fast alle staatlichen Wiederbelebungsversuche mit neuen Schulden bezahlt wur644 Claus Hulverscheidt u. Martin Winter: „560 Milliarden für notleidende Euro-Staaten – Deutschland und andere EU-Länder wollen Währung mit umfassenden Garantien gegen Spekulanten verteidigen“ und Cerstin Gammelin: „Gemeinsam gegen Spekulanten – Nur eine kraftviolle Aktion der Partner kann die Eurozone retten“ – SZ Nr. 106 vom 10.05.2010, S. 1 und 17; „‘Wir stürzen uns in ein unkalkulierbares Abenteuer‘ – Ifo-Chef Hans-Werner Sinn über Fehler der Bundesregierung, gefährliche Folgen des Euro-Rettungsschirms und eine drohende Staatskrise in Deutschland“ – SZ Nr. 109 vom 14.05.2010, S. 19 645 Guido Bohsem: „1 791 300 000 000 Euro Schulden – Bund, Länder und Gemeinden nahmen 2010 so viele neue Kredite auf wie noch nie. Ausgaben für Bankenrettung und Konjunkturprogramme belasten die Haushalte“ – SZ Nr. 295 vom 21.12.2010, S. 19 646 Claus Hulverscheidt: „Eine Zwei und zwölf Nullen – Die Staatsschulden steigen erstmals über die Mrke von zwei Billionen Euro“ – SZ Nr. 87 vom 14.04.2011, S. 17 647 Zu einer Studie des Freiburger Chefs des Forschungszentrums Generationenverträge Prof. Bernd Raffelhüschen vgl. Thomas Öchsner: „Zwölf Nullen – Ein Professor warnt vor Billionen-Ausgaben für Beamtenpensionen und geißelt die heimlichen Staatsschulden“ – SZ Nr. 289 vom 15.12.2011, S. 21 und Catherine Hoffmann: „Unsichtbare Schulden – Deutschland steht in Wahrheit nicht mit zwei Billionen Euro in der Kreide, sondern mit dem Vielfachen, sagt Rentenexperte Bernd Raffelhüschen„ – SZ Nr. 160 vom 13.07.2012, S. 18; speziell zu Bayern Mike Szymanswki: „Versteckte Verbindlichkeiten – Finanzwissenschaftler Raffelhüschen rechnet aus, dass 220 Milliarden Euro Rücklagen für die Beamtenversorgung fehlen“ – SZ Nr. 28 vom 03.02.2012, S. R 17 648 Guido Bohsem: „Dem Staat fehlen 39 Milliarden Euro – Steuerschätzer sagen bis Ende 2013 enorme Einnahmeausfälle voraus/FDP will Bürger trotzdem entlasten“ – SZ Nr. 104 vom 07.05.2010, S. 1

173

den, wodurch die Krankheit nicht geheilt, sondern nur verschoben wurde. Eine „Anti-Schuldenpartei“ hat noch niemand gegründet.649 Nicht einmal in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs – etwa 2008/2009, oder auch 2011 bei weiter „sprudelnden Steuereinnahmen und der niedrigsten Arbeitslosenquote seit der Wende“ – wurden ausschließlich Schulden im Staatshaushalt mit den Steuermehreinnahmen getilgt, sondern allenfalls die Aufnahme weiterer Kredite, die also weiterhin stattfanden (!), vermindert.650 Im ersten Halbjahr 2013 setzten sich nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die Steuermehreinnahmen fort um 8,5 Milliarden (0,6 Prozent der Wirtschaftsleistung) gegenüber den Ausgaben.

Gleichwohl verweigert die schwarz-gelbe Koalition schon seit Jahren Sparmaßnahmen.651 Und auch der von der schwarz-gelben Regierung für die Jahre bis 2016 vorgelegte Finanzplan erweist sich als „Dokument der Kraftlosgkeit“ und der erneut vertanen Chancen,652 obwohl auch noch im Juli 2012 die Einnahmen von Bund und Ländern um 8,6 Prozent auf 43,13 Milliarden Euro stiegen, ja sogar ein „Steuerrekord“ in Sicht war, indem die Einnahmen für das gesamte Jahr den nach der Steuerschätzung im Mai angenommenen Wert von 548,2 Milliarden Euro überschreiten werden.653 Zur Mitte des Jahres 2013 sah es u. a. als Folge der hohen Beschäftigung, Lohntarifsteigerungen, erhöhter Körperschaftssteuern und wachsender Grunderwerbssteuereinnahmen nochmals deutlich besser aus:654 „Die deutschen Steuerkassen sind voll. Die Einnahmen sprudeln trotz schwächelnder Konjunktur.

Einem Zeitungsbericht zufolge haben die Arbeitnehmer im ersten Halbjahr allein fünf Milliarden Euro mehr Lohnsteuer an das Finanzamt gezahlt als im Vorjahr. Auch die Unternehmen überwiesen deutlich mehr an die Ämter, berichtet das "Handelsblatt".... ...Im ersten Halbjahr flossen rund 277 Milliarden Euro in die Kassen von Bund und Länder. Das sind 3,5 Prozent mehr als in den ersten sechs Monaten 2012, wie aus Daten des Bundesfinanzministeriums hervorgeht. Nach der Steuerschätzung aus dem Mai wird für das Gesamtjahr 2013 ein Plus von 2,5 Prozent erwartet.“ Nach dem im Oktober 2013 veröffentlichten Monatsbericht des Bundesfi649

Markus Zydra: „Narren im Schuldturm – Gefährliche Defizite: Das Leben auf Pump muss ein Ende haben“ – SZ Nr. 181 vom 08.08.2011, S. 19 650 „Der Staatshaushalt: Dokument des Scheiterns“ – SZ Nr. 273 vom 26./27.11.2011, S. 4; Claus Hulverscheidt: „Der Bund macht Schulden – trotz guter Konjunktur – Die öffentlichen Haushalte liegen dennoch im Plus, weil Sozialkassen und Kommunen Überschüsse erwirtschaften“ – SZ Nr. 195 vom 24.08.2012, S. 1; Michael Bauchmüller: „Ein Traum in Schwarz – Die FDP will die Koalition zum ausgeglichenen Haushalt treiben“ – SZ Nr. 250 vom 29.10.2012, S. 17 651 Claus Hulverscheidt: „Deutschland macht Milliarden – 8,5 Milliarden Überschuss – das klingt besser, als es ist“ u. „Staatshaushalt – Die 8,5-Milliarden-Chance“ – SZ Nr. 195 vom 24./25.08.2013, S. 25 und 4 652 Claus Hulverscheidt: „Ein Dokument der Kraftlosigkeit – Der von Schäuble vorgelegte Finanzplan für die Jahre bis 2016 ist ein Buch der vertanen Chancen“ – Sz Nr. 69 vom 22.03.2012, S. 4 653 Guido Bohsem: „Steuerrekord in Sicht – Einnahmen von Bund und Ländern steigen auch im Juli“ – SZ Nr. 191 vom 20.08.2012, S. 17 654 „Arbeitnehmer zahlen deutlich mehr Steuern“ – DPA-AFX – t-online.de vom 22.07.2013; Claus Hulverscheidt: „Rekordsteuereinnahmen – Aufkommen erhöht sich im ersten Halbjahr auf 277 Milliarden“ – SZ Nr. 168 vom 23.07.2013, S. 6

174

nanzministeriums stiegen die Steuereinnahmen ohne reine Gemeindesteuern im September 2013 im Vergleicbn zum Vorjahresmonat vor allem als Folge zunehmender Lohnsteuer (hohe Beschäftigtenzahl und Tariflohnsteigerungen) um 7,8 Prozent auf fast 55 Milliarden Euro. In den ersten neun Monaten kamen so insgesamt 416 Milliarden Euro zusammen (+ 3 Prozent).655

Im ersten Halbjahr 2015 erzielten Bund, Länder, Kommunen und Sozialkassen 21,1 Milliarden Euro dann tatsächlich mehr ein als sie ausgaben. Dieser Haushaltsüberschuß entspricht 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.656 Gleichwohl lehnte die Kanzlerin Angela Merkel erneut die Abschaffung des Solidaritätszuschlags ab.657 Eine strenge aktuelle Priorisierung der Ausgaben im Gesamthaushalt und damit mögliche Einsparungen werden nicht einmal in Erwägung gezogen. Für die weiteren Prognosen (Herbstgutachten) werden freilich von den Wirtschaftsinstituten weitere deutliche Steuermehreinnahmen und für den Bund, die Länder und Gemeinden ein Etatüberschuß im Jahr 2014 in Höhe von acht Milliarden Euro angenommen.658 Inzwischen hat sich das bis zum Jahre 2016 mehr als bewahrheitet. In dessen 1. Halbjahr bescherten Steuern und und Sozialbeiträge dem Bund, Ländern und Kommunen dank der stabilen Konjunktur und der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt Mehreinnahmen von 18,5 Milliarden Euro.659 Bemerkenswert ist auch, daß die Aufnahme von Schulden in den Augen der Politiker offenbar allein unmittelbar Zufluß von weiterem Geld bedeutet, also – abgesehen von den dafür zu zahlenden Zinsen – Einnahmen entstehen. Daß sie irgendwann einmal – und vielleicht auch von der nachwachsenden Generation – zurückgezahlt werden müssen, dann also Ausgaben sind, wird verdrängt. Und wenn der Staat diese Schulden später nicht bezahlen kann, hilft nur noch eine Inflation.660 Dabei scheint es so, als ob unsere demokratisches Staatssystem, bei dem die Herrschenden und Handelnden immer wieder auf die Gunst der Wähler angewiesen sind, anderes gar nicht mehr zuläßt, als ihnen etwas zu versprechen und damit vorzumachen, das sich immer weiter weg von der Realität bewegt. „Wir wissen ja, was zu tun ist, aber wir wissen nicht, wie wir wiedergewählt werden wollen, wenn wir es erst einmal getan haben“ hat der Jean-Claude Juncker, der 655

Claus Hulverscheidt: „Steuersegen – Schon jetzt übertreffen die Einnahmen die Vorjahresprognose“ – SZ Nr. 243 vom 21.10.2013, S. 17 Lt. Stat. Bundesamt – vgl. „Höchstes Plus seit 15 Jahren“ – SZ Nr. 195 vom 26.08.2015, S. 17 und „Staatshaushalt: Deutschland erzielt Milliarden Überschuss“ – SPIEGEL-Online vom 25.08.2015 657 Stefan Braun: „Aufbau Deutschland – Die Kanzlerin kämpft für den Soli, will damit aber die Infrastruktur in Ost und West erneuern. Die Liberalen ärgert das“ u. Marc Beise: „Der Soli muss weg“ – SZ Nr. 168 vom 23.07.2013, S. 6 und S. 17 658 Claus Hulverscheidt: „Berauschende Zahlen – Experten erwarten für Deutschland hohe Haushaltsüberschüsse“ – SZ Nr. 241 vom 18.10.2013, S. 19 659 t-online.de vom 24.8.2016: „Deutscher Staat erzielt Milliardenüberschuß im Haushalt“ 660 Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 9, 52 ff. und 216 ff.

656

175 Premierminister Luxemburgs einmal gesagt.661 Seit Jahrzehnten versprechen Politiker aller Parteien daher vor den Wahlen ungeachtet der konkreten Wirtschaftslage, aber doch gedrängt von dem Bemühen um ständiges Wachstum immer wieder nur Dinge, die mehr Geld kosten, die man sich aber nicht leisten kann. Der Staat erfüllt damit seinen Bürgern permanent zu hohe Ansprüche, die er ohne Verschuldung nicht bezahlen kann.662 Im Hinblick auf dcie Bundestagswahlen 2013 sind gerade Mehrausgaben für ein allgemeines Betreuungsgeld ab Mitte 2013 beschlossen worden. Von einem Wegfall oder gar der Kürzung einmal beschlossener Ausgaben schreckt jede Partei zurück.663 Eine bemerkenswerte Ausnahme macht da nur der ebenfalls kürzlich beschlosene Wegfall der sogen. Praxisgebühr ab Januar 2013. So traute sich selbst Finanzminister Wolfgang Schäuble und die ganze schwarz-gelbe Regierung Merkel nicht zu, ein nun endlich unabweisbnar notwendiges und auch geplantes „Sparpaket“ einmal vor Abschluß der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, dann aber auch für den Haushaltsplan 2012 zu konkretisieren.664 Im Vordergrund aller unbewältigten Probleme steht somit die Tatsache, daß auch unser Staat – wie viele andere – finanziell seit Jahren über seinen Verhältnissen lebt.665 Das ist keine Frage der deutschen Volkswirtschaft als ganzes, wonach Deutschland seit Beginn der Währungsunion ausweislich seines Leistungsbilanzsaldos 895 Milliarden weniger ausgegeben hat als es einnahm,666 sondern ausschließlich die des internen staatlichen Umgangs mit den öffentlichen Mitteln und ihrer Verwendung. Es ist das unverantwortliche Verhalten der „Politik“.667 661 zit nach Stefan Kormelius: „Unfähig zur Therapie – Europa verharrt in Schockstarre, statt aus der Krise zu lernen“ – SZ Nr. 222 vom 25./26.09.2010, S. 31 662 Thomas Hutzschenreuter und Jürgen Weigand: „Die Droge Wachstum – Der Staat erfüllt seinen Bürgern viel zu hohe Ansprüche und verschuldet sich dafür. Nun stößt er an Grenzen“ – SZ Nr. 285 vom 10./11.12.2011, S. 26 663 Marc Beise: „Sparen ist gut, aber nicht alles – Die einseitige Debatte in Deutschland schadet dem Aufschwung“ – SZ Nr. 88 vom 17./18.04.2010, S. 25 664 Guido Bohsem: „Dem Staat fehlen 39 Milliarden Euro – Steuerschätzer sagen bis Ende 2013 enorme Einnahmeausfälle voraus/FDP will Bürger trotzdem entlasten“ – SZ Nr. 104 vom 07.05.2010, S. 1; ders.: „Goldene Zeiten, schwarze Taten – Noch nie hat der Staat so viele Steuern eingenommen, trotzdem macht Schäuble zu viele Schulden“ und „‘Dort wird geprasst‘ – Die Bundesregierung erhöht ihr Defizit – für die Opposition ein Verstoß gegen die Schuldenbremse“ – SZ Nr. 261 vom 12./13.11.2011, S. 4 und 23.

665 Marc Beise: „In der Schuldenfalle – Die Staaten leben über ihre Verhältnisse – mit fatalen Folgen für künftige Generationen und die Weltwirtschaft“ – SZ Nr. 222 vom 25./26.09.2010, S. 31 und ders.: „Ein letztes Hurra – Deutschland geht es hervorragend. Womöglich nicht mehr lange“ – SZ Nr. 88 vom 15.04.2011, S. 17 666 Peter Bofinger: „Deutschland lebt unter seinen Verhältnissen – Die Spekulanten sind schuld an der Eurokrise, und die Bundesrepublik ist ein Opfer? Alles Märchend“ – SZ Nr. 111 vom 17.05.2010, S. 2 667 Heribert Prantl: „Maß und Anmaßung“ – SZ Nr. 38 v0m 16.02.2011, S. 4

176

Leider wird statt eines beherzten Vorgehens „zum Wohle des Volkes“ weiterhin nur getrickst und getäuscht. In seinem Beitrag „Wie die Regierungsrechner tricksen und täuschen“ vom 05.05.2010 beschreibt Spiegel Online drastisch das Geschehen: „Egal, welche Partei in den vergangenen Jahrzehnten an der Macht war, jede suchte sich ihr eigenes Schlupfloch. "Buchungstricks gibt es jetzt, und es hat sie immer schon gegeben", sagt IW-Experte Winfried Fuest. "Mal wird getrickst, mal verschleiert, mal fehlt die Transparenz. Aber alle Methoden haben dasselbe Ziel: Die tatsächlichen Kosten zu verbergen und den Schuldenstand zu drücken", sagt Fuest. ... Tatsächlich muss man nicht lange suchen, um Beispiele zu finden.

Erst im vergangenen Herbst, kurz nach der Bundestagswahl, bewies die schwarzgelbe Koalition ihre Kreativität. So planten die frisch Gewählten, die Kosten für die Krise von rund 50 Milliarden Euro in ein sogenanntes Sondervermögen auszulagern. Durch die Bildung dieses Schattenhaushalts wären die im regulären Etat geplanten Spielräume für Steuersenkungen schon damals frei geworden.

Dass es nicht so weit kam, ist allein der öffentlichen Empörung zu verdanken. ... ... Ein solider Haushalt trotz Milliardenschulden? Die schwarz-gelbe Bundesregierung verspricht den Wählern, das Unmögliche möglich zu machen. Was sie verschweigt: Ihren Wunder-Etat schafft sie nur mit Rechentricks - genauso haben es schon frühere Koalitionen gemacht. ...Rechentricks bei den Schulden: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble. ... Die schwarz-gelbe Koalition könnte Geschichte schreiben: Sie stützt Banken mit Milliarden, rettet Griechenland vor der Fast-Pleite, will die Steuerzahler entlasten und - ganz nebenbei - die selbst auferlegte Schuldenbremse einhalten. Und das trotz eines gigantischen Schuldenbergs, der allein dieses Jahr um voraussichtlich 80 Milliarden Euro wächst. ... ... Die wohl größte Buchungslüge in der jüngeren deutschen Geschichte wurde dagegen nicht verhindert. Auch dieses Mal ist Angela Merkel involviert gewesen, allerdings noch als Kanzlerin der Großen Koalition. Vor etwas mehr als einem Jahr behauptete sie, der Erblastentilgungsfonds der Deutschen Einheit sei so gut wie abgegolten. Der Hintergrund: Merkel versuchte just in dieser Zeit den Steuerzahlern weiszumachen, dass die Regierung auch die milliardenschweren Konjunkturpakete tilgen werde, sobald es dem Staat wieder besser gehe. Doch was sich schön anhörte, war ein Kanzlerinnen-Märchen: Tatsächlich hatte die Regierung den größten Batzen der etwas mehr als 171 Milliarden Euro aus dem Einheitsfonds nur in den Bundeshaushalt umgeschuldet. Und dort wird er vermutlich noch lange unangetastet liegenbleiben - schließlich verschuldet sich der Bund derzeit immer weiter. ... Auch beim Bund der Steuerzahler ist man angesichts der Schuldentricks empört. "Die Politik sollte ihre Kreativität nicht zum Verschleiern von Schulden, sondern zum Verhindern derselben nutzen", sagt Sprecher Matthias Warneke.

177

Doch das Credo der Fachleute verklingt schon wieder ungehört. Die Regierung hat bereits ein neues Schlupfloch gefunden: Die Griechenland-Bürgschaften laufen über die Förderbank KfW - und natürlich nicht über den Bundeshaushalt.“ Aber nicht nur im Bundeshaushalt wird unsolide gewirtschaftet: Besonders großzügig lebten – wenn man nur die alten Bundesländer betrachtet – auch die SPDregierten wie etwa Bremen, Berlin, Rheinland-Pfalz – hier liegt die aktuelle Pro-Kopf-Verschuldung um mehr als 27 Prozent über dem Schnitt der Flächenländer668 und nach den Neuwahlen in NRW auch die hemmungslos zugreifende Regierung Hannelore Kraft,669 so daß sich die im föderalen Finanzausgleich gebenden Ländern wie Bayern Baden-Württemberg und Hessen schon lange fragen, warum sie für die hemmungslosen Sünden der anderen, die sie sich selbst verbieten, überhaupt noch zahlen sollen.670 Zwar kommt es bei diesem, noch über den Transfer der Mehrwertsteuer oder die Verteilung von Bundesmitteln für Verkehr und Forschung hinausgehenden horizontalen Finanzausgleich nicht auf die Ausgaben, sondern auf die „Finanzkraft“ (Art. 107 II GG), also die finanzielle Leistungsfähigkeit der Bundesländer an. Auch kann man nicht populistisch wirksam nur einzelne Ausgaben-Leistungen vergleichen (Kindergarten- oder Studiengebührenfreiheit), die andere ungenannte Leistungen zum Ausgleich haben mögen. Auffallend ist aber doch, daß die „sozialistisch“ regierten Bundesländer ihrer Ideologie entsprechend mehr Augenmerk auf die Verteilung der Mittel zu legen pflegen als auf die Frage, wie eben ihre Finanzkraft gestärkt und solche Mittel überhaupt ausreichend im eigenen Land generiert werden können, wenn sie ja notfalls ohnehin aus anderen Ländern zufließen. Offenbar hat Konrad Adenauer durchaus richtig gelegen mit seiner Feststellung: "Das einzige, was die Sozis von Geld verstehen, ist, daß sie es von anderen haben wollen."

Mehr noch als das Vorsichherschieben ungelöster Probleme wiegen die Folgen, die sich materiell daraus für die gegenwart, aber vor allem auch die folgenden

668

Detlef Esslinger: „Große Pläne, kleine Stolperer – Seit 17 Jahren regiert Kurt Beck ungestört Rheinland-Pfalz, Skandale perlen an ihm ab – und keiner fragt, wie lange er an der Macht bleiben will“ – SZ Nr. 12 vom 17.01.2011, S. 6; Felix Berth: „Sparen ist gefährlich, Geld ausgeben nicht – Warum es sich seit Jahrzehnten für jede Landesregierung mehr lohnt, die Verfassung zu brechen, anstatt Schulden zu begrenzen" – SZ Nr. 35 vom 11./12.02.2011, S. 8 669 Bernd Dörries: “Nordrhein-Westfalen darf vorerst keine neuen Schulden machen – Gericht bremst rot-grüne Minderheitsregierung – CDU erzielt Teilerfolg gegen Nachtragshaushalt, scheut aber wegen schlechter Umfragewerte Neuwahl“ – SZ Nr. 14 vom 19.01.2011, S. 1; ders.: „Ratlose Schuldenkönigin – Nordrhein-Westfalens Verfassungsrichter bringen Ministerpräsidentin Kraft in Bedrängnis – sie müsste sparen, hat aber keine Mehrheitr dafür“ – SZ Nr. 15 vom 20.01.2011, S. 6; Bernd Dörries: „Griechischer Stil in Düsseldorf – Wie sich Nordrhein-Westfalen an seiner Schuldenpolitik verhoben hat“ – SZ Nr. 35 vom 11./12.02.2011, S. 8; „‘Rekordschulden, die sich lohnen‘ – Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) über ihren Konflikt mit den Verfassungsrichtern und die Investitionen in Bildung“ – SZ Nr. 44 vom 23.02.2011, S. 6; Bernd Dörries: „Schwere Schlappe für Kraft – Verfassungsgericht kippt nordrhein-westfälischen Nachtragshaushalt und stellt hohe Hürden für den Etat 2011 auf – CDU droht mit neuer Klage“ – SZ Nr. 62 vom 16.03.2011, S. 8 670 Claus Hulveerscheidt: „Harte Fronten zwischen Gebern und Nehmern – Im Streit um den Länderfinanzausgleich drohen beide Seiten mit Verfassungsklagen“ – SZ Nr. 18 vom 24.01.2011, S. 5; Marc Beise: „Die Wut der reichen Länder“ – SZ Nr. 19 vom 25.01.2011, S. 4; Joachim Käppner: „Koffer voller Cash – Warum die CSU irrt, wenn sie beim Länderfinanzausgleich glaubt: Wer zahlt, schafft an“ – SZ Nr. 32 vom 08.02.2012, S. 4

178 Generationen zwangsläufig ableiten.671 Warum wundert man sich, wenn ein solch unmoralisches Vorbild in einer Demokratie dazu führt, daß auch andere, Privatpersonen und insbesondere Jugendliche immer mehr über ihre Verhältnisse – oder eben noch schlimmer – zu Lasten anderer leben? Es gibt keinen Ausweg aus diesem sich schon viel zu lange hinziehenden Problem als sich ihm effizient und mannhaft zu stellen, dabei auch den Wählern unangenehme Wahrheiten zuzumuten, um das Richtige zu tun. Nur eine auf die realen Gegebenheiten und ihre Einsicht aufbauende Solidität wird es erlauben, den vergleichsweise hohen Sozialstatus (hohe Einkommen, wirksame Sozialsysteme) fortzusetzen und sinnvoll umzustrukturieren, aber auch ausreichend weiter zu entwickeln.

Daraus geht schon hervor, daß es zwischen Solidität und Solidarität nicht um einen gleichermaßen und in jeder Situation auszufechtenden gleichrangigen Zielkonflikt geht, sondern um die notwendige klare Priorisierung. Solidität erlaubt immer Solidarität und läßt sie auch am ehestens entstehen. Als die Menschen Arbeit hatten („Vollbeschäftigung“), ging es ihnen vergleichsweise am besten („Wohlstand für alle“). Aber auch der Staat und die sozialen Sicherungssysteme hatten die Einkünfte, um weitere Sozialtransfers einzurichten bzw. die vorhandenen Systeme weiter zu verbessern. Solidität muß also grundsätzlich Vorrang haben. Sozial indizierte Einschränkungen sind unverzichtbar, dürfen jedoch die Funktionsfähigkeit des Marktes nicht wesentlich behindern. Dabei werden weitere Anpassungen auch der Arbeitsmarktpolitik und der Sozialpolitik unausweichlich sein. Mangelnde Wirtschaftskraft verstärkt nur den Verteilungskampf, ohne zusätzliche Mittel zu generieren. Er lebt von der Substanz und zehrt sich immer mehr ganz auf. Dort, wo diese Form von Solidarität im großen politischen Stil versucht worden ist, also in den meisten sozialistischen Staaten, ist sie letztlich aus ökonomischen Gründen gescheitert.672 Der Mantel des heiligen Martin ist immer wieder und so oft nur geteilt worden, bis am Schluß alle froren.

Veränderungsmanagement – das weiß heute jeder betriebliche Fachmann – hat zudem mindestens zwei Seiten, die zu beachten sind: Eine sachlich-inhaltliche, aber auch eine Beziehungsdimension. Bei der ersten geht es um die Frage, ob in Politik und Wirtschaft immer nur das geschieht, was richtig ist und wirklich den Menschen dient und nicht nur ihren „Repräsentanten“. Das zeigte sich beispielsweise an der Agenda 2010. In der zweiten Frage spielt die Akzeptanz all dessen bei den davon betroffenen Menschen eine Rolle. Und wie schwer gerade das 671

Alexander Mühlauer: „Die Schuldenmacher – Für die Politik spielt die Generationengerechtigkeit keine Rolle mehr“ – SZ Nr. 43 vom 22.02.2010, S. 17; zu der illusionären Vorstellung wachsenden Reichtums auch Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 29; Susanne Höll: „‘Es kann gefährlich werden‘ – Der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering warnt angesichts einer alternden Gesellschaft vor einem Generationenkrieg“ – SZ Nr. 119 vom 27.05.2010, S. 6; Marc Beise: „In der Schuldenfalle – Die Staaten leben über ihre Verhältnisse – mit fatalen Folgen für künftige Generationen und die Weltwirtschaft“ – SZ Nr. 222 vom 25./26.09.2010, S. 31 672 Siehe auch Hans Küng: „Anständig wirtschaften – Warum Ökonomie Moral braucht“, S. 38

179

letztere ist, deshalb oft gar nicht erst ernsthaft versucht wird – und bei Schröder letztlich zum Amtsverlust führte – oder nicht zureichend gelingt, macht die wachsende und unübersehbaren „Verachtung der Politiker“673 und Politikverdrossenheit674 deutlich als Folge der nicht mehr wahrnehmbaren Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit dessen, was man warum anstrebt, als weiteres will und dann letztlich tut oder überraschend auch nicht.

Ganz oben auf der Rangskala aktuell notwendiger Reformen steht daher seit langem die ehrliche und wirksame Sanierung der Staatshaushalte, die erforderlich ist, um wieder finanzielle Freiräume für zukunftsträchtige Investitionen zu schaffen.675 Der ständige Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, betonte, daß wir in einer Schuldenkrise, nicht in einer Eurokrise leben, und er sprach von dem „wirtschaftlichem Schlendrian“, der beseitigt werden müsse.676 Inzwischen wollen wir künftig die verfassungsrechtlich eingebaute „Schuldenbremse“ einhalten und dann möglichst auch noch Steuern senken.677 Wann aber, wenn nicht in guten Jahren mit vermehrten Steuerzuflüssen, sollen die Staatsschulden überhaupt einmal getilgt werden?678 Und ein „Kaputtsparen“ muß gerade in Deutschland angesichts der guten Wirtschaftslage auch nicht befürchtet werden.679

673 Andreas Zielcke: „Im Treibsand: „Trotz guter Verfassung: Die Demokratie stellt sich dumm“ – SZ Nr. 116 vom 22.05.2009, S. 13 und ders.: „Obszöner Hautgout – Ist Politik lernunfähig? Wie selbstverschuldete politische Verdummung die Euro-Krise eskalieren ließ“ – SZ Nr. 111 vom 17.05.2010, S. 11 674 Bundespräsident Horst Köhler hat deshalb Veränderungen im Wahlrecht angeregt, um der Politikverdrossenheit entgegenzuwirken. Zudem sprach er sich in seiner Berliner Rede für weitere Reformen aus vgl. Nico Fried: „Köhler will Einfluss der Wähler stärken – Bundespräsident fordert mehr Mitsprache der Bürger bei den Kandidatenlisten der Parteien“ – SZ Nr. 140 vom 18.06.2008, S. 1; Thomas Wieczorek: „Die verblödete Republik“, S. 52 ff.

675 Markus Balser: „Politik der zugenähten Taschen – Deutschlands Spitzenökonomen fordern von der Bundesregierung einen raschen Schuldenabbau“ – SZ Nr. 101 vom 03.05,2011, S. 18; Markus Zydra: „Weg mit den Trümmern – Europas Regierungen müssen mit dem Schuldenabbau beginnen“ – SZ Nr. 262 vom 14.11.2011, S. 15 676 Herman Van Rompuy: „‘Mann kann es schaffen‘ – Die Märkte spielen verrückt. Es ist aberwitzig, dass gesunde Volkswirtschaften in eine Reihe mit Griechenland gestellt werden“ – SZ Nr. 174 vom 30./31.07.2011, S. 2; ähnlich Markus Zydra: „Narren im Schuldturm – Gefährliche Defizite: Das Leben auf Pump muss ein Ende haben“ – SZ Nr. 181 vom 08.08.2011, S. 19 677 Guido Bohsem: „Wettbüro Merkel – Die Koalition plant den Etat auf der Basis von Hoffnungen und bestellt das Sommertheater gleich mit“ – SZ Nr. 154 vom 07.07.2011, S. 4 678 Marc Beise: „Spare in der Zeit – Die Bankenkrise treibt die Staatsverschuldung – aber es geht um mehr“ – SZ Nr. 295 vom 21.12.2010, S. 17; Guido Bohsem: „Wettbüro Merkel – Die Koalition plant den Etat auf der Basis von Hoffnungen und bestellt das Sommertheater gleich mit“ – SZ Nr. 154 vom 07.07.2011, S. 4 679 Marc Beise: „Deutscher Übermut“ – SZ Nr. 96 vom 25.04.2012, S. 4; Sebastian Schoepp: „Es brodelt in Europa – Die UN-Arbeitsorganisation ILO sieht in den Krisenländern des Kontinents ein wachsendes Risiko für soziale Unruhen“ – SZ Nr. 82 vom 09.04.2013, S. 7

180

Eine Sanierung kann logischerweise nur über zweierlei Ansätze erfolgen: Erhöhung der Staatseinnahmen und/oder Verringerung der Staatsausgaben.680 Sinnvoll dürfte es sein, grundsätzlich beide Wege im Blick zu haben und auch gleichzeitig zu gehen, sie sich in ihrer Wirkung ergänzen zu lassen.

Beginnen wir mit der Verringerung der Staatsausgaben,681 denn ihr Ergebnis entscheidet grundsätzlich darüber, wie hoch die danach noch notwendigen Einnahmen ausfallen und ggf. noch steigen müssen, d.h. also Belastung oder Entlastung der Steuerzahler. Niemand kann auf Dauer mehr Geld ausgeben, als er einnimmt. Das sieht neben deutschen Spitzenökonomen auch der neue Finanzminister Wolfgang Schäuble so.682 Noch nach dem Haushaltsentwurf für 2010 sinken die Einnahmen, namentlich die aus laufenden Steuern,683 von 239,2 (2008) auf 211,9 (2010) Mrd. Euro, während die Ausgaben von 282,3 auf 325,4 weiter steigen.684 Die Kosten der Finanzkrise haben die Staatsverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden in Deutschland im ersten Halbjahr 2010 nochmals um 29,6 auf 1721 Milliarden Euro, d.h. um 1,7 Prozent gegenüber dem Jahresende 2009 erhöht. Damit ist rechnerisch jeder Bürger mit 21.025 Euro verschuldet.685 Hinter allem steht die Frage: Welche Lasten darf der Staat wofür dauerhaft seinen Bürgern zumuten? In den kommenden Jahren drohen überdies Steuerausfälle von über 680

Siehe auch Marc Beise: „Vom Kopf auf die Füße – Endlich ist die Steuerdebatte da. Aber sie läuft verkehrt“ – SZ Nr. 175 vom 01.08.2011, S. 19 Vgl. dazu „Gutachter fordern Sparkurs – Wirtschaftsforscher gegen Steuersenkung auf Pump“, Daniel Brössler und Claus Hulverscheidt: „Angst vor der Wut des Volkes – Die ersten Sparvorschläge liegen auf dem Tisch, sind Union und FDP aber zu heikel“ sowie Thomas Öchsner: „Ratschläge für die neue Bundesregierung – Schwarz-gelbe Koalition soll eisern sparen – Die großen Wirtschaftsforschungsinstitute halten Steuersenkungen für möglich, aber nur bei gleichzeitigem Abbau von Privilegien“ – SZ Nr. 238 vom 16.10.2009, S. 1, 5 und 19; Thomas Öchsner: „‘Einschnitte statt Tagträumereien‘ – Wirtschaftsweise fordern einen Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen, um die Staatsverschuldung zu begrenzen“ – SZ Nr. 262 vom 13.11.2009, S. 19; Guido Bohsem u. Thomas Öchsner: „Sparen wie nie zuvor – Forschungsinstitute empfehlen der Politik harte Einschnitte. Dennoch ist ein Wachstum von 1,4 Prozent im Jahr 2011 denkbar“ – SZ Nr. 86 vom 15.04.2010, S. 19 682 „Steuerreform frühestens 2011 – Zeitpunkt und Umfang werden erst im Mai festgelegt“ – SZ Nr. 253 vom 03.11.2009, S. 5; Catherine Hoffmann: „Rechnungshof rügt Merkels Haushaltspolitik – Prüfer kritisieren, dass die Bundeskanzlerin trotz der Rekordverschuldung weitere Steuersenkungen plant“ – SZ Nr. 284 vom 09.12.2009, S. 1; ähnlich auch Catherine Hoffmann: „Klar ist, dass es kracht – Seit acht Jahrhunderten verschulden sich Staaten, Bürger und Unternehmen immer wieder bis zum Gehtnichtmehr. Erst kommt der Boom, dann das böse Erwachen“ – SZ Nr. 64 vom 18.03.2010, S. 20 und dort auch das Interview mit Elga Bartsch, Chefökonomin bei Morgan Stanley: „Inflation ist keine Option – Eine Ökonomin erklärt, wie sich Europa aus der Klemme befreit“; Markus Balser: „Politik der zugenähten Taschen – Deutschlands Spitzenökonomen fordern von der Bundesregierung einen raschen Schuldenabbau“ – SZ Nr. 101 vom 03.05,2011, S. 18; Marc Beise: „Vom Kopf auf die Füße – Endlich ist die Steuerdebatte da. Aber sie läuft verkehrt“ – SZ Nr. 175 vom 01.08.2011, S. 19 683 Claus Hulverscheidt: „Verzeihen – Für den sprunghaften Anstieg des Haushaltsdefizits gibt es gute Gründe“ – SZ Nr. 195 vom 25.08.2010, S. 17 684 Claus Hulverscheidt: „Das Zehn-Milliarden-Ziel – Spätestens 2011 muss die Bundesregierung strikt sparen“ – SZ Nr. 288 vom 14.12.2009, S. 7 685 „Deutschland macht mehr Schulden“ – SZ Nr. 221 vom 24.09.2010, S. 19 681

181 100 Milliarden Euro,686 die sich aus Verlustvorträgen von Unternehmen ergeben, die sich in den Jahren der Wirtschaftskrise angesammelt hatten.

Inzwischen leistet sich die schwarz-gelbe Regierungskoalition weitere zusätzliche Ausgaben als unmittelbare, aber vermeidbare Folge ihrer kurzfristigen, sprunghaften, d. h-. „schlechten“ Regierungsarbeit,687 die im übrigen auch für die Wirtschaft alles andere als eine berechenbare Größe für notwendige private Investitionen abgibt: Die Mehrkosten resultieren aus der unerwarteten und zu wenig durchdachten Energiewende, aus der plötzlichen Wehrreform, der seit Jahren ineffizienten und weiterhin ständig wechselnden Bildungspolitik und den blindflugartigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanzkrise bzw. Stabilisierung des Euro. In den Ländern sieht es nicht grundsätzlich anders aus: Dementsprechend befriedigen der Haushaltsentwurf 2012 und der Finanzplan bis 2015 noch keineswegs, auch wenn die Einhaltung des Defizitkriteriums aus dem europäischen Stabilitäts- und Währungspakt noch 2011 mit 1,5 Prozent mühelos erreichbar erscheint und die optimistischen Annahmen des Bundesfinanzministeriums eine Halbierung der Haushaltsdefizite von Bund, Ländern und Gemeinden auf 41,5 Milliarden Euro erwarten. So drängte auch in Bayern der Rechnungshof angesichts der guten Konjunktur ebenfalls darauf, Kredite schneller zurückzuzahlen.688 Trotz der jedes Jahr noch immer weiter steigenden Schulden wird jedoch das zweite Maastricht-Kriterium von derzeit 83,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf rund 71 Prozent angestrebt,689 aber wahrscheinlich noch immer verfehlt.690 Man reibt sich zumindest verwundert und ungläubig die Augen, wenn man liest, die Bundesregierung wolle nun endlich im Jahre 2013 doch Milliarden im Wehretat und beim Verkehrsministerium einsparen, um das Sechs-Milliarden-Loch in der Haushaltsplanung 2014 zu schließen.691 686

Claus Hulverscheidt: „Wegen Abzugsmöglichkeiten der Wirtschaft – Steuerausfälle von über 100 Milliarden möglich – Weil Firmen alte Verluste mit neuen Gewinnen verrechnen dürfen, könnte Bund, Ländern und Gemeinden bald viel Geld fehlen“ – SZ Nr. 302 vom 30.12.2010, S. 23 687 Guido Bohsem: „Wettbüro Merkel – Die Koalition plant den Etat auf der Basis von Hoffnungen und bestellt das Sommertheater gleich mit“ – SZ Nr. 154 vom 07.07.2011, S. 4; Marc Beise: „Etappe ja, Erfolg nein – Jetzt ist es amtlich: Die Neuverschuldung liegt wesentlich niedriger als erwartet – doch die Bundesregierung ist zu Recht kleinlaut“ – SZ Nr. 11 vom 14./15.01.2012, S. 25 688 Frank Müller: „Rechnungshof drängt auf Schuldenabbau – Staatliche Kontrolleure fordern, dass Bayern die gute Konjunktur nutzt und seine Kredite schneller zurückzahlt“ – SZ Nr. 282 vom 07.12.2011, S. R 13 689 „Haushalt 2014 ausgeglichen“ – SZ Nr. 161 vom 15.07.2011, S. 19 690 Michael Meister: „Der Haushaltsentwurf ist nicht ehrgeizig genug – Die gute Konjunktur und die niedrige Arbeitslosigkeit dürfen nicht zu einem leichtsinnigen Handeln führen“ – SZ Nr. 155 vom 08.07.2011, S. 20; Markus Zydra: „Weg mit den Trümmern – Europas Regierungen müssen mit dem Schuldenabbau beginnen“ – SZ Nr. 262 vom 14.11.2011, S. 15 691 Guido Bohsem, Susanne Höll u. Claus Hulverscheidt: „Milliarden-Kürzungen im Wehretat – Verteidigungsminister de Maiziere soll im Bundeshaushalt 2014 den größten Sparbeitrag leisten.

Doch auch beim Verkehrsressort wird es Einschnitte geben, um eine Neuverschuldung zu vermeiden“ – SZ Nr. 21 vom 25.01.2013, S. 1

182

Staatsaufgaben – und ihre effiziente Wahrnehmung Wir brauchen einen schlanken und gleichwohl effizient – das ist wohl wichtiger als einen stark – handelnden Staat.

•

Staatsausgaben orientieren sich zunächst nur an den Aufgaben, die der Staat unbedingt selbst zu erfüllen hat oder mit guten Gründen glaubt, erfüllen zu sollen. Welche Aufgaben liegen überhaupt beim Staat?

•

Welche von diesen sind dann wirklich „Zukunftsaufgaben“, die rechtzeitig angegangen werden müssen, um auch künftig erfolgreich zu bleiben? Es gibt immer wieder Vorschläge, den Staat von diesen oder jenen, nicht unbedingt von ihm wahrzunehmenden Aufgaben zu befreien, ja sie nicht zuletzt als Folge der eingeführten Schuldenbremse „in den nächsten Jahren dramatisch zurückzuführen“.692 Welche von ihnen können und sollen also nicht mehr oder nur eingeschränkt oder nachrangig erfüllt werden? Wir benötigen eine „Neudefinition“ der Staatsaufgaben und ihrer aktuellen bzw. absehbaren Prioritäten,693 „um Blockaden zu beseitigen, Verantwortlichkeiten zu stärken und auf diese Weise grundlegende Reformen überhaupt erst möglich zu machen, statt sie in immerwährenden Konsensgesprächen und Kuhhändeln zu zerreden.“694

•

Eine weitere Frage für die verbleibenden Aufgaben wäre zu klären, ob sie nicht besser privat und unter freien Wettbewerbsbedingungen erfüllt werden können, weil sie zugleich den Erfolg als jeweils aktuellen Bewertungsmaßstab enthalten? Die Zahl der Beschäftigten bei Bund, Ländern und Gemeinden ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bis Mitte 2011 auf 4,6 Millionen angestiegen, wovon etwa die Hälfte bei den Ländern beschäftigt ist.695

•

Welche Aufgaben sind angesichts der schon in Deutschland geltenden Zuständigkeitsebenen sinnvollerweise beim Bund, welche bei Ländern oder

692

Roland Koch in dem Spiegelgespräch „Ende der Behutsamkeit“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2010, S. 24 ff.

693 So auch „Eine neue Ordnung mit bewährten Prinzipien – Schwarz-gelber Schulterschluss: Norbert Röttgen (CDU) und Christian Lindner (FDP) plädieren für eine Besinnung auf die soziale Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 71 vom 26.03.2010, S. 5 694 Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 17 695 „Mehr Staatsdiener“ – SZ Nr. 171 vom 27.07.2011, S. 6

183

Gemeinden angesiedelt und bei zunehmend globaler Verflechtungen und auf die Europäische Union übertragener Regelungsbefugnisse ihrer Natur bzw.

Effizienz außerhalb der traditionellen Nationalstaaten wahrzunehmen? Was bedeutet das für die innere und äußere Struktur des Bundesstaates und seiner Gliedstaaten (Föderalismus, Kleinstaaterei)? Welchen Sinn erfüllen für die Zukunft also noch einzelne Bundesländer und ihre „Freiheit“, vergleichbare Dinge etwa auf dem Bildungssektor oder im Beamtenrecht bzw. Lebensmittelkontrollbereich696 aufwendig und ineffizient immer wieder auch anders (zugleich besser?) zu regeln? Müssen wir unseren hergebrachten Föderalismus einer Revision unterziehen?

Zweifelsfrei gehören nach wie vor zu den Staatsaufgaben im hoheitlichen Bereich die innere und äußere Sicherheit, der Bereich Steuern und Finanzen, diverse Aufsichten sowie soziale Ausgleichsleistungen. Aber zu den möglichen Privatisierungen auch unter staatlicher Aufsicht gibt es vielfältige Ansatzfelder: Muß etwa die Arbeitsvermittlung – wie durch die Mammutbehörde der Bundesagentur für Arbeit – wirklich als öffentliche Aufgabe verstanden werden? Müssen Arbeitsmarktprogramme wie etwa Eingliederungshilfen für Personen unter 25 Jahren, die sich als wenig hilfreich herausgestellt haben und ein Einsparpotential von etwa 3 Milliarden Euro enthalten,697 fortgesetzt werden? Müssen Beschäftigte in Hochschulen, Schulen und Kindertagesstätten, insbesondere auch Professoren und Lehrer698 wirklich öffentlich Bedienstete und sogar Beamte sein?

Dabei bedarf es auch einer grundsätzlichen Abgenzung zu den freien Bürgern hin und ihren Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten: So wenig Staat wie 696 Nina von Hardenberg: „Hilfe ohne System – Der Föderalismus erweist sich als Problem beim Kampf gegen den Ehec-Erreger“ – SZ Nr. 130 vom 07.06.2011, S. 2; kritisch zu der deutschen Zuständigkeitsvielfalt und der föderalen Struktur hier auch die belgische Landwirtschaftsministerin Sabine Laruelle, der EU-Gesundheitskommissar John Dalli und der gesundheitspolitische Sprecher der konservativen Volksparteien im Europaparlament Peter Liese (CDU) – zit. nach Cerstin Gammelin: „EU kritisiert ‚Chaos‘ im Kampf gegen Ehec – Wut über ‚leichtfertige‘ Warnungen vor Gemüse/Bauern sollen mit 150 Millionen Euro entschädigt werden“ – SZ Nr. 131 vom 08.06.2011, S. 1 697 Thomas Öchsner: „Ratschläge für neue Bundesregierung – Schwarz-gelbe Koalition soll eisern sparen – Die großen Wirtschaftsforschungsinstitute halten #Steuersenkungen für möglich, aber nur bei gleichzeitigem Abbau von Privilegien“ – SZ Nr. 238 vom 16.10.2009, S. 19 698 Arne Ulbricht: „Entamtet – ‚Ich bitte um Entlassung aus dem Schuldienst‘ – wie es einem Lehrer geht, der nicht mehr Beamter sein möchte“ – SZ Nr. 300 vom 29./30.12.2012, S. 2; in Sachsen sind bereits über 90 Prozent der Lehrer Angestellte, wobei das keineswegs zwingend mit einer Nivellierung der Bezüge eingehen gehen darf – vgl. Cornelius Pollmer: „Knapp gehalten – Die verpasste Einigung im öffentlichen Dienst trifft vor allem Sachsen: So gut wie alle Lehrer arbeiten dort als Angestellte. Das bedeutet nicht nur weniger Geld als anderswo – auch das Land bekommt Probleme, neue Pädagogen anzuwerben“ – SZ Nr. 65 vom 18.03.2113, S. 15; Bernd Raffelhüschen fordert in einem Gespräch mit dem focus Verbeamtungsstopp: „Wir haben schlicht zu viele Beamte“ – TOnline vom 03.01.2014

184

möglich, nur so viel, wie nötig! Das bedeutet: Im Prinzip gilt für jeden, vorrangig die eigenen Fähigkeiten zu entfalten (Freies Persönlichkeits- und Marktprinzip – ehrlicher Liberalismus im Sinne der menschlichen Freiheitsrechte), bevor man den Staat bemüht. Da der Markt jedoch nicht alles schafft, ordnet und abdeckt, was für ein nachhaltig gedeihliches Zusammenleben der Menschen erforderlich ist, vor allem soziale Verantwortung, sorgfältiger Umgang mit den natürlichen Ressourcen und wichtige Zukunftsaufgaben zu wenig beachtet werden, kommt dem Staat zu, auch für eine „Soziale, ökologische Marktwirtschaft“699 einen allgemein verbindlichen Rahmen vorzugeben.

Wenn es ums Sparen geht, kommt immer wieder die Frage, wo denn gespart werden soll, um den Staat trotzdem finanziell handlungsfähig zu halten, so als ob man eben nicht mehr sinnvoll sparen könne. Dabei gibt es genügend Ansatzpunkte, die allemal vor weiteren Steuererhöhungen stehen: •

Wichtig ist zunächst einmal, daß die Steuereinnahmen auch tatsächlich so fließen, wie sie vorgesehen sind, d.h. alle ihre Steuern auch tatsächlich zahlen. Das bedeutet, daß man mehr noch als bisher versucht, die Steuerlücken zu schließen und Steuerflucht bzw. -vermeidung (Schwarzgelder, Transfer ins Ausland) zu beenden.700 Hier liegt ein Einnahmepotential von vielen Milliarden Euro.

•

Ähnlich verhält es sich, wenn endlich auch Großunternehmen, Selbständige und andere mehr oder weniger Privilegierte ebenfalls wie normale angestellte ihre vollen Steuern zahlen, die den Einnahmen bzw. tatsächlich erreichten Gewinnen entsprechen. Nicht zuletzt bedarf es eines noch kritischeren Betrachtens von Steuervorteilen (z. B. bei Strom für Großunternehmen), für die es etwa wegen mangelnder Wettbewerbvseffekte keine Sondervorteile geben darf.

•

Ohne wirtschaftliches Wachstum werden sich die Staatsschulden nicht genügend abbauen lassen. Es ist daher nicht falsch, sondern konsequent, daß

699

Vgl. in diesem Sinne z. B. Anselm Görres: „Ohne Industriepolitik geht es nicht – Der Staat mischt auch hierzulande mit: Bei Energie, Verkehr, Kommunikation oder Gesundheit. Eine offene, gesellschaftliche Debatte darüber ist längst überfällig“ – SZ Nr. 221 vom 25.09.2009, S. 18. Die politischen Parteien beantworten diese Frage jedoch unterschiedlich – vgl. Karl-Heinz Büschemann: „Gespaltene Szene – SPD, Linke und Grüne fühlen sich zu einer aktiven Industriepolitik verpflichtet.

Die Liberalen sind dagegen, die Union auch, aber nur ein bisschen“ – SZ Nr. 221 vom 25.09.2009, S. 19 700 Stefan Bach, Marcel Fratzscher u. Peter Haan: „Reformieren statt Steuern erhöhen – Deutschland braucht Geld für Investitionen, aber die Regierung hätte alternative Einnahmemöglichkeiten“ – SZ Nr. 237 vom 14.10.2013, S. 18

185 der Nationalstaat sich darum bemüht, durch Investitionen701 in allgemeine Infrastrukturmaßnahmen die lokalen Rahmenbedingungen als „Standortfaktoren“ so attraktiv zu gestalten, daß sie den hier lebenden Menschen im internationalen Wettbewerb Anreize zur Selbständigkeit und Vorteile verschaffen, die andere so nicht zu bieten haben. Hier geht es um eine Besinnung auf das, was bereits traditionell die Bundesrepublik Deutschland vor anderen Ländern auszeichnet, etwa Forschung und Innovationen,702 Premium- und andere Qualitätsprodukte, hochspezialisierte und -qualifizierte Dienstleistungen.

•

Aber auch der rechte Einfluß auf die Industriepolitik zum Ausgleich offenkundiger Marktschwächen oder nicht gewährleisteter Zukunftsaspekte durch Förderung ist zu den staatlichen Aufgaben zu rechnen, bei denen Aufwand und Effizienz schon angesichts der enorm hohen Beträge von ausschlagebender Bedeutung ist.703 So kann es einmal zur Behebung einer Krise oder zur Stabiliserung der Konjunktur vorrübergehend ratsam erscheinen, mit staatlichen Mitteln stützend einzugreifen. Letztlich ist aber nicht nur das Geld und seine Größenordnung allein ausschlaggebend, sondern auch das „Wie“, es einzusetzen.704 Man muß sich jedoch frei machen von der Vorstellung, daß damit eine „durchgreifende politische Steuerung des Wirtschaftslebens“ verbunden ist. Das wird es niemals sein können, auch nicht als Idee einer „demokratischen“ Steuerung. Alle bisherigen Versuche in dieser Richtung sind gescheitert, weil die Politik – mögen deren Motive zu mehr sozialem Ausgleich oder der Verhinderung krimineller Mißbräuche auch sehr berechtigt sein – ökonomische Gesetzmäßigkeiten nicht einfach außer Kraft setzen kann. Nur in ständiger und behutsamer Abwägung der Folgen kann die Sicherung der dafür erforderliche Freiheit, infrastruktureller und zuverlässiger rechtlicher Rahmenbedingungen mit einer Bändigung von Auswüchsen und Mißständen einhergehen.705

701 Stefan Bach, Marcel Fratzscher u. Peter Haan: „Reformieren statt Steuern erhöhen – Deutschland braucht Geld für Investitionen, aber die Regierung hätte alternative Einnahmemöglichkeiten“ – SZ Nr. 237 vom 14.10.2013, S. 18 702 Klaus Schwab: „Das Ende des Kapitalismus – und was nun? – Die entscheidenden Wettbewerbsfaktoren der Zukunft sind Kreativität und Innovationskraft“ – SZ Nr. 84 vom 11.04.2012, S. 18 703 Anselm Görres: „Ohne Industriepolitik geht es nicht – Der Staat mischt auch hierzulande mit: Bei Energie, Verkehr, Kommunikation oder Gesundheit. Eine offene, gesellschaftliche Debatte darüber ist längst überfällig“ – SZ Nr. 221 vom 25.09.2009, S. 18 704 Alexandra Borchardt: Geld und Glück – In Zeiten knapper Kassen ist es wichtig, die richtigen Impulse zu setzen“ – SZ Nr. 303 vom 31.12./01./02.01.2011, S., 25 705 Gustav Seibt: „Scheiternde Ökonomien – Keine Politik kann die Gesetze der Wirtschaft aushebeln“ – SZ Nr. 254 vom 04.11.2011, S. 13

186 •

Hat man auf diese Weise die Aufgabenstellung des Staates auf ein Maß zurückgestuft, wie es künftig sinnvoll, aber auch ausreichend erscheint, erfolgt als nächster Schritt eine klare Priorisierung der Staatsaufgaben und ihrer finanziellen Ausstattung. Denn Geld ist genügend vorhanden, wenn man seinen Einsatz nur in einer überzeugenden Rang- und Reihenfolge vorsieht.

Eindeutig Vorrang müssen nicht diejenigen Aufgaben und Ausgaben erhalten, die nur Besitzstände wahren oder Altlasten tragen, also rückwärts gewandt sind, sondern diejenigen, welche sich – neben den stets wahrzunehmenden hoheitlichen Ordnungsfunktionen – auf diejenigen Aufgaben konzentrieren und im übrigen die Märkte und Wirtschaftskraft unterstützen, die für die Zukunft Chancengleichheit schaffen706 und wahren und die gleichermaßen allen zugute kommen wie Bildungsförderung und diverse Schwerpunkte in der Infrastruktur insbesondere auch in den Kommunen.707 Und natürlich bedarf es in einem Sozialstaat eines sinnvollen und ausreichend ausgestatteten Sozialwesen. 708 Das erfordert Investitionen in die allgemeine Hardware (Energieversorgung, Verkehr, Kommunikation, öffentliche Gebäude etc.). Investitionen in die allgemeine Software beziehen sich in erster Linie auf das Bildungs- und ein vertretbares Sozialwesen sowie die Forschung. Es hätte also keinen Sinn und würde auch nicht viel einbringen, wollte man das Kindergeld um zehn Euro im Monat kürzen. Es brächte dem Staat lediglich Mehreinnahmen von zwei Milliarden Euro.

•

Dazu kommen auch lange hergebrachte, allein Besitzstände aus der Vergangenheit wahrende Sondersubventionen wie die für den Bergbau, Wohnungsbau, Agrarstruktur, Mineralölsteierbefreiung für Kerosin im Flugverkehr, Steuerbefreiung der Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeitszuschläge sowie Umsatzsteuerermäßigungen für kulturelle und unterhaltende Leistungen einsammeln und dabei freiwerdende 2,3 bzw. weitere 4,8 Milliarden Euro, zugunsten zukunftsträchtiger Investitionen einsetzen. Für das Jahr 2010 belaufen sich die Steuervergünstigungen des Bundes auf mindestens 17,6 Milliarden Euro, die Finanzhilfen auf 6,8 Milliarden.709 Was das für die Menschen

706 Siehe auch Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 227 ff. und Claus Hulverscheidt: „Regierung will stärker sparen – Erste Beschlüsse sollen auf der Klausurtagung Anfang Juni fallen/Verbände warnen vor Kürzungen im Sozialbereich“ – SZ Nr. 113 vom 19.05.2010, S. 6 707 Joachim Käppner: „Sparen geht nicht mehr – Immer mehr Kommunen stehen vor einem Rekorddefizit“ – SZ Nr. 110 vom 15./16.05.2010, S. 21 708 „Kritik am ‚Sozialdickicht‘ – Städtebund: Expertengremium soll Reformen erarbeiten“ – SZ Nr. 181 vom 07.08.2012, S. 6 709 „Das Milliarden-Rätsel – Wie die nächste Bundesregierung das Defizit senken könnte“ – SZ Nr. 220 vom 24.09.2009, S. 6; zu einer entsprechenden Untersuchung des Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Universität Köln (FiFO Köln), des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und des Beratungsunternehmens Copenhagen Economics im Auftrag des Bundesfinanzministeriums Claus Hulverscheidt: „Subventionen, die nichts bringen – Volkswirte

187

bedeuten würde, deutet sich bereits an, nachdem auch verschiedene europäische Staaten erste Sparpläne auf den Tisch gelegt haben.710 Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben an die Streichliste von 2003 erinnert, die der hessische Ministerpräsident Roland Koch einmal zusammen mit dem damaligen Bundesfinanzminister Peer Steinbrück erarbeitet haben und auf der sich noch offene Posten in Höhe von 30 Milliarden Euro befinden.711 Dabei kommt es auf die politische Kraft an, die man sich zutraut, um diese Liste entweder – wie vorgeschlagen – generell und stufenweise wenigstens um jeweils einen einheitlichen Prozentsatz zu senken712 oder statt dieser Rasenmähermethode klare inhaltlich und sachlich wirksame Akzente und Prioritäten zu setzen.713 •

Nicht weit davon entfernt sind – das mag in diesem Zusammenhang schon vorweg angemerkt werden – Mindereinnahmen bei Steuern und Abgaben, die dem Staat nur deshalb entstehen, weil die zugrundeliegenden Regelungen als falsch, ineffizient, zu kompliziert und bürokratisch, im Vergleich zu anderen Staaten unangemessen hoch und ungerecht wahrgenommen werden und daher vom Bürger geradezu als „Kavaliersdelikte“ unterlaufen werden, etwa durch Schwarzarbeit und diverse Formen der Steuerhinterziehung oder des Steuerbetruges. Das trifft in erster Linie auf das deutsche Steuersystem zu, aber auch auf Bereiche des Sozialsystems wie etwa das Gesundheitswesen – hier ließen sich nach Ansicht der Wirtschaftsforschungsinstitute allein

halten Sparerfreibeträge und Riester-Rente für sinnvoll, steuerliche Privilegien für Nacht- und Sonntagsarbeit sowie bei Flugbenzin für überflüssig“ – SZ Nr. 283 vom 08.12.2009, S. 19; Thomas Öchsner: „Sparen – aber wo? – Im Kampf gegen die Wirtschaftskrise hat Deutschland viel Geld ausgegeben. Wie sich die Mittel wieder hereinholen ließen“ – SZ Nr. 112 vom 18.05.2010, S. 17; „Union mit FDP einig – Koalition kürzt Subventionen – Schäuble und Seehofer wollen durch den Abbau von Vergünstigungen Staatsfinanzen sanieren“ – SZ Nr. 122 vom 31.05.2010, S. 1; Detlef Esslinger: „Wo man kürzen könnte – Viele Subventionen und Finanzhilfen bleiben bestehen“ – SZ Nr. 129 vom 09.06.2010, S. 6 710 „Europa spart – Europäer wehren sich“ – Länderberichte – SZ Nr. 119 vom 27.05.2010, S. 19 711 Thomas Öchsner: „Ratschläge für neue Bundesregierung – Schwarz-gelbe Koalition soll eisern sparen – Die großen Wirtschaftsforschungsinstitute halten #Steuersenkungen für möglich, aber nur bei gleichzeitigem Abbau von Privilegien“ – SZ Nr. 238 vom 16.10.2009, S. 19; Roland Koch in dem Spiegelgespräch „Ende der Behutsamkeit“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2010, S. 24 ff.

712 So Roland Koch in dem Spiegelgespräch „Ende der Behutsamkeit“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2010, S. 24 ff.; Guido Bohsem: „Hilft nur der Rasenmäher? – Sonderkonjunktur für Subventionen: Nach Berechnungen des Instituts für Weltwirtschasft vergab der Bund 2010 staatliche Unterstützung über 164 Milliarden Euro“ – SZ Nr. 10 vom 14.01.2011, S. 18; „‘Wir brauchen einen Rasenmäher statt Gießkanne‘ – DIHK-Präsident Driftmann schlägt einen deutlichen Abbau von Subventionen vor“ – SZ Nr. 228 vom 04.10.2011, S. 18 713 „‘Die Rasenmähermethode hat noch nie funktioniert‘ – Peter Altmaier, parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion, über Prioritäten und Grenzen einer neuen Sparpolitik“ – SZ Nr. 111 vom 17.05.2010, S. 5

188 fünf bis zehn Milliarden Euro herausholen714 – zu. Wettbewerb wo immer auch bei den verbliebenen staatlichen Aufgaben möglich und sinnvoll sollte auch hier vor Funktionärsbürokratie zur Kostenreduzierung und damit auch zur Verminderung staatlicher Zuschüsse dienen. Hier liegen insgesamt Verbesserungspotentiale zugunsten des Staates und seiner Haushalte, die weit vor „Grausamkeiten“ rangieren, etwa den Sozialetat anzutasten und Kürzungen von Bürgerleistungen in Betracht zu ziehen, wie das selbst von großen Wirtschaftsforschungsinstituten empfohlen und nach Aussage des Chefhaushälters der DCU/CSU-Fraktion Norbert Barthle, auch nicht ausgeschlossen worden ist.715 Nach radikaler Kürzung nicht mehr notwendiger Ausgaben etwa nach dem bereits erfolgreichen schwedischen Vorbild716 bedarf es einer grundsätzliche Steuerreform und nachhaltiger Neuordnung der Sozialsysteme.

•

Es gibt andererseits Ausgabenposten im Staatshaushalt, denen zweifelsfrei ein geringerer Rang zukommt, auch wenn das nicht gern zugegeben wird.

Muß der Staat wirklich Computerspiele fördern oder müssen Verkehrskonzepte in China, Beratungsfirmen, welche die Erfolgsfaktoren in der Schnittlauchballenproduktion ergründen, oder die Entwicklung von Erntemaschinen für Kamillenblüten unterstützt werden?

•

Schließlich gibt es auch bei der Verwendung desw Geldes ein beachtliches Einsparungspotential. Schaut man sich allein die jährlich von den Rechnungshöfen oder auch vom Bund der Steuerzahler hierzu veröffentlichten Berichte an, so erscheint das Feld zur Reduzierung von Fehlausgaben, Fehlinvestitonen und Verschwendungen schier unermeßlich zu sein. Dazu kommt, daß er auch in den wichtigen Investitionsbereichen schlecht wirtschaftet.717 Man denke nur an die Elbphilharmonie, den Nürburgring oder den Berliner Flughafen?

714

Thomas Öchsner: „Ratschläge für neue Bundesregierung – Schwarz-gelbe Koalition soll eisern sparen – Die großen Wirtschaftsforschungsinstitute halten Steuersenkungen für möglich, aber nur bei gleichzeitigem Abbau von Privilegien“ – SZ Nr. 238 vom 16.10.2009, S. 19 715 Thomas Öchsner: „Ratschläge für neue Bundesregierung – Schwarz-gelbe Koalition soll eisern sparen – Die großen Wirtschaftsforschungsinstitute halten #Steuersenkungen für möglich, aber nur bei gleichzeitigem Abbau von Privilegien“ – SZ Nr. 238 vom 16.10.2009, S. 19; andeutungsweise so auch Claus Hulverscheidt: „Das Zehn-Milliarden-Ziel – Spätestens 2011 muss die Bundesregierung strikt sparen“ – SZ Nr. 288 vom 14.12.2009, S. 7; „Sozialetat nicht tabu“ – SZ Nr. 290 vom 16.12.2009, S. 6 716 Gunnar Hermann: „Vorbild Bullerbü – Die EU-Staaten können von der Ratspräsidentschaft Schwedens lernen“ – SZ Nr. 152 vom 06.07.2009, S. 17; siehe auch: „Das Milliarden-Rätsel – Wie die nächste Regierung das Defizit senken könnte“ – SZ Nr. 220 vom 24.09.2009, S. 6 717 Marc Beise: „Die Linke auf dem Holzweg“ – SZ Nr. 180 vom 06.08.2012, S. 17

189 •

Und wie steht es mit dem vorhandenen, längst nicht mehr überschaubaren, oft nicht mehr sinnvollen und ineffizienten – weil auch strukturell und von der Verantwortung her fragwürdigen – „Sozialdickicht“?718 So wurden 156 teure und vertraute Instrumente der Familienpolitik mit einem Gesamtumfang von über 200 Milliarden wie Kindergeld, Ehegattensplitting und beitragsfreie Mitversicherung etwa auch vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und vom Ifo-Institut schlicht als ineffizient entlarvt, ohne daß die Politik je darauf reagiert hätte.719 Auf zweistellige Milliardenbeträge von etwa 25 Milliarden Euro summieren sich jährlich Ausgaben, die vor allem anderen ein mehr als lohnendes Feld für Einsparungen abgeben.720

•

Ergiebig wäre es also schon, würde man statt ausschließlich mit finanziellen Mitteln mehr für und durch eine verbesserte Infrastruktur zugunsten der Familien Einschnitte bei Staats selbst nicht scheuen, um Bürokratie abzubauen und die Verwaltung zu straffen, wie die Industrie das mit Recht vom Staat gefordert hat.721 Es ist keine Frage, daß der Staat gehalten ist, als Treuhänder

718 „Kritik am ‚Sozialdickicht‘ – Städtebund: Expertengremium soll Reformen erarbeiten“ – SZ Nr. 181 vom 07.08.2012, S. 6 719 Neuerdings dazu wieder Nina von Hardenberg u. Guido Bohsem: „Nutzloser Geldregen – Gutachter kritisieren Instrumente der Familienpolitik: Kindergeld, Ehegattensplitting und beitragsfreie Mitversicherung hätten fast keinen Effekt. Die Opposition fordert Familen- und Finanzministerium auf, den Bericht der Experten noch vor der Bundestagswahl zu veröffentlichen“ sowie Alexandra Borchardt: „Prinzip Gießkanne“ – SZ Nr. 29 vom 04.02.2013, S. 5 und 4; Claus Hulverscheidt: „Aller guten Leistungen sind 156 – Ehegattensplitting, Elterngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag und noch einiges mehr: Auf vielerlei Weise versucht der Staat, Familien zu helfen. Forscher haben das Förderungsdickicht nun durchforstet. Vom Ergebnis dieser Bewertung fühlt sich vor allem Ministerin Schröder bestätigt“ u. Robert Rossmann: „Immer nur Geld“ – SZ Nr. 141 vom 21.06.2013, S. 5 u. 4; Robert Rossmann: „Schröder erntet Widerspruch – Forscher stellen einige Leistungen der Familienpolitik in Frage“ – SZ Nr. 143 vom 24.06.2013, S. 5; Stefan Bach, Marcel Fratzscher u. Peter Haan: „Reformieren statt Steuern erhöhen – Deutschland braucht Geld für Investitionen, aber die Regierung hätte alternative Einnahmemöglichkeiten“ – SZ Nr. 237 vom 14.10.2013, S. 18 720 Catherine Hoffmann: „Rechnungshof rügt Merkels Haushaltspolitik – Prüfer kritisieren, dass die Bundeskanzlerin trotz der Rekordverschuldung weitere Steuersenkungen plant“ – SZ Nr. 284 vom 09.12.2009, S. 1; dies.: „Klar ist, dass es kracht – Seit acht Jahrhunderten verschulden sich Staaten, Bürger und Unternehmen immer wieder bis zum Gehtnichtmehr. Erst kommt der Boom, dann das böse Erwachen“ – SZ Nr. 64 vom 18.03.2010, S. 20 und dort auch das Interview mit Elga Bartsch, Chefökonomin bei Morgan Stanley: „Inflation ist keine Option – Eine Ökonomin erklärt, wie sich Europa aus der Klemme befreit“; „Staatliche Verschwendung“ – SZ Nr. 251 vom 29.10.2010, S. 6; Clau Hulverscheidt: „Rechnungshof kritisiert Bundesregierung – 25 Millliarden Euro Steuergelder verschwendet – Schienen- und Straßenprojekte nachlässigt beaufsichtigt, Finanzämter zu nachsichtig, Schlampereien beri Vergabe von Aufträgen“ – SZ Nr. 266 vom 17.11.2010 S. 17; Oliver Bilger: „Die skurrilen Ausgaben des Staates – Der bund der Steuerzahler hat viele Vorschläge, wie man die hohe Verschuldung abbauen könnte“ – SZ Nr. 93 vom 21./22.04.2011, S. 25.

721 Markus Balser: „Industrie attackiert Regierung – BDI-Präsident Keitel fordert härteren Sparkurs in Bürokratie und Verwaltung“ – SZ Nr. 123 vom 01.06.2010, S. 17; immerhin ist in dem Sparpaket der schwarz-gelben Koalition ein Abbau von mehr als 10000 Stellen auch als Anpassung an die

190

seiner Bürger sparsam mit den ihm zur Verfügung gestellten Mitteln umzugehen und die Ausgaben an die Einnahmen anzupassen, statt die Steuern – anstelle weiterer Staatsverschuldungen – immer einmal wieder einfach nur zu erhöhen. Und sollte die gegebene Steuerbelastung als sozial ungerechtfertigt angesehen werden, müssen auch nicht die Steuern für die Höherverdiendenden erhöht, sondern das gesamte Paket der Steuern kostenneurtal neu und sozial dimensioniert austariert werden. Das „Sparpaket“ der schwarz-gelben Koalition sieht nun zwar erstmalige beachtliche Größenordnungen für Einsparungen vor. Man hat jedoch nicht den Eindruck, daß diese stets am nächsten lägen und auch reale Chancen auf Realisierung haben.722 Bei der Vorgehensweise ist darauf zu achten, die Staatsausgaben nicht sofort zu heftig und an der falschen Stelle zu kürzen, weil sich dadurch negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum, den Konsum oder sogar deflationäre Erscheinungen ergeben („Kaputtsparen“).723 Die allzustrengen Sparanforderungen für Griechenland allein werden es beispielsweise kaum erlauben, daß die griechische Wirtschaft sich schnell erholt, wächst und so die Mittel auch aus dem Wachstum generiert, die es braucht, um seine Schulden zu tilgen.724 Ein Sparpaket führt unter anderem nur dann zur Haushaltskonsolidierung, wenn es ausreichende Zukunftsinvestitionen sowie die Nachfrage der privaten Haushalte – und demographische Entwicklung vorgesehen – „Das Paket der Grausamkeiten – Vor allem Arbeitsministerin Ursula von der Leyen muss kürzen, Einkommen- und Mehrwertsteuer werden nicht erhöht“ – SZ Nr. 128 vom 08.06.2010, S. 2 722 „‘Einmaliger Kraftakt‘ – Sparpaket trifft Arme, Eltern und Firmen – Regierung will nächstes Jahr 13 Milliarden Euro kürzen/Abgabe auf Flugtickets und neue Steuer für AKW-Betreiber“ – SZ Nr. 128 vom 08.06.2010, S. 1; Claus Hulverscheidt u. Thomas Öchsner: „‘Das Sparpakert besteht aus Luftbuchungen‘ – Haushaltsexperten bemängeln, dass der Großteil des Milliardenprogramms nur Verschiebungen im Etat seien“, Heribert Prantl: „Sparpaket? Windbeutel!“ u. Detlef Esslinger: „Wo man kürzen könnte – Viele Subventionen und Finanzhilfen bleiben bestehen“ – SZ Nr. 129 vom 09.06.2010, S. 1, 4 u. 6; Marc Beise: „Der Flop – Das Sparpaket wird zu Recht kritisiert. Aber was ist wirklich zu tun?“ – SZ Nr. 132 vom 12./13.06.2010, S. 23; Claus Hulverscheidt u. Stefan Braun: „Minister boykottieren Sparpaket – Ressorts wollen nichts mehr von ihren Beschlüssen wissen/Schäuble über fehlende Disziplin der Kollegen empört" sowie Claus Hulverscheidt: „Nur noch lästig – Der erneute Streit ums Sparpaket ist symptomatisch für die Koalition“ – SZ Nr. 164 vom 20.07.2010, S. 1 und 17 723 Stephan Schulmeister: „Verhängnisvolle Spirale – Wenn in der Rezession der Staat spart und auch Unternehmen und Haushalte den Gürtel enger schnallen, magern alle ab“ – SZ Nr. 177 vom 04.08.2010, S. 18; Nouriel Roubini: „Sparen auf die gefährliche Art – Die meisten Industrieländer haben es zu eilig mit dem Abbau von Schulden – und erhöhen sie damit nur“ – SZ Nr. 6 vom 10.01.2011, S. 2; Peter Bofinger: „Tödliche Therapie – Die EU zwingt Griechenland blind zu sparen – und könnte so das Land in den Abgrund stoßen“ – SZ Nr. 38 vom 15.02.2012, S. 2; „‘Eine Überdosis Sparen‘ – Nobelpreisträger Joseph Stiglitz über Europas Krisenpolitik und eine neue Weltordnung“ – SZ Nr. 84 vom 11.04.2012, S.17 724 Alexandra Borchardt: „Gute Feine, böse Feinde – Am Verhalten der Spekulanten lässt sich ablesen, warum die Krise nur durch beides zu bewältigen ist: Wachstum und Sparen“ – SZ Nr. 120 vom 28.05.2010, S. 2

191

hier auch insbesondere der Schwachen – so wenig wie möglich dämpft und das Steueraufkommen nicht oder nur wenig beeinträchtigt. Sinnvoll wäre hingegen, statt Subventionen ins geradezu Unermeßliche weiter zu erhöhen besonders auch Steuervergünstigungen für Besserverdienende und Vermögensbesitzer (Kapitalertragssteuer) abzubauen.725 Es spricht daher nichts dagegen, dabei auch eine klare mittel- bis längerfristige abgewogene und verbindliche Vorgehensplanung zu entwickeln, die es allen Beteiligten und Betroffenen erlaubt, sich hierauf rechtzeitig einzustellen („Berechenbarkeit“). Aber man muß den Eindruck gewinnen, daß unsere Politiker lieber der nächsten Generation Schaden zufügen als selbst verantwortungsvoll abgewogen haushalten wollen. Mit großflächigen Anzeigen in der Tagespresse warnte beispielsweise die INITIATIVE Neue Soziale Marktwirtschaft: nach neueerlichen Subventionsentscheidungen bis zu einem Volumen von 160 Milliarden Euro jährlich mit den Schlagzeilen: „Subventionen schaden Ihren Kindern“ und „Subventionen enthalten Ungerechtigkeiten“.726 Im Prinzip gibt es also kein Entweder-oder, Sparen oder Investieren, wie sich das in der Auseinandersetzung der Europäer mit den USA zur Lösung der Finanzkrise darstellt,727 sondern es muß immer beides geschehen in wohl durchdachter, pointierter und abgewogener und vor allem auch befristeter Weise.728 Erst die pure Not – nicht die Einsicht – scheint jetzt auch die Bundesregierung zu einem ersten zaghaften Schritt von Einsparungen zu veranlassen.729 Zur Beendigung der Überschuldung der öffentlichen Haushalte – auch als eine wesentliche Ursache der allgemeinen Finanzkrise – und des „Schlendrians und Durcheinan-

725

Jürgen Kromphardt, em. Volkswirtschaftler der TU-Berlin und Vorsitzender der KeynesGesellschaft: „Wir sparen über unsere Verhältnisse – Das Letzte, was Deutschland gebrauchen kann: dass hier noch weniger Geld ausgegeben wird als bisher“ – SZ Nr. 158 vom 13.07.2010, S. 2; Guido Bohsem: „Hilft nur der Rasenmäher? – Sonderkonjunktur für Subventionen: Nach Berechnungen des Instituts für Weltwirtschasft vergab der Bund 2010 staatliche Unterstützung über 164 Milliarden Euro“ – SZ Nr. 10 vom 14.01.2011, S. 18 726 SZ Nr. 11 vcom 15./16.01.2011, S. 9 und SZ Nr. 12 vom 17.01.2011, S. 5 sowie Hinweis auf www.Das RichtigeTun.de/Sparen 727 Vgl. Claus Hulverscheidt: „Täuschende Wahrheiten – Bis zuletzt bleibt Finanzminister Timothy Geithner höflich: Nur versteckt erinnert er Deutschland an die Notwendigkeit, auch den Konsum und die Binnennachfrage zu stärken“ – SZ Nr. 120 vom 28.05.2010, S. 2; Guido Bohsem: „Hilft nur der Rasenmäher? – Sonderkonjunktur für Subventionen: Nach Berechnungen des Instituts für Weltwirtschasft vergab der Bund 2010 staatliche Unterstützung über 164 Milliarden Euro“ – SZ Nr. 10 vom 14.01.2011, S. 18 728 Alexandra Borchardt: „Gute Feinde, böse Feinde – am Verhalten der Spekulanten lässt sich ablesen, warum die Krise nur durch beides zu bewältigen ist: Wachstum und Sparen“ – SZ Nr. 120 vom 28.05.2010, S. 2 729 Guido Bohsem: „Jetzt wird gestrichen – Der Bundesfinanzminister macht seinen Kabinettskollegen erstmals konkrete Vorgaben. Das Volumen ist allerdings minimal“ – SZ Nr. 115 vom 21.05.2010, S. 23

192 ders“730 der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken bedarf es eines energischen politischen Handelns. Zur effizienten Wahrnehmung haushaltspolitischer Verantwortung gehört es schließlich, daß in Jahren erfolgreicher Wirtschaft und erhöht sprudelnder Steuereinnahmen nicht gleichzeitig und zusätzlich noch Neuverschuldungen ins Auge gefaßt werden, sondern strikt und größtmöglich Altschulden abgebaut und zurückgezahlt werden.

Dabei darf man sich nichts vormachen: Schuldenreduzierung heißt Tilgung der Schulden per Saldo sämtlicher Konten, und nicht lediglich – wie es die Bundeskanzlerein bereits einmal glaubte, stolz dem verdutzten Volk darstellen zu können – eine bloße Umschuldung. Keine ehrliche Lösung ist es auch, parallel einfach einen „Schattenhaushalt“ einzuführen, bei dem die Schulden nicht verschwinden, sondern mit dem lediglich eine Umbuchung der vorhandenen Schulden, also ein „Wegstecken“ derselben verbunden ist, und der wegen willkürlicher Umgehung auch gegen die inzwischen sogar grundgesetzlich eingeführte „Schuldenbremse“ verstößt.731

Steuerreform Mit an vorderster Stelle der inländischen Reformnotwendigkeiten steht seit langem eine grundlegende Reform der Besteuerung, zunächst bei der Lohn- und Einkommensteuer, bei welcher Deutschland im internationalen Vergleich deutlich mehr abgreift als andere Staaten (zuletzt auch die OECD in ihrem „Wirtschaftsbericht 2012“).732 Das ist keinesfalls nur eine Frage des Steuertarifs oder die seiner teilweisen („Progressisonsbauch“) oder generellen Absenkung. Noch wichtiger und notfalls auch kostenneutral durchführbar ist eine Strukturreform (höhere Transparenz, Entlastung des Faktors Arbeit mit der Lohn- und Einkommensteuer und Verlagerung auf andere Steuerarten, Reduzierung auch der Sozialabgaben und weitere Finanzierung der Sozialsysteme aus Konsum- und Besitz730

Bundespräsident Horst Köhler – zit. nach Wolfgang Janisch: „Rüffel vom Präsidenten – Köhler: Fehler der Politik haben Finanzkrise ermöglicht“ – SZ Nr. 110 vom 15./16.05.2010, S. 6 731 Claus Hulverscheidt: „Tricksen, täuschen und verschleiern – FDP und Union auf dem Gipfel der Heuchelei: Der Schatternhaushalt der schwarz-gelben Koalition“ und ders.: „Depression und Galgenhumor – Wie und warum die Spitzen von Union und FDP die strengen Regeln der Schuldenbremse umgehen wollen“ – SZ Nr. 242 vom 21.10.2009, S. 4 und 6; Peter Blechschmidt, Stefan Braun und Claus Hulverscheidt: „Koalition verheddert sich in Finanztricks – Geplanter Schattenhaushalt offenbar verfassungswidrig...“, Claus Hulverscheidt: „Finanzpolitischer Blindflug – Die schwarz-gelbe Koalition verbaut nicht nur dem Land die Zukunft, sondern auch sich selbst“ und Stefan Braun, Guido Bohsem und Michael Bauchmüller: „Der Schattenhaushalt – ein Rohrkrepierer – Das Debakel des von Schwarz-Gelb geplanten Sonderfonds ist bezeichnend für die schlechte Außendarstellung der Koalitionäre“ – SZ Nr. 244 vom 23.10.2009, S. 1, 4 und 5 732 Thomas Öchsner: „Bedrohtes Wirtschaftswunder – OECD mahnt Reformen in Deutschland an.

Die Arbeuit sei zu stark mit Abgaben belastet“ – SZ Nr. 38 vom 15.02.2012, S. 19

193

steuern) verbunden mit einer grundlegenden Vereinfachung des ganzen Systems und die Reduzierung seiner hohen Komplexität. Nicht nur die Wirtschaft hat sie – besonders die Vereinfachung und höhere Transparenz des Steuersystems – aus Gründen ihrer weltweiten Wettbewerbsfähigkeit und neuen Wachstums immer wieder gefordert,733 sondern sie ist auch für die arbeitenden Menschen von hoher Bedeutung im Sinne einer transparent erlebten und akzeptierten „Steuergerechtigkeit“, welche die eigene Leistung etwa gegenüber der Kapitalertragssteuer nicht dämpft oder nach Auswegen sucht und Betrug fördert. Erfolg im Wettbewerb und die daraus resultierenden neuen Arbeitsplätze schaffen ihrerseits höhere Steuereinnahmen, finanzieren also für den Staat automatisch einen mehr oder weniger großen Teil vergleichsweise niedriger Steuerbelastung.

Auch wenn eine nennenswerte Steuersenkung per Saldo für absehbare Zeit wegen des Vorrangs eines öffentlichen Schuldenabbaus unrealistisch erscheint, wäre an eine aufkommensneutrale Kürzung vor allem der Subventionen und Vergünstigungen734 gegen eine entsprechende Senkung des allgemeinen Steuert733

„‘Wir können keine Insel der Seligen schaffen“ – Linde-Chef Wolfgang Reitzle über die wachsende Angst vor der Globalisierung, mangelhafte Reformen und sein Verständnis von Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 90 vom 17.04.2008, S. 21; „Kritik an Steuersystem“ – SZ Nr. 20 vom 26.01.2010, S. 4; siehe auch Marco Völklein: „‘Die Abgeltungssteuer istz verfassungswidrig‘ – Die Kölner SteuerProfessorin Johanna Hey sieht bei der neuen Abgabe grundsätzliche Prinzipien des Steuerrechts verletzt“ – SZ Nr. 23 vom 29.01 2009, S. 20; „‘Einen Rettungsschirm für die Steuerzahler aufspannen‘ – Der Heidelbgerger Steuer-Professor Paul Kirchhof über neue Chancen für eine ‚flat tax‘ von 25 Prozent, die richtige Staatsgröße und die Fehlleitung vieler Bankgeschäfte“ – SZ Nr. 191 vom 21.08.2009, S. 18; Marc Beise: „Sparen ist gut, aber nicht alles – Die einseitige Debatte in Deutschland schadet dem Aufschwung“ – SZ Nr. 88 vom 17./18.04.2010, S. 25; Andreas Peichl vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA): „Schlechtes Alibi für politisches Nichtstun – Warum wir gerade wegen der leeren Kassen eine Strukturreform des Steuer- und Transfersystems brauchen“ – SZ Nr. 89 vom 19.04.2010, S. 18; siehe dazu jetzt auch Claus Hulverscheidt: „Regierung erwägt, die Steuerreform aufzuspalten – Zunächst sollen die komplizierten Regeln vereinfacht werden – und erst danach die Abgaben sinken“ und „Annäherung an die Realität“ – SZ Nr. 91 vom 21.04.2010, S. 1 und 4; „Kanzlerin lässt Steuerpläne offen – Merkel dämpft vor Parteitag der FDP die Erwartungen“ – SZ Nr. 94 vom 24./25.04.2010, S. 7; „Steuerrecht soll einfacher werden – Länder wollen Kindergeld und Pendlerpauschale ändern“ – SZ Nr. 114 vom 20.05.2010, S. 6; Claus Hulverscheidt: „Geht nicht gibt’s nicht“ – SZ Nr. 268 vom 19.11.2010, S. 4; Marc Beise: „Kirchhof ante Portas – Steuersenkungen sind gut. Besser ist eine Gesamtreform des Systems“ – SZ Nr. 144 vom 25./26.06.2011, S. 25; Marc Beise: „Flucht in den Königsweg“ – SZ Nr. 228 vom 02./03.10.2013, S. 4 734 Vgl. dazu „Gutachter fordern Sparkurs – Wirtschaftsforscher gegen Steuersenkung auf Pump“, Daniel Brössler und Claus Hulverscheidt: „Angst vor der Wut des Volkes – Die ersten Sparvorschläge liegen auf dem Tisch, sind Union und FDP aber zu heikel“ sowie Thomas Öchsner: „Ratschläge für die neue Bundesregierung – Schwarz-gelbe Koalition soll eisern sparen – Die großen Wirtschaftsforschungsinstitute halten Steuersenkungen für möglich, aber nur bei gleichzeitigem Abbau von Privilegien“ – SZ Nr. 238 vom 16.10.2009, S. 1, 5 und 19; Thomas Öchsner: „‘Einschnitte statt Tagträumereien‘ – Wirtschaftsweise fordern einen Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen, um die Staatsverschuldung zu begrenzen“ – SZ Nr. 262 vom 13.11.2009, S. 19; Claus Hulverscheidt: „Subventionen, die nichts bringen – Volkswirte halten Sparerfreibeträge und RiesterRente für sinnvoll, steuerliche Privilegien für Nacht- und Sonntagsarbeit sowie bei Flugbenzin für überflüssig“ – SZ Nr. 283 vom 08.12.2009, S. 19

194

arifs durchaus zu denken. Auch ließe sich ein für den Staat einnahmeneutrales Paket aus Steuervereinfachungen,735 Steuerentlastungen vor allem bei der Progressionsbelastung für die mittleren Verdiener, aus kommunalen Finanzhilfen und der Kappung von Mehrwertsteuerausnahmen schnüren, bei dem lediglich der Spitzensteuersatz auf 48 Prozent angehoben wird.736 Wie der Bundesrechnungshof Anfang 2013 resignativ feststellte, ist auf dem Gebiet der für den Staat wichtigsten Einnahmequelle, der Mehrwertsteuer, nichts entscheidend vorangebracht worden, obwohl schon frühzeitig eine Kommission zur Reform der Mehrwertsteuer mit Sitzungsbeginn 23. Febr. 2011 eingerichtet worden war, die aber niemals getagt hat.737 Aber wer geht endlich einen ersten entschlossenen Schritt? Die blutarmen Beschlüsse der Koalition dazu wirkten selbst in den Augen der Wirtschaft nicht mehr als eine „Alibi-Reform“.738 Was ist geworden aus dem Streichkatalalog der Politiker selbst verschiedener Parteien wie Roland Koch und Peer Steinbrück oder dem „Merzpapier“?

Es ist eine Schande, wie ein Mann wie der ehemalige Verfassungsrichter und Professor Paul Kirchhof aus opportunistischen Gründen wie ein Hund vom Hof gejagt worden ist, nur weil er die Wahrheit sagte und sogar eine wohl durchdachte Lösung bot,739 die bisher durch keine anderen Idee übertroffen worden ist, selbst wenn Altbundeskanzler Helmut Schmidt ihn ohne nähere Begründung nicht zu denen zählte, welche die fiskalischen, die volkswirtschaftlichen und die gesellschaftlichen Wirkungen einer generellen Vereinfachung des Steuerrechts einigermaßen zutreffend einzuschätzen wissen.740 Dennoch sollte sich die Politik 735

Claus Hulverscheidt: „Weniger Zettel, mehr Zeit – Die Finanzexperten von Union und FDP einigen sich grundsätzlich auf ein 41-Punkte-Programm zur Vereinfachung des Steuerrechts“ – SZ Nr. 281 vom 04./05.12.2010, S. 28; ders.: „Mehr Geld für Unternehmen und Bürger – Durch eine Vereinfachung des Steuerrechts will die Koalition die Kosten der Firmen um vier Milliarden senken“ – SZ Nr. 285 vom 09.12.2010, S.1; Claus Hulverscheidt: „Langsamer Fortschritt – Die Vereinfachung des Steuerrechts lässt noch auf sich warten, aber erste Maßnahmen treten schon jetzt in Kraft – ein Überblick“ – SZ Nr. 303 vom 31.12./01./02.01.2011, S., 30 736 Claus Hulverscheidt: „Geht nicht gibt’s nicht“ – SZ Nr. 268 vom 19.11.2010, S. 4 737 Guido Bohsem: „Vernichtendes Zeugnis – Rechnungshof: Reform der Mehrwertsteuer kommt nicht voran“ u. Claus Hulverscheidt: „Drei harmlose Wörter“ – SZ Nr. 14 vom 17.01.2013, S. 5 u. 4 738 Peter Blechschmidt, Stefan Braun und Claus Hulverscheidt: „Koalition lässt Kosten der Bundeswehrreform offen – Spitzen von Union und FDP halten aber am Sparziel von 8,4 Milliarden Euro fest/Westerwellte und Schäuble uneins über Dramatik der Euro-Krise“ – SZ Nr. 287 vom 11./12.12.2010, S. 6 739 „‘Einen Rettungsschirm für die Steuerzahler aufspannen‘ – Der Heidelbgerger Steuer-Professor Paul Kirchhof über neue Chancen für eine ‚flat tax‘ von 25 Prozent, die richtige Staatsgröße und die Fehlleitung vieler Bankgeschäfte“ – SZ Nr. 191 vom 21.08.2009, S. 18; Guido Bohsem u. Claus Hulverscheidt: „Statt 33 000 Steuerpragraphen nur noch 146 – Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof will Gesetze radikal vereinfachen/Höchster Einkommensteuersatz 25 Prozent“ und „Der Professor ist so frei – Die Wunden, die Gerhard Schröder ihm geschlagen hat, sind nicht verheilt – Paul Kirchhof macht den Politikern jetzt ein Angebot, aber in die Politik zurückkehren will er auf keinen Fall“ – SZ Nr. 146 vom 28.06.2011, S. 1 und 2 740 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 218

195 mit diesen Reformvorschlägen ernsthaft befassen.741 In einer hochkomplexen Demokratie verbietet es sich zwar oft, eine grundlegende, auch und gerade bis zu Ende gedachte Steuerreform wie mit einem Donnerschlag neu in die Welt zu setzen,742 sondern sie muß in sinnvollen Einzelschritten und unter Berücksichtigung der jeweiligen praktischen Auswirkungen so realisiert werden, daß sich alle davon Betroffenen in Kenntnis des Gesamtziels rechtzeitig und zumutbar darauf einstellen können. Aber ist das bei der Unübersichtlichkeit des alten Systems überhaupt noch möglich? Wo also bleibt das Wohl des Staates und seiner Bürger sowie die Bereitschaft, auch hier unangenehme Wahrheiten klar und offen zu vertreten oder so dafür zu kämpfen, daß sich weitgehend alle damit hätten einverstanden erklären können? Anders ausgedrückt: „Keines der Versprechen , die Union und Liberale 2009 unter der Überschrift ‚einfach, niedrig, gerecht‘ gegeben hatten, wurde eingelöst.“743 Ist es wirklich damit getan, daß wir nur über die „Pendlerpauschale“ (Entfernungspauschale) reden oder über eine neue „Erbschaftssteuer“, die in ihrer Ausgestaltung und Anwendung wieder höchst kompliziert und für die kalkulierende mittelständische Wirtschaft kaum praktikabel ist, andererseits den Staat mehr kostet als ihm einbringt.744 Warum werden die Menschen durch eine inhaltlich fragwürdige und wegen ungleicher Besteuerung von Kapitaleinkünften und Einkünften aus Arbeit sogar verfassungswidrige Abgeltungssteuer mehr als bisher davon abgehalten, in Aktien zu investieren, auch um die eigene Altersvorsorge zu stärken und die Spaltung der Gesellschaft zu verhindern, nur um aus der Sicht des Staates Steuerhinterziehungen zu erschweren?745 Ist es überhaupt zukunftsweisend, immer nur weiter die Steuern zu erhöhen (Mehrwertsteuer, kalte Steuerprogression in der Einkommenssteuer, Erbschaftssteuer, Reichensteuer?), statt endlich einmal Gedanken darüber anzustellen, wie man auf der anderen Seite den Aufwand für die horrenden Staatsausgaben wirklich verringern746 kann? Die von 741 Claus Hulverscheidt: „Mit Vorsicht und Neugier – Trotz aller Skepsis: Paul Kirchhofs Steuerkonzept hat es verdient, dass sich die Politik damit befasst“ – SZ Nr. 146 vom 28.06.2011, S. 4; „Kirchhofs Steuer-Revolution und ihre Freunde“ u. Gustav Seibt: „Code Kirchhof – Zum Träumen: Eine neue Sprache für das Steuerrecht“ – SZ Nr. 147 vom 29.06.2011, S. 6 und 9 742 So sinngemäß auch Susanne Höll: „In der Steuerfalle – Statt ein Konjunkturpaket zu schnüren, verlieren sich die Parteien in einem fiskalischen Streit“ – SZ Nr. 3 vom 05./06.01.2009, S. 4 743 Claus Hulverscheidt: „Der Merkel-Missstand“ – SZ Nr. 92 vom 20./21.04.2013, S. 4 744 Elisabeth Dostert: „Erbschaftssteuer mit Zeitzünder – Selbst etliche Jahre nach einem Todesfall können künftig Nachzahlungen fällig werden. Angesichts dieser Reformpläne dürfen Famlienfirmen vorsichtshalber Geld zurücklegen, statt zu investieren“ sowie „Weg damit! – Die Erbschaftssteuer schadet mehr, als sie dem Staat einbringt“ – SZ Nr. 276 vom 27.11.2008, S. 24 und 17 745 Alexander Hagelüken: „Steinbrücks Fehlschluss – Die Abgeltungssteuer ist falsch, weil sie Aktionäre bestraft“ – SZ Nr. 302 vom 30.12.2008, S. 17; Marco Völklein: „‘Die Abgeltungssteuer ist verfassungswidrig‘ – Die Kölner Steuer-Professorin Johanna Hey sieht bei der neuen Abgabe grundsätzliche Prinzipien des Steuerrechts verletzt“ – SZ Nr. 23 vom 29.01 2009, S. 20 746 „‘Einen Rettungsschirm für die Steuerzahler aufspannen‘ – Der Heidelbgerger Steuer-Professor Paul Kirchhof über neue Chancen für eine ‚flat tax‘ von 25 Prozent, die richtige Staatsgröße und die

196

der Föderalismuskommission II als „Sternstunde“ föderalistischer Zusammenarbeit gefeierte Einigung der Parteien CDU und SPD über eine rechtlich zwingende „Schuldenbremse“ war nicht nur sprachlich mißglückt – sie ist nämlich auch eine Steuersenkungsbremse,747 viel zu ausführlich, in der Sache viel zu wenig strikt und ehrgeizig sowohl im Hinblick auf den Zeithorizont (2020 ist viel zu spät) als auch bei den Maßnahmen (Reduzierung der Neuverschuldung und wohl letztlich doch wirkungslos statt endlich Abbau der Altschulden sowie grundsätzliche Vorbehalte für Abweichungen).748 Sie ist auch dem Sinn einer Verfassung nicht angemessen.749 Trotzdem und entgegen dieser Absprache gab es später seitens der linken Gruppierungen auch in der SPD und in der Wissenschaft plötzlich keine Bereitschaft mehr zu einem Verschuldensverbot, das ihrer Ansicht nach politische Handlungsmöglichkeiten – mögen sie in ihren Folgen dann auch spätere Generationen treffen – endlich einmal verantwortlich für die Zukunft einschränkt.750 Eine grundsätzliche Neuordnung unseres Steuersystems versprach dann die neu gewählte schwarz-gelbe Koalition. Durch die alle überraschende weltweite Finanzkrise hat sich hier jedoch nun anscheinend der Rahmen auch für eine Steuerreform und erst recht auch für Steuersenkungen grundsätzlich verändert.751 Wenn man allein vom Bedarf her argumentiert – wie das auch auf den DemonFehlleitung vieler Bankgeschäfte“ – SZ Nr. 191 vom 21.08.2009, S. 18; „Das Milliarden-Rätsel – Wie die nächste Regierung das Defizit senken könnte“ – SZ Nr. 220 vom 24.09.2009, S. 6; ausdrücklich für „Ausgabenkürzungen“: „‘Demnächst wird eine gepfefferte Rechnung präsentiert‘ – Wolfgang Franz, der Chef der Wirtschaftsweisen, über Luftschlösser im Wahlkampf, den Herbst der Wahrheiten und die Folgen der Finanzkrise“ – SZ Nr. 222 vom 26./27.09.2009, S. 27 747 Claus Hulverscheidt: „Deutschland lebt zunehmend auf Pump – Bis zum Jahre 2013 wird die Staatsschuld von zuletzt 66 auf 82 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen“ – SZ Nr. 155 vom 09.07.2009, S. 19 748 Guido Bohsem: „Öl auf der Bremse – Wo ein Wille ist, findet sich auch ein parlamentarischer Kniff: Der Staat wird weiter Schulden machen“ – SZ Nr. 31 vom 07./08.02.2009, S. 4; „Schulden werden begrenzt – Föderalismuskommission beendet ihre Arbeit“ – SZ Nr. 54 vom 06.03.2009, S. 6; “Schulden steigen auf zwei Billionen“ – SZ Nr. 61 vom 14./15.03.2009, S. 6; der Münchner Öffentlichrechtler Stefan Korioth: „Irgendeine Not ist immer – Wie viele Schulden darf der Staat noch machen? Auch die neuen Regeln verhindern nichts und erlauben alles“ – SZ Nr. 101 vom 04.05.2009, S. 2 749 Heribert Prantl: „Die Verfassung wird dicker, aber nicht besser – Seitenlange neue Regelungen zur Schuldenbremse sind ein neuer Höhepunkt in der Verschandelung des Grundgesetzes“ – SZ Nr. 102 vom 05.05.2009, S. 5; Guido Bohsem u. Susanne Höll: „Schuldenbremse soll ins Grundgesetz – Zweidrittelmehrheit im Bundestag für enge Grenzen bei der Aufnahme von Krediten/Lammert stemmt sich dagegen“ u. Susanne Höll: „Eine Bremse aus Papier – Die Schuldenbegrenzung im Grundgesetz ist bestensfalls ein Appell an kommende Politiker-Generationen“ – SZ Nr. 123 vom 30./31.05.2009, S. 1 und 4 750 „SPD streitet über Schuldenbremse – In der Fraktion votieren 20 Abgeordnete gegen geplantes Verbot der Neuverschuldung“ und Thomas Öchsner: „Professoren gegen Schuldenbremse“ – SZ Nr. 120 vom 27.05.2009, S. 1 und 23 751 „Steuerreform frühestens 2011 – Zeitpunkt und Umfang werden erst im Mai festgelegt“ – SZ Nr. 253 vom 03.11.2009, S. 5

197 strationen am 29. September 2012 in 40 deutschen Städten geschah,752 der wirklich außerordentlich gewachsenen Staatsverschuldungen in Bund, Ländern und Gemeinden, ohne sich gleichzeitig die Frage zu stellen, wer das erwirtschaften und wann einmal wieder abzahlen soll, dann kommt man schnell zu dem einfachen Ergebnis, daß jedenfalls solange kein „Spielraum“ für Steuersenkungen besteht, solange die hohe Staatsverschuldung anhält und nicht wenigstens in einem hohen Maße wieder getilgt worden ist.753 Ob das auf diesem Wege wirksam geschehen kann, bleibt durchaus offen, nachdem nicht nur Konjunkturpakete das staatliche Defizit erheblich erhöht haben, sondern sich auch beim Aufkommen der gewinnabhängigen Steuern ein „außerordentlich kräftiger Rückgang“ abzeichnet.754 Wahrscheinlich ist es schon deshalb richtiger, gerade jetzt eine gründliche Strukturreform ins Auge zu fassen mit dem Ziel, direkte Steuern für Unternehmen und den Faktor Arbeit tendenziell (beachte aber Grenzbelastung für niedrige Einkommen und Rentner!) zu ersetzen durch indirekte Steuern der Einkommensverwendung, welche u. a. die Unternehmenssteuern weiter senkt, die Progression der Einkommenssteuern abmildert und Grund-, Erbschafts- und Konsumsteuern durch breitere Bemessungsgrundlagen und weniger Ausnahmen erhöht, um so Bürger und Unternehmen von unmittelbaren Steuern zu entlasten,755 so daß das nachhaltiges Wachstum für Wohlstand und Arbeit nicht zuletzt als Folge verbesserter internationaler Wettbewerbsfähigkeit auch von dieser Seite wenigstens zum Teil wieder deutlich befördert wird, auch wenn nicht jeder steuerfrei gewordene und eingesparte Euro sofort dem nationalen Wachstum zugute kommen wird,756 um dann von den steigenden Arbeitseinkommen und Gewinnen die Steuereinnahmen des Staates zu erhöhen, die Zuschüsse zu sozialen Transferkosten zu verringern und so von der Einnahmeseite und Ausgabenseite gleichzeitig den Staatshaushalt zu sanieren.757 Die sogenannte staatliche 752

„Demonstrationen für die Reichensteuer – In 40 Städten gehen Tausende Menschen auf die Straße und fordern Umverteilung“ – SZ Nr. 227 vom 01.10.2012, S. 5 753 Andreas Peichl vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA): „Schlechtes Alibi für politisches Nichtstun – Warum wir gerade wegen der leeren Kassen eine Strukturreform des Steuer- und Transfersystems brauchen“ – SZ Nr. 89 vom 19.04.2010, S. 18 754 „‘Erheblich schlechtere Staatsfinanzen‘ – Warum die Bundesbank davon ausgeht, dass die Politiker nach den Wahlen kräftig sparen müssen“ – SZ Nr. 191 vom 21.08.2009, S. 19 755 Andreas Peichl vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA): „Schlechtes Alibi für politisches Nichtstun – Warum wir gerade wegen der leeren Kassen eine Strukturreform des Steuer- und Transfersystems brauchen“ – SZ Nr. 89 vom 19.04.2010, S. 18 756 Clemens Fuest: „Klingt gut, ist aber schlecht – Eine Steuersenkung finanziert sich nicht von selbst – und wer Familien entlastet, bewirkt vor allem, dass mehr gespart wird“ – SZ Nr. 228 vom 05.10.2009, S. 2; Marc Beise: „Den Bürger ernst nehmen – Die Koalition muss Steuern senken. Auch wenn Experten davon abraten“ – SZ Nr. 233 vom 10./11.10.2009, S. 23 757 Marc Beise: „Das Gegenteil von Wahnsinn – Warum es doch richtig ist, die Steuern zu senken“ – SZ Nr. 112 vom 16./17.05.2009, S. 23; Markus Balser: „Vom Gift hoher Steuern – Wirtschaftsexperten: Deutsches Recht bestraft Unternehmen und verhindert Wachstum“ und „‘Andere Länder

198

„Abwrackprämie“ zur Anschaffung fabrikneuer Fahrzeuge – um nur ein Beispiel zu nennen – hat sich allein schon durch die auf den vollen Kaufpreis zu rechnende Mehrwertsteuer fast von selbst finanziert. Da mag man nur noch der „Kommission Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft Glück wünschen mit ihrem Versuch, das bisherige Steuersystem zwar nicht abzuschaffen, es aber wenigstens gründlich zu sanieren und praxistauglicher als Paul Kirchhof zu entrümpeln.758 Eine offenbar für die meisten Politiker höchst problematische Seite – sie wird jedenfalls von allen Parteien und Regierungen seit Jahrzehnten immer wieder verdrängt – ist es, sich endlich einmal die Ausgabeseite genauer und kritischer anzusehen und auch hierzu Taten folgen zu lassen.759 Es ist einfach nicht wahr, daß man für einen sparsameren Haushalt nur Leistungen an Bürger kürzen müßte, was natürlich – schon gar nicht als ersten und alleinigen Schritt – niemand befürwortet. Rechnungshöfe760 und Steuergewerkschaft rechnen Jahr für Jahr vor, wo Millionen bis Milliarden nicht sinnvoll eingesetzt oder schlicht vergeudet werden und warum Investitionen in Bildung, Universitäten, Bau- und Straßenunterhalt sowie in energetische Sanierungen“ allein über eine strikte Ausgabendisziplin möglich wären. Man denke nur an die Verluste, die dem Staat – auch wegen des als ungerecht und kompliziert empfundenen überholten Steuersystems – etwa durch Bürokratie, Schwarzarbeit oder Steuerflucht entstehen.

Neuerdings hat der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) und das Ifo-Institut man ausgerechnet, wie viele Milliarden den deutschen Staat die Tatsache kostet, daß immer mehr gut ausgebildete junge Leute dauerhaft ins Ausland abwandern.761 Bisherige Staatsaufgaben und ineffiziente Behörden – an der Spitze die Bundesagentur für Arbeit – wären ebenso in Frage zu stellen wie steigende Personalausgaben trotz Stellenkürzung. Trotzdem fehlt es etwa bei der wollen uns überholen‘ – Bayerns Finanzminister Georg Fahrenschon fordert Steuersenkungen und mehr Wachstum“ – SZ Nr. 181 vom 08./09.08.2009, S. 22; „‘Einen Rettungsschirm für die Steuerzahler aufspannen‘ – Der Heidelbgerger Steuer-Professor Paul Kirchhof über neue Chancen für eine ‚flat tax‘ von 25 Prozent, die richtige Staatsgröße und die Fehlleitung vieler Bankgeschäfte“ – SZ Nr. 191 vom 21.08.2009, S. 18 758 Claus Hulverrscheidt: „Ein Maus-Click soll genügen – Führende Experten wollen das Steuerrecht entrümpeln und die Gemeindefinanzen reformieren“ – SZ Nr. 200 vom 30.08.2013, S. 19 759 „‘Demnächst wird eine gepfefferte Rechnung präsentiert‘ – Wolfgang Franz, der Chef der Wirtschaftsweisen, über Luftschlösser im Wahlkampf, den Herbst der Wahrheiten und die Folgen der Finanzkrise“ – SZ Nr. 222 vom 26./27.09.2009, S. 27; allerdings in dieser Richtung neuerdings Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble: „Steuerreform frühestens 2011 – Zeitpunkt und Umfang werden erst im Mai festgelegt“ – SZ Nr. 253 vom 03.11.2009, S. 5 760 Heiner Effern: „Rechnungshofbericht kritisiert Finanzgebaren der Staatsregierung: Die Alltägliche Verschwendung – Zu viele teure Beamte, zu viele Gutachter, zu viel Kleinstförderung – und Architektur, die unnütz ist“ – SZ Nr. 281 vom 03.12.2008, S. 37 761 Roland Preuß: „Auswanderungswelle kostet Deutschland Milliarden – Seit 2003 haben 180000 Menschen die Bundesrepublik verlassen – besonders Ärzte gehen gern ins Ausland“ – SZ Nr. 120 vom 27.05.2009, S. 6

199

Bayerischen Versorgungskammer noch immer an ausreichenden Rückstellungen für Versicherungsfälle und Pensionen. Wie sinnvoll sind langfristige milliardenschwere Notleistungen für einzelne schwächelnde Wirtschaftsunternehmen oder allzu großzügige willkürliche Vergabe von Fördermitteln etwa für Ganztagsschulen? Hier geht es nicht zuletzt auch um den Abbau staatlicher Aufgaben – nicht im Sinne viel zu teurer Gutachten und Forschungsaufträge, sondern grundsätzlich, weil sie dem Staat nicht zwingend obliegen.762 Eine persönliche Verantwortung im Sinne einer Haftung der Geldanleger ebenso wie der Politiker und öffentlich Bediensteten für einen laxen oder unangemessenen Umgang mit Geld, das in Wahrheit und dem Grunde nach genügend vorhanden ist, erscheint unverzichtbar.763 Und wie steht es mit den sektoralen und individuellen Besitzständen aus ehemaligen und immer wieder neu diskutierten Subventionen, wie sie aus Anlaß der Finanzkriste sogar im Hinblick auf deren Auswirkungen auf die Realwirtschaft – vor allem eine befürchtete neue Arbeitslosigkeit – gegen alle langfristige Vernunft wieder durch den Staat praktiziert werden? Er ‚versozialisiert‘ in unzulässiger Weise unternehmerische Risiken,764 verlängert nur die Ursachen für das Übel, verfestigt den überkommenen Ist-Stand und bewirkt damit das Gegenteil von zukunftsweisenden Investitionen (Bildung, Infrastruktur). Gleichzeitig wird Unmengen von Geld gebunden, das jetzt fehlt und doch nicht weiterführt. Solche Maßnahmen sind in Wahrheit nicht sozial, weil sie den notwendigen Strukturwandel und die rechtzeitige Anpassung an die kommenden Herausforderungen nicht lösen, sondern nur verschieben, damit eine wirklich soziale wirtschaftliche Entwicklung verzögern und die Lasten dafür kommenden Generationen aufbürden.765 Es geht allein um die Frage, wofür wir Geld ausgeben wollen und müssen! Es wird eine Veränderung in die richtige Richtung nicht geben, ohne jetzt einigen weh zu tun, auch wenn das besonders in einem Jahr schwerfällt, in dem einige Wahlen anstehen. Aber wenn man gut abwägt und dieses begründen kann, muß man diesen Schritt endlich gehen. Die Bürger mokieren sich längst über die Fehlwirkungen einer „Verschrottungsprämie“ beim Neukauf eines Kraftfahr-

762

Siehe den Bericht des bayerischen Rechnungshofs im einzelnen unter www.orh.bayern.de Grundsätzlich so auch Armin Steinbach u. Philipp Steinberg: „Nach der Krise ist vor der Krise – Haben wir die richtigen Lehren gezogen, und was bleibt zu tun?“ – Metropolis Verlag 2010 und Besprechung dazu von Moritz Koch: „Alles eine Frage deer Haftung“ – SZ Nr. 47 vom 26./27.02.2011, S. 34 764 Nico Fried: „Die Ansgst vor der reinen Lehre – Viele Politiker würden die Firmen gern sich selbst überlassen, doch sie fürchten die Konsequenzen“ – SZ Nr. 24 vom 30.01.2009, S. 2 765 Karl-Heinz Büschemann: „Die neue Großzügigkeit – Subventionen sind unsozial und zeigen die Schwächen der Politiker“ – SZ Nr. 283 vom 05.12.2008, S. 19; Guido Bohsem: „Der überforderte Staat“ – SZ Nr. 24 vom 30.01.2009, S. 4 763

200

zeugs, weil sie die Dinge durchschauen. Sie könnten entgegen einer verbreiteten Politikermeinung766 die Wahrheit vertragen!

Unabhängig von der Höhe der im System verankerten Steuern erhöhen sich die Steuereinnahmen stets, wenn es Wachstum in der Wirtschaft gibt. Damit gilt es also zum Ausgleich des Staatshaushalts noch vor etwaigen, das Wachstum eher behindernden Steuererhöhungen,767 das Wachstum durch (auch steuerliche) Anreize zu befördern, damit also möglicherweise geradezu das Gegenteil von Steuererhöhungen vorzusehen, nämlich gezielte Steuererleichterungen, welche die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft verbessern. Aber auch dafür bedarf es eines durchdachten längerfristigen Konzepts.768 Das Drehen an einzelnen Steuersätzen wäre theoretisch eine weitere Maßnahme, um die Steuern nominell zu erhöhen, sofern nicht genau diese Zusatzbelastung zu dem gegenläufigen Effekt führt, daß sich der so belastete Basisbetrag (Umsatz als Bemessungsgrundlage) nun verringert.769 Immerhin brächte die Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt auf 20 Prozent dem Staat rechnerische Mehreinnahmen von 8,3 Milliarden Euro. Auch der eher aus kosmetischen Gründen erforderliche Wegfall der reduzierten Mehrwertsteuersätze auf Schnittblumen und andere Pflanzen oder auf Leistungen von Zahntechnikern ergäbe immerhin noch 345 bzw. 380 Millionen Euro, der Wegfall des ermäßigten Satzes insgesamt 20 Milliarden an Mehreinnahmen.770 Angesichts der auch immer deutlicher werdenden Schere zwischen arm und reich hat der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel im Sommer 2012 erneut das Thema von Steuererhöhungen von besonders „Reichen“ in die Diskussion gebracht, wofür zunächst gesamtwirtschaftlich nichts spricht. Deutschland hat kein Einnahmeproblem, sondern eines der Ausgaben. Eine Steuererhöhung erscheint auch angesichts der Tatsache nicht plausibel, daß ohnehin schon das obere Viertel der Gesellschaft 80 Prozent des Einkommensteueraufkommens zahlt und darin bereits eine erhebliche solidarische „Umverteilung“ begründet ist.771

766

Marc Beise: „Warum Bürger keine Wahrheit wollen“ – Besprechung des Buches von Oswald Metzger: „Die verlogene Gesellschaft“ – Rowohlt Verlag Berlin 2009 – in SZ Nr. 157 vom 11./12.07.2009, S. 34 767 „‘Steuererhöhungen sind Gift‘ – FDP-Haushaltssprecher Fricke über Sparen und Tabus“ – SZ Nr. 122 vom 31.05.2010, S. 5 768 Marc Beise: „Sparen ist gut, aber nicht alles – Die einseitige Debatte in Deutschland schadet dem Aufschwung“ – SZ Nr. 88 vom 17./18.04.2010, S. 25 769 Marc Beise: „Sparen ist gut, aber nicht alles – Die einseitige Debatte in Deutschland schadet dem Aufschwung“ – SZ Nr. 88 vom 17./18.04.2010, S. 25 770 „Das Milliarden-Rätsel – Wie die nächste Bundesregierung das Defizit senken könnte“ – SZ Nr. 220 vom 24.09.2009, S. 6; Claus Hulverscheidt: „Experten fordern radikale Reform der Mehrwertsteuer – Gutachter der Bunbdesregierung: Außer Lebensmitteln sollte nichts mehr begünstigt werden“ – SZ Nr. 221 vom 24.09.2010, S. 6 771 Marc Beise: „Die Linke auf dem Holzweg“ – SZ Nr. 180 vom 06.08.2012, S. 17

201

Aber wie immer es auch sei – es wäre genügend zu tun, um das Steuersystem insgesamt zu überdenken. Die schwarz-gelbe Koalition wollte dieses jedenfalls nicht mehr bewerkstelligen, nachdem auch das letzte große Steuervorhaben dieser Legislatur“ wie höherer Arbeitnehmer-Pauschbetrag und andere Vereinfachungspläne ad acta gelegt wurde.772 Vielleicht bieten die nach der Wahl 2013 notwendigen Koaslitionsverhandlungen mit ihren unterschiedlichen Fordeerungen zur Steuererhöhung eine Chance, sich grundsätzlich völlig neu zu orientieren?773

Öffentliche Sicherheit Die Garantie der öffentlichen Sicherheit gehört nicht nur zu den grundlegenden, sondern gerade auch aktuell hoch bewerteten Lebensbedürfnissen aller Menschen.774 Sie ist unabdingbare Voraussetzung für gedeihliches Wirtschaften ebenso wie für ein friedliches soziales Miteinander und damit notwendige Rahmenbedingungen dafür, daß die Menschen in geordneten Verhältnissen ihrer Existenzsicherung nachgehen können. Öffentliche Sicherheit als Staatsaufgabe resultiert nach modernem Staatsverständnis in letzter Konsequenz aus dem allein beim Staate liegenden Gewaltmonopol. Nach Ereignissen wie dem 11. September 2001 in den USA und allenthalben auch in anderen Teilen dieser Welt, ja sogar in den bislang vergleichsweise sicheren europäischen Staaten, wächst das Bewußtsein für den Wert öffentlicher Sicherheit, weshalb sich auch in Deutschland Politiker immer wieder bemühen, dieses zumindest verbal als wichtiges politisches Ziel zu markieren, auch wenn sie gleichzeitig gezwungen sind, die Personalstärke einzelner Sicherheitsorgane aus Gründen öffentlichen Sparzwangs zu verringern. Themen wie Gewalt (auch gegen Polizeibeamte!), organisierte Kriminalität, Steuerhinterziehung leiden besonders unter inkonsequenter Exekution und den personellen Sparmaßnahmen – angeblich 10000 Stellen weniger seit dem Jahr 2000, die man entgegen dem wirklichen Bedarf seit längerem praktiziert.

Im Ergebnis sind die Menschen nirgends mehr 100-prozentig sicher, wie dann immer häufiger auch offiziell eingeräumt wird. Bereits im November 2011 zeigte 772 Guido Bohsem: „Ungeeignet und nicht finanzierbar – Die Koalition kassiert die Steuersenkung: Die Regierung lehnt einen höheren Arbeitnehmer-Pauschbetrag und andere Vereinfachungpläne des Bundesrates ab. Das letzte große Steuervorhaben dieser Legislatur steht vor dem Aus“ – SZ Nr. 29 vom 04.02.2013, S. 17 773 Marc Beise: „Flucht in den Königsweg“ – SZ Nr. 228 vom 02./03.10.2013, S. 4 774 Zu einer Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Beamtenbundes siehe Varinia Bernau: „Deutsche fühlen sich nicht sicher – Angst vor Kriminalität größer als vor Terror/Weniger Datenschutz gilt als zumutbar“ – SZ Nr. 209 vom 11.09.2009, S. 6

202

sich die Hilflosigkeit und Ineffizienz, die „unfassbaren“ Fehler bei der Terrorfahndung der Verfassungsschutzbehörden, als es um die Aktivitäten der Rechtsradikalen in Deutschland ging, die trotz Unterwanderung mit zahlreichen VLeuten seit Jahren ihr ungestörtes Unwesen treiben können.775 Das verwirrende Nebeneinander der Behörden und Zuständigkeiten bei der Aufklärung der Neonaziaktivitäten, das isolierte Wirken der Verfassungsschutzes in Bund und Ländern, die ebenso isolierte Vorgehensweise des Bundeskriminalamtes und der entsprechenden Länderbehörden, der Staatsanwaltschaften und Polizei hat im Jahre 2012 mehr als deutlich gemacht, daß eine effiziente Sicherheitsorganisation nicht besteht. Auch von einer schlüsssigen und konsequenten Politik der inneren Sicherheit kann in Deutschland schon lange nicht mehr gesprochen werden.

An einer klaren politischen Linie fehlt es bereits bei Themen wie Vorratsdatenspeicherung oder Sicherungsverwahrung.776 Eine besondere Sicht der Sicherheitsgarantien erfordert die weltweite Verflechtung auf immer mehr Lebensgebieten. Noch immer ist freilich nicht nur unser Grundgesetz, sondern vor allem unser Denken formal von der Unterscheidung äußerer und innerer Sicherheit geprägt. Das erste obliegt noch ganz traditionell „im Verteidigungsfall“ des „Bundesgebietes“ (Art. 115a GG) dem zum Bund gehörigen Militär („Bundeswehr“ – Art. 87a GG), das zweite, die keinesfalls so klar territorial abgrenzbare innere Sicherheit der bei den einzelnen Bundesländern angesiedelten Polizei. Dabei umfaßt die innere Sicherheit nicht nur die Abwehr von Gewalttaten in diesem Bundesland, auch nicht im Inland, sondern immer mehr die Abwehr von Gefahren, die das funktionierende Ordnungsgefüge eines Volkes bedrohen, auch wenn sie weniger mit Gewalt oder Gefährdung von Leib und Leben verbunden sind. Beider Aufgaben und Befugnisse sind im Prinzip noch immer streng voneinander getrennt, obwohl sich das von den veränderten Realitäten her immer weniger anbietet.

Unter dem, was noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts als Bundeswehrreform777 diskutiert, aber einschließlich der Frage eines politischen Konzepts für 775

„Leutheusser-Schnarrenberger vor dem Krisentreffen im Kanzleramt – Verfassungsschutz soll völlig umgebaut werden – Wegen ‚unfassbarer‘ Fehler bei der Terrorfahndung empfiehlt die Ministerin Zusammenlegung der 16 Behörden“ und „‘Aufklärung alleine wird nicht ausreichen‘ – Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger plädiert nach der Neonazi-Mordserie dafür, V-Leute bei der NPD abzuziehen“ – SZ Nr. 266 vom 18.11.2011, S.1 und 5 776 „Es gibt keine Politik der inneren Sicherheit mehr‘ – Polizei-Gewerkschaftschef Konrad Freiberg über den Streit um gefährliche Häftlinge, wirkungslose Fußfesseln und Gewalt gegen Beamte“ und „Union und FDP bleiben hart – Streit über Umgang mit Schwerkriminellen – SZ Nr. 180 vom 07./08.08.2010, S. 5 777 Siehe dazu Christoph Schwennicke: „Die fünf Einsichten des Peter Struck ...und fehlende sechste: Die Bundeswehr muss erheblich kleiner werden“ – SZ Nr. 43 vom 21.02.2003, S. 4; Andreas Rinke: „Bundeswehr beschleunigt Umbau“ – HB Nr. 37 vom 21./22.02.2003, S. 3; „Struck will Bundeswehr schneller modernisieren“ – SZ Nr. 63 vom 17.03.2003, S.6; auch die Opposition hat hierzu keine klare Linie – vgl. Heribert Prantl: „Schneller, höher, weiter – Das Strategiepapier der Union zur

203

eventuell inländische und vor allem auswärtige Bundeswehreinsätze und sogenannten „humanitären Interventionen“ im Rahmen – oder sogar außerhalb!778 – entsprechender UN- oder NATO-Beschlüsse779 und damit einhergehend der Beibehaltung eines allgemeinen Wehrdienstes und der Wehrpflicht780, auch des Umfangs der Bundeswehr und deren Einbindung in die Europäische Union nicht abgeschlossen worden ist, verbirgt sich angesichts der in Teilen veränderten Aufgabenstellung allenfalls eine vorsichtige Öffnung hin zu kleineren hochtechBundeswehr: Keine Ahnung wohin, aber geschwinder dort“ – SZ Nr. 47 vom 26.02.2003, S. 4; Tina Hildebrandt u. Alexander Szandar: „Ein Ende mit Schrecken?“ – DER SPIEGEL Nr. 12/2003, S. 50; „Bundeswehr-Hubschrauber nicht einsatzfähig“ – SZ Nr. 88 vom 15.04.2003, S. 6; Nico Fried: „In der rot-grünen Koalition – Dauerkonflikt über die Wehrpflicht verschärft sich – Grüne warnen vor Festschreibung in den neuen verteidigungspolitischen Richtlinien für die Bundeswehr“ – SZ Nr. 96 vom 26./27.04.2003, S. 5; Nico Fried: „Mehr Fragen als Antworten – Die Rolle der Bundeswehr im Inland und die Zukunft der Wehrpflicht sind nach wie vor ungeklärt“ sowie Stefan Kornelius: „Neue Aufgaben in einer neuen Zeit – Die Bundesregierung räumt mit Ladenhütern der Sicherheitspolitik auf, drückt sich aber um akute Probleme“ – SZ Nr. 117 vom 22.05.2003, S. 2; „Armee schrumpft weiter“ – DER SPIEGEL Nr. 38/2003, S. 19; „Bundeswehr soll weiter schrumpfen – Generalinspekteur Schneiderhan muss im Auftrag Strucks neues Konzept erarbeiten und die Zahl der Soldaten prüfen“ – SZ Nr. 219 vom 23.09.2003, S. 5; „Rückzug aus der Fläche“ – DER SPIEGEL Nr. 40/2003, S. 19; zu einem dreistufigen Modell von „Einsatz-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräften“ siehe auch „Schneiderhan plant neue Bundeswehr“ – SZ Nr. 266 vom 19.11.2003, S. 6 778 Kritisch dazu Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 326 ff.

779 Peter Blechschmidt: „Ein Vier-Sterne-General im Unruhestand – Die weltweiten Friedensmissionen sind für Klaus Reinhardt Alibiveranstaltungen der Politik“ – SZ Nr. 246 vom 25.10.2005, S. 9; „Arbeitsgruppe beendet Beratungen – Warten auf ein neues Konzept – Vorerst keine stärkere Rolle für die Bundeswehr im Inland“ – SZ Nr. 247 vom 26.10.2005, S. 6; Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 202 780 „Reform der Bundeswehr – Nur noch sechs Monate Wehrdienst – Geringfügige Verkleinerung der Streitkräfte denkbar“ – SZ Nr. 83 vom 09.04.2003, S. 1; Nils Kreimeier: „Zahl der Wehrpflichtigen sinkt – Die Truppe speckt weiter ab“ – SZ Nr. 88 vom 15.04.2003, S. 6; Nico Fried: „Minister legt neue Richtlinien der Verteidigungspolitik vor – Struck macht sich für die Wehrpflicht stark“ – SZ Nr. 117 vom 22.05.2003, S. 1; „Wehrpflicht: Neun oder gar nichts“ – DER SPIEGEL Nr. 22/2003, S. 19; Christoph Schwennicke: „Grüne drängen Struck zur Reform“ – SZ Nr. 213 vom 16.09.2003, S. 2; Susanne Höll: „Bundeswehr wird verkleinert – Streit über die Wehrpflicht – Grüne fordern Abschaffung, Minister Struck lehnt ab“, „Drückeberger Struck“ und „Etwa 100 Standortschließungen – Bundeswehr wird kleiner – 30000 Soldaten und 45000 Zivilisten weniger bis 2010“ – SZ Nr. 228 vom 04./05.10.2003, S. 1, 4 und 8; Reymer Klüver: „Struck kehrt marsch – Verteidigungsminister bereitet Rückzug von der Wehrpflicht vor“ − SZ Nr. 276 vom 01.12.2003, S. 1; „Zwist um Wehrpflicht“ – SZ Nr. 136 vom 16.06.2005, S. 8; zweifelnd zur Wehrpflicht angesichts veränderten Verteidigungsauftrags auch Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 203 und Interview: „‘Nicht alle Probleme gehen uns etwas an‘ – Altbundeskanzler Helmut Schmidt über das gebrochene Verhältnis der Deutschen zu ihrer Sicherheit“ – SZ Nr. 65 vom 19.03.2010, S. 6; Joachim Käppner: „Die Wehrpflicht hat ausgedient – Ein verkürzter Dienst produziert nicht mehr die Profis, die eine Armee heute braucht“ – SZ Nr. 130 vom 10.06.2010, S. 4; Joachim Käppner: „Guttenberg legt sich mit Ministerpräsidenten an – Verteidigungsminister weist Kritik aus seiner Partei an Wehrreform zurück/ ‘Bundeswehr hat veraltete Strukturen'‘, Joachim Käppner: „Die Armee der Bürger“ und „‘Die Bundeswehr ist veraltet‘ – Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg über Nachteile der Wehrpflicht, Relikte des kalten Krieges und die Zukunft Afghanistans“ -– SZ Nr. 169 vom 26.07.2010, S. 1, 4 und 5

204

nisierten Einheiten mit mehr Mobilität und Flexibilität. Dazu kommt, daß die Bundeswehr selbst ihren aktuellen Aufgaben kaum mehr gewachsen ist. Der vormalige Wehrbeauftragte Reinhold Robbe hatte im März 2010 ein erschrekkendes Fazit insbesondere über den Ausbildungs- und Ausrüstungsstand gezogen verbunden mit dem Vorwurf eines „klaren Versagens“ insbesondere des Sanitätswesens.781 Es schien dem neuen Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg, persönlich unabhängig und offenbar nur der Sache verpflichtet, vorbehalten zu bleiben, endlich eine wirkliche Reform ins Auge zu fassen. Er begann mit dem Thema „Wehrpflicht“, denn auch die Praxis der Einziehung immer weniger zum Wehrdienst lief Gefahr, verfassungswidrig zu sein.782 Er tat das zunächst gegen den erbitterten verbalen Widerstand der Christdemokraten und Christsozialen. Deshalb sollte erneut eine Reform-Kommission tätig werden, aber – ebenfalls erneut – auch nicht zu viel reformieren.783 Was diese Reformkommission dann zutage brachte – von der Neustrukturierung bis hin zu einem massiven Personalabbau und der Konzentration der Führung in Berlin statt in Bonn, hat viele dann doch sehr verblüfft: „Schwere Mängel im Verteidigungsministerium“!784 So blieb zu Guttenberg schließlich mit einer Verkleinerung von 250000 auf bis zu 185000 Soldaten zunächst erfolgreich mit einem „Aussetzen“ der Wehrpflicht ab 1. Juli 2011 für die absehbar kommenden Jahre.785 Was dann jedoch sein Nachfolger Thomas de Maizière auf Grund eigener Analyse aufdeckte, entsprach wirklich einem Offenbarungseid: Die Bundeswehr war noch immer unterfinanziert und mit dem Personal, dem zu großen Ministerum, der zahllosen Stäbe und der obwaltenden Bürokratie nicht in er Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen. Normale Beschaffungsprojekte dauern bis zu 15 Jahren, große gar 30 bis 40 Jahre. Die wirkliche Zahl der Soldaten sei um 30 000 geringer als in den 781

Peter Blechschmidt: „‘Klares Versagen‘ – Wehrbeauftragter Robbe attackiert den Inspekteur des Sanitätswesens und prangert zahlreiche Mängel bei der Bundeswehr an“ – SZ Nr. 63 vom 17.03.2010, S. 5 782 Joachim Käppner: „Ja zur Berufsarmee“ – SZ Nr. 195 vom 25.08.2010, S. 4 783 Kurt Kister: „Ein Riss geht durch die Bundeswehr – Der Verteidigungsminister setzt eine ReformKommission ein, die aber nicht zu sehr reformieren soll“ und Stefan Braun: „Bundeswehr soll effizienter werden – Verteidigungsminister Guttenberg setzt Reformkommission ein/FDP kritisiert die hohen Pensionslasten“ – SZ Nr. 84 vom 13.04.2010, S. 4 und 6 784 Peter Blechschmidt: „‘Schwere Mängel im Verteidigungsministerium‘ – Reformkommission prangert verkrustete Strukturen an und wirft der früheren Ressortspitze Untätigkeit vor“ – SZ Nr. 249 vom 27.10.2010, S. 6 785 Joachim Käppner: „Guttenberg legt sich mit Ministerpräsidenten an – Verteidigungsminister weist Kritik aus seiner Partei an Wehrreform zurück/‘Bundeswehr hat veraltete Strukturen'‘ Joachim Käppner: „Die Armee der Bürger“ und „‘Die Bundeswehr ist veraltet‘ – Verteidigungsminister KarlTheodor zu Guttenberg über Nachteile der Wehrpflicht, Relikte des kalten Krieges und die Zukunft Afghanistans“ -– SZ Nr. 169 vom 26.07.2010, S. 1, 4 und 5; Peter Blechschmidt, Stefan Braun und Claus Hulverscheidt: „Koalition lässt Kosten der Bundeswehrreform offen – Spitzen von Union und FDP halten aber am Sparziel von 8,4 Milliarden Euro fest/Westerwellte und Schäuble uneins über Dramatik der Euro-Krise“ – SZ Nr. 287 vom 11./12.12.2010, S. 6

205

offiziellen Zahlen und von 40 000 Soldaten könne man nicht sagen, wofür sie eigentlich eingeplant seien.786 Die großen Verteidigungsarmeen haben – zumindest in Europa – weitgehend ihren ursprünglichen Sinn verloren, auch wenn eine weitere nukleare Aufrüstung in vielen Staaten dieser Erde noch keineswegs beendet zu sein scheint und niemand weiß, was noch auf uns zukommt.787 Auch äußere Sicherheit wird weltweit immer polizeiähnlicher, territorial und personell punktuell gegenüber einzelnen Menschen oder Gruppierungen, nicht gegenüber ganzen Staaten, auch wenn sie noch durch militärische, jetzt aber integrierte Einsätze hergestellt werden muß.

Man denke nur an die Bekämpfung der Seeüberfälle im Gebiet vor Somalia.

Von einer wirklichen Bundeswehr-Reform konnte bis dahin dennoch keine Rede sein. Zu viele Aspekte waren noch nicht durchdacht worden und kollidierten mit den politischen Zielen, welche die Bundesregierung damit auch verfolgte.

Vor allem namhafte Einsparungen konnten wohl von Anfang an mit einer Reduzierung allein durch Wehrpflichtige solange nicht verbunden sein, wie statt dessen Freiwillige rekrutiert werdfen müssen, die allein schon deshalb teurer sind, weil der Staat hier auf einem knapper werdenden Arbeitsmarkt deutlich mit der Wirtschaft konkurriert.788 Der neue Verteidigungsminister de Maizière wird nicht umhinkönnen, auch die wählerempfindliche Schließung von Standorten sorgfältig zu überlegen und hierzu noch überzeugende Vorschläge zu erarbeiten.

Angesichts der inzwischen völlig veränderten Sicherheitslage auf der ganzen Welt genügt nicht nur eine strukturelle Weiterentwicklung weg von den flächendeckenden traditionellen Landheeren hin zu hochtechnisierten schnellen, mobilen und flexiblen Einheiten, sondern längst das grundsätzliche Überdenken der traditionellen Trennung von innerer und äußerer Sicherheit, wie es die große Koalition „bei einem besonders schweren Unglücksfall“ zunächst nur vorsichtig und „begrenzt“ einmal plante, bei dem sich einige Parteien jedoch noch immer schwer taten.789 Ob es nun der Einsatz von Bundeswehrflugzeugen bei terroristi786

Stefan Braun: „‘Die Bundeswehr ist gegenwärtig nicht zu führen‘ – Verteidigungsminister Thomas de Maizière kritisiert die Zustände bei der Truppe und seiner Behörde“ – SZ Nr. 112 vom 16.05.2011, S. 5 787 So auch Helmit Schmidt in dem Interview: „‘Nicht alle Probleme gehen uns etwas an‘ – Altbundeskanzler Helmut Schmidt über das gebrochene Verhältnis der Deutschen zu ihrer Sicherheit“ – SZ Nr. 65 vom 19.03.2010, S. 6 788 Nico Fried: „Wollknäuel voller Knoten – Die Reform derBundeswehr hat viele Fehler – doch die Union fürchtet die notwendige Debatter“ – SZ Nr. 54 vom 07.03.2011, S. 4; Peter Blechschmidt: „Geld und Ideale – Die Bundeswehr will Freiwillige mit Zuschlägen und Appellen ans Pflichtgefühl locken“ – Sz Nr. 114 vom 18.05.2011, S. 5; „Befehl von oben – Thomas de Maizière will mehr als eine Organisationsreform, der Dienst soll künftig als Auszeichnung empfunden werden“ und „Die Hürden beim Abstieg – Weniger soldaten, weniger Zivilisten, ein kleineres Ministerium – bei der Bundeswehr wird sich der Stellenabbau in allen Bereichen bemerkbar machen“ – SZ Nr. 115 vom 19.05.2011, S. 2 789 Dirk Graalmann u. Susanne Höll: „Bundeswehreinsatz im Inneren fraglich – In SPD und FDP wächst der Widerstand gegen die Änderung des Grundgesetzes“ – SZ Nr. 236 vom 10.10.2008, S. 5;

206

schen Flugangriffen im Inland ist – für den Einsatz der Bundeswehr auch für die Sicherheit im Landesinneren hat sich in einer Befragung bereits eine knappe Mehrheit der Menschen ausgesprochen790 und auch das Bundesverfassungsgericht hat im August 2012 eine solche „Öffnung“ unter bestimmten Bedingungen für rechtens ankerkannt791 – oder die Übernahme quasi polizeilicher Aufgaben des Militärs zur Sicherung von Handelswegen zu Meere gegen Seeräuberei (Südchines. Meer, Somalia) – überall zwingt die veränderte Lage zu grundsätzlich neuen Lösungen ganz überwiegend im Sinne einer „Weltpolizei“. Für viele noch gar nicht recht begreifbar ist das Wettrüsten und der Krieg „im virtuellen Raum“, die „Cyber-Kriminalität“, bei denen die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit, zwischen Politik und Wirtschaft und nicht zuletzt zwischen Staaten und Regionen immer mehr verschwimmen. Dieses wurde immerhin auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2011 diskutiert. Großbritannien plant darüber eine spezielle Konferenz für die Mitte 2011, um einen internationalen Diskussionsprozess in Gang zu setzen.792 Das immer wieder vorgebrachte Argument, die Bundeswehr sei zu polizeiähnlichen Einsätzen im Inland weder ausgebildet noch befähigt, ist kein unveränderliches Hindernis. Die Erweiterung ihres Aufgabenspektrums ist eine notwendige Folge, wenn man zu grundsätzlich neuen Lösungswegen kommen muß, um den Ersatz äußerer Kriege durch punktuellen Terrorismus ebenfalls zu beherrschen. Auch Politiker unterliegen immer wieder dem Fehler, aus einem änderungsbedürftigen „Ist“ richtige Schlüsse für eine insgesamt neue Soll-Lage zu ziehen.

Eine spezielle Rolle kommt dem gesellschaftlichen Opferschutz als Folge zunehmender Gewalt und Kriminalität zu. Alle die „ungehörten Kämpfe des Opfers gegen das erbarmungslose Recht“, nicht erst um Anerkennung seiner Wunden, sondern zu ihrer Vermeidung, werden von vornherein „auf juristische und kriminalpolitisch korrekte Kategorien“ zugerecht gestutzt.793 Das Recht und Peter Blechschmidt: „Pläne der Union ohne Chance – SPD und Opposition gegen Verfassungsänderung – Keine Polizeiaufgaben für Soldaten“ – SZ Nr. 110 vom 14.05.2009, S. 5; gegen Verfasssungsänderungen auch Helmut Schmidt – Interview: „‘Nicht alle Probleme gehen uns etwas an‘ – Altbundeskanzler Helmut Schmidt über das gebrochene Verhältnis der Deutschen zu ihrer Sicherheit“ – SZ Nr. 65 vom 19.03.2010, S. 6 – auch wenn er einräumt, daß die Terrorismusbekämpfung in der aktuellen Ernscheinungsform mit dem Text des Grundgesetzes nicht wirklich zusammenpaßt.

790 Zu einer Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Beamtenbundes siehe Varinia Bernau: „Deutsche fühlen sich nicht sicher – Angst vor Kriminalität größer als vor Terror/Weniger Datenschutz gilt als zumutbar“ – SZ Nr. 209 vom 11.09.2009, S. 6 791 Kritisch dazu vor allem im Hinblick auf die bisher formal geregelte Abgrenzung Heribert Prantl: „Ein Katastrophen-Beschluss“ – SZ Nr. 190 vom 18./19.08.2012, S. 4 792 Paul-Anton Krüger: „Wettrüsten im virtuellen Raum – Staaten hoffen auf gemeinsame Strategien im Kampf gegen Cyber-Kriminalität“ – SZ Nr. 30 vom 07.02.2011, S. 8; Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“. S. 98 ff.

793 Cornelia Vismann: „Das Recht und der Stärkere – Wer schützt die Opfer eines Verbrechens?“ – Besprechung des Buches von Winfried Hassemer u. Jan Philipp Reemtsma: „Verbrechensopfer.

Gesetz und Gerechtigkeit“ – C.H. Beck Verlag München 2002 – SZ Nr. 77 vom 02.04.2003, S. 16

207

die darauf basierenden Aktivitäten des Staates befassen daher im Ergebnis vor allem auch mit der Tat und dem Täter, weniger mit dem Opfer. Und sie greifen damit in aller Regel auch erst dann ein bzw. entfalten ihre Wirkungen, wenn die Tat bereits passiert ist und Opfer entstanden bzw. zu beklagen sind. Der einzelne Betroffene ist und bleibt das Opfer auch dann, wenn der Täter bestraft wird, was dem Opfer nicht mehr hilft, oder auch – wie es erst vor wenigen Jahren eingeführt worden ist – ein Täter-Opfer-Ausgleich derart stattfindet, daß das Opfer in welcher Weise auch immer entschädigt wird oder eine Wiedergutmachung erfährt.794 Das Recht fordert damit grundsätzlich von jedem Schutzbedürftigen die latente Bereitschaft, zunächst erst einmal ein Opfer zu werden, bevor irgend etwas zu welchen Heil- oder Linderungszwecken auch immer als Rechtsfolge der Tat geschieht. In diesem Risiko liegt – wenn nicht auch ein erstes Opfer – zumindest eine Zumutung in einem Staat, der sich das Gewaltmonopol vorbehält, wenn man von der Konstruktion der Notwehr und Nothilfe in der heute bestehenden Form einmal absieht.

Nur den einzelnen, den die Gewalt nach wie vor gleichwohl trifft, beruhigt das alles nicht. Er möchte primär keine nachträgliche Reparatur des Schadens, Trost oder die zweifelhafteGenugtuung, daß der Täter irgendwann nach der Tat gefaßt und bestraft wurde. Der einzelne Staatsbürger wünscht sich primär vor allen anderen Gesichtspunkten und Überlegungen vor allem, daß seine Hauswand gar nicht erst mit Graffitti beschmiert wird, daß er abends nach dem Theater sicher in der U- oder S-Bahn nach Hause fahren kann und auch seine Kinder in der Schule unbehelligt bleiben, von Wohnungseinbrüchen sogar am hellichten Tage und bei Anwesenheit der Bewohner ganz abgesehen. Er möchte nicht als Opfer das zumindest faktische Beweisrisiko dafür tragen müssen, ob seine Notwehrhandlung bei sorgfältiger nachträglicher Überprüfung durch die Gerichte rechtmäßig gewesen ist, sondern dem tatsächlichen oder potentiellen Täter hier von Anfang an etwas mehr Risiko zugemutet wissen. Eine individualpräventive Abschreckung, die vom Vorhandensein des Notwehrrechts ausgeht, ist mindestens sehr unterschiedlich, und in vielen Fällen offensichtlicher Unterlegenheit des Opfers als geradezu unbeachtlich einzuschätzen. Der individuelle Ausgleich der Unterlegenheit durch Bewaffnung – die in weiten Bereichen der USA traditionelle Cowboy-Mentalität – und damit das Wissen des Täters, daß er mit gleichwertiger Gegenwehr zu rechnen hat, ist bei uns politisch nicht gewollt,795 widerspricht dem Gewaltmonopol des Staates und hat sich wohl auch nach allen bisherigen Erfahrungen auch als nicht überlegen herausgestellt.

794 § 155 a 1 StPO: „Der Staatsanwalt und das Gericht sollen in jederm Stadium des Verfahrens die Möglichkeiten prüfen, einen Ausgleich zwischen Beschuldigtem und Verletztem zu erreichen“; siehe auch „Kommission schlägt Entschädigung für Opfer von Straftaten in der EU vor“ – NJW 45/2002, S. X 795 Zur gerade erfolgten Neuordnung des Waffenrechts vgl. ...

208

Das zunehmende und vorrangige Verständnis für den Täter verunsichert ihn dabei jedenfalls mehr als es ihn beruhigt.796 Denn es geht erneut zu seinen Lasten, zunächst im Hinblick auf die teils unvertretbare Ausweitung der ihm zugemuteten Toleranz, dann sogar auch auf seine Kosten. Jedes Mehr für den einen schränkt die Freiheit und damit die Bereitschaft zum Mittun aller anderen ein, mag dabei noch so sehr der wiederum das einzelne Opfer nicht berührende Gedanke der Resozialisierung des Täters im allgemeinen, aber eben doch abstrakten Interesse verfolgt werden. Die Boulevard-Presse ist voll mit Beispielen einer solchen Linie vor allem in der Justiz, und sie drückt demgegenüber regelmäßig Unverständnis aus.797 Hier schlägt nicht zuletzt noch die „Befreiung“ der 68-iger Generation und ihrer Erziehungsideale bumerangartig auf die gesamte Gesellschaft zurück.

Der Staat beansprucht in unserer Gesellschaft ein Gewaltmonopol. Das bedeutet, daß gerade auf diesem Sektor nicht jeder einzelne nach Gutdünken und Fähigkeit die Verantwortung zu übernehmen hat, sondern doch der Staat die Dinge insoweit richten soll. Auch wenn die wissenschaftliche Forschung nach wie vor skeptisch ist, sowohl was die Methoden der Ursachenforschung als auch ihre Ergebnisse hierzu anbetrifft – noch immer können viele Handlungen der Gewaltkriminalität nicht erklärt bzw. richtig verstanden werden – lassen sich auch allein durch die Kenntnis der Ursachen und ihr Verständnis die Folgen noch nicht beseitigen.798 Selbst der Bundeskanzler Schröder hat vor einigen Jahren eingeräumt, daß sich seine Partei in der Vergangenheit zu sehr mit den Ursachen von Kriminalität befaßt habe als mit Methoden ihrer Bekämpfung, die zu wenig Beachtung gefunden hätten.799 Nun gibt es zwar in der Kriminologie den Forschungsansatz der Opferlehre, die sich mit der Frage befaßt, warum manche Menschen im Gegensatz zu anderen die Kriminalität geradezu magisch auf sich lenken und anziehen. Auch diese selektiert jedoch unter den Opfern allenfalls nach Erklärungsmustern, die freilich schon Anhaltspunkte für ein entsprechend verbessertes und sichereres Verhalten geben können. Nur genügt das? Inzwischen befassen sich die politischen Parteien unter dem Eindruck der allgemeiner Unzufriedenheit nun endlich doch wieder mit dem Opfer. Was ihnen dabei einfällt, bewegt sich jedoch überwiegend auf den hergebrachten Bahnen entweder neuer rechtlicher Regelungen oder be796

So beispielsweise Friedrich-Adolf Jahn, Präsident des Zentralverbandes der Deutschen Haus- , Wohnungs- und Grundeigentümer in Düsseldorf: Eigentum wird nicht mehr geschützt – DIE WELT vom 15.08.1997, S. 4 (Die andere Meinung); ders.: „Die Polizei muß konsequenter sein“ – FOCUS 35/1997, S. 14 797 Vgl. z.B. BILD am Sonntag vom 10.08.1997, S. 14 u. 15: Zu früh freigelassen!

798 Vgl. dazu etwa Günter Albrecht, Otto Backes und Wolfgang Kühnel: Gewaltkriminalität zwischen Mythos und Realität – edition Suhrkamp 2222 – Suhrkamp Verlag Frankfurt 2001 sowie die Besprechung von Marcus Kreutz in ZRP 6/2002, S. 274 ff.

799 Vgl.: Einigkeit im Kampf gegen die Kriminalität – SZ Nr. 205 vom 06./07.09.1997,S. 6

209

schränkt sich wiederum nur auf die Funktion eines nachträglichen Opferschutzes oder einer Opferhilfe, im Schwerpunkt also den Ausgleich für erlittene Schmach und Schmerzen.800 Die Forderungen nach einem besseren Opferschutz reißen nicht ab. Jetzt will auch die designierte neue Justizministerin von Brandenburg Barbara Richstein hierbei neue Akzente setzen.801 So lobenswert solche Hilfen auch sind, wie sie etwa auch die Münchener Polizei mit der Einrichtung einer Opferschutz-Abteilung nach der Methode „Hinhören, hinsehen, handeln“ oder auch die private Opferschutzorganisation Weißer Ring802 bieten, so bleiben doch die eigentlichen Präventionswirkungen weitgehend aus. Zumindest kommt in ihnen eine neue Denkhaltung zu dem gesamten Problem zum Ausdruck, das die Opfer in ihrem Anspruch auf Beachtung und Hilfe eindeutig vor die Täter stellt.803 Andererseits liegen viele Ursachen für Gewalt keineswegs nur beim Staat.

Warum hat er gehandelt und wie kann ein entsprechendes Handeln künftig vermieden werden? Zum ersten Punkt scheint klar zu sein, daß Gewaltkriminalität nicht nur mit rechtlichen Mitteln, sondern bereits mit der beginnenden Erziehung zu anerkannten Werten gelöst werden muß. Darauf hat lange vor den Ereignissen an der Erfurter Schule im Jahre 2002 bereits 1997 der damalige Innenminister Kanther hingewiesen und die Bekämpfung der wachsenden Kriminalität über ein „entschlossenes Engagement aller gesellschaftlichen Kräfte“ angemahnt.804 Verantwortungsgefühl, Solidarität und die soziale und stabilisierende Rolle von äußerer Ordnung sind hier von wesentlicher Bedeutung.805 Der Staat übernimmt – sieht man von der Bildungspolitik ganz speziell einmal noch ab, die jedoch inzwischen durchaus auch thematisiert wird – jedenfalls nur einen Teil der gesamten Problemlösung, soweit er sich mit den Folgen befaßt und dabei auch den Einsatz von Gegengewalt erfordert. Gesteuert wird alles mit Hilfe des Rechts.

800

Das galt auch für die Initiative des Hamburger Senats im Bundesrat: Runder Tisch der Kriminalitäts-Opfer – „Täter bisher zu sehr im Blickpunkt“ oder für die Einführung von „Schnellstgerichten“: Justizsenator führt Schnellstgerichte ein – DIE WELT vom 13. 08.1997, S. H1 801 Vgl. Dorit Kowitz: „Barbara Richstein will Opferschutz verbessern“ – SZ Nr. 170 vom 25.07.2002, S. 6; Brandenburgs Justizministerin fordert wirksameren Opferschutz bei rechtsextremistischen Straftaten – NJW 11/2003, S. XII 802 Vgl. Weisser Ring e.V., Gemeinnütziger Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten, Bundesgeschäftsstelle, Weberstr. 16, 55130 Mainz; www.weisserring.de; e-mail: info@weisser-ring.de 803 Vgl. den Bericht von Hans-Jürgen Kuntze: Für diese Kommissare sind die Täter zweitrangig – DIE WELT vom 25. 10.1997, S. 12 804 Vgl. zu dem von Kanther vorgelegten „Zehn-Schritte-Konzept“ unter dem Titel „Deutschland kann sicherer werden“: Kanther fordert Engagement beim Kampf gegen die Kriminalität – HB Nr. 157 vom 20.08.1997 805 Volker Zastrow: Recht und Ordnung – Was subjektives Sicherheitsempfinden und objektive Kriminalität miteinenader zu tun haben – FAZ Nr. 204 vom 03.09.1997, S. 16

210

Wenn der Staat trotz seines Monopolanspruchs dieses alles nicht zu gewährleisten versteht, müßte es dem Bürger mehr als bisher erlaubt sein, sich auch in anderer Weise vorbeugend wirksam selbst zu helfen. Naheliegend wäre es, einen privaten Sicherungstrupp oder Begleitschutz, eine ständige Bewachung oder andere Form der Tatvermeidung anzuheuern oder zu installieren und die Rechnung dafür dem Staat zu senden. Da er das aber auch nicht darf, bilden sich schon einmal private Bürgerwehren am Rande des Gesetzes, um auch auf diese Weise Selbsthilfe zu organisieren.

Die sich immer wieder aufdrängende Schlüsselfrage ist: Müssen Opfer überhaupt hingenommen werden, sind sie in einem gewissen Umfang für eine rechtsstaatlich verfaßte Gemeinschaft unvermeidlich, und ist dieses dann auch die offizielle Leitlinie, auf der sich die gesamte Prävention richtigerweise bewegen darf?806 Die verfassungsmäßig garantierte „Unantastbarkeit“ der Würde des Menschen, die auch seine körperliche Unversehrtheit einschließt, ist mit der gleichen Gewichtung auch der Schutzfunktion des Staats überantwortet, wenn sie durch andere bedroht wird (Art. 1I 2 GG). Die seelische und körperliche Unversehrtheit des einzelnen Menschen – und zwar uneingeschränkt jedes einzelnen Menschen – muß allein am Anfang und am Ende der Denk- und Handlungskette stehen. Aus seiner Sicht, seinem Fühlen und seiner Erwartung heraus nur können der Maßstab und eine Besserung gefunden werden, die dem berechtigten Sicherheitsbedürfnis nicht nur objektiv, sondern vor allem auch subjektiv entspricht, d.h. Akzeptanz erfährt. Das Opfer aber ist – so scheint es jedenfalls – als Ansatzpunkt der Prävention, aber auch des Verhaltens und des Verständnisses viel zu wenig Gegenstand der offiziellen Betrachtungen.807 Damit entsteht auch in der Allgemeinheit der Eindruck, daß es wohl weniger wichtig sei, die „Achtung“ der Menschenwürde der einzelnen Staatsbürger insoweit ausbleibt, obwohl es doch gerade umgekehrt sein müßte. Die entscheidende, auch politische und kriminalpsychologische Zielfrage bleibt daher, wie die Opferstellung überhaupt wirksam verhindert werden kann, und ob man dabei immer nur bei der Tat und dem Täter, oder nicht auch unmittelbar beim Opfer ansetzen kann und muß.

Wir leben in einer Welt, die infolge ihrer schnellen und weltweit diversifizierten Entwicklung mitunter aus den Fugen zu geraten scheint, weil viele Menschen einfach nicht mehr mitkommen. Bei gleichzeitig zunehmendem Individualismus und der damit aber auch verbundenen Unfähigkeit, sich allein durch die Wirren des Lebens zu schlagen, greifen immer mehr Menschen aus den verschiedensten Gründen zur Selbsthilfe. „Sei du selbst!“ oder „Es kommt auf dich an!“ sind 806 Eike v. Hippel: „Zur Notwendigkeit einer ‚Präventiven Jurisprudenz‘: Vorbeugen ist besser als Heilen“ – ZRP 4/2001, S. 145 ff.

807 Ebenso schon die Initiative des Hamburger Senats im Bundesrat unter ihrem vormaligen Justizsenator und jetzigen Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem: Runder Tisch der Kriminalitäts-Opfer – „Täter bisher zu sehr im Blickpunkt“ – DIE WELT vom 13. 08.1997, S. H1

211

Parolen, die den Zeitgeist bestimmen und ihn absetzen sollen von den überholten, aber noch fortwirkenden ständigen Erwartungen, andere werden es schon richten, sei es der Staat, der Arbeitgeber oder wer auch sonst. Nur wie weit darf und kann die Selbsthilfe gehen? Findet hierzu jeder das richtige Maß? Was ist von der offiziellen Gesellschaftsordnung akzeptiert, was nicht? Ist das überhaupt transparent und wirklich allgemein anerkannt?

Vielleicht gibt es also etwas dazwischen, die Tat erst einmal geschehen lassen zu müssen und ihr rechtzeitig zu begegnen, ohne damit schon einem sicher unsinnigen bloßen Gesinnungsstrafrecht das Wort zu reden. Der Beginn einer Tat, deren eigentliches Ziel noch unklar ist und deren Abwehr vielleicht für sich genommen nicht verhältnismäßig sein kann, sollte vom Recht bereits vorbeugend absolute Anerkennung genießen. Das bedeutet nicht unbedingt eine Verschärfung des Strafrechts in den angedrohten Folgen, sondern eine klarere, in das Vorfeld der Kettentat gelegte Notwehrmöglichkeit ohne Begrenzung auf das aus der Situation jeweils Erforderliche: Wer in ein Haus einbricht mit welcher Absicht auch immer, sollte abgewehrt werden dürfen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, auch dem der übermäßigen Verteidigung „auf Verdacht“ dessen, was er weiter vorhat (Körperverletzung? Vergewaltigung? Raub oder Geiselnahme? Totschlag oder Mord?), und nicht nur als „Notwehr“ bezogen darauf, was der Täter bereits Strafbares (Hausfriedensbruch? Einbruch?) getan hat. Viele Menschen sind zu einer verhältnismäßig dosierten und abgestuften Verteidigung – wie sie das heutige Notwehrrecht fordert – aus vielerlei Gründen (Panik, Ungeschick, Alter und Gebrechlichkeit, Überraschung) gar nicht in der Lage. Auch birgt sie ein erhebliches Risiko, nämlich die absolute Beherrschung der Situation.

Gerade älteren oder schwächeren Zeitgenossen ist das nicht zuzumuten. Wer also in ein Haus einbricht und nicht ordentlich an der Tür klingelt, muß vorsoglich im Interesse des Opferschutzes damait rechnen, niedergeschossen zu werden, was auch immer er sonst vorhatte. Es muß dann nicht mehr abgewartet werden, ob er auch noch handgreiflich wird und eventuell Leib und Leben der Bewohner gefährdet. Hier geht es um eine vorbeugende Abwägung zwischen Rechtgütern und deren beginnender Verletzung, wobei dem Opferschutz der absolute Vorrang eingeräumt werden muß vor dem Täterschutz und zwar „ohne wenn und aber“.

Die öffentliche Sicherheit ist – abgesehen von zahllosen ideologischen und irrationalen Bewegungen sowie hoch emotionalen Verhaltensweisen einzelner Staaten oder Gruppierungen – besonders dann gefährdet, wenn man den Völkern und Menschen ihre berechtigten Lebensbedingungen einschränkt oder sie nicht oder nur diskreditierend am allgemeinen Wettbewerb teilnehmen läßt. Soziale Not, Mißwirtschaft und korrupte Regentschaften sind hierbei oft weitaus häufigere Ursachen für instabile Verhältnisse als äußerer Krieg. Daher ist umgekehrt der Einsatz von Militär oder Polizei nicht das erste und wichtigste Erfordernis, um die erwartete äußere Sicherheit zu gewährleisten. Eine nachhaltige und über-

212

zeugende Sicherheitspolitik beginnt vielmehr im Bereich demokratisch und rechtsstaatlich legitimierter ehrlicher Strukturen und Verhaltensweisen der jeweils herrschenden Personen und somit auch der gelebten Werte auch anderen gegenüber, des notwendigen Respekts und einer Toleranz, die jeder auch für sich gewahrt wissen will. Die richtigen und überzeugenden Vorbilder in Staat und Wirtschaft, eine gelebte „Kultur des Anstandes“ besonders auch derer, die prominent sind und Geld und Einfluß haben, Bildungsförderung, wirtschaftliche und soziale Hilfen zur Selbsthilfe sind dabei die wesentlichen Stichpunkte, die verhindern, daß Menschen zu den Waffen greifen. Absolut verderblich ist es hingegen, wenn in jeder Beziehung die Sitten verlottern, weil die pure Gier herrscht und Bürger schmutzige Geschäfte (Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung, betrügerische Praktiken im Handel) machen, Kriminelle daran verdienen und der Staat (zweifelhafte Beispiele und Verhaltensweisen vieler Politiker, mangelnde Aufsicht gegenüber Banken, Aufweichung des Schutzes der Bürgerrechte und Privatsphäre) sogar noch mitmacht.808 Nicht zuletzt hat somit als ein Element der Sicherheit auch eine respektvolle und wirksamere Entwicklungspolitik gegenüber den Ländern zu gelten, die es bislang angesichts ihrer regional bedingten Schwierigkeiten oder auch ihrer korrupten politischen Führung nicht geschafft haben, sich selbst zu helfen und damit den Druck zu nehmen, der aus existentieller Not resultiert. Die Vereinten Nationedn, dann aber auch die sogenannte westliche Welt müssen sich diesen Problemen mehr denn je stellen und Beiträge leisten, die nicht nur den vordergründig eigenen Interessen und dem eigenen Wohl dienen, sondern eine wirkliche Verbesserung für die Adressatstaaten beinhaltet, die in Wahrheit auch im eigentlich wohlverstandenen Interesse der Geberländer ist.

Nicht zu unterschätzen ist schließlich eine menschlich akzeptable, ausgewogene und zugleich wirksame Integrationspolitik in allen Ländern, die von Einwanderern gesucht werden und die sich damit der Eingliederung von auslandsstämmigen Minderheiten zu stellen haben. Der gerade auch von der deutschen Politik seit vielen Jahren zu vertretene Mangel einer überzeugenden Lösung schafft Unsicherheit, Ängste auf beiden Seiten, wirtschaftliche Not mit entsprechenden Spannungen und kriminellen Folgen und vieles andere mehr.

Ausfall sonstiger gesellschaftlicher Großorganisationen Als Folge zunehmender Individualisierung und Fragmentierung der Gesellschaft leiden auch andere traditionelle gesellschaftliche Einrichtungen und Großorgani808

Marc Beise: „Ein Land verlottert“ – SZ Nr. 31 vom 08.02.2010, S. 4

213

sationen außerhalb der politischern Parteien an ihren Bemühungen, Gemeinsamkeiten bewußt zu machen und die Menschen darunter zu vereinen. Denn solche Gemeinsamkeiten sind immer weniger feststellbar. Der Mensch von heute sucht sich aus allem jeweils das aus, womit er übereinstimmt, ohne damit schon eine organisatorische Abhängigkeit auch mit allem anderen einzugehen, was dort jeweils – und eben auch nur durch wenige – vertreten wird. Damit zusammenhängt der Trend, sich nicht für Sachthemen einbinden zu lassen, die dann doch nicht kommen, sondern auf Personen zu setzen, denen man aufgrund ihres Charakters und vor allem ihrer Glaubwürdigkeit zutraut, im richtigen Augenblick und im Kontakt mit den Menschen schon das Richtige auch zu versuchen bzw. durchzusetzen.

Kirchen Ein politischer Einflußfaktor und Wertevermittler mit langer und intensiver Orientierung aus den Wurzeln der Antike und besonders der christlichen Lehre waren unangefochten die Kirchen trotz ihrer inhaltlichen und strukurellen Differenzierungen. Die Menschen erlebten Zusammengehörigkeit und Solidarität (Augsburger Religionsfriede) und verspürten über viele Jahrhunderte eine unzweifelhafte Bindung an und über sie. Die Kirche stand in sicherer Tradition für Werte und Moral, als „Wächterin der Menschlichkeit in der Welt“.809 Die Seelsorge begriff sich als wirksamer Gestalter und Hüter der Moral und Tröster in allen Lebenslagen. Sie stifteten so eine spezielle Verbindungsbasis für die moderne Zusammenarbeit der europäischen Staaten.

Aber ein wirklich politischer Faktor ist die Kirche in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr.810 Vieles, was die Menschen heute von den offiziellen Kirchen erleben und – immer weniger – wahrnehmen, läßt sie an dem Sinn ihrer Zugehörigkeit zweifeln. So macht die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) alle zehn Jahre eine Befragung ihrer Mitglieder,811 und immer wieder bestätigt sich dabei fast das gleiche: Mehr als sechzig Prozent der Protestanten fühlen sich jedenfalls derzeit ihrer Kirche nur noch mehr oder weniger lose verbunden, nur eine Minderheit ist bereit, sich in der Kirche zu engagieren, auch wenn sie deshalb nicht gleich alle, aber jedes Jahr immer mehr,812 an einen Austritt denken.

809

Matthias Drobinski: „Die katholische Krise“ – SZ Nr. 39 vom 17.02.2009, S. 4 Kurt Kister: „Im Kampf um die Zukunft“ – SZ Nr. 40 vom 16./17.02.2013, S. 4 811 Siehe neuestens Matthias Drobinski: „EKD befragt Protestanten und Konfessionslose – Kirche soll betreuen und verkünden – Politisches weniger erwünscht/Kock fordert ‚verbesserte Mitgliederorientierung‘“ – SZ Nr. 237 vom 15.10.2003, S. 6 812 Speziell in Bayern sind sie massiv gestiegen – vgl. Michael Oswald: „Größere Treue zur Kirche – Zahl der Austritte gegenüber Vorjahr geringer“ – Ebersberger SZ Nr. 291 vom 17.12.2009, S. R4 810

214

Nach einer repräsentativen Internetumfrage von ZDF, „Stern“, T-Online und McKinsey bezeichneten sich zwar noch 39 Prozent als religiös, aber nur ganze 14 Prozent vertrauen noch den Kirchen.813 Eine Studie des Allensbacher Instituts und des Sinus-Instituts im Auftrag der Bischöfe – Milieu-Studie zur Befindlichkeit der Kirche – hat sie selbst bei den treuesten Katholiken an Vertrauen und Glaubwürdigkeit massiv eingebüßt, d.h. es offenbart, daß das katholische Kirchenvolk bereits vor dem Mißbrauchsskandal ein „dramatisch geringes Vertrauen“ in ihre Kirche hatte. Nur noch 17 Prozent sehen sich ihrer Kirche eng verbunden, 37 Prozent sind ihr nahe, auch wenn sie einiges zu kritisieren haben.

Damit leben 46 Prozent der Kirchenmitglieder „in Distanz zu der Institution“, der sie formal angehören.814 Papst Benedikt XVI selbst meinte einmal einsichtsvoll – wenn auch weit entfernt von dem einen Aufbruch verheißenden zweiten Vatikanischen Konzil des Papstes Johannes XXIII815 – , daß die Identifikation von Volk und Kirche dahinschmilzt.816 Der Katholik und ehemalige McKinseyBerater Thomas von Mitschke-Collande hat sich in seinem Buch: „Schafft sich die katholische Kirche ab?“ darüber beklagt, daß der heutige Mensch nicht angenommen werde in seinen Fragen und Bedürfnissen. Er sieht darin den Rückzug der Kirche aus der Gesellschaft.817 Nach Ansicht vieler hat das Christentum teilweise geradezu schon „abgedankt“, hat „keine verpflichtende Sittenlehre und Dogmen mehr“, es ist heute „bedeutungslos“ geworden.818 Die Kirchen helfen nicht mehr wirklich, die individuellen Probleme der Menschen zu lösen,819 sondern sind immer mehr ein zusätzlicher gesellschaftlicher Teil des Problems selbst, indem sie selbst nicht glaubwürdig vorleben, was sie anderen predigen. Was ist eigentlich los mit der Kirche in unserer Gesellschaft 813 Zitiert bei Peter Hahne: „Schluss mit lustig..“, S. 95 und ff.; zu den entsprechenden Umfragen des Bertelsmann-Religionsmonitors vgl. auch Matthias Drobinski: „Kirchen wollen Ungetaufte missionieren – Katholiken und Protestanten verlieren Hunderttausende Mitglieder, von denen viele Steuern sparen möchten“ – SZ Nr. 296 vom 23.12.2009, S. 1; Matthias Dobrinski: „Bangen um die Anhänger – Nach dem Missbrauchsskandal rücken auch die treusten Katholiken von ihrer Kirche ab, wie eine Studie zeigt“ – SZ Nr. 21 vom 25.01.2013, S. 5 814 Matthias Dobrinski: „Wenig Vertrauen in die Kirche – Studie: Gläubige zweifeln an der offiziellen Lehre“ und „Kirche der Minderheit“ – SZ Nr. 138 vom 19./20.06.2010, S. 8 und 45; Andreas Ross: „Die Angst der Bischöfe“ – SZ Nr. 31 vom 06.02.2013, S. R 15.

815 Matthias Drobinski: „Die mutlose Kirche“ – SZ Nr. 237 vom 13./14.10.2012, S. 4 816 Zitiert nach Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“. S. 11 ff.

817 Michael Haas: „Kritische Botschaft eines Gläubigen – Thomas von Mitschke-Collandeliest der Kirche die Leviten“ – SZ Nr. 20 vom 24.01.2013, S. R 13; „Wege aus der Kirchenkrise – Ein Unternehmensberater sucht nach Gründen und Lösungen“ – SZ Nr. 24 vom 29.01.2013, S. R 8 818 Peter Hahne: „Schluss mit lustig ...“, S. 65 unter Hinweis auch auf Peter Scholl-Latour und Sebastian Haffner; Johann Hinrich Claussen: „Ritus und Infrastruktur – Die Lage der Kirchen in Deutschland ist stabil labil. Aber wie lange noch?“ – SZ Nr. 110 vom 12./134.05.2012, S. 17 spricht auch von dem „Bedeutungsverlust“.

819 Peter Hahne: „Schluss mit lustig..“, S. 96 ff.; Michael Haas: „Kritische Botschaft eines Gläubigen – Thomas von Mitschke-Collandeliest der Kirche die Leviten“ – SZ Nr. 20 vom 24.01.2013, S. R 13

215

als maßgebliche Instanz für entscheidende Lebensfragen? Ist das alles lediglich eine Folge zunehmender Säkularisierung, Aufklärung und Individualisierung oder zugleich auch ein aktuell begründeter Protest gegen die „selbstherrliche, ignorante und weit von der Lebenswirklichkeit entfernte“820 Institution Kirche?

In der Neuzeit wirkt sich aus, daß wegen der immer weniger konfessionell geprägten Familien viele Kinder nicht mehr von Beginn an ganz natürlich und automatisch in eine Kirche hineingeboren werden oder auch durch späteres Engagement in kirchlichen Zusammenhängen sich plötzlich inmitten der Kirche befinden, ohne es recht gemerkt zu haben (sogen. „katholische Lösung“821). Es sind nicht nur die Kosten der Kirchensteuer, die einzusparen für manche ein vordergründiger Anlaß ihrer formellen Abkehr sein mag. Die Kirche hat vielmehr eine Reihe von ungelösten Problemen, die teilweise in den vermittelten Inhalten liegen. Zu einem weiteren Teil aber hat sie auch organisatorische und vor allem kommunikative Probleme im Umgang mit den Menschen. Ihre äußere Erscheinungsform, ihre Struktur und Arbeitsweise und die daraus resultierenden Probleme tragen alle Merkmale einer höchst irdisch-fehlhaften und unbewältigten Führung und Organisation. Ihre Repräsentanten geben ein meistens wenig überzeugendes Abbild und Beispiel von dem selbst erhobenen Anspruch, der sich angeblich aus der christlichen Lehre unmittelbar ableitet und als Lebensmaxime „den anderen“ nahe gebracht werden soll.

Der vom Papst mit dem Entzug der Lehrerlaubnis bedachte, jetzt emeritierte kritische Theologe Hans Küng822 nennt als wesentliche Gründe für den wachsenden Vertrauensverlust und den Zusammenbruch seelsorgerischer Strukturen speziell gegenüber dem neuen Papst Benedikt XVI. die bedrückende Stimmung, den fortwährenden Reformstau auch hier und nicht zuletzt Widersprüche zwischen seinen Äußerungen und seinem Handeln, was die Frage des Verhältnisses zu anderen Relgionen – aktuell aus Anlaß der Rücknahme der Exkommunikation eines Bischofs betrifft, der nach wie vor den Holocaust leugnet.

Werfen wir zunächst einen kurzen Blicka auf die inhaltliche Seite, also das, was das Evangelium wirklich ausmacht und als zeitlos „gute Botschaft“ zu verkünden ist. Denn nicht alles, was dogmatisch vertreten wird, gehört zum überkommenen und allein durch die Bibel sicher belegbaren Kern des Evangeliums hinzu. Die Bibel ist eine Mischung aus wissenschaftlich belegbarer Historie und sich darum rankender Mythen. Von da her ist sie durchaus interpretierbar, wie es die Kirchen ja auch von Anbeginn ihrer Existenz selbstverständlich für sich in 820

Andreas Ross: „Die Angst der Biswchöfe“ – SZ Nr. 31 vom 06.02.2013, S. R 15 „Warum die Welt ‚katholischer‘ geworden ist – ‚Auf der ästhetischen Schiene‘ – Der Soziologe Armin Nassehi über die Kraft der religiösen Rede, die anziehungskraft der Bilder und die Erotik der Erfahrung“ – SZ Nr. 300 vom 30.12.2009, S. 42 822 Hans Küng: „Wenn der Papst ein Obama wäre – Aber leider ist er ein Bush: Dem Pontifex bedeutet ‚Versöhnung‘ mit einigen Erzreaktionüren mehr als das Vertrauen von Millionen“ – SZ Nr. 25 vom 31.01./01.01.2009, S. 2 821

216

Anspruch nehmen. Daraus entstanden im Laufe der Jahrhunderte Regeln (Rolle des Priesters im Verhältnis zu Gott, Zölibat in der katholischen Kirche etc.), die allein der Existenzsicherung der Institution Kirche dienen sollen, und nicht – as vertrat schon Martin Luther – wirklich als Teil des Evangeliums anzusehen sind.

Im Vordergrund stehen theoretische Auseinandersetzungen weit weg von den aktuellen Lebensfragen der heute lebenden Menschen, interne Strukturfragen auch zwischen den verschiedenen protestantischen Teilkirchen, denen natürlich auch dogmatische Bekenntnisse zugrundeliegen.823 Vieles davon sind rein kirchenorganisatorische Fragen, die mit der Heilslehre selbst so gut wie nichts zu tun haben. So findet beispielsweise der Erzbischof von Köln kaum Verständnis für seine Kritik an der von dem CDU-Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber aufgestellten ledigen, aber erneut von ihrem Lebensgefährten schwangeren Katharina Reiche als Teammitglied seiner Mannschaft für Familienfragen. Es hat die Menschen nicht überzeugt, daß von der Kirche eine im Ergebnis lebensrettende Schwangerschaftsberatung verweigert wurde, so daß diese sich jetzt unabhängig von der Kirche zur Fortsetzung eines als sinnvoll, weil nachweislich lebensrettenden Einsatzes in der Organisation „Donum Vitae“ betätigen. Noch immer weigert der Papst sich, die „Ökumene“ wenigstens zwischen Christen insoweit zu verwirklichen, als auch die uneingeschränkte Teilnahme an den jeweiligen Sakramenten der anderen (Abendmahl) selbstverständlich wird.

Dazu kommen zunehmend innerorganisatorische Schwierigkeiten, die die Kirchen oft mehr zu beschäftigen scheinen als ihre seelsorgerische Funktion gegenüber den Gläubigen, die aber eine verheerende Außenwirkung mit sich bringen. Kirchenvertreter wie in München versagen schon bei der Verwaltung der Kirchensteuer, während gleichzeitig diejenigen beschimpft werden, die gerade aus Gründen der von ihnen als nutzlos empfunden Kirche aus ihr austreten.824 Die daraus folgende, veringerte Zahl der Kirchenmitgliedern, geringere Steuereinnahmen und der zunehmende Priestermangel haben sich als weiteres Organisationsproblem erheblich ausgewirkt und etwa die Zusammenlegung von Pfarreien notwendig gemacht, obwohl die Kirchen über Milliardenvermögen verfü-

823

Matthias Drobinski: „Revolution auf evangelisch – Die deutschen Protestanten und die Qual der ‚Vielfalt‘“ – SZ Nr. 159 vom 12. 07.2002, S. 11 824 Neuerdings z. B : „120 000 Austritte – Katholiken verlassen in der Finanzkrise die Kirche“ und Monika Maier-Albang: „Kirchenaustritte: München-Freising liegt bundesweit an der Spitze – Exodus Erzbistum – Immer mehr Katholiken wenden sich ab – McKinsey: ‚Bayern wird einfach ein Stück normaler‘“ – SZ Nr. 219 vom 23.09.2009, S. 7 und 39; „Evangelische Kirche auf Zukunftssuche“ – SZ Nr. 220 vom 24.09.2009, S. 6

217 gen und eigentlich sehr wohlhabend sind.825 Viele Kirchenhäuser stehen leer und anderweitiger Nutzung zur Verfügung.826 Dazu kommt eine beachtliche Belastung der im Dienst der Kirchen stehenden Menschen, die zu einem immer größer werdenden Anteil diese Aufgaben ehrenamtlich wahrnehmen, so daß schon ein Vergleich mit regelrechter Ausbeutung gezogen worden ist. Auch hier erfüllen die Kirchen selbst nicht die Regeln christlicher Sozialethik, die sie anderen gern mit erhobenem Zeigefinger ins Stammbuch schreiben.827 Diese Probleme markieren nur die in wenigen Wochen erlebbare Spitze eines nicht bewältigten Eisbergs, der identisch ist mit einer grundlegenden, bereits lange anhaltenden und sich immer schlechter entwickelnden, zugleich existentiellen Krise der Kirchen auch in unserem Land. Er strahlt nach außen negativ aus und sendet nicht gerade Impulse für das solidarische Zusammenwachsen der Gesellschaft. Die Kirchen mischen sich einerseits sozialkritisch ein in die Politik, verbitten sich aber andererseits jede Kritik an einer immer unglaubwürdiger werdenden kirchlichen Unfehlbarkeit. Viele äußern sich entrüstet, wie sehr dabei Ignoranz und Arroganz immer wieder sichtbar werden.

Ob es um die Ökumene geht oder die Rolle der Frau in der Kirche, Strategien zur Bekämpfung von Aids in Afrika oder den Umgang mit den eigenen Mitarbeitern, die ehrliche und glaubhafte Aufarbeitung von Mißbrauchsfällen oder die Abweisung vergewaltigter Frauen in katholischen Krankenhäusern – alles dieses, was den Menschen wirklich auf den Nägeln brennt, bleibt ungelöst. Zuvor schon hatte der Papst den evangelischen Kirchen ihre Eigenschaft als „Kirche“ abgesprochen. Auch verstehen die Menschen unserer Zeit nicht mehr, warum die katholische Kirche am Zölibat festhält und an der Nichtordination von Frauen als Priester. Gleichzeitig hat sich sexueller Mißbrauch der ihnen anvertrauten Kinder zum weltweiten Problemfeld ausgeweitet, ohne daß eine ehrliche, unmißverständliche und klare, aber auch schnelle und selbstverständliche Reaktion darauf erfolgt, die auch Wirkungen zeitigt.828 Im Gegenteil: Den Lippenbekenntnisssen einer gründlichen Aufarbeitung folgten erneut Behinderungen und narzisstische Vertuschungen bis hin zur Weigerung einer Zusammenarbeit mit dem Krimino-

825 „‘Da läßt sich keiner in die Karten schauen‘ – Protestanten und Katholiken verfügen über Milliardenvermögen. Warum sie darüber nicht sprechen, erklärt Carsten Frerk“ – SZ Nr. 278 vom 01./02.12.2012, S. 7 826 Wolfgang Pehnt: „Leere Gotteshäuser – Die Preisgabe von Kirchengebäuden eröffnet auch Chancen“ – SZ Nr. 50 vom 02.03.2009, S. 11 827 Sibylle Haas: „Scheinheilig – Die Kirchen erfüllen als Arbeitgeber ihren eigenen Anspruch oft nicht“ – SZ Nr. 109 vom 14.05.2010, S. 17 828 Vgl. für Deutschland nur beispielsweise: „Sexueller Missbrauch von Kindern – ‚Lehmann muss handeln‘ – Kirchenbewegung fordert Aufklärung/Neuer Verdachtsfall“ – SZ Nr. 170 vom 25.07.2002, S. 5; ; Matthias Dobrinski: „Bangen um die Anhänger – Nach dem Missbrauchsskandal rücken auch die treusten Katholiken von ihrer Kirche ab, wie eine Studie zeigt“ – SZ Nr. 21 vom 25.01.2013, S. 5

218 logischen Forschungsinstitut Niedersachsen (Prof. Christian Pfeiffer).829 Nicht zuletzt das selbstgefällige und arrogante Verhalten beispielsweise des Regensburger Bischofs Müller gegenüber engagierten Laien war für eine breite Öffentlichkeit unverständlich, abstoßend und für die Kirche nur rufschädigend. Selbst dort, wo das Evangelium in seiner zeitlosen Aussage und Bedeutung im Mittelpunkt steht und die Kirche sich grundsätzlich mit Recht wehrt, dabei Abstriche an den flüchtigen Zeitgeist zu machen – sie beschäftigt sich mit Ansprachen, Predigten und Sachfragen auch in einer Weise, die nicht verstanden wird.

Statt sich auf eine zeit- und problemgemäße Verkündigung der guten Botschaft zu konzentrieren, dominiert im übrigen viel zu oft ein breites soziales Engagement. Soziales Engagement ist notwendig, hilf- und segensreich, ergänzt das Predigen und Reden durch beispielhafters Handeln,830 ist aber dennoch nicht die Hauptaufgabe der Kirche. Das dieses teilweise sehr selbständig operiert und bereits alles andere überstrahlt, müssen sich Caritas und Diakonie fragen lassen, wie christlich sie eigentlich noch sind.831 Die meisten Probleme – und das gilt für die katholische Kirche ebenso wie für die evangelische – dürften aber doch in der mangelhaften Kommunikation liegen und damit letztlich ein Beziehungsproblem gegenüber den Angehörigen der eigenen Kirche ebenso wie gegenüber der übrigen Öffentlichkeit (auch Ökumene) darstellen. Entweder verstehen die Kirchen die Menschen und ihre konkrete Situation nicht, oder sie weigern sich, darauf in der Art ihrer Ansprache einzugehen, weil – so meinen sie – die Offenbarung und das Evangelium unverhandelbar und „zeitlos“ sind. Welch ein Mißverständnis! Welch ein Unverständnis der notwendigen Trennung der Inhalts- und der Beziehungsebene (Paul Watzlawick). Der im Februar 2013 erfolgte Rücktritt des Papstes Benedikt XVI. mag u. a. damit zu tun haben, daß gerade dieser Papst es nicht schaffte, sich aber auch nicht zutraute, Inhalte und Beziehung kontruktiv miteinander zu vereinbaren und Wege zu finden, die trotz aller weltweit stattfindenden Dynamik beides miteinander im Einklang beläßt.

Selbst dort, wo die Kirchen immer weniger darauf hoffen können, daß die Menschen von selbst kommen, und die rationale Ansprache wählen müssen

829 „Justizministerin ermahnt katholische Kirche – Leutheusser-Schnarrenberger fordert Bischöfe auf, Forscher bei Aufklärung der Missbrauchsfälle zu unterstützen“ u. Matthias Drobinski: „Der Blick von außen“ – SZ Nr. 8 vom 10.01.2013, S. 1 u. 4 830 Vgl. z. B. Matthias Drobinski: „‘Lebenswurst‘ für alle – Als Pfarrer Roland Breitenbach nach Schweinfurt kam, lernte er die Armut kennen. Seitdem arbeitet er daran, dass die Gemein de Sankt Michael weniger in neue Fenster investiert – und mehr in Alternativbetriebe“ – SZ Nr. 278 vom 01./02.12.2012, S. 6 831 Niona von Hardenberg: „Profis fürs Gute – Der Sozialdienst ist zu einem großen Geschäft geworden – deshalb müssen sich Caritas und Diakonie immer häufiger fragen lassen, wie christlich sie eigentlich noch sind“ – SZ Nr. 269 vom 21.11.2012, S. 2

219 („Protestantismus“832), gehen sie den falschen Weg. Kern der Krise ist die Tatsache, daß die Kirchen den Menschen unserer Zeit in ihrer Situation und in ihrer Sprache immer weniger überzeugend etwas zu sagen fähig sind, ohne sich das selbstkritisch einzugestehen. Wo später ein intensiver Kontakt der Kirchen mit den Gläubigen möglich ist und gepflegt wird, waren die Kirchenaustritte geringer.833 Kürzlich sagte jemand wie selbstverständlich: „Der Glaube hat ja mit der Kirche nichts zu tun!“834 Eine Beerdigung findet zunehmend ohne den Pfarrer statt, aber das „Vater unser“ wird gebetet. Um zu glauben, bedarf es der Zugehörigkeit zu den öffentlich-rechtlichen Körperschaften Kirche nicht. Früher schon hatte einmal jemand diese Trennung sarkastisch so gerechtfertigt: „Was kann unser Herrgott dafür, daß er so schlechtes Bodenpersonal hat.“ Wir brauchen auch in den Kirchen dringend Reformen. Das beginnt beim Überdenken des bisherigen Staatskirchenrechts, das abgelöst werden sollte durch ein neues Religionsverfassungsrecht.835 Und die Kirchen müssen sich für die Beweggründe bei ihren Anhängern interessieren, die sie halten oder auch zur Abkehr veranlassen. Die Kirchenbewegung „Wir sind Kirche“836 belegt das in unübersehbarer Weise. Oder was würde eine Firma tun, der die Kunden davonlaufen?837 Speziell in der protestantischen Kirche wünschte man sich erneut eine „Reformation“, in der katholischen Kirche u.a. eine formale Dezentralisierung, also Abkehr von der Dominanz der narzisstischen Eigenorganisation, eine Lösung „gegen die Grundmisere der Gottvergessenheit“838 und in beiden Kirchen die primäre Öffnung auf die Menschen unserer Zeit hin... Aber sie bleiben aus.839 832 „Warum die Welt ‚katholischer‘ geworden ist – ‚Auf der ästhetischen Schiene‘ – Der Soziologe Armin Nassehi über die Kraft der religiösen Rede, die anziehungskraft der Bilder und die Erotik der Erfahrung“ – SZ Nr. 300 vom 30.12.2009, S. 42 833 Michael Oswald: „Größere Treue zur Kirche – Zahl der Austritte gegenüber Vorjahr geringer“ – Ebersberger SZ Nr. 291 vom 17.12.2009, S. R4; Matthias Drobinski: „Kirchen wollen Ungetaufte missionieren – Katholiken und Protestanten verlieren Hunderttausende Mitglieder, von denen viele Steuern sparen möchten“ – SZ Nr. 296 vom 23.12.2009, S. 1 834 Ähnlich auch Johann Hinrich Claussen: „Ritus und Infrastruktur – Die Lage der Kirchen in Deutschland ist stabil labil. Aber wie lange noch?“ – SZ Nr. 110 vom 12./134.05.2012, S. 17 unter Bezugnahme auf Thomas Luckmann: „Unsichtbare Religion“ – 1991.

835 Heribert Prantl: „Die alten Kleider der Kirche – Deutschland braucht ein neues Religionsverfassungsrecht“ – SZ Nr. 278 vom 01./02.12.2012, S. 7; Kurt Kister: „Im Kampf um die Zukunft“ – SZ Nr. 40 vom 16./17.02.2013, S. 4 836 e-mail: zypresse@wir-sind-kirche.de 837 Thomas von Mitschke-Collande: „Jesus Christus GmbH und Co. KG – Was würde eine Firma tun, der die Kunden davonlaufen? Ideen für die katholische Kirche aus der Welt der Wirtschaft“ – SZ Nr. 218 vom 21.09.2010, S. 2 838 Kardinal Karl Lehmann – zitiert bei Peter Hahne: „Schluss mit lustig..“, S. 97 839 Hans Küng: „Wenn der Papst ein Obama wäre – Aber leider ist er ein Bush: Dem Pontifex bedeutet ‚Versöhnung‘ mit einigen Erzreaktionären mehr als das Vertrauen von Millionen“ – SZ Nr. 25 vom 31.01./01.02.2009, S. 2

220

Es scheint, daß erste Einsichten für eine zeitgemäße Missionierung oder neuen Evangelisierung, etwa bei dem Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz Erzbischof Robert Zollitsch und auch dem Münchener Erzbischof Reinhard Marx, angekommen sind.840 Auch die Evangelische Kirche befaßt sich offenbar mit einem „Missionsauftrag“.841 Aber wie schon so oft erfahren – vielleicht ist es wiederum nur ein bloßer Schein!

Gewerkschaften Die Gewerkschaften mußten ebenso wie die Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten eine rasante Abkehr der Menschen über sich ergehen lassen. Zahlreiche Austritte gingen einher mit dem Gefühl, nicht mehr richtig vertreten zu werden.

Wie soll das auch gehen in einer Gesellschaft, in der die klassischen und weitgehend einheitlichen Arbeitnehmerinteressen einer weichenden Industriegesellschaft mehr und mehr einem beruflichem ebenso wie privaten Individualismus und damit einer immer größeren Vielfalt von Interessen Platz gemacht haben.

Die aus der Industriegesellschaft stammende klassische Arbeiterschaft dient damit auch dem Bürger nicht mehr als gesellschaftliche Abgrenzung nach unten, ohne daß man andererseits – so zweifellos richtig der Historiker Hans-Ulrich Wehler – schon von einem Verlust der Bürgerlichkeit sprechen kann.842 Die neue Belegschaft ist ein Sammelsurium aus fest angestellten Mitarbeitern, Leiharbeitern, Teilzeitkräften, Gelegenheitsarbeitern, Handlangern, Boten bis hin zu Freiberuflern, Subunternehmern und zahllosen Zulieferern geworden (lt. McKinsey „Zwiebelprinzip“),843 die immer weniger gemeinsame Interessen miteinander verbinden.

„Soziale Gerechtigkeit“ – rhetorischer Wert ohne Inhalt?

840 Matthias Drobinski: „Kirchen wollen Ungetaufte missionieren – Katholiken und Protestanten verlieren Hunderttausende Mitglieder, von denen viele Steuern sparen möchten“ – SZ Nr. 296 vom 23.12.2009, S. 1; „Marx ruft zu neuer Evangelisierung auf“ – SZ Nr. 1 vom 02./03.01.2010, S. 47 841 Matthias Drobinsky: „Suche nach neuem Sinn – Evangelische Kirche berät über Missionsauftrag“ – SZ Nr. 257 vom 08.11.2011, S. 6 842 Hans-Ulrich Wehler – Votrag über „Deutsches Bürgertum nach 1945“ im Rahmen einer Veranstaltung der Städtischen Bühnen in Münster – gesendet in NDR-Kultur am 24.08.2008 843 Vgl. Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“.

S. 74 ff.

221

Ein Schlüsselwort unserer Gesellschaft ebernso wie der Staaten der Europäischen Union, ja geradezu wesensbestimmend für die angestrebte moderne Gesellschaft, ist die „soziale Gerechtigkeit“. Überall dort, wo Menschen nebeneinander leben, kümmern sie sich als „Zoon politikon“ (Aristoteles), d. h. als soziales, auf Gemeinschaft angelegtes Lebewesen mehr oder weniger umeinander.

Auch die katholische Soziallehre und die evangelische Sozialethik kündedn davon. Solidarität ist daher für den Wirtschaftsethiker Karl Homann nichts anderes als die moderne Übersetzung für das christliche Gebot der Nächstenliebe.844 Wir bekennen uns heute als Folge unserer bisherigen geschichtlichen und moralischen Entwicklung in unserem Grundgesetz zuim Sozialstaat und zur Sozialverpflichtung des Eigentums (Art. 14 II 2 GG). Die Bismarck’sche Sozialversicherung gilt als wesentliches Vorläufer unseres Sozialstaates.845 Es erscheint wenig überraschend, daß es zu diesem als soziale Gerechtigkeit formulierten Staatsziel kaum mehr Meinungsdifferenzen gibt. Aber was ist soziale Gerechtigkeit genau? Der Münchner Philosoph Henning Ottmann spricht nicht weniger allgemein von den „Grundlagen der Selbstachtung“.846 Die hohe Abstraktion dieser Begriffe läßt Raum für vielerlei Vorstellungen, was darunter im konkreten Anwendungfall zu verstehen ist. Vieles ist unklar, so wie die zahlreichen Meinungen und Folgerungen, die sich tatsächlich an diesen Begriff heften. Viele reden in selektivem Denken, mit viel Halbwissen und Ausklammern von Fakten und Konsequenzen ständig aneinander vorbei. Zu den schwächsten Formen, sich beispielsweise gegen starke wirtschaftliche Interessen auf freien Märkten zu stellen, zählen die zahlreichen Forderungen und Appelle, die auf die gefährlichen Folgen manchen Tuns hinweisen und schlicht nur an die Moral oder Vernunft appellieren. Ihr Moralisieren wird dabei zunehmend zu einem Ersatz für die Beschäftigung mit der Wirklichkeit.847 Auch wenn solche Postulate unterstützt werden durch organisierte Interessenvertretungen (Gewerkschaften, Attac), zahlreiche gut begründete wissenschaftliche Veröffentlichungen oder ethisch-philosophierende Warnungen anerkannter Personen, so verpufft doch viel nutzlos in der ohnehin belasteten Luft. Manche sprechen von einer nie zu erreichenden Illusion oder Utopie, verkennen aber nicht, daß sie wie ein richtungsweisender Leitstern des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu ständigem Nachfolgen aufrufen. Es scheint, als handle es sich bei der „sozialen Gerechtigkeit“ lediglich um ein formales Etikett, nicht aber um 844

„‘Wettbewerb ist solidarisch‘ – Der Wirtschaftsethiker Karl Homann über Globalisierung und Nokias Werkverlagerung“ – SZ Nr. 24 vom 29.01.2008, S. 21 Heidrun Graupner: „Sozialer als der Sozialismus – Der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm hält das Solidaritätsprinzip nach wie vor für das beste Rezept“ SZ Nr. 123 vom 30./31.05.2009, S. 6 846 „Bloß keine Experten – Im Alleingang hat Henning Ottmann das politische Denken aufgearbeitet.Das ganze. Jetzt zieht er Bilanz – und erklärt, warum die Demokratie heute an einer historischen Schwelle steht“ – SZ Nr. 299 vom 28.12.2012, S. 12 847 So leider richtig Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 89 ff (90) 845

222

Inhalte. Es fehlt für die meisten Anwendungsbereiche jegliche schlüssige, ausgewogene und daher ebenso allgemeion akzeptierte Konkretisierung.

Bedeutsamer erscheint daher die „gefühlte“ soziale Gerechtigkeit, die ohne Rücksicht auf Fakten weitgehend abhängig ist von der individuellen Lage und deren subjektive Bewertung. Interessant hierzu ist die „empirische Gerechtigkeitsforschung“.848 Im Jahre 1995 sagten noch 43 Prozent, daß sie die Verhältnisse in Deutschland und den Grad der sozialen Gerechtigkeit in der Realität als erfüllt ansehen, d. h. im wesentlichen als gerecht empfinden. Später betrachteten 68 Prozent die Verhältnisse als ungerecht und nur noch 16 Prozent sahen sie als halbwegs gerecht an.849 Zunehmend verbreitete sich das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, die sozial ungerecht ist. Natürlich betonen sie die gegenseitige Hilfe in der Nachbarschaft zur Förderung des Zusammenlebens in besonderen Bedarfssituationen und bejahen Spenden, wobei hier schon eine beachtliche Skepsis mitschwingt, ob diese denn immer auch wirklich dem gedachten Zweck zugute kommen. Genannt wird noch das ehrenamtliche Engagement für andere.850 Aber extreme Ansichten und purer „Sozialneid“ werden dominanter.851 Ist also soziale Gerechtigkeit immer nur eine höchst subjektive Angelegenheit aus der Sicht und Interessenlage derer, die sich – zu Recht oder auch zu Unrecht – einfach nur benachteiligt fühlen? Entscheidet allein die lautstarke Artikulation von Bedürfnissen? Wir haben die Fakten zur Armutsentwicklung vorliegen.

Nach einer OECD-Studie verdienen die oberen zehn Prozent in Deutschland achtmal soviel wie die unteren.852 Und Deutschlands Mittel bröckelt.853 Gerade dieses ist selbst unter einer rot-grünen Regierung zumindest im Trend schon kein Ausweis erfolgreicher sozialer Regierungspolitik gewesen. Auch unter der schwarz-gelben Koalition scheint sich daran aber weiterhin nichts zu ändern.

Oder geht es auch (Abwägung?) um die Leistungsfähigkeit und Bereitschaft 848 Hagen Lesch: „Für eine faire Umverteilung – Wer einen gesetzlichen Mindestlohn einführen will, darf das Gerechtigkeitsgefühl der Bezieher hoher Gehälter nicht verletzen“ – SZ Nr. 108 vom 12.05.2009, S. 18 849 Peter Felixberger: „Bildung ist das Einzige, was zählt“ – Buchbesprechung von Michael Hüther u.

Thomas Straubhaar: „Die gefühlte Ungerechtigkeit – Warum wir Ungleichheit aushalten müssen, wenn wir Freiheit wollen“– Econ-Verlag – SZ Nr. 112 vom 16./17.05.2009, S. 34 850 Umfrage: „Was bedeutet für Sie Solidarität?“ – Ebersberger SZ Nr. 94 vom 24.04.2009, S. R 2 851 Zu einer entsprechenden Studie der Zeppelin Universität Friedrichshafen im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen vgl. Elisabeth Dostert: „Stimmung mies, Wissen mangelhaft – Die Deutschen debattieren leidenschaftlich über die Wirtschaft – die meisten allerdings, ohne die Fakten zu kennen“ – SZ Nr. 172 vom 29.07.2009, S. 18 852 „Armutsrisiko konstant hoch“ – SZ Nr. 254 vom 04.11.2011, S. 6; Daniela Kuhr: „Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst schneller – OECD-Studie zeigt: In Deutschland verdienen die oberen zehn Prozent achtmal so viel wie die unteren. Das liegt auch an der Teilzeit“ – SZ Nr. 281 vom 06.12.2011, S. 20 853 Thomas Öchsner: „Deutschlands Mitte bröckelt – Vom wachsenden Wohlstand profitiert nur eine Elite. Forscher des Berliner DIW und der Universität Bremen widerlegen die These von der Stabilität der Mittelschicht“ – SZ Nr. 288 vom 13.12.2012, S. 19

223

derer, die zu einem Ausgleich beitragen sollen? Solidarität und „die Starken in die Pflicht zu nehmen“854 wird immer wieder aus neuem Anlaß gefordert, obwohl das längst und in einem hohen Maße geschieht. Gleichheit im Ergebnis – so lautete die unwidersprochene Zielsetzung im Sozialismus. Aber er ist nicht zuletzt an solchen utopischen Erwartungen gescheitert. Ist der Sozialstaat vielleicht doch noch etwas anderes, indem er für gleiche Startchancen sorgt, die Initiativen, Fleiß und Fähigkeiten weiterhin belohnt und nur dann angemessen ausgleicht, wenn unverschuldete Notlagen einzelner solches dringend erfordern?

Wer hat angesichts der Vielzahl von Leistungen und Vergabestellen bei unklaren Voraussetzungen über eine angemessene Bewertung und deren Auswirkungen bei den Betroffenen überhaupt noch eine hinreichend vollständige Übersicht? Wer übersieht, wer heute in unserer Gesellschaft und in ihren vielfältigen und unübersichtlichen Transfersystemen wo und wie überproportional Beiträge auch für andere leistet, und wer auf der anderen Seite davon in welchem Umfang und aus welchem Anlaß profitiert?855 Hohe Unsicherheit bei dem Ergebnis: „gefühlte Gerechtigkeit“? Und welche Bedeutung hat eine Entwicklung, bei der diejenigen, die Geld und Vermögen haben, überproportional dazu gewinnen, während die Habenichtse trotz aller Solidar- und Sozialmaßnehmen in gleichem Umfang immer mehr einer würdelosen Armut verfallen?856 Was ist angesichts all dessen weiterhin – und ggf. warum? – (mehr?) zu tun, um auch künftig von einem angemessenen solidarischem Ausgleich oder sogar von sozialer Gerechtigkeit sprechen zu können? Muß man zusätzlich immer auch andere Bereiche noch „sozial staffeln“ – den Brotpreis? Die Mieten? Den Beitrag für die gesetzliche Krankenversicherung („Bürgerversicherung“ oder „Gesundheitsprämie“)? Und

854

Manfred Kock in dem Interview: „‘Die Starken in die Pflicht nehmen‘ – Der scheidende EKDRatsvorsitzende Manfred Kock spricht vom Verlust an Solidarität in der Gesellschaft und von bürokratischen Strukturen in der Kirche“ – SZ Nr. 248 vom 28.10.2003, S. 10; Helmut Kerscher: „‘Gier nach immer höheren Kapitalrenditen‘ – Verfassungsrichterin Hohmann-Dennhardt sorgt sich um Zukunft des Sozialstaats“ – SZ Nr. 36 vom 14.02.2005, S. 5; Norbert Blüm: „Die CDU im neoliberalen Fieber – Kopfpauschale und Einheitssteuer stehen im Widerspruch zu allen Vorstellungen über Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 223 vom 27.09.2005, S. 2 855 Sehr richtig Ulrich Schäfer: „Weil wir sind, wie wir sind – Die Deutschen jammern sich in den sozialen Untergang. Wieso die Politik nun hart bleiben muss“ – SZ Nr. 193 vom 21./22.08.2004, S. 6; vgl. als Beispiel Prof. Dieter Birk auf dem 65. Deutschen Juristentag: „Harsche Kritik an RiesterRente – ‚Bürger abgeschreckt‘/Experte fordert einfacheres Fördersystem“ – SZ Nr. 221 vom 23.09.2004, S. 21 856 Thomas Öchsner: „Weniger Arbeitslose – und dennoch mehr Arme – Sozialverbände kritisieren deutliche Kürzungen bei Sozialleistungen und die ‚Amerikanisierung‘ des Beschäftigungsmarktes“ u. „Bremen ganz unten – Deutlich mehr Menschen als im vergangenen Jahr sind laut Paritätischem Wohlfahrtsverband von Armut bedroht. Besonders schlimm ist es auch im Ruhrgebiet, einige ostdeutsche Bundesländer holen immerhin auf“, ders.: „Nur Bildung hilft“ – SZ Nr. 295 vom 21.12.2012, S. 1 u. 6, 4

224 wenn ja – welche? Welche nicht?857 Und welche Folgen hat das – erwünschte, aber auch unerwünschte?

Dazu kommt der Druck derer, die als sogen. „Wirtschaftsflüchtlinge“ in die noch wohlhabenden Industriestaaten drängen, weil sie sich nur hier überhaupt noch ein Überleben versprechen, während sie in ihren korrupt geführten und notleidenden, auch von der Natur und der Klimakatastrophe besonders heimgesuchten Heimatländern keine Existenz mehr sehen. Gerade auf diesem Feld führt die Globalisierung zu einem ausgleichenden Austausch der Angebots- und Nachfragestrukturen im Sinne kommunizierender Röhren mit der Folge, daß die Zuwanderer größere Chancen für ihr berufliches Fortkommen zu erwarten haben, während die Deutschen verglichen mit ihrer traditionellen und regionalmonopolistischen Alleinstellung in früheren Jahren tendenziell nur verlieren können, wenn es nicht gelingt, auch diesen Herausforderungen bewußt und aktiv zu begegnen. Ich habe mich dazu schon an anderer Stelle geäußert: „Hier vermittelte sich uns ganz real eine Ahnung über die Folgen einer schnell wachsenden Weltbevölkerung, die – so sagen es Auguren wie Gunnar Heinsohn schon voraus – aus sozialer und wirtschaftlicher Not bereits in jungen Jahren immer zahlreicher in die noch wohlhabenden Industrieländer drängen werden, so daß der eigentliche „Kampf“ der Zukunft auf dieser Welt nicht einer der „Kulturen“ im Sinne Huntingtons, sondern vieler einzelner Menschen, der jeweils „Überzähligen“ aus den nahen und fernen Ländern um die besseren Plätze an den Tischen dieser Erde, mithin eine wirtschaftlich-demographisch veranlaßte permanente Migration sein wird. Globaler Wettbewerb, wie wir ihn derzeit noch als atemberaubend-neuen Einfluß auf unser Leben registrieren und uns teilweise mit ihren wenig ausbalancierten sozialen Folgen schwer tun, wird schneller als erwartet über den Handel mit Produkten hinaus in einen weltweiten, ganz persönlichen Überlebenskampf aller gegen alle übergehen.“858

Eine erste größere Welle dieser Bewegung konnte man sehen, nachdem die Diktatoren in den nordafrikanischen Ländern Tunesien, Agypten und Libyen gestürzt worden waren, gleichzeitig aber auch eine Wirtschaftswüste hinterlassen haben, die es den Menschen nicht mehr erlaubte, aus eigener Kraft für angemessene Überlebensverhältnisse zu sorgen. Die Suche nach Jobs und einem besseren Leben ließ die Zahl der Migranten – vorwiegend aus Südasien und Lateinamerika – nach einem UN-Bericht im Jahr 2013 weltweit auf 232 Millionen steigen, mehr als je zuvor.859 Nur schnell ändert sich die Volksmeinung. Nach einer repräsentativen Umfrage des Mannheimer ipos-Instituts 2009 im Auftrag des Bundesverbandes Deutscher Banken beklagten 56 Prozent der Deutschen, daß es in Deutschland nicht sozial gerecht zugehe. Ein Jahr zuvor hatte dieser Anteil noch bei 71 Prozent 857 Vgl. zur Idee einer „sozial gestaffelten Mehrwertsteuer“ der Grünen auch Nikolaus Piper: „Soziale Staffeln“ – SZ Nr. 147 vom 29.06.2005, S. 19; vgl. dort.

858 Rainer H. Thierfelder: „Zeit meines Lebens“, S, 353 859 Reymer Klüver: „Fern von daheim – Laut einem UN-Bericht gibt es 232 Millionen Migranten auf der Welt – mehr als je zuvor“ – SZ Nr. 212 vom 13.09.2013, S. 8

225 gelegent.860 Hatten sich die objektiven Verhältnisse und Lebensbedingungen so maßgeblich verschlechtert oder nur die Ansprüche und Maßstäbe aus Interessentensicht über das, was als sozial gerecht anzusehen sei? Mitunter wird die Auffassung vertreten, daß die soziale Gerechtigkeit in Deutschland weitgehend erreicht sei und sie deshalb in der Politik jetzt der Nachhaltigkeit bzw. der intergenerationellen Gerechtigkeit untergeordnet werden muß.861 Immerhin finden Politiker Beifall, welche die Gerechtigkeit nicht nur als ökonomisch zu beschreibende Balance („ausgleichende Gerechtigkeit“) ansehen, sondern wirklich als eine umfassend „soziale“ Zielgröße. Bundespräsident Johannes Rau mahnte wiederholt zur „Gerechtigkeit“ bei den anstehenden Reformen.862 Bundeskanzler Schröder wies wiederholt darauf hin, ein starker Staat müsse die Schwachen schützen.863 Und wer würde nicht uneingeschränkt dem Programmsatz des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt zustimmen: „Schwierige Zeiten verlangen mehr Solidarität der sozial Stärkeren mit den sozial Schwächeren“?864 Am Ende seines Lebens sah er nach seinen Lebenserfahrungen und speziell den Folgerungen aus der Geschichte des vorigen Jahrhunderts in der Mitmenschlichkeit die Antwort auf die Sinnfrage. Dabei betrachtet er die „soziale Gerechtigkeit“ ungeachtet des jeweiligen religiösen Bekenntnisses eine alle Politik bindende „Grundüberzeugung“.865 Peer Steinbrück (SPD) hat als Bundesfinanzminister einmal davon gesprochen, daß sein gesellschaftspolitisches Leitbild eine „solidarische Gesellschaft“ sei, wie es auch im Hamburger Programm der SPD von 2007 zum Ausdruck kommt. Die SPD will dafür eintreten, daß die Alten mit den Jungen, die Reichen mit den Armen, die heutige mit 860

Sibylle Haas u. Alexander Mühlbauer: „Deutsche vertrauen in der Krise auf den Staat – Nur 22 Prozent der Befragten wünschen sich mehr Markt. Die Klagen über soziale Ungerechtigkeit werden aber geringer“ – SZ Nr. 109 vom 13.05.2009, S. 17 861 Vittorio Hösle: „Zeiten des Übergangs – Die grüne Lehre: Die Politik muss soziale Gerechtigkeit der Nachhaltigkeit unterordnen“ – SZ Nr. 89 vom 16./17.04.2011, S. 13; Michael Diekmann: „Demografischer Stresstest – Schönreden, die Gegenwart genießen und die Zukunft einen guten Mann sein lassen – das funktioniert nicht mehr“ – SZ Nr. 299 vom 28.12.2011, S. 18 862 Heribert Prantl: „SZ-Interview mit dem Bundespräsidenten – Rau mahnt zu Gerechtigkeit bei den Reformen – Vor dem SPD-Parteitag fordert das Staatsoberhaupt die Parteien auf, ihre Politik den Bürgern besser zu erklären“ – SZ Nr. 263 vom 15./16.11.2003, S. 1 und Johannes Rau in dem Interview: „Der Sozialstaat muss menschlicher werden“ – SZ Nr. 264 vom 17.11.2003, S. 6 863 Nina Bovensiepen: „SPD legt Linie für den Wahlkampf fest – Kanzler: Ein starker Staat muss Schwache schützen – Schröder warnt vor Sozialabbau durch die Union/Reformpolitik der Agenda 2010 soll fortgesetzt werden“ u. Heribert Prantl: „Der Schröder im Schröder im Schröder – Die Wandlungen des Bundeskanzlers: An diesem Montag hat er das Soziale entdeckt“ – SZ Nr. 134 vom 14.06.2005, S. 1 u. 4 864 Helmut Schmidt, S. 26; siehe auch den Volkswirtschaftler an der TU Berlin, Gerd G. Wagner: „Zwischen Freiheit und Bevormundung – Der Staat als Nothelfer“ – SZ Nr. 182 vom 09./10.08.2003, S. 17 und Susanne Höll: „Mehr Gerechtigkeit gefordert – Arbeitnehmerflügel der CDU mit Parteilinie unzufrieden“ – SZ Nr. 228 vom 04./05.10.2003, S. 7 865 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 73 und S. 314

226 der zukünftigen Generation solidarisch sind.866 Alles schöne Worte! Nur was heißt das konkret?

Aber wer argumentiert noch seriös und abwägend vor dem Hintergrund der Zahlen und Fakten, die zu oft nicht transparent vorliegen und zum entscheidenden Gegenstand der Diskussion gemacht werden? Statt dessen machten sich Politiker ernsthaft Gedanken darüber, ob nicht der Begriff der sozialen Gerechtigkeit überholt sei und einfach ersetzt werden sollte durch „demokratischen Sozialismus“, wie das etwa der SPD-Fraktionschef Franz Müntefering und der Bundestagspräsident Thierse tun wollten,867 um die künftigen Erwartungen zu senken und von daher das Problem zu lösen. Selbst das Diskussionspapier „Die sozialdemokratische Idee der Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert“ des SPDGeneralsekretärs Olaf Scholz bewegte sich noch immer in hoher Abstraktheit und situationsferner Allgemeinheit, wenn es statt des auf Verwaltung und Zuteilung vorhandener materieller Bestände setzenden Gerechtigkeitsbegriffs nun noch umfassender „eine präventive Sozialpolitik“ postulierte, welche die Menschen besonders über Teilhabe an Bildung und Arbeit zu einem selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Leben befähige.868 Da ist es schon konkreter und ehrlicher, von den „öffentlichen Gütern“ zu sprechen, die es zu definieren gilt, um eine Grundsicherung für ein menschenwürdiges Leben, die notwendige Infrastruktur usw. zur Verfügung zu haben.869 So sagt jeder gerade in dieser Diskussion etwas richtiges, aber eben nicht die ganze Wahrheit!

Beim Staat ist das nicht anders, zumal er sich vom Nationalstaat immer weiter wegbewegt zu übernationalen Einflüssen und Auswirkungen. Und wenn auch aus solchen Gründen die Gesamtwirtschaft immer mehr Not leidet – wo bleibt dann letztlich der Charakter einer auch ehrlich und richtig verstandenen sozialen 866 Zitiert nach Uwe Jens, Prof. der Universität Bochum: „In der Krise nicht die Marktwirtschaft vergessen – Die SPD plädiert für eine solidarische Gesellschaft. Besser wäre das Leitbild einer privilegienfreien Aufstiegsgesellschaft, empfiehlt der frühere langjährige wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Uwe Jens, seiner Partei“ 867 „Müntefering rügt Debatte um Traditionsbegriffe“ – SZ Nr. 188 vom 18.08.2003, S. 5; „Thierse: ‚Demokratischer Sozialismus‘ beibehalten“ – SZ Nr. 189 vom 19.08.2003, S. 5; Wolfgang Thierse in dem Interview: „Das ist ein Abenteuer – Wolfgang Thierse, 59, Bundestagspräsident und Chef der SPD-Grundwertekommission, fordert ein Parteiprogramm mit Visionen und hält am Sozialismus fest“ – DER SPIEGEL Nr. 35/2003, S. 32 868 „SPD will Gerechtigkeit neu definieren“ – SZ Nr. 163 vom 18.07.2003, S. 6; Barbara Gillmann: „SPD definiert soziale Gerechtigkeit neu – Generalsekretär Olaf Scholz gegen alte ‚Besitzstände‘“ – HB Nr. 136 vom 18./19.07.2003, S. 3; Klaus Bölling: „Die SPD muss Gerechtigkeit neu definieren“ – SZ Nr. 264 vom 17.11.2003, S. 2; vgl. auch Jana Hensel, Horand Knaup, Dirk Kurbjuweit u.

Roland Nelles: „Vorwärts, aber wohin? – Die Stimmung an der Basis ist mies. Scharenweise verlassen Genossen die Partei oder flüchten in die Erinnerung. Derweil ist der Kampf um die Erinnerung der SPD in vollem Gange. Gesucht werden eine neue Leitidee und das Personal für die zeit nach Schröder“ – DER SPIEGEL Nr. 47/2003, S. 30 ff.

869 Michael Müller, Wolfgang Thierse und Hermann Schwengel: „Wege aus der sozialen Sackgasse“ – SZ Nr. 260 vom 12.11.2003, S. 2

227

Marktwirtschaft? Manchen sprechen im Hinblick auf die ebenso schnell bejahten zahlreichen „Ungerechtigkeiten in der Welt“ auch von der „Zukunftschance Ökosoziale Marktwirtschaft“, also der Notwendigkeit einer künftigen „Welt in Balance“ in mehrfacher Weise, was im Kern auch ein Ausgleich zwischen den Prinzipien Gleichheit und Freiheit darstellt.870 Alles dieses läßt jedoch nur mühsam verbergen, daß auch die Parteien – und ganz speziell die regierende SPD – in Schwierigkeiten geraten sind, hierzu neue Leitziele zu finden und diese auch mit motivierten und beseelt-engagierten Menschen überzeugend zu propagieren.871 Mit dem nebulös und ohne Zusammenhangschau gebrauchten Begriff der „Gerechtigkeit“ allein – man hat ihn schon zum Wort des Jahres vorgeschlagen – ist jedoch wenig Staat zu machen.872 Er bleibt in dieser Weise leider ein Schlagwort im Munde der Politiker und Interessenvertreter ohne Substanz und argumentativen Wert,873 emotionalisiert die Gemüter, aber löst keines der konkreten Probleme. Von der auch in einer globalen Welt nicht mehr vernachlässigbaren menschlichen Dimension der Industrieländer zu den Entwicklungsländern – die im übrigen von uns wenig erkannt durchaus von der globalen Marktwirtschaft sozial-wirtschaftlich, demokratischpolitisch und menschenrechtlich profitiert haben874 – ist leider fast überhaupt keine Rede, obwohl beispielsweise die Forderung nach „sozialen Mindeststandards“ bei uns gerade den sich entwickelnden Ländern den einzigen Wettbewerbsvorteil nimmt, den diese Länder haben.875 Wie sieht es andererseits mit der Sozialverpflichtung der verschiedensten Rollen in unserer Wirtschaft aus? Es kann überhaupt keinen Zweifel daran geben, daß das Ziel unseres Wirtschaftens ein menschenwürdiges Leben aller ist. Das gebietet der Respekt vor dem Leben ebenso wie die von Ethikern und Religionslehrern gleichermaßen betonte Wertegleichheit allen menschlichen Lebens.

870 Global Marshall Plan Initiative (Hrsg.): „Welt in Balance. Zukunftschance Ökosoziale Marktwirtschaft“ – Verlag Global Marshall Plan Initiative Hamburg 2005 und die Besprechung dazu von Indira Gurbaxani: „Was heißt schon ökosozial?“ – SZ Nr. 144 vom 25./26.06.2005, S. 28; Burkhard Müller: „Das Geld langt für alle – Aber die Arbeit nicht: Zum Sozialstaat gibt es keine Alternative“ – SZ Nr. 256 vom 06.11.2009, S. 11 871 Franz Walter, Universität Göttingen: „Geradezu neurotisch – Die SPD am Ziel und am Ende ihrer Träume“ – SZ Nr. 265 vom 18.11.2003, S. 13; Kurt Kistler: „Volkspartei am Ende“ – SZ Nr. 139 vom 19./20.06.2004, S. 4 872 Alexander Kissler: „Die Ahnungsvollen – Mit Gerechtigkeit ist kein Staat und keine Politik zu machen“ – SZ Nr. 197 vom 28.08.2003, S. 13; Kurt Kistler: „Volkspartei am Ende“ – SZ Nr. 139 vom 19./20.06.2004, S. 4 873 Das trifft insbesondere zu für den keinesfalls überzeugenden Albrecht Müller. „Lohnt es sich, die SPD zu ruinieren?“ – SZ Nr. 138 vom 18.06.2004, S. 2 874 Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 128 875 Uwe Jens: „In der Krise nicht die Marktwirtschaft vergessen – Die SPD plädiert für eine solidarische Gesellschaft. Besser wäre das Leitbild einer privilegienfreien Aufstiegsgesellschaft, empfiehlt der frühere langjährige wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Uwe Jens, seiner Partei“ – SZ Nr. 220 vom 20./21.09.2008, S. 24

228

Der Mensch arbeitet damit für soziale Ziele des Lebens und Überlebens, sowohl in materieller Hinsicht, aber auch in Bezug auf ein friedliches und menschenwürdiges Miteinander auf dieser Welt. Daher sind Politiker aller Richtungen mehr oder weniger der Ansicht, daß in wirtschaftlichen Prozessen der Mensch nicht nur Mittel und Instrument, sondern zugleich Ziel sein muß.

Das dürfte eine umso größere Bedeutung erlangen, als bereits feststeht, daß die demographischen Rahmenbedingungen der absehbaren Zukunft dazu führen, daß es immer mehr Bedürftige und Transferempfänger und immer weniger Leistungserbringer und Beitragszahler geben wird. Aber sind wir wirklich schon am Ziel? Bei einer Vielfalt von Anwendungsbereichen für die Bewertung und Gestaltung der sozialen Gerechtigkeit bedarf es immer wieder neu der jeweiligen situativen Konkretisierung. Diese Fragen stellen sich insbesondere auch gegenüber der kommenden Generation, die sich teilweise noch gar nicht dagegen wehren kann, daß sie bereits heute mit erheblichen Ansprüchen aus den geltenden Sozialsystemen belastet wird, die noch in keiner Haushaltsrechnung auftauchen.

Und was bedeutet das konkret für die weitere Entwicklung?876 Stets geht es dabei um einen Ausgleich zwischen Haben und Nichthaben zwischen unterschiedlichen Bedarfs- und Leistungsmöglichkeiten innerhalb eines immer komplexer werdenden Gemeinwesens.

Eine wichtige politische Aufgabe wäre es also, einmal Konsens darüber zu erreichen, welche konkreten politischen Handlungsziele aus dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit in diesem Sinne dann wirklich resultieren, aber auch wo die Grenzen liegen, d.h. in welchem Ausmaß und mit welcher Opferbereitschaft auch ein anderer bzw. der Allgemeinheit die mehr oder weniger „berechtigten“ Erwartungen ihnen – und welchen konkret? – zugemutet werden? Es hat keinen Sinn, je nach ideologischem Standort einmal die zur allein schon zur wirtschaftlichen Sanierung erforderlichen und lebensnotwendigen Maßnahmen877 als „ökonomistischen Zeitgeist“ oder gierigen sozialkalten „Neoliberalismus“878 zu 876 Vgl. Oswald Metzger: „Einspruch! ..“, S. 167 ff. („Die Verschuldung als Generationenproblem“) und S. 175 ff. („Von Primärsalden, strukturellen Defiziten und Generationenkonten“) und Heidrun Graupner: „Kampf der Generationen“ – SZ Nr. 182 vom 09./10.08.2003, S. 4; Michael Diekmann: „Demografischer Stresstest – Schönreden, die Gegenwart genießen und die Zukunft einen guten Mann sein lassen – das funktioniert nicht mehr“ – SZ Nr. 299 vom 28.12.2011, S. 18 877 Nikolaus Schneider, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland: „Deutschland leidet am Reformfieber“ – SZ Nr. 282 vom 04./05.12.2004, S. 12; siehe dazu weiterhin Hanno Beck: „Der Alltagsökonom. Warum Warteschlangen effizient sind ... und wie man das Beste aus seinem Leben macht“ – FAZ-Institut Frankfurt 2004 und die Besprechung dazu von Kassian Stroh: „Die Ökonomie der Warteschlange“ – SZ Nr. 282 vom 04./05.12.2004, S. 28 878 Uwe Jens, ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter – jetzt Ruhruniversität Bochum: „Forum: Die SPD und die Wirtschaft – Das Wichtigste ist die Freiheit – Der schwierige Lernprozess der Sozialdemokraten/Fachleute in der Minderheit“ – SZ Nr. 63 vom 16.03.2004, S. 22; Albrecht Müller: „Deutschland – Insel der Inkompetenz“ – SZ Nr. 20 vom 26.01.2005, S. 2; Horst Seehofer und Oskar Lafonaine – vgl. Matthias Geyer: „Tip und Tap“ – DER SPIEGEL Nr. 11/2005, S. 50; Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 17 spricht inzwischen zu Recht vom „verschlissenen Feindbild“ des Neoli-

229

verteufeln – wobei dieser Begriff von Alexander Rüstow aus dem Jahre 1938 schon ganz anders, nämlich jenseits des Laissez-faire des 19. Jahrhunderts und mit einem starken Staat oberhalb der Interessenten gemeint war879 – oder von vornherein den rechtlichen Ordnungsfaktor darüber zu stellen, wie er von der Verfassung und den Gesetzen ausgeht und naturgemäß vorwiegend von Juristen vertreten wird.880 Damit sollen unabhängig davon ethische und eben auch sachlich-ökonomisch nicht begründete persönliche Entgleisungen einzelner Manager oder Unternehmen nicht entschuldigt werden.

Aber programmatische Zielkonkretisierungen finden nicht oder viel zu wenig deutlich statt. Keine politisch maßgeblich verantwortliche Partei wagte sich über die letzten Jahre daran, das jetzt als Leitlinie zugrundegelegte und als „Maxime“ des eigenen politischen Handelns zugrundegelegte Prinzip sozialer Gerechtigkeit schon einmal allgemein und programmatisch zu definieren, geschweige denn im Hinblick auf situationsbezogenes politisches Handeln zu konkretisieren oder gar zu beziffern, denn sie würde sofort den Widerspruch und eine unendliche Neiddiskussion anderer hervorrufen, die meinen, dabei zu schlecht wegzukommen.881 Besonders gilt das zudem im Hinblick auf die absehbare demographische Entwicklung.882 Und auch dafür werden natürlich sachliche Gründe ins Feld geführt, beralismus; siehe auch Jens Bisky: „Staatsvergessenheit – Das Wachstum ist nicht der Schlüssel zum Gemeinwohl“ – SZ Nr. 71 vom 29.03.2005, S. 13; Thomas Hummel: „Bundestag debattiert über Münteferings Unternehmer-Schelte – Auch aus der Union Kritik am Kapitalismus – CDUAbgeordneter Kues: Vieles unterstütze ich ausdrücklich/Seehofer geißelt ‚neoliberalen Zeitgeist‘“ u. „‘Die Union braucht eine Werte-Diskussion‘ – Horst Seehofer warnt vor dem neoliberalen Zeitgeist und gibt damit indirekt SPD-Chef Franz Müntefering Recht“ – SZ Nr. 92 vom 22.04.2005, S. 1 u. 41; zur neuen europäischen Verfassung vgl. insoweit auch Alexander Hagelüken: „Kurs auf Vollbeschäftigung – die Sorge vor Neoliberalismus ist unbegründet – selbst Gewerkschafter loben den sozialen Geist“ – SZ Nr. 104 vom 07./08.05.2005, S. 9; Heribert Prantl: „Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit“ mit kritischer Anmerkung von Karen Horn: „Schutzengel, Ermöglicher, heimat – Heribert Prantl singt ein fulminantes Hohelied auf den Sozialstaat“ – FAZ Nr. 106 vom 09.05.2005, S. 14; Norbert Blüm: „Die CDU im neoliberalen Fieber – Kopfpauschale und Einheitssteuer stehen im Widerspruch zu allen Vorstellungen über Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 223 vom 27.09.2005, S. 2 879 Vgl. Ulrich Schäfer: „Die Mär vom Markt“ – SZ Nr. 231 vom 04./05.10.2008, S. 4 880 So kritisch Heribert Prantl: „Ein deutscher Prolog“ – SZ Nr. 293 vom 20./21.12.2003, S. 4 und Thomas Dieterich, ehemaliger Präsident des Bundesarbeitsgerichts und Richter am Bundesverfassungsgericht: „Der Tunnelblick der Ökonomen“ – SZ Nr. 290 vom 17.12.2003, S. 2; grundsätzlich dazu Antje Vollmer: „Wider die Konezptionslosigkeit in der Politik. ‚Das Komitee Europa – ein Vorschlag“ in Thomas Leif/Hans-Josef Legrand/Ansgar Klein (Hrsg,): „Die politische Klasse in Deutschland – Eliten auf dem Prüfstand“, S. 474 ff.

881 Ähnlich Judith Raupp: „Der Streit um die Agenda 2010 – Der Stärkere gewinnt – Die Debatte über Interessenkonflikte wird in Deutschland nicht ernst genug geführt“ – SZ Nr. 20 vom 25./26.01.2003, S. 23 882 Michael Diekmann: „Demografischer Stresstest – Schönreden, die Gegenwart genießen und die Zukunft einen guten Mann sein lassen – das funktioniert nicht mehr“ – SZ Nr. 299 vom 28.12.2011, S. 18; Joannis Brühl: „Veränderung ls Chance – Die Kanzlerin will dem demographischen Wandel mit Familienförderung begegnen“ – SZ Nr. 230 vom 05.10.2012, S. 5

230

weil sie – so fürchten jedenfalls einige – zu einer Zementierung der Gesellschaft – was immer sie darunter verstehen – führen würden.883 Uind wer ist überhaupt zuständig oder gar verantwortlich dafür, daß es sozial gerecht zugeht? Noch konkreter: An wen dürfen sich die Forderungen und Erwartungen richten, mit dem eigenen Vermögen oder Arbeitseinkommen die sozial begründeten Wünsche anderer erfüllen zu müssen?884 Wer muß dafür zuvor welche eigenen Anstrengungen unternommen haben? Ist zunächst jeder für sich selbst verantwortlich und allenfalls in besonderen Notlagen oder an die Existenz gehenden Unfällen des eigenen Lebens in einer „berechtigten“ Erwartung, daß andere ihm als Ausdruck der Solidarität helfen und die extremsten Folgen lindern?885 Muß hier also argumentativ die Relation von Regel und Ausnahme akzeptiert werden? Ausnahmen jedoch sind eng auszulegen, damit sie nicht zur Regel werden und alles wieder umkehren. Die Wege dahin können und müssen je nach Ausgangssituation auch einmal asymmetrisch verlaufen und das eine oder andere in den Maßnahmen überbetonen.

Dabei ist offenbar, daß wir zunächst alle wieder zurückstecken müssen. Keiner will jedoch damit anfangen und als erster – und vielleicht einziger – ein Beispiel geben. Auch die Tarifparteien hätten mehrfach die Möglichkeit gehabt, damit zu beginnen und das „Band zu den Erwerbslosen“ nicht noch mehr zu zerreißen, sondern zu knüpfen und damit einen Beitrag auch aus ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung heraus zu leisten, indem sie einen Teil des geforderten Tariflohnvolumens solidarisch zugunsten neuer Arbeitsplätze zur Verfügung stellen.886 Aber konkret war damit nicht zu rechnen. Am 3. März 2003 war ein vorläufig letzter Versuch der Bundesregierung gescheitert, ein „Bündnis für Arbeit“ ohne Tabus zur Lösung der anstehenden Reformprojekte zu installieren.887 Inzwischen hatten die Gewerkschaften erneut ihren Wunsch zu Gesprä-

883

Nikolaus Piper: „Freiheit und Reform – Das schwierige Wort ‚sozial‘ – Über die Debatte der liberalen Ökonomen um die Gefahren des Wohlfahrtsstaates“ – SZ Nr. 170 vom 26./27.07.2003, S. 17 884 Diese Frage wirft ähnlich auch Otfried Höffe, Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen, auf: „Dreidimensionales Sparen – Was heißt Soziale Gerechtigkeit heute?“ – SZ Nr. 253 vom 04.11.2003, S. 13 885 Umfrage: „Was bedeutet für Sie Solidarität?“ – Ebersberger SZ Nr. 94 vom 24.04.2009, S. R 2 886 Vgl. dazu den konkreten Schlichtungsvorschlag von Peter Grottian: „Für eine neue Tariflogik“ – SZ Nr. 1 vom 02.01.2003, S. 2 887 Robert Jacobi: „Bündnis für Arbeit endgültig gescheitert – Schröder verzichtet auf Konsens bei Reformen“ – SZ Nr. 52 vom 04.03.2003, S. 1; Markus Deggerich, Jan Fleischhauer, Michael Fröhlingsdorf, Horand Knaup, Roland Nelles, Ingo Salmen, Michael Sauga u. Gabor Steingart: „Kanzler ohne Fortune – Der Sturm der Globalisierung hat den deutschen Arbeitsmarkt verwüstet – die Industriejobs gehen, die Billig-Dienstleister kommen. Der mit großen Erwartungen gestartete SPDKanzler bekommt das zentrale Problem des Landes nicht in den Griff. Die Regierungspartei verfällt in Depressionen“ – DER SPIEGEL Nr. 10/2005, S. 20 ff. (24)

231 chen mit dem Bundeskanzler geäußert und einen Termin dafür vereinbart.888 Aber herausgekommen ist dabei bislang außer einer Wiederannäherung zwischen Gewerkschaften und Regierung nichts.889 Erst 2004 hielten sich die vereinbarten Löhne im Rahmen der Produktivitätssteigerung, womit ein erster Beitrag auch der Gewerkschaften zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit zu registrieren war.890 Um so unverständlicher war dann auch der „Schwenk“ der Bundesregierung zur Lohnpolitik, als sie nach lang anhaltenden Mahnungen zur Lohnzurückhaltung plötzlich Mitte 2005 auf höhere Lohnabschlüsse drängte und so erneut irre wirre, konzeptionslose, inkonsequente und im Ergebnis auch wenig erfolgreiche Wirtschaftspolitik offenbarte.891 Aber schon über einige konkretere Grundsätze und Kriterien für Solidarität in bestimmten Situationen gibt es in unserer Gesellschaft, geschweige denn zwischen den politischen Parteien in Wahrheit keinen Konsens mehr.892 Jeder will gleichzeitig die soziale Marktwirtschaft vor dem jeweils anderen retten: Müntefering vor dem Kapitalismus,893 die FDP vor Müntefering und die Unionsparteien wollen beides, wobei von der CSU sogar eitel und großspurig behauptet wird,

888 „DGB wieder zum Dialog bereit – Gewerkschaften treffen sich am 27. Juni mit Schröder“ – SZ Nr. 139 vom 20.06.2003, S. 6; „DGB-Umfrage drängt Blockierer in Defensive – Neues Treffen zwischen Kanzler und Gewerkschaften“ – HB Nr. 116 vom 20./21.06.2003, S. 3; siehe später auch Heribert Prantl: „Gewerkschaften bemühen sich um Wiederannäherung – DGB-Chef macht dem Kanzler Friedensangebot – Michael Sommer will Widerstand gegen Agenda 2010 aufgeben, falls die Regierung die Arbeitslosen besser stellt“ – SZ Nr. 140 vom 21.06.2004, S. 1; vgl. dann auch „Hartz IV wird kritisch beobachtet“ – SZ Nr. 208 vom 08.09.2004, S. 6 889 Jonas Viering: „Annäherung zwischen Gewerkschaften und Regierung – Gemeinsame Bilanz zur Arbeitsmarktreform im Februar geplant/Schmoldt für neue Konsensgespräche“ – SZ Nr. 209 vom 09.09.2004, S. 6 890 Jonas Viering: „Gefragt: Eine Tarifpolitik neuer Art – Transparent vereinbarte Regeln könnten zu differenzierter Entlohnung führen“ – SZ Nr. 1 vom 03.01.2005, S. 4 891 Ulrich Schäfer: „Wegen steigender Firmengewinne – Regierung drängt auf höhere Lohnabschlüsse – Clement und Eichel erhoffen sich Impulse für die Binnenkonjunktur/SPD will Unternehmenssteuern reformieren“ u. SZ-Interview mit hans Eichel: „‘Der Kapitalismus ist nicht per se sozial‘ – Der Bundesfinanzminister will trotz der Kritik der SPD-Linken die Unternehmenssteuern senken – und fordert zugleich ein Ende der Lohnzurückhaltung“ – SZ Nr. 132 vom 11./12.06.2005, S. 1 u. 27; Ulrich Schäfer: „Debatte über Vorstoß der Regierung – Opposition lehnt höhere Lohnabschlüsse ab – Union beharrt auf maßvoller Tarifpolitik/SPD-Chef Müntefering: Deutschland muss ein Hochlohnland bleiben“ – SZ Nr. 133 vom 13.06.2005, S. 1; „Regierung fordert höhere Lohnabschlüsse – Chance zur Belebung der Binnenkonjunktur/Arbeitgeber protestieren/Auch Wirtschaftsweiser Franz warnt vor Illusionen“ – SZ Nr. 179 vom 05.08.2005, S. 17 892 Vgl. z.B. Heribert Prantl: „Kein schöner Land – Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit“ – Droemer München 2005; zu den politischen Parteien siehe auch Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 36 ff.

893 Vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Woran der Kapitalismus krankt – Die Krise liegt im System. Eigentum muss dem Gemeinwohl dienen“ – SZ Nr. 94 vom 24.04.2009, S. 8

232 eine „Renaissance der sozialen Marktwirtschaft wird von München ausgehen“.894 Der ehemalige IBM-Manager und BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel nennt das, was inzwischen nicht nur eine immer mehr irrationale und blind-ideologische Attitüde der linken Bewegung ist, sondern sich mehr oder weniger über alle Parteien erstreckt und fast die gesamte Politik dominiert, die eigene Unzufriedenheit, eine Art Gegenbild zur Gier, weil den Fordernden das nicht reicht, was sie haben, oder sie etwas anderes, Besseres wollen. Und weil das so ist, die immer wieder neue Ausweitung sozialer Leistungen offenbar besonders vor Wahlen unvermeidlich erscheint (neuestes Beispiel die „Rentengarantie“895 der großen Koalition) und oft nur noch über Neuverschuldungen zu leisten, aber natürlich auch bedingt ist durch weitere Ereignisse wie deutsche Einheit, Alterung der Gesellschaft, Absicherung der Bankverluste und Stützungsmaßnahmen als Folge der Finanzkrise, lebt die Gesellschaft insgesamt – ungeachtet einer sicherlich problematischen Priorisierung der Staatsausgaben, der sozial unausgewogenen Betroffenheit und Verteilung innerhalb der Gesellschaft und einer zu hohen Verschwendungsquote – seit längerer Zeit immer mehr über ihre Verhältnisse und damit zu Lasten späterer Generationen. 896 Und was haben alle diese Feststellungen zur Folge? Sie erschöpfen sich – wie auch sonst Aussagen zur gelebten Unmoral – in der von einigen mitunter noch eingeräumten „prinzipiellen Richtigkeit“. Dann aber enden sie bereits. Es gibt keine Handlungskonsequenzen mehr. Ja nicht einmal mehr Scham wird empfunden, wenn man dabei erwischt worden ist, etwas Dummes gesagt oder getan zu haben. Alles wird scheinüberlegen weggelächelt. Appelle, Veröffentlichungen im Sinne des Transparenzmachens aller dieser Mißstände fruchten nichts mehr.

Dabei scheinen sich die Politiker und die Manager gegenseitig übertreffen zu wollen, in jeder Lage ihres Seins Überlegenheit wenigstens optisch zu demonstrieren, und gar nicht so wenige lassen sich davon sogar noch beeindrucken.

Die bisherige, teilweise nur interessengesteuerte reflexhafte Diskussion hierüber macht deutlich, wie notwendig es ist, endlich auch heute hierüber eine offene, gründliche Auseinandersetzung zu führen und diese nicht immer nur aus falschen Rücksichtsnahmen zu vermeiden.897 Oder ist unsere Demokratie beson894

Kassian Stroh: „Denken für Seehofer – Experten diskutieren über soziale Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 91 vom 21.04.2009, S. 33 zu der neu eingerichteten Kommission „Zukunft soziale Marktwirtschaft.“ 895 Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 213 ff.

896 Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 198 ff. u. 211, 217; a. A. Gert G. Wagner: „Wir leben nicht über unsere Verhältnisse – Warum es falsch ist, den Sozialstaat für die Staatsschulden verantwortlich zu machen“ – SZ Nr. 280 vom 05.12.2011, S. 11 897 „Unterschiedliche Lebensbedingungen in Deutschland – Köhler steht zu seinen umstrittenen Äußerungen – Weiter heftige Debatte über Bemerkung des Bundespräsidenten/Regierung bekräftigt Ziel gleicher Verhältnisse“ – SZ Nr. 213 vom 14.09.2004, S. 1; Kurt Kister: „Köhlers Wahrheiten“ u.

Heribert Prantl: „Gleichwertig, nicht gleich – Das Grundgesetz hat schon 1994 von der Formulierung ‚Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse‘ Abstand genommen“ – SZ Nr. 213 vom 14.09.2004, S. 4 u.

233 ders schwach, wenn es um Denk- und Verhaltensqualität,898 Konsequenz auch im Handeln, die Parteinahme für das sachlich Richtige geht? Ist das der Preis für die Entscheidungen durch die große Mehrheit – böse Zungen bezeichnen die Demokratie als „Mehrheit der Dummen“, daß jeder über alles mitbestimmen kann, so wie er es versteht oder wie er es allein unter dem Aspekt seiner kurzfristig kalkulierten eigenen Interessenlage sieht, auch wenn ihm das nötige Wissen und der Sachverstand fehlen und die Übersicht, was aus seinen Entscheidungen gesamtwirtschaftlich und damit letztlich doch auch wiederum für ihn selbst wird? Durch das so gekennzeichnete Spiel der freien Kräfte allein wird es weder in der nötigen Zeit noch in absehbarer Zukunft überhaupt zu ausgewogenen und befriedigenden Lösungen der gesamtwirtschaftlichen Probleme kommen.899 Wir kämpfen an der falschen Front, wenn wir uns allzu sehr darin verlieren, uns gegenseitig nur noch die Stücke aus einem immer kleiner werdenden Kuchen zu reißen, ohne etwas dafür zu tun, daß neue Kuchen gebacken werden und so die Verteilung zum Vergnügen wird. Wir kommen auf die Frage des sozialen Ausgleichs und die Rangfolge der Maßnahmen, die wirksam auch dazu führen, in anderem Zusammenhang noch zurück. Befassen wir uns zunächst weiter mit der Frage, wer eigentlich dazu aufgerufen ist, die übergeordnete Vernunft zu wahren und einzugreifen, wenn das freie Spiel der Kräfte nicht zu gedeihlichen Ergebnissen für alle führt.

Freiheit und Gleichheit Oft wird soziale Gerechtigkeit in scheinhumanitärer Denkweise verknüpft mit dem Gedanken der Gleichheit aller Menschen in einer Gesellschaft, woraus Forderungen und Ansprüche sowie entsprechende Regelungs-, Handlungs- und Verteilungspflichten abgeleitet werden. Es war dieses prägend in den vierzigjährigen sozialistischen Wertvorstellungen der DDR, in der man wie in anderen

5; Philip Grassmann: „Wirtschaft gibt Köhler Recht – Verbandsvertreter unterstützen Bundespräsidenten“ – SZ Nr. 214 vom 15.09.2004, S. 6; Nikolaus Piper: „Wenn die Gleichheit ungleich macht – Ökonomische Mythen um die Anpassung der Lebensverhältnisse in Deutschland/Der Preis der Lohnsteigerungen“ u. Ulrich Schäfer: „Mehr Fernseher, mehr Kindergärten – aber weniger Jobs – Die Unterschiede zwischen West und Ost sind zum Teil geringer, als sie auf den ersten Blick erscheinen/Gleiche Ausstattung mit Neuwagen, Handys, Camcordern" – SZ Nr. 214 vom 15.09.2004, S. 20 898 Siehe etwa Marc Beise: „Blamierte Konzerne“ – SZ Nr. 231 vom 08.10.2003, S. 19, aber auch Hans-Peter Bull: „Die Sehnsucht nach einem Führer“ – SZ Nr. 157 vom 11.07.2005, S. 2 899 Vgl. auch in diesem Sinne Robert Jacobi: „Showbühne für Verbände – Jedes Bündnis für Arbeit wäre eher ein Hemmnis als eine Chance für Reformen“ – SZ Nr. 51 vom 03.03.2003, S. 4

234

kommunistischen Systemen unter Gerechtigkeit ausschließlich Gleichheit verstand.900 Veranschaulichen wir uns zunächst, daß die Menschen tatsächlich von Anfang ihres Lebens an alles andere sind als gleich. Höchst unterschiedlich sind ihr Geschlecht, ihre physischen und mentalen Anlagen, Eigenschaften und Fähigkeiten.

Das Leben verteilt Glück ebenso ungleich wie Unglück, Reichtum ebenso unausgewogen wie Armut, ja neuerdings das Alter ebenso übergewichtig wie die Jugend. Denn zwischen allem findet eine teils heftige, teils überraschende permanente Dynamik statt. Unterschiedlich neben den Gaben und Begabungen sind auch die Lebensbedingungen, in die Menschen hineingeboren werden. Das beginnt mit dem Land und der Familie, in dem sie aufwachsen werden und endet noch nicht damit, daß auch Krankheiten und Behinderungen sie in höchst unterschiedlicher Schwere und Häufigkeit belasten oder heimsuchen.

So machen die Menschen in ihrem individuellen Leben von alledem in der unterschiedlichsten Weise Gebrauch, indem sie sich bestmöglich zu verwirklichen suchen: Vielfalt und Verschiedenheit unter den Menschen einer Gesellschaft, aber erst recht nach Überschreitung der nationalen Grenzen hin zu einer globalisierten Umgebung, wollen von den meisten Menschen mehr als alle Gleichmacherei unterschiedlich genutzt und weiterentwickelt werden. Der eine ist fleißig und strebsam, andere eher nicht. Lebensglück oder Unglück werden sogar durch mehr oder weniger großen persönlichen Einsatz erreicht oder verfehlt, selbst wenn die Ausgangsbedingungen vergleichbar sind.

Dieses in Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit zu tun oder auch nicht sichert grundsätzlich der ebenfalls in der Verfassung niedergelegte Grundsatz der persönlichen Freiheit. Das bedeutet generell, daß sich Gleichheit und Freiheit, soweit es um Ergebnisse bzw. Ergebnisgleichheit geht, grundsätzlich ausschließen.901 Es ist daher beispielsweise falsch anzunehmen, daß die persönliche Freiheit des Menschen, als homosexueller Partner einer dahingehenden Lebenspartnerschaft zu leben, allein schon die Folge einschließt, im Steuerrecht einer traditionelle Ehe gleich behandelt zu werden. Der oft gebrauchte Terminus der „Homo-Ehe“ verkennt und verfälscht, daß Ehe begrifflich nur zwischen Mann und 900

Leider im Grundtenor zunächst auch Heribert Prantl: „Reservat Ostdeutschland – Warum die Überlegungen des Bundespräsidenten Köhler schädlich sind und das Land spalten“ – SZ Nr. 212 vom 13.09.2004, S. 4; Susanne Höll: „Richtiges Thema zum falschen Zeitpunkt – Bemerkungen des Bundespräsidenten rufen in der Union kurz vor zwei Landtagswahlen im Osten Unbehagen hervor“ – SZ Nr. 213 vom 14.09.2004, S. 5; Christoph Schwennicke: „Rede zu geplantem Grundsatzprogamm der SPD – Müntefering geißelt ‚Macht des Kapitals‘ – Der Parteivorsitzende sieht die Demokratie und die Handlungsfähigkeit des Staates in Gefahr“ – SZ Nr. 84 vom 13.04.2005, S. 1; erläuternd zur Stimmung in den neuen Bundesländern Lothar de Maizière in dem Interview: „Denken Sie an Mose“ – DER SPIEGEL Nr. 39/2004, S. 52 901 Wolfgang Kersting: „Wie gerecht ist der Markt? Ethischer Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft“ – Murmann Verlag Hamburg 2012 und die Besprechung dazu von Werner Bührer: „Freiheit oder Gleichheit“ – SZ Nr. 41 vom 18./19.02.2012, S. 24

235

Frau bestehen kann (vgl. die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 6 I GG und das viele Jahre geltende EheG, jetzt etwa § 1308 BGB). Das andere sind Lebenspartnerschaften, die in einem davon gesonderten „Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft“ ausdrücklich (§ 1 LPartG) „zwei Personen gleichen Geschlechts“ voraussetzen.902 Diese persönliche Freiheit ist einer der wichtigsten Anreize zur Verwirklichung der eigenen Lebensplanung und zur Schaffung der materiellen Werte, die für eine richtige verstandene Solidarität unverzichtbar sind. Interessant ist hierzu die Äußerung eines sozialdemokratischen Bundesministers der großen Koalition, Sigmar Gabriel, der einräumt:903 „...Die Ideale der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit stehen in einem Spannungsverhältnis. Ökonomen haben diesen Dreiklang auf den Widerspruch zwischen Effizienz und Gerechtigkeit reduziert. Hier liegt jedenfalls teilsweise ein Austauschverhältnis vor. Effizienz erfordert, dass unterschiedliche Fähigkeiten und Anstrengungen auch in unterschiedlichen Einkommen zum Ausdruck kommen sollten. Sonst gibt es keine Anreize für besondere Leistungen. Zu viel Gleichheit verringert den verteilbaren Kuchen. Denn die Regierung kann den Verlierern nur das geben, was sie von den Gewinnern nimmt. Hier entstehen Anreizprobleme. ... ...Das gilt auch für eine zu große Streuung der Einkommen. Diese bildet den Nährboden für alle möglichen Formen sozial abträglichen Verhaltens.

Sie befördert Kriminalität. Sie erhöht die Kosten, die mit derartigen Problemen verbunden sind.“

Und so hat es richtigerweise auch Bundespräsident Horst Köhler zum Ausdruck gebracht, indem er die Deutschen aufforderte, unterschiedliche Lebensbedingungen zu akzeptieren, und dabei keineswegs die grundsätzliche Solidarität in Frage stellte, aber vor einem untragbaren Subventionsstaat warnte.904 In ähnlicher Wei-

902

Ebenso Jürgen Schmude: „Der kleine Unterschied – Es ist richtig, homosexuelle Partnerschaften aufzuwerten – aber falsch, die Lebensformen nicht mehr zu unterscheiden“ – SZ Nr. 146 vom 27.06.2013, S. 2 903 Sigmar Gabriel: „‘Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren‘ – Bundesumweltminister Sigmar Gabriel entwirft das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und fordert Mindeststandards für die internationalen Finanzmärkte“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 26 (Auszug aus seinem Buch „Links neu denken“) 904 Ebenso Bert Rürup in dem Interview: „Weitere Reformen sind nötig‘ – Bert Rürup, designierter Vorsitzender des Sachverständigenrats, über den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, die Defizite der Agenda 2010, die Kosten der Staatsverschuldung und grundlegende Reformen des Sozialsystems“ – DER SPIEGEL Nr. 06/2005, S. 75 ff. (77); Karl-Friedrich Schulte-Uebbing, Industrie- und Handelskammer Gelsenkirchen – vgl. Michael Kläsgen: „Das Zitat: ‚Wir sind grundsätzlich gegen Subventionen‘“– SZ Nr. 43 vom 22.02.2005, S. 22; siehe auch Jens Schneider „Liberale kündigen Widerstand gegen Unionsplan an – FDP lehnt höhere Mehrwertsteuer ab – Westerwelle: Besser wäre es, Subventionen zu streichen/Steuerreform erst 2007“ – SZ Nr. 144 vom 25./26.06.2005, S. 1; Nikolaus Piper: „Eine Liste für Paul Kirchhof – Milliarden stehen für eine radikale Reform zur Verfügung“ u. „Wo der Reformer streichen kann: Steuervergünstigungen und Ausnahmen“ – SZ Nr. 206 vom 07.09.2005, S. 22; Claus Hulverscheidt: „Subventionen, die nichts bringen – Volkswirte halten Sparerfreibeträge und Riester-Rente für sinnvoll, steuerliche Privilegien für Nacht- und Sonntagsarbeit sowie bei Flugbenzin für überflüssig“ – SZ Nr. 283 vom 08.12.2009, S. 19

236

se hat das der Wirtschaftspublizist Rainer Hank in seinem Buch „Das Ende der Gleichheit“ vertreten.905 „Es ist auch nicht akzeptabel, dass die Industrieländer versuchen, den sich entwickelnden Ländern mit der Forderung nach ‚sozialen Mindeststandards‘ , also höheren Löhnen, den einzigen Wettbewerbsvorteil zu nehmen, den diese Länder haben. Noch nie sind so viele Menschen zum Beispiel in Indien und China aus absoluter Armut befreit worden wie in den vergangenen 20 Jahren, weil sie produzieren können, was auf dem Weltmarkt gefragt ist.“ 906

Je nach individueller Entstehungsgeschichte für die Notlage bedarf es daher einer abgestuften Leistung nach Art, Dauer und Höhe, stets jedoch nur als Hilfe zur Selbsthilfe. „Soziale Gerechtigkeit“ bedeutet daher für den ehemaligen Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer – und das ist ihr Ziel, daß der Staat den Bürgern hilft, sich wieder selbst zu helfen.907 Daraus folgt u.a.: Einmalhilfen müssen Vorrang vor Dauerleistungen. Versicherungsleistungen, für die Beiträge gezahlt worden sind, rangieren vor staatloichen Almosen, wobei letztere verbunden werden müssen mit einer Rückzahlungsverpflichtung bei Wiedergewinnung eigener Leistungsfähigkeit, so daß sie rückblickend Darlehenscharakter erhalten gegenüber verlorenen Zuschüssen. Mehrfachleistungen sollten grundsätzlich nur befristet erbracht werden und verbunden sein mit jederzeitigem Widerruf.

Der Alt-Sozialdemokrat Erhard Eppler betonte andererseits unter großem Beifall der Delegierten auf dem SPD-Parteitag 2009 in Dresden die Bedeutung der individuellen Freiheit, die aus sozialer Sicherheit erwächst. Das ist richtig, aber nicht vollständig und daher auch kein – wie von ihm gemeint – Gegensatz zur Freiheit derer, die mit ihrem Geld und Verhalten diese soziale Sicherheit anderer gewährleisten sollen. Hier geht es also nicht nur um die Freiheit der Leistungsempfänger, sondern auch um die, deren unternehmerische oder auch persönliche Freiheit zu sozialen Zwecken für andere eingeschränkt werden wird. Auch deren Freiheit muß aber – wie oben dargestellt – in hohem Maße gewährleistet bleiben und steht damit eben doch in einem zumindest nicht geringen Interessengegensatz zu ihrer Sozialverpflichtung. Hier bleibt es richtig, das eine mit dem anderen, die sozialen Leistungen mit der Belastung derer, die sie sicherstellen sollen, ständig auszubalancieren.

Man kann hier sicher festhalten, daß es kein sinnvolles Ziel sozialer Gerechtigkeit sein kann, alle Menschen „gleich zu machen“, also Ergebnisgleichheit in der gesamten Lebenssituation anzustreben, wie das etwa im Sozialismus und Kom905

Rainer Hank: „Das Ende der Gleichheit“ – Fischer Verlag Frankfurt 2000 Zitiert nach Uwe Jens, Prof. der Universität Bochum: „In der Krise nicht die Marktwirtschaft vergessen – Die SPD plädiert für eine solidarische Gesellschaft. Besser wäre das Leitbild einer privilegienfreien Aufstiegsgesellschaft, empfiehlt der frühere langjährige wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Uwe Jens, seiner Partei“ 907 Zitiert bei Alina Fichter: „Mit Erhard durch die Finanzkrise – Experten debattieren in München über die soziale Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 172 vom 29.07.2009, S. 20 906

237

munismus idelologische entscheidende Zielmarken gewesen sind. Daß solches scheitern mußte, ist nicht zuletzt auch eine Folge der begrenzten Machbarkeit, da jeder ausgleichende Transfer einen Gebenden und einen Nehmenden, Leistungsfähigkeit und Bedürftigkeit voraussetzt. Und vor allem im ersteren ergeben sich doch deutliche Grenzen.

Das Prinzip der Gleichheit meint somit neben der unterschiedslosen Behandlung der Menschen durch das Recht (rechtliche Gleichbehandlung) allenfalls einen Ausgleich der Startbedingungen, soweit dieses überhaupt möglich ist.

Gerade weil es letztlich dann eine Ausprägung der individuellen Freiheit darstellt, was der Mensch aus seinen Gaben macht, ist es menschenwürdig und fair, wenigstens die Ausgangslage in der Weise aneinander anzunähern, daß alle wenigstens von da her auch die Chance haben, das Beste für sich daraus zu machen (Chancengleichheit).

Auch weil die Vielfalt bei den Ergebnissen unendlich groß ist, wäre es schon objektiv gar nicht möglich, diese im Verständnis einer falschen Zielsetzung nach sozialistisch-kommunistischem Vorbild zu egalisieren. Ergebnisgleichheit muß zurücktreten vor dem Prinzip der Handlungsfreiheit als erste Voraussetzung der eigenverantwortlichen Existenzsicherung. Dieses dann immer wieder künstlich („planwirtschaftlich“) korrigieren zu wollen werden Gewerkschaften und Parteien ebenso wenig müde wie die veröffentlichte Meinung,908 ohne nachhaltig überzeugende Lösungen dafür anzubieten. Was kann der eine dafür, daß er in vermögende Verhältnisse hineingeboren wurde und der andere nicht? Dafür ist der Arme vielleicht nicht so krank wie der Reiche. Auch das ist – so empfinden wir es jedenfalls – eigentlich ungerecht, aber es entspricht den Risiko- und Schicksalsregeln menschlichen Lebens, denen wir von Natur aus alle mehr oder weniger hilflos, aber auch mit der Aufgabe und Chance, es in vielen Bereichen zunächst auch selbst zu ändern, ausgesetzt sind. Aber wenn der arme Gesunde arbeiten kann, tüchtig ist und sich seinen Reichtum selbst erwirbt, ist das nicht ungerecht gegenüber dem reichen Kranken, der selbst das nicht mehr kann, auch wenn er damit noch nicht wirklich bedürftig ist. Eine Ethik allgemeiner Gleichmacherei bleibt ein nie erfüllbares unrealistisches Ideal.909 Ein Ausdruck dieser Freiheit ist die Betätigung an einem möglichst weitreichenden Markt. Normalerweise ist es der freie Markt, der bestmöglich dafür sorgt, daß nicht nur die nach Art und Menge erforderlichen Produkte und Leistungen (Bedarfserfüllung) in bester Qualität überhaupt geschaffen werden, sondern sie den Marktteilnehmern und Verbrauchern auch zum niedrigstmöglichen 908 Sibylle Haas: „Einstieg oder Ausstieg – Leiharbeit und befristete Jobs dürfen nicht zur Dauerlösung werden“ – SZ Nr. 190 vom 20.08.2009, S. 19 909 Hans-Olaf Henkel: „Die Ethik des Erfolgs“, S. 236 ff.; Interview mit Anselm Bilgri: „‘Da muss der Bürger fassungslos sein‘ – Anselm Bilgri war früher Benediktinerpater, heute ist er Unternehmensberater. Ein Gespräch über Rekordgehälter trotz Rekordverlusten, über Manager und Moral“ – SZ Nr. 75 vom 31.03.2009, S. 26

238

Preis zur Verfügung stehen. Ein möglichst breiter, sogar weltweiter Markt und eine gut funktionierende Marktwirtschaft – man mag sie als „neoliberal“ diskreditieren – sind deshalb bereits aus sich heraus sozial, weil sie für alle die materiellen Lebensgrundlagen schaffen.910 Der Markt steuert sich im Kern über das Austauschprinzip von Angebot und Nachfrage weitgehend selbst, paßt sich schnell veränderten Anforderungen und Möglichkeiten an, und bedarf im Prinzip keiner künstlichen Eingriffe mit oft unübersehbaren Nebenwirkungen. Daher vertragen sich eine freie Marktwirtschaft und eine offene Gesellschaft nur sehr begrenzt mit einem Denken primär nach Vorsorge- und Sicherheitsgarantien.911 Der Wirtschaftsethiker Karl Homann erachtet deshalb schon den Wettbewerb als solidarischer als bloßes Teilen.912 Hier – in einer weitgehenden Vollbeschäftigung, verbunden mit leichtem, aber stetigem Wachstum – lag der Quell für den Wohlstand der 50er und 60er Jahre! Das hat die besondere Rolle der Arbeit für die Menschen gezeigt, die wichtiger noch als hergebrachtes Vermögen die Überwindung der Armut ermöglichte, auch wenn hierbei das Problem der Abhängigkeit von Arbeit, das der spezifischen Gegensatz-Rollen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu überwinden und zum Ausgleich zu bringen galt. Die „Wohlstandsgesellschaft“ brachte uns im Westen Deutschlands die Überwindung der Klassen zur klassenlosen Gesellschaft in materieller Hinsicht. Sozialpolitik muß – so sah es richtigerweise schon Ludwig Erhard – „marktkonform“, also möglichst auch ohne staatliche Ordnungsregeln ihre Funktion erfüllen. Er mißtraute der Adenauerschen Umverteilungspolitik im Gewande einer (Sozial-) Versicherung angesichts der ungewissen Zukunft.913 Solange der Staat und die Bürger über prosperierende Unternehmen ausreichende Lohn- und Steuereinnahmen und die Sozialträger entsprechende Abgaben erhalten, können die Er910

Vgl. Nikolaus Piper: „Ein Urenkel für Erhard“ – SZ Nr. 234 vom 11./12.10.2003, S. 4; „‘Wir können keine Insel der Seligen schaffen“ – Linde-Chef Wolfgang Reitzle über die wachsende Angst vor der Globalisierung, mangelhafte Reformen und sein Verständnis von Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 90 vom 17.04.2008, S. 21; Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 198; in diesem Sinne auch Peter Felixberger: „Die böse Seele des Kapitalismus“ – Besprechung des Buches von Ulrich Thielemann: „System Error – Warum der freie Markt zur Unfreiheit führt“ – Westend Verlag Frankfurt/M 2009 – SZ Nr. 263 vom 14./15.11.2009, S. 34 911 Michael Hüther, Chefvolkswirt der Deka-Bank: „Zwischen Freiheit und Verantwortung – Unerfüllbarer Wunsch nach Sicherheit – Die Marktwirtschaft und eine offene Gesellschaft vertragen nur ein begrenztes Maß an Vorsorge“ – SZ Nr. 176 vom 02./03.08.2003, S. 17; Jürgen Hambrecht, Vorstandsvorsitzender der BASF: „Forum: Kritik an der Wirtschaft – Wir brauchen mehr Kapitalismus – Ohne Wagemut kann nichts Neues entstehen/Zur Globalisierung gibt es keine Alternative/Gemeinwesen mündiger Bürger“ – SZ Nr. 103 vom 06.05.2005, S. 22 912 „‘Wettbewerb ist solidarisch‘ – Der Wirtschaftsethiker Karl Homann über Globalisierung und Nokias Werkverlagerung“ – SZ Nr. 24 vom 29.01.2008, S. 21 913 Gustav Seibt: „Die neue Notgemeinschaft“ – SZ Nr. 187 vom 14./15.08.2004, S. 4; Nikolaus Piper: „Das Soziale an der Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 95 vom 26.04.2005, S. 17; Nikolaus Piper: „Ein Modell mit Zukunft – Deutschland muss sich reformieren – aber das Land kann einen eigenen Weg zurück zu Wachstum und Vollbeschäftigung gehen“ – SZ Nr. 189 vom 18.08.2005, S. 19

239

wartungen der Transferempfänger also leicht erfüllt werden. Hier unterstützen sich die beiden Ziele der Solidität und Solidarität positiv. Sozial am wirksamsten ist eine starke Position im Markt dann, wenn sie es ermöglicht, viele Menschen in bezahlter Arbeit zu halten, und sie gar nicht erst bedürftig werden zu lassden. „Sozial ist, was Arbeit schafft.“914 Gemeint ist am Markt nachgefragte und dort auch ausreichend bezahlte Arbeit. Der Bundeskanzler Schröder hat sich das zu eigen gemacht: „Gerecht ist, „was die Menschen in Erwerbsarbeit bringt.“915 Alle Beispiele in der Welt zeigen, daß nur Länder mit einer so funktionierenden kapitalistischen, aber daraus auch sozialverpflichteten und -potenten Ordnung wirklichen sozialen Fortschritt erreichen.916 Sie konzentrieren bzw. beschränken ihre Vorteile keineswegs allein auf die Reichen.917 Eine der neuesten Varianten ist trotz aller berechtigten Kritik an einigen stillosen Ausreißern918 eine nur noch klassenkämpferisch marxistisch aufgefrischte, polemisch auf Kapitalismuskritik konzentrierte, aber auch auf populistische Wahl-Wirkung beschränkte allgemeine Schelte der Unternehmen,919 von denen gleichzeitig und auf 914 Edmund Stoiber: „Zu wolkig, zu wenig, zu spät – Der bayerische Ministerpräsident und CSUChef Edmund Stoiber attackiert Schröder scharf“ – SZ Nr. 62 vom 15./16.03.2003, S. 12; ebenso Daniel Goffart: „Sozial ist, was Arbeit schafft“ – HB Nr. 99 vom 23./24.05.2003, S. 1; Marc Beise: „Was wirklich sozial ist“ – SZ Nr. 150 vom 02.07.2004, S. 4 915 „Partei feiert ihren 140. Geburtstag – Kanzler mahnt SPD zur Flexibilität“ – SZ Nr. 119 vom 24./25.05.2003, S. 1 916 So unter Hinweis auf den Human Developement Index der Vereinten Nationen auch Jürgen Hambrecht, Vorstandsvorsitzender der BASF: „Forum: Kritik an der Wirtschaft – Wir brauchen mehr Kapitalismus – Ohne Wagemut kann nichts Neues entstehen/Zur Globalisierung gibt es keine Alternative/Gemeinwesen mündiger Bürger“ – SZ Nr. 103 vom 06.05.2005, S. 22 917 „‘Kapitalismus ist nicht für die Reichen da‘ – Yale-Ökonom Robert Shiller spricht über die Lehren aus der Wirtschaftskrise und sein Konzept zur Demokratisierung des Finanzwesens“ – SZ Nr. 205 vom 07.09.2009, S. 28 918 „‘Kapitalismus ist nicht für die Reichen da‘ – Yale-Ökonom Robert Shiller spricht über die Lehren aus der Wirtschaftskrise und sein Konzept zur Demokratisierung des Finanzwesens“ – SZ Nr. 205 vom 07.09.2009, S. 28 919 Christoph Schwennicke: „Rede zu geplantem Grundsatzprrogamm der SPD – Müntefering geißelt ‚Macht des Kapitals‘ – Der Parteivorsitzende sieht die Demokratie und die Handlungsfähigkeit des Staates in Gefahr“ – SZ Nr. 84 vom 13.04.2005, S. 1; Thomas Hummel: „Balsam für die linke Seele – Kapitalismus-Kritik erfreut die SPD“, Christoph Schwennicke: „Zurück zu den Wurzeln – Münteferings Kampfansage an die Macht des Kapitals soll Wähler und SPD-Mitglieder mobilisieren“ u. M. Bauchmüller, Th. Öchsner u. N. Piper: „Der Streit um Arbeit und Kapital – Franz Müntefering belebt im Wahlkampf alte Sorgen der Arbeiterbewegung vor einer Allmacht des Geldes wieder – und unterliegt dabei einigen Missverständnissen“ – SZ Nr. 85 vom 14.04.2005, S. 2, 4 u. 21; Nico Fried u. Thomas Hummel: „Kanzler teilt Münteferings Kritik an der Wirtschaft – Rede des Parteichefs ist aber in den eigenen Reihen umstritten: Arbeitnehmerflügel nennt Vorstoß ‚grotesk‘“ – SZ Nr. 87 vom 16./17.04.2005, S. 5; Nina Bovensiepen u. Peter Blechschmidt: „‘Bei manchen Unternehmen stimmt die Ethik nicht‘ – Müntefering geht Manager frontal an – SPD-Chef vergleicht Investoren mit Heuschreckenschwärmen/Wirtschaftsverbände über ‚Kampfrhetorik‘ empört“ u. Nikolaus Piper: „Propaganda und Protektion – Die neue antikapitalistische Polemik der SPD ist ein Wahlkampfmanöver – und politisch gefährlich“ – SZ Nr. 88 vom 18.04.2005, S. 1 u. 4; Andreas Hoffmann: „‘Der Franz hat einen Nerv getroffen‘ – Viele Genossen heißen Münteferings Anklage gut – und hoffen auf

240

anderen Seite durch ständige Appelle just die Lösung der aktuellen sozialen Probleme wie insbesondere das der Arbeitslosigkeit erwartet wird.920 Allgemeine und höchstabstrakte Forderungen dieser Art nach „sozialer Gerechtigkeit“ gibt es also zu Hauf.921 Wer wollte dem schon widersprechen? Nur hilfreich für die praktische Politik sind solche Sätze nicht – ganz im Gegenteil. Sie vernebeln nur, statt zu klären. Sie sind ohne jeglichen Nutzeffekt.

Auch gibt es hierzu – sicher immer wieder per se auch zutreffende – Feststellungen, wonach zum einen die Arbeitnehmer die eigentlichen Verlierer der Globalisierung sind – jedenfalls derzeit und vorübergehend,922 und vor allem auch eine sozialpolitische Wende“, Franz-Josef Möllenberg in dem Interview: „Die Dinge beim Namen nennen – Gewerkschaften für Wertedebatte“ u. Nikolaus Piper: „Unter Heuschrecken – Hundert Jahre deutsche Kritik am Kapitalismus“ – SZ Nr. 94 vom 25.04.2005, S. 2, 4 u. 15; Andreas Hoffmann: „Fern der Realität“ – SZ Nr. 94 vom 25.04.2005, S. 23; Markus Feldenkirchn, Sebastian Fischer, Horand Knaup, Roland Nelles, Michael Sauga u. Gabor Steingart: „Rote Rebellen – Die Anti-Kapitalismus-Kampagne des Parteichefs wird zur Bedrohung für die Reformpolitik des Kanzlers. Die sozialdemokratische Basis hofft auf ein Ende der Zumutungen, die Linke bastelt an einem Alternativprogramm. Ihr Ziel: die Entmachtung des Wirtschaftsministers Wolfgang Clement“ – DER SPIEGEL Nr. 17/2005, S. 24 ff.; Heidemarie Wieczorek-Zeul in dem Interview: „‘Den richtigen Ton getroffen‘ – Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul über die Kapitalismus-Kritik ihres Vorsitzenden Müntefering“ – DER SPIEGEL Nr. 17/2005, S. 26; „Wider die MkKinsey-Gesellschaft – Der niedersächsische SPD-Fraktionschef Sigmar Gabriel über Kritik am Kapitalismus“ u. Christine Böhringer, Dinah Deckstein, Dietmar Hawranek, Henryk Hielscher, Armin Mahler, Claus Pieper u. Michael Sauga: „Das globale Job-Roulette – Niedriglöhne und Jobverlagerung auf der einen Seite, Millionengehälter und Rekordgewinne auf der anderen: Die deutschen Arbeitnehmer sind die Verlierer, die großen Konzerne die Gewinner der Globalisierung. Kann die Politik diese Entwicklung stoppen?“ – DER SPIEGEL Nr. 17/2005, S. 29 u. 80 ff.; Norbert Blüm: „Vorrang der Arbeit vor Kapital“ – SZ Nr. 100 vom 02.05.2005, S. 2; Nina Bovensiepen: „SPD legt Linie für den Wahlkampf fest – Kanzler: Ein starker Staat muss Schwache schützen – Schröder warnt vor Sozialabbau durch die Union/Reformpolitik der Agenda 2010 soll fortgesetzt werden“ – SZ Nr. 134 vom 14.06.2005, S. 1; Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Woran der Kapitalismus krankt – Die Krise liegt im System. Eigentum muss dem Gemeinwohl dienen“ – SZ Nr. 94 vom 24.04.2009, S. 8; Burkhard Müller: „Der Allmächtige – Warum es so schwer ist, gegen den Kapitalismus zu sein“ – SZ Nr. 96 vom 27.04.2009, S. 11 920 Ulrich Schäfer: „Anstoß aus der Industrie – BDI schlägt Kanzler einen Pakt für Jobs vor/CDUChefin Merkel: Ausmaß der Arbeitslosigkeit ist weiter bedrückend“ – SZ Nr. 98 vom 29.04.2005, S. 6; Bernd Oswald: „Familienministerin Renate Schmidt appelliert an Unternehmer – Wirtschaft soll ältere Menschen einstellen – Nur 39 Prozent der 55-64-Jährigen in Deutschland erwerbstätig/‘Senioren sind auch Konsumenten‘“– SZ Nr. 101 vom 03.05.2005, S. 5; „Ulla Schmidt: Mehr Ältere einstellen“ – SZ Nr. 140 vom 21.06.2005, S. 19 921 Vgl. etwa Heribert Prantl: „Robin Hood, 2004 – Vom Sherwood Forest zum Sozialstaat und zurück: Gibt es ein Recht auf soziale Gerechtigkeit?“ – SZ Nr. 73 vom 27./28.03.2004 (Wochenende), S. I; Nina Bovensiepen: „Arentz kritisiert Pläne der Union – Christliche Arbeitnehmer fordern soziale Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 237 vom 12.10.2004, S. 5; Arne Boecker: „Solidarisch, ökologisch, demokratisch – Auf dem Erfurter Sozialforum wurde vier Tage lang die gerechte Gesellschaft entworfen“ – SZ Nr. 169 vom 25.07.2005, S. 7 922 Christine Böhringer, Dinah Deckstein, Dietmar Hawranek, Henryk Hielscher, Armin Mahler, Claus Pieper u. Michael Sauga: „Das globale Job-Roulette – Niedriglöhne und Jobverlagerung auf der einen Seite, Millionengehälter und Rekordgewinne auf der anderen: Die deutschen Arbeitnehmer

241

gehört, daß die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden, und dieses ausgerechnet unter einer sozialdemokratischen Regierung. Aber nicht jede Maßnahme, nicht jedes Ereignis, das klaren ökonomischen Gesetzmäßigkeiten folgt und nur deshalb langfristig insgesamt zu einer Besserung führen wird, und selbst Kürzungen von Ansprüchen und Leistungen sind unbesehen bereits sozial ungerecht.923 Aber Sozialisten und Kirchen, Parteilinke aller Parteien, Globalisierungsgegner und Gewerkschaften vermarkten in nicht zuende gedachter „Gutmenschenmentalität“924 nichts anderes als die kritisierte Wirtschaft solches Kurzfristdenken und leben – wie alle Interessenvertreter – geradezu davon, den Kapitalisten in einseitig abstrakt-ideologischer und selektiver Manier bei jeder sich optisch bietenden Gelegenheit einfach nur „Neoliberalismus“, „soziale Kälte“ oder „soziale Demontage“ vorzuwerfen, ohne sich näher mit den dahinterliegenden Wirkfaktoren und Zusammenhängen zu befassen, sie zu verstehen, geschweige denn die wirksamen und wirkliche Änderungen versprechenden Alternativen aufzuzeigen oder sich an speziellen und anerkannten Maßstäben für eine solche Bewertung zu orientieren.925 Der so verstandene Liberalismus ist die Grundlage für die Normen der Gleichheit und Freiheit, die Autonomie und Selbstverantwortung in der modernen Demokratie.926 Und sie ist auf Dauer betrachtet auch gerechter und daher moralisch durch die „Interaktion von Individuen in Freiheit“, die Moral „produzieren“.927 sind die Verlierer, die großen Konzerne die Gewinner der Globalisierung. Kann die Politik diese Entwicklung stoppen?“ – DER SPIEGEL Nr. 17/2005, S. 80 ff.; Franz Walter, Politologe aus Göttingen: „Nicht etwa Altruismus – Münteferings antikapitalistisches Fanal“ – SZ Nr. 97 vom 28.04.2005, S. 13; Michael Bauchmüller: „Das gefühlte Desaster – Obwohl Deutschland von der Erweiterung profitieren wird, sehen sich viele Bundesbürger als Verlierer“ – SZ Nr. 99 vom 30.04./01.05.2005, S. 12 923 Marc Beise: „Was wirklich sozial ist“ – SZ Nr. 150 vom 02.07.2004, S. 4 924 Siehe dazu auch Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 12 ff. und 25 ff.

925 Vgl. z. B. Arne Boecker: „Solidarisch, ökologisch, demokratisch – Auf dem Erfurter Sozialforum wurde vier Tage lang die gerechte Gesellschaft entworfen“ u. Agnes Steinbauer: „Das Gegenteil der notwendigen Korrekturen – Alternative deutsche Wirtschaftswissenschaftler lassen kein gutes Haar an der Sparpolitik und den Hartz-Gesetzen“ – SZ Nr. 169 vom 25.07.2005, S. 7 u. 9; kritisch zur „Gutmenschenmoral“ auch Hans-Olfa Henkel: „Die Abwracker“, S. 12 ff. sowie Norbert Bolz: „Profit für alle – Soziale Gerechtigkeit neu denken“, Murmann Verlag Hamburg 2009 und die Besprechung von Andreas Zielcke: „Fabelhafte neue Welt“ – SZ Nr. 1 vom 02./03.01.2010, S. 30; wichtig die Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 zur Verfassungswidrigkeit der bis dahin geltenden Hartz-IV-Regelung – dazu Wolfgang Janisch: „Die Abrechnung der Richter – Besonders für schulpflichtige Kinder wird es künftig wohl mehr Geld geben“ und Herbert Prantl: „Das neue Minimum“ – SZ Nr. 33 S. 2 und 4 926 Julian Nida-Rümelin: „Keynes bleibt tot – Warum es falsch ist, nun die Steuern zu senken – oder einfach die Methodebn des britischen Ökonomen wiederzubeleben“ – SZ Nr. 95 vom 25./26.04.2009, S. 2 927 Gert Dahlmanns: „Wege ins Freie – Deutschland vor seinen Richtungsentscheidungen“ – Edition Idele Eggingen 2005 mit der Besprechung von Detmar Döring: „Warum der Markt eine Moral hat“ – SZ Nr. 174 vom 30./31.07.2005, S. 26

242

Sie spornt an, führt zu Innovationen und letztlich zu Erträgen, ohne die es auch die öffentliche Umverteilung aus sozialen und solidarischen Gründen nicht geben könnte. Sie finanziert die Marktbeteiligten in ehrlicher Weise, weil die Angebote einen Käufer finden. Sie ist zunächst auch gerecht, weil sie Leistung, Einsatz und Ideen belohnt, nicht jedoch deren Gegenteil. Man muß dieses erkennen, gewichten und in der funktionalen Reihenfolge werten, die hier auch und besonders von der ökonomischen Logik928 als Wertschöpfungsmotor ausgeht.

Der Markt löst aber nicht alle Probleme. Der Markt, die Ökonomie allein vermag das eben nicht immer. Keine Marktwirtschaft und kein Markt – so Altbundeskanzler Helmut Schmidt – schafft automatisch Marktordnung, Wettbewerbsordnung und soziale Gerechtigkeit für die ökonomisch Schwächeren und Abhängigen.929 Auch ist die Feststellung des SPD-Linken Erhard Eppler durchaus richtig: „Der Markt schafft keine Gerechtigkeit“.930 Vor allem gilt das, wenn es an korrigierenden Spielregeln fehlt. Bei alledem darf also keinesfalls übersehen werden, daß der Markt jedenfalls nicht alle Probleme löst, manche auch schafft, und insoweit der steuernden Korrektur bedarf. Das sieht auch der Wirtschaftsethiker Karl Homann so: „Jeder Wettbewerb braucht Spielregeln.“931 Das gilt etwa für einen ordnungspolitischen Rahmen, der die Menscheit vor einer globalen Umweltzerstörung und der Gefährdung des Weltklimas schützt, vor allem auch diejenigen unbeteiligten, auf deren Kosten sich andere marktwirtschaftliche Vorteile schaffen. 932 Das bedeutet, daß in dem natürlichen Spannungsverhältnis zwischen Solidarität und freiem Erwerbsanreiz nie völlige Ausgeglichenheit, sondern stets ein leichtes Übergewicht für den Erwerbsanreiz bestehen bleiben muß. Nur das schafft die Möglichkeit, aber auch leichter die Bereitschaft, von dem steigenden Gewinn 928

Grundsätzlich dazu auch Horst Siebert: „Jenseits des sozialen Marktes – Eine notwendige Neuorientierung der deutschen Politik“ – Deutsche Verlags-Anstalt München 2005; Klaus Schwab: „Das Ende des Kapitalismus – und was nun? – Die entscheidenden Wettbewerbsfaktoren der Zukunft sind Kreativität und Innovationskraft“ – SZ Nr. 84 vom 11.04.2012, S. 18 929 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 2273 930 Erhard Eppler: „Der Markt schafft keine Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 278 vom 03.12.2003, S. 2; Erhard Eppler: „Auslaufmodell Staat?“ – Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 2005 – besprochen von Johano Strasser: „Die Sünde wider den Markt – Der frühere SPD-Minister Erhard Eppler verteidigt die Notwendigkeit des starken Staates“ – SZ Nr. 152 vom 05.07.2005, S. 16; ähnlich auch der amerikanische Ökonom Paul A. Samuelson in dem Interview: „Der Markt hat kein Herz“ – DER SPIEGEL Nr. 38/2005, S. 86 ff.; ebenso „‘Es gab Bischöfe, schon lange bevor es Manager gab‘ – Erzbischof Reinhard Marx über Lehren aus der Krise, fehlende Vorbilder in Chefetagen und strengere Kontrollen für die Märkte“ – SZ Nr. 21 vom 27.01.2010, S. 19 931 „‘Wettbewerb ist solidarisch‘ – Der Wirtschaftsethiker Karl Homann über Globalisierung und Nokias Werkverlagerung“ – SZ Nr. 24 vom 29.01.2008, S. 21 932 Sigmar Gabriel: „‘Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren‘ – Bundesumweltminister Sigmar Gabriel entwirft das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und fordert Mindeststandards für die internationalen Finanzmärkte“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 26 (Auszug aus seinem Buch „Links neu denken“)

243

etwas abzugeben. Vor der Verteilungsgerechtigkeit steht daher zwangsläufig die Leistungsgerechtigkeit. Daraus folgt: „Das Gegenteil ist richtig: Nur durch die Revitalisierung der „sozialen Marktwirtschaft“933 ist der Kern des Sozialstaates zu retten. Deshalb geht es nicht vorrangig darum, den „geschrumpften Kuchen Wohlstand so zu rationieren, dass möglichst wenig gejammert wird, sondern dafür zu sorgen, dass in Zukunft wieder mehr Kuchen gebacken werden kann.“934 Produktion und Leistung müssen – so sah es auch die Deutsche Bundesbank – wieder Vorrang vor der Verteilungspolitik bekommen.935 Wenn also soziale Gerechtigkeit nicht als Ergebnisgleichheit mißverstanden wird, dann hat die Gleichheit doch eine entscheidende Bedeutung im Bereich einer fairen Ausgangslage, also etwa im Sinne einer Chancengleichheit. Mit Gerechtigkeit kann nicht primär Besitz- oder Verteilungsgerechtigkeit gemeint sein, sondern in erster Linie und vor allem die „Regelgerechtigkeit“ etwa als Chancengleichheit und Zugangsgerechtigkeit im Sinne gleicher Ausgangs- und Entwicklungsmöglichkeiten, die es derzeit zweifellos zu wenig gibt und die schon viel zu lange nur als hohles Wort immer wieder nur strapaziert wird, ohne sie wirklich signifikant zu verbessern.936 Dazu gehört es, beim Start aller eini933 Vgl. dazu Rolf H. Hasse, Hermann Schneider u. Klaus Weigelt (HRSG☺: „Lexikon Soziale Marktwirtschaft“ – UTB Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, München, Wien, Zürich 2002; H. Jörg Thieme: „Soziale Marktwirtschaft. Ordnungskonzeption und wirtschaftliche Gestaltung“ – Verlag dtv-Beck München 1994; Ludwig Erhard, Wolfram Langer: „Wohlstand für alle“ – Jubiläumsausgabe Verlag Econ Düsseldorf, Wien 2000 und ihre Besprechung durch Indira Gurbaxani: „Ausweg aus der Beliebigkeit“ – SZ Nr. 38 vom 15./16.02.2003, S. 28 934 Nikolaus Piper: „Mut zur Wahrheit“ – SZ Nr. 278 vom 02.12.2002, S. 4; Friedrich Merz in dem Interview: „Den Sumpf austrocknen“ – Der SPIEGEL Nr. 10/2003, S. 30 ff.; ebenso McKinsey Berater Jürgen Kluge auf dem 9. Berliner Hauptstadtgespräch der Freien Universität, BMW Group und Süddeutschen Zeitung – „Das alte Lied“ – SZ Nr. 107 vom 10./11.05.2003, S. 9 935 „Bundesbank schlägt Alarm“ – SZ Nr. 56 vom 08./09.03.2003, S. 21; Deutsche Bundesbank – vgl. „Wege aus der Krise“, S. 6 und Otfried Höffe: „Gerechtigkeit“, S. 84 ff. (85, 86) 936 Unter Bezugnahme auf den Wohlfahrtsökonomen und Nobelpreisträger Amartya Sen siehe den Volkswirtschaftler an der Universität München, Stephan Klasen: „Die wahren Gerechtigkeitslücken – Besteuerung von Familien und Erben und Bildung als Hauptthemen/Möglichkeiten erweitern“ – SZ Nr. 187 vom 16./17.08.2003, S. 17; Ute Vogt in dem Interview: „Wir müssen uns für Reformen nicht entschuldigen – Die baden-württembergische SPD-Vorsitzende plädiert für einen neuen Begriff von Solidarität“ – SZ Nr. 239 vom 17.10.2003, S. 6; gegen das ausschließliche Verteilungsdenken auch Otfried Höffe, Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen: „Dreidimensionales Sparen – Was heißt Soziale Gerechtigkeit heute?“ – SZ Nr. 253 vom 04.11.2003, S. 13 sowie ders.: „Gerechtigkeit“, S. 87, 88; in diesem Sinne auch der Bochumer SPD-Parteitag – vgl. Hans-Jörg Heims: „Schlappen für Clement und die Führung – Wichtige Beschlüsse der Delegierten, denen fast 500 Anträge und Eingaben vorlagen“ – SZ Nr. 267 vom 20.11.2003, S. 5; Ulrich Schäfer: „Weil wir sind, wie wir sind – Die Deutschen jammern sich in den sozialen Untergang.

Wieso die Politik nun hart bleiben muss“ – SZ Nr. 193 vom 21./22.08.2004, S. 6; Heinz Bude, Soziologe aus Kassel: „Schwarze Löcher – Zum Thema des Soziologentags: Ungleichheit“ – SZ Nr. 230 vom 04.10.2004, S. 13; zu den jetzt sogenannten „Egalitaristen“ siehe auch Gert G. Wagner: „Ungleichheit in Würde? – Die Hannoveraner Sicht: Ein Band über ‚Sozialstaat und Gerechtigkeit‘“– SZ Nr. 213 vom 15.09.2005, S. 16, Besprechung des Buches von Detlef Horster (Hrsg.): „Sozialstaat

244

germaßen – soweit das überhaupt mit staatlichen Geldmitteln machbar ist – zu gewährleisten, gerade damit jeder so gut wie möglich seine Fähigkeiten und Freiheiten nutzen kann, um seine eigene Existenz optimal zu sichern. Noch immer aber hängt gerade in Deutschland der berufliche Erfolg maßgeblich von der sozialen Herkunft ab.937 Inwieweit er die Chancen tatsächlich nutzt, bleibt allein seine eigene Entscheidung einschließlich der Folgen, die sich daraus ergeben. Die zwingende Rückseite der individuellen Freiheit ist eine daraus resultierende Eigenverantwortung, mit der Freiheit nutzbringend umzugehen und dabei die Mitmenschen einzubeziehen. Es ist daher politisch nicht richtig gedacht, grundsätzlich ökonomische Spannungen als Grundlage der Existenz des einzelnen Menschen unter den Menschen in einer freiheitlichen Gesellschaft durch frühzeitige und möglichst freiwillige Ausgleichsmaßnahmen zu verringern und verbleibende Konflikte organisatorisch in Ausgleichsmechanismen zu verlagern, die zu verträglichen Entwicklungsprozessen beitragen. Denn das ist auch ein wirtschaftlicher Aspekt.938 Die Selbstverantwortung schließt die zu negativen Folgen ein. Was der einzelne aus den chancengleichen Ausgangsbedingungen dann weiterhin für sich macht, ist in erster Linie seine Sache, das Ergebnis seines Wollens und Könnens.

Jeder muß nach seinen Fähigkeiten und seiner Leistung entlohnt werden, und auch wer eine größere Verantwortung trägt, soll mehr verdienen, sofern die Abstände zueinander nicht maßlos werden.939 Es hat sich im übrigen gezeigt, daß immer weiter steigender Wohlstand allein die Menschen nicht glücklicher macht, sofern einmal die Grundbedürfnisse erfüllt sind.940 Hier wäre also schon von daher ein Ausgleich nicht erforderkich.

Im späteren Verlauf des Lebens gilt es dann solidarisch zu helfen, wenn der einzelne sein Leben nicht mehr selbst und aus eigener Kraft menschenwürdig zu gestalten vermag. Man spricht seit Marx zwar immer noch von den „sozial Schwachen“, meint aber in Wahrheit die „ökonomisch Schwachen“. Besonders und Gerechtigkeit“ – Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2005; Thomas Wieczorek: „Die verblödete Republik“, S. 57 ff.

937 Alex Rühle: „Der große Graben – Nirgendwo hängt beruflicher Erfoklg so sehr von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland“ – SZ Nr. 257 vom 08.11.2011, S. 11 938 Frank Wiebe: „Von Kant lernen“ – Handelsblatt Nr. 88 vom 09.05.2005, S. 9 939 Interview mit Anselm Bilgri: „‘Da muss der Bürger fassungslos sein‘ – Anselm Bilgri war früher Benediktinerpater, heute ist er Unternehmensberater. Ein Gespräch über Rekordgehälter trotz Rekordverlusten, über Manager und Moral“ – SZ Nr. 75 vom 31.03.2009, S. 26; Peter Felixberger: „Bildung ist das Einzige, was zählt“ – Buchbesprechung von Michael Hüther u. Thomas Straubhaar: „Die gefühlte Ungerechtigkeit – Warum wir Ungleichheit aushalten müssen, wenn wir Freiheit wollen“– Econ-Verlag – SZ Nr. 112 vom 16./17.05.2009, S. 34; Ralf Dahrendorf: „Auf der Suche nach einer neuen Ordnung – Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert“ – C. H. Beck München 2003 940 Christian Weber: „Irgendwann ist es genug – Steigender Wohlstand macht Gesellschaften auf Dauer nicht glücklicher“ – SZ Nr. 289 vom 14.12.2010, S. 16

245

wenn es zu unverschuldeten Härten im Einzelfalle kommt, stellt sich die Frage nach dem ob, dem wie, dem wieviel und dem wie lange möglicher Solidarität.

Was dabei zwangsläufig passiert, ist der mehr oder weniger ausgeprägte Wandel von einer unter dem Titel „Sozialstaat“ organisierten Wohlstandsgemeinschaft wieder zurück in eine wirkliche Notgemeinschaft mit dem ursprünglichen Zweck des Sozialstaats, elementares Elend zu vermeiden.941 Damit wird es auch später immer wieder Menschen geben, die den wachsenden Anforderungen einer stark nach vorwärts strebenden Gesellschaft unverschuldet nicht oder nicht mehr gewachsen sind. Das sind dann sicherlich weniger diejenigen, denen es zumutbar gewesen ist, in ihrer Jugend einen Beruf zu lernen oder lebenslang weiter zu lernen, die das jedoch aus nicht unbedingt anerkennenswerten Gründen mutwillig versäumt haben und jetzt massenweise arbeitslos geworden sind. Wer einfach nur nicht will, „Null-Bock“, Faulheit und Bequemlichkeit bei wachen Sinnen zum eigenen Lebensprinzip erhebt, mag diesen Weg getrost allein gehen. Der Respekt der Gesellschaft auch vor dieser Art „persönlicher Freiheit“ kann nicht gleichzeitig die Verpflichtung einschließen, für Lasten aufzukommen, die absehbar mit dieser Haltung eintreten. Die fähige Gesellschaft kümmert sich sogar um diese Härtefälle (Problem der Langzeitarbeitslosen), erreicht damit aber die Grenze dessen, die es noch legitimiert, andere nun sogar dafür aufkommen zu lassen. Immer geht es hierbei nur um die Frage der dem Menschen auf allen Seiten zumutbaren Grenzen. Die beiden Seiten des Individualismus heißen Eigenverantwortung im Guten wie im Bösen.

Wenn man von dem wünschenswerten „Normalfall“ in einer Gesellschaft ausgeht, wonach grundsätzlich jeder selbst für seine ausreichende, aber auch menschenwürdige Existenzsicherung sorgen kann, weil ohne Anerkennung dieses Prinzips auch die Gesellschaft als ganzes nicht überleben kann, dann stellen solidarische Transferleistungen eine moralisch und sozialstaatlich verankerte, aber eben doch Ausnahme von diesem Grundsatz dar (Subsidiaritätsprinzip). Die Bedürftigkeit des einen muß gewissermaßen aus Gründen und unter Bedingungen entstanden sein, die es nach den wechselseitig geltenden, anerkannten Wertmaßstäben für ein menschenwürdiges Miteinander einer Gesellschaft erfordert, aber auch rechtfertigt, daß andere dafür unentgeltlich Leistungen zur Verfügung stellen bzw. diese als Hilfen in Anspruch genommen werden.

Daraus ergibt sich eine erste, wichtige Voraussetzung für Transferleistungen: Bedürftige können nur in Fällen unverschuldeter Not oder bei unverschuldetem „Nichtkönnen“ auf die staatlich organisierte Solidarität anderer setzen. Erst wenn Menschen unverschuldet nicht (mehr) in der Lage sind, selbstverantwortlich für sich aufzukommen, dürfen sie auf Solidarität hoffen.

Unverschuldete Not? Bedürftigkeit? Was ist das? Es gibt vielfältige Auslöser.

Beginnen wir damit, daß es Menschen gibt, die so ungleiche Ausgangsbedingun941

Gustav Seibt: „Die neue Notgemeinschaft“ – SZ Nr. 187 vom 14./15.08.2004, S. 4

246

gen dafür haben, ihr eigenes Leben meistern zu können, daß hier gleich zu Beginn des Lebens ein hohes Maß an Chancengleichheit eine für die gesamte Lebenszeit wirksame Voraussetzung ist, dieses eigene Leben dann selbstverantwortlich auch in die eigene Hand nehmen zu können. Das kann bereits in der Bildungsphase notwendig sein, daß junge Menschen nicht die Ausbildungsabschlüsse erreichen, die für andere leicht und selbstverständlich sind, aber auch später bei dem Bemühen um eine, den eigenen Lebensstandard sichernde Beschäftigung. Natürlich haben auch Dauerkranke, Behinderte und sonstig gehandycapte Menschen Anspruch auf ausgleichende Unterstützung.

Jeder Mensch gerät auch einmal in eine „Opferrolle“. Er ist Kräften, Mächten und mitunter sogar der Gewalt ausgesetzt, ohne diese abwehren zu können. Eine besondere und vor allem zunehmende Ausprägung ist die individuelle Gewalt, die zu einem Großteil die Kriege zwischen ganzen Völkern – übrigens auch in Form eines weltweiten Terrors – abgelöst hat.942 Es findet eine immer größere Ausbreitung einer unkontrollierten Gewalt statt. Die konkreten Ursachen dafür sind vielfältig und im Einzelfall unterschiedlich: Existenzdruck, wirtschaftliche Not, aber auch Drogen sind häufige und mitunter sogar verständliche Erklärungsmuster. Das beginnt bereits in der engsten Familie,943 in der Schule bei den Jugendlichen. Es setzt sich fort im Straßenverkehr, durch sogenannte Hooligans in den Fußballarenen und „gewaltbereite autonome Gruppen“944 bei allen möglichen Veranstaltungen. Zugleich bilden sich neue spezifische Form und Ausgestaltungen der individuellen Bedrohung in unserer Zeit heraus wie beispielsweise das als gewaltsam empfundene sogenannte „Stalking“.945 Auf jeden Fall verstärkt sich der Eindruck, daß die Gewalt für unsere Gesellschaft ein immer größeres Problem wird. So erleiden manche Schäden und Wunden, mitunter sogar bleibender Art, im schlimmsten Falle den eigenen Tod. Was in der Regel bleibt, ist die Frage des ‚Danach‘. Solidarität ist damit auch Opferschutz. Der wichtigste Schutz wäre es, rechtzeitig zu verhindern, daß jemand überhaupt ein Opfer wird.

Sicherheit wird zum sozialpolitisch wichtigen Handlungsfeld.

Für eine angemessene staatliched Sozialpolitik heißt das: Leistungsfähigkeit der gesamten Gesellschaft und ein Umfang und Rahmen für die Unterstützung Hilfsbedürftiger, die ständig austariert und in einem ausgewogenen, als gerecht empfundenen Verhältnis zueinander gehalten werden müssen. Zu den permanenten Zielen unserer Gesellschaft gehört daher, auf Lebensbedingungen zu achten, die man gemeinhin auch mit „sozialer Gerechtigkeit“ umschreibt. Die Aussagen der politischen Parteien (Programme) hierzu sind so unterschiedlich 942

Siehe auch Peter Hahne: „Schluss mit lustig ...“, S. 9 ff.

Monika Frommel: Fußangeln auf dem Weg zu einer verbesserten Prävention gegen häusliche Gewalt – ZRP 7/2001, S. 287 ff.

944 Siehe z.B.: Frisch beklagt Zunahme rechtsextremer Gewalt – Verfasssungsschutz: Strafrecht konsequent auslegen – DIE WELT vom 13. 08.1997, S. 2 945 Björn Kerbein u. Philipp Pröbsting: Stalking – ZRP 2/2002, S. 76 ff.

943

247

nicht, zumal sich alle einer hohen verbalen Abstraktion bedienen, der eigentlich jeder zustimmen kann. Noch immer weitgehend anerkannt ist die Ehrhard’sche „soziale Marktwirtschaft“, aber auch hier kommt es auf ihre konkrete Ausgestaltung an.946 Es scheint aber, daß keiner wirklich weiß, was die Erfolgskriterien des Wohlstandsmodells vergangener Jahre war947 und demgemäß auch nicht, was aktuell zu tun ist, um diesem Modell nahe zu bleiben. Hilfreich war sicherlich, daß die Entwicklung immer nur „nach oben“ ging (Wachstum) und damit früher oder später jeder davon profitierte. Inzwischen gibt es Wachstum, von dem viele nichts verspüren. Ähnlich unklar verhält es sich mit dem oft im Mund geführten „europäischen Sozialmodell“, das es genau genommen – so auch der Tübinger Politik- und Sozialwissenschaftler Josef Schmidt – als einheitliches System gar nicht gibt. Wenn auch die groben Ziele ähnlich sind, erreichen viele Nationen sie auf sehr unterschiedlichen konkreten Wegen.948 Selbst weiter links stehende Parteien bekennen sich „grundsätzlich“ zur sozialen Gerechtigkeit oder propagieren das politische Leitbild einer „solidarischen Gesellschaft“, wie das etwa auch auf dem Hamburger Parteitag der SPD 2007 in Hamburg der Fall gewesen ist.

Man sieht auch noch die naheliegenden personellen Dimensionen, die hierbei eine Rolle spielen: Reich zu arm, alt zu jung, heutige Generation zu der künftigen. Nikolaus Piper hat in der Süddeutschen Zeitung treffend deutlich gemacht, daß sich alle Beteiligten gern auf die „soziale Marktwirtschaft“ berufen, diese also dem Worte nach anerkennen und verwirklichen wollen.

Entscheidend ist zumindest in der politischen Auseinandersetzung ein als ausgewogen anzustrebender, und in der Akzeptanz wenigstens noch erträglicher Zustand, den es von den Regelungen her konkret zu erreichen gilt, und der natürlich einmal klar beschrieben und offen zur Diskussion gestellt werden muß, bevor man ihn ansteuert. Daß es dabei dann in einer modernen „Sozialpolitik“ noch darum geht, die nichtmaterielle Voraussetzungen zu schaffen, die über die traditionelle Umverteilung von Geldern hinaus kulturelle Standards einbeziehen,

946 Alina Fichter: „Mit Erhard durch die Finanzkrise – Experten debattieren in München über die soziale Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 172 vom 29.07.2009, S. 20; zur Entstehungsgeschichte vgl. Nikolaus Piper: „Erhards Erbe ist verspielt – Der Minister und spätere Kanzler führte 1948 gegen erbitterte Widerstände die soziale Marktwirtschaft ein. Die heutige Bundesrepublik hat mit seinen Idealen wenig zu tun. Es gibt hohe Sozialausgaben, Schuldenberge, Kartelle und Verbändemacht. Trotzdem dient das deutsche Modell in der Krise vielen Staaten als Vorbild“ – SZ Nr. 201 vom 31.08.2012, S. 20 947 Nikolaus Piper: „Das Soziale an der Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 95 vom 26.04.2005, S. 17 948 Björn Finke: „Es lebe der kleine Unterschied – Alle reden vom ‚europäischen Sozialmodell‘ – doch das gibt es gar nicht“ – SZ Nr. 176 vom 02.08.2005, S. 18; ders. „Viel Lärm um nichts – Politiker streiten über das europäische Sozialmodell. Dabei gibt es auf dem Kontinent gar kein einheitliches System – die Staaten folgen sehr unterschiedlichen Ansätzen, um ihre Bürger zu schützen“ – SZ Nr. 201 vom 31.08.2012, S. 20

248

um das Ziel einer sozialen Integration in die Gesamtgesellschaft vom Ansatz her zu fördern, hat der Historiker Paul Nolte anschaulich dargetan und begründet.949 Sicher wird man nicht überall und ganz auf derartige Eingriffe in die individuelle Freiheit („Mindeststandards“)950 verzichten können, auch wenn sie immer wieder auch veränderten Entwicklungen angepaßt werden müssen und entsprechend aufwendiger Kontrollen bedürfen, weil viele natürliche Anreize und dynamische Kräfte der Menschen und des Wettbewerbs weiterhin in typischer und daher abstrahierbarer Weise dagegen wirken, selbst wenn man sich zu derartigen Rahmenbedingungen nun endlich auch international verständigen könnte.

Hilfen kann der Mensch im übrigen auf vielfältige Weise erhalten. Da ist zunächst seine Familie, die Verwandten, Nachbarn und Freunde ... usw. Was diese tun oder tun müssen, ist nur teilweise in Gesetzen geregelt (z.B. Unterhaltspflichten, unterlassene Hilfeleistung), ansonsten aber ihre eigene menschliche Entscheidung. Sie mögen hier mehr oder weniger ihren persönlichen Wertvorstellungen folgen oder christlichen oder anderen religiösen Geboten. Das ist und kann hier nicht das Thema sein. Hier geht es allein um das, was als gesellschaftliche Überzeugung der Gemeinschaft obliegt und in der Sozialverfassung auch ihren Niederschlag in entsprechenden Regelungen erfährt, aus allgemeinen Steuermitteln oder Beiträgen finanziert und damit vom Staat oder entsprechenden Einrichtungen als Inbegriff des Gemeinwesens formal erfüllt werden soll.

Es entspricht sicherlich einem solidarisch verpflichteten Gemeinwesen, anderen Menschen soweit wie nötig, aber auch nur soweit wie möglich zu helfen, sofern sie selbst sich in zumutbarer Weise angestrengt haben und nur aus Gründen versagen, die sie selbst nicht zu vertreten haben.951 Fremdhilfe (auch dauerhaft) bleibt immer nur subsidiär. Dieses Verständnis gesellschaftlicher Solidarität ist damit stets abzuwägen gegenüber dem für grundsätzlich alle, hier aber vor allem die Geber geltenden Leistungsprinzip. Deshalb erscheint auch der Vorschlag eines bedingungslosen „Bürgergeldes“ als „Grundeinkommen“ oder steuerfinanzierte Grundsicherung“ für alle,952 gleichgültig in welcher individuellen

949

Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 62 ff. (69) u. 84 Sigmar Gabriel: „‘Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren‘ – Bundesumweltminister Sigmar Gabriel entwirft das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und fordert Mindeststandards für die internationalen Finanzmärkte“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 26 (Auszug aus seinem Buch „Links neu denken“) 951 Daniela Kuhr: „Kündigung wegen fehlender Qualifikation ist auch nach 40 Jahren zulässig – Landesarbeitsgericht: Arbeitnehmer müssen sich im Zweifelfsfall selbst darum kümmern, dass sie mit der zunehmenden Technisierung im Job mithalten können“ – SZ Nr. 261 vom 12.11.2009, S. 20 (LAG SchlHolst Az. 3 Sa 153/09).

952 Thomas Straubhaar: „Ein Grundeinkommen für alle – Der Staat sollte allen Bürgern ein Einkommen garantieren – vom Säugling bis zum Greis. Bezahlt wird es aus Steuern“ – SZ Nr. 31 vom 08.02.2010, S. 16; Caspar Dohmen: „Mehr für Müllmänner, weniger für Manager – Der Unternehmer Götz Werner propagiert das bedingungslose Grundeinkommen für alle Bürger. Die Folge davon 950

249

Lage sie sich befinden und worauf das dann jeweils zurückzuführen ist, als zu weitgehend.953 Der Gedanke, daß sich die „Bedingungslosigkeit“ eines Bürgergeldes für alle, auch für Gutverdinende, dadurch begründet, daß es für letztere nichts anderes als ein in dieser Form gewährter Steuerfreibetrag sei, scheitert daran, daß es sich einmal um eine aktive Zahlung aus Steuergeldern, im anderen Falle nur um den Verzicht der Steuern auf diesen Betrag handelt. Beides ist nicht gleichwertig. Bei nachgewiesener unverschuldeter Bedürftigkeit spricht aber nichts dagegen, mit einer einheitlichen Grundsicherung die Unübersichtlichkeit und die Nachteile (z. B. hohes Maß an Prüfaufwand und Bürokratie, sittenwidrige Niedriglöhne) zu vermeiden, die heute von einer hochdiffernzierten Vielzahl von Transferleistungen aus den unterschiedlichsten Anlässen ausgehen.

Die Relativität von Mitteln und Verteilung Im Mittelpunkt der sozialen Gerechtigkeit steht der ökonomische Ausgleich zwischen denen, die in besonderem Maße bedürftig sind und anderen, denen es zuzumuten ist, etwas von dem, was sie haben oder verdienen abzugeben. Wir haben uns fast schon daran gewöhnt, dabei allein die Frage nach dem Bedarf zu stellen, der ja aus der Sicht der Betroffenen auch am deutlichsten spürbar wird.

Alle diejenigen, welche irgendeine Hilfsbedürftigkeit und damit soziale Erwartung thematisieren, erhalten dafür im allgemeinen volle Zustimmung von der ebenso grundsätzlich sozial denkenden, aber nicht immer auch unmittelbar betroffenen Öffentlichkeit.

Die Kehrseite solcher Wünsche und Forderungen wird dabei meistens schlicht ausgeblendet, nämlich zu fragen, woher die Mittel dafür eigentlich kommen und wieviel sozialen Transfer sich ein Land leisten kann. Das zeigt sich, wenn es um bedingungslose Existenzsicherung („Mindestlohn“ oder „Mindestrente“) geht,ohne Rücksicht auf Ursachen und Zumutbarkeiten zu nehmen. Dazu kommen viele spezielle, als absolut zu entscheidene Einzelthemen, von der Steuerpflicht („Entfernungspauschale“) bis hin zur Alterssicherung und Studiengebühren. Sozialer Transferaufwand muß irgendwo erwirtschaftet werden. Im allgemeinen geschieht das einfach dadurch, daß der Staat Steuern erhebt und die beschäftigten Menschen Beiträge zur Absicherung verschiedener Risiken aufbringen. Immer noch ist die Lage und Sicht der Leistungsträger, also derer, „die den Karren ziehen“, weniger im allgemeinen Bewußtsein, obwohl hierzu nicht mehr nur die reichen oder vermögenden Menschen, sondern immer mehr die arbeitenwäre, dass die Gehälter für harte, unanttraktive Jobs deutlich steigen“ – SZ Nr. 125 vom 31.05.2011, S. 35 953 Ebenso Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 91 unter Bezugnahme auf den Nationalökonomen David Ricardo.

250

den Normalbürger der sogenannten breiten gesellschaftlichen Mitte zu zählen sind, die in Arbeit sind und ihre Steuern und Abgaben zahlen.

Der Chef des Münchner IfO-Instituts, Hans-Werner Sinn, hat deshalb die Forderung, jeder müsse „von seiner Hände Arbeit“,spätestens als Folge von Mindestlöhnen von seiner eigenen Arbeit leben können, als den „dümmsten Spruch des Jahres“ bezeichnet. „Mindestlöhne unterminieren die Gesellschaft“. Besser wären dann schon Lohnzuschüsse für diejenigen, die durch Arbeit kein ausreichendes Existenzminimum erreichen können. 954 Der Ökonom Hans-Werner Sinn hat mit seiner zugegebenerweise medienwirksam provokant aufbereiteten Aussage ein lebhaftes – auch polemisch ablehnendes – Echo bei den Lesern bewirkt. Nur ist es zweifellos sein Verdienst, einmal klipp und klar auf damit verbundene ökonomische Gesetzmäßigkeiten aufmerksam zu machen, die auch dann wirken, wenn einem die Ergebnisse nicht gefallen. Wie schwer sich manche immer noch damit tun, macht auch die inhaltlich ausufernde und methodisch nicht sehr präzise Reaktion des ehemaligen Innenministers Hans Peter Bull deutlich. Daß er vom sozialpolitischen Ergebnis her argumentiert, geht schon in Ordnung. Nur muß er uns sagen, wie er die nachteiligen Folgen ökonomische Gesetzmäßigkeiten bei seinen Ideen vermeiden will.

Nicht weil Sinn in seiner Aussage falsch liegt, sondern gerade weil es richtig ist, worauf er hinweist, und weil wir uns alle nicht nur zur Marktwirtschaft bekennen, die viele sozial wünschenswerte Folgen zeitigt, nur leider nicht alle Probleme löst, stellt sich doch erst die Frage, wie wir als sozial verantwortliche Gemeinschaft mit den Menschen umgehen, die allein nach ökonomischen Spielregeln eben nicht mehr von ihrer Hände Arbeit leben können. Sinn hat das an Beispielen aufgezeigt, sondern auch einen Lösungsvorschlag gemacht. Erst wenn wir so an die Problemlösung herangehen, haben wir die Chance, zu richtigen, d.h. tragfähigen Lösungen zu finden. Der Mindestlohn mit seinen ökonomisch wiederum nachteiligen Folgen für den Markt und damit auch die Zahl der Arbeitsplätze gerade im Niedriglohnsektor einerseits und demotivierenden Auswirkungen auf das Gerechtigkeitsgefühl derer, die wirklich hohe Leistungen erbringen, andererseits, gehört eben nicht zu den idealen Lösungsansätzen.955 Nicht jeder muß also von seiner Hände Arbeit leben können, sondern jeder Mensch hat in einer Sozialgemeinschaft Anspruch darauf, ein menschenwürdiges Leben gerade auch dann führen zu können, wenn er unverschuldeterweise (!) aus eige954

Vgl. auch Hans-Werner Sinn: „‘Mindestlöhne unterminieren die Gesellschaft‘ – Deutschland hat schon seit langem eine Lohngrnze nach unten – der Schaden ist gewaltig. Ein Plädoyer für den besseren Sozialstaat“ – SZ Nr. 76 vom 01.04.2008, S. 22 955 Hagen Lesch: „Für eine faire Umverteilung – Wer einen gesetzlichen Mindestlohn einführen will, darf das Gerechtigkeitsgefühl der Bezieher hoher Gehälter nicht verletzen“ – SZ Nr. 108 vom 12.05.2009, S. 18; „Wissenschaftler lehnen Mindestlohn ab“ und Thomas Öchsner: „Röslers Beirat warnt vor Mindestlohn – Wissenschaftler fürchten Zustände wie in der Weimarer Republik“ – SZ Nr. 195 vom 24.08.2012, S. 1 u. S. 5

251

ner Kraft dazu nicht in der Lage ist. Hier kommt man nicht daran vorbei, daß die Gemeinschaft unterstützend eingreift.

Spezielle Interessen und bedingungslose Gruppenvorteile zu Lasten anderer zu verfolgen sind meistens das Gegenteil von allgemeiner Gleichheit, Solidarität und nicht selten auch Gerechtigkeit. Sie verdichten und verabsolutieren sich im Laufe der Zeit immer mehr, je häufiger sie vorgetragen werden. Die Medien dieser Welt unterstützen das aus Gründen der für sie ökonomisch wirksamen Unterhaltung gern. Dabei haben sie alle insoweit etwas Gemeinsames: Sie sind einseitig, auch wenn gern das Gegenteil behauptet wird, werden übergewichtet gegenüber den widerstreitenden Interessen anderer, und vermitteln angesichts der hohen Komplexität aller maßgeblichen Einflußfaktoren oft ein verzerrendes Meinungsbild auch bei denen, die stets ihren werbenden Attacken ausgesetzt sind. Der Mensch wird zunehmend unfähig, den Sinn und die Schlüssigkeit des Vorgetragenen noch nachzuvollziehen und zu bewerten.

Eine erfolgreiche Marktwirtchaft sichert dem Staat normalerweise die Einnahmen, aus denen soziale Verpflichtungen erfüllt werden können. Bei ausreichenden Mitteln können alle Formen der im Einzelfall notwendigen und aufwendigen Solidarität, auch als laufende Transferleistungen den Kriterien entsprechend erfüllt werden. Hier spiegelt sich bei ausgewogener Balance zwischen Bedürftigkeit und Leistungsfähigkeit die gegenseitige soziale Verantwortung des Staates, aller Bürger ebenso wider wie die Sozialbindung von Vermögen und Eigentum.

Fast ein Drittel der gesamtwirtschaftlichen Leistung fließt heute in Deutschland in staatliche Sozialleistungen.956 Unser Staat verteilt massiv von oben nach unten um („Transfer“), wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln in einer Untersuchung festgestellt hat. Zehn Prozent der Bundesbürger, also die mit dem niedrigsten Durchschnittseinkommen, erhalten monatlich 900 Euro mehr vom Staat, als sie an Abgaben leisten. Die mit einem Monatseinkommen von 5350 Euro zum bestverdienenden Zehntel gehörenden Bundesbürger zahlen mehr als 2200 Euro in die öffentlichen Kassen ein. Ein Teil des sozialen Ausgleichs erfolgt zudem auf privater Ebene etwa über Unterhaltszahlungen oder durch Beihilfen nichtstaatlicher Organisationen (Kirchen). Das ärmste Zehntel der Bevölkerung erhält auf diesem Wege nochmals 160 Euro im Monat, während das einkommenstärkste Zehntel dafür sein Einkommen nochmals mit 350 Euro um rund zehn Prozent reduzierte.957 Eine andere Betrachtung ist diese: Mehr als ein Fünftel aller Steuerpflichtigen in Deutschland zahlt keine Lohn- und Einkommensteuer. Rund 6,2 Millionen der 956 „Eine neue Ordnung mit bewährten Prinzipien – Schwarz-gelber Schulterschluss: Norbet Röttgen (CDU) und Christian Lindner (FDP) plädieren für eine Besinnung auf die soziale Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 71 vom 26.03.2010, S. 5 957 Sibylle Haas: „Gutverdiener stemmen soziale Sicherung – Institut der deutschen Wirtschaft untersucht die Umverteilung und räumt mit Klischees auf“ – SZ Nr. 5 vom 08.01.2009, S. 17

252

28,8 Millionen Steuerpflichtigen haben Einkünfte von höchstens 10 000 Euro im Jahr, die größtenteils steuerfrei sind.958 Das oberste Fünftel zahlt rund 70 Prozent des Gesamtaufkommens der Einkommensteuer, 10 Prozent der Bevölkerung trägt mehr als 60 Prozent der Steuern.959 5 Prozent der Deutschen zahlt über 40 Prozent, 10 Prozent von ihnen 53,5 Prozent ihres Einkommens. Unser bisheriger Steuertarif sorgt im übrigen dafür, daß die mittleren und höheren Einkommen laufend und steigend immer mehr belastet, während Geringverdienerhaushalte oder auch solche mit Kindern entlastet werden,960 der arbeitende Mensch im Jahre 2009 bereits bis Mitte Juli ausschließlich für Steuern und Abgaben arbeitete – so der Bund der Steuerzahler – und erst den Rest des Jahres für sich selbst.

Auch wenn die Einkommensteuer nicht das gesamte Belastungsbild widergibt, weil sie nur etwa 30 Prozent aller Steuereinnahmen des Staates ausmacht, und auch die Verteilung der monetären Einkommen keineswegs etwas über die dahinter stehenden Wertschöpfungen oder individuellen Leistungen aussagt961 - der der Staat hat für die Jahre 2008/2009 in seinem verabschiedeten Bundeshaushalt ein Drittel ausschließlich für soziale Ausgaben vorgesehen.

Neben dem Steuersystem als dem eigentlichen Transfersystem sozialen Ausgleichs organisieren zahllose andere Systeme unkoordiniert mit diesem ihren eigenen, also einen weiteren und unter dem Strich nicht mehr sicher bewertbaren sozialen Ausgleich. Das gilt insbesondere im System der sozialen Rentenversicherung, der Kranken- und Pflegeversicherung und der Arbeitslosenversicherung, weil diese auf diverse Sonder-Zuschüsse des Staates für vielfältige soziale Zwecke (Kindergeld, Sozialhilfe u.v.m.) bis hin zum Ausgleich von immer mehr steigenden Defiziten in den Sozialkassen durch Steuermittel sicher rechnen können und darauf auch nicht verzichten wollen. Dort sind sie teilweise recht unübersichtlich auf die verschiedensten Anlässe, Institutionen und Rechtsquellen hin organisiert. Aber die speziellen sozialen Staffelungen beginnen nicht nur hier und enden letztlich auch nicht bei verbilligten Eintrittspreisen oder Fahrkosten für Schüler, Studenten und Rentner, für die Subventionierungen kultureller und bildungspolitischer Einrichtungen..

958 Stat. Bundesamt – vgl. Marc Beise: „28,8 Millionen Steuerpflichtige in Deutschland – Viele Deutsche zahlen keine Einkommensteuer – Neue Zahlen des Statistischen Bundesamtes/12400 EuroMillionäre/Debatte um Zuschlag für Reiche geht weiter“ – SZ Nr. 147 vom 29.06.2005, S. 19; Ulrich Schäfer: „Für ein paar Euro mehr – Was eine Reichensteuer bringt“ – SZ Nr. 151 vom 04.07.2005, S. 2 959 Armutsbericht der Bundesregierung – zit. bei Guido Bohsem: „Was gerecht ist“ – SZ Nr. 219 vom 21.9.2012, S. 4 960 Vgl. dazu Oswald Metzger: „Einspruch! ..“, S. 140 ff. (insbes. 142, 143 und 147); so ausdrücklich auch Gerhard Schröder in dem Interview: „‘Ich habe nicht die Absicht, die Russland-Politik zu ändern‘ – Der Bundeskanzler kritisiert heftig die deutschen Manager: ‚Eigentum verpflichtet – dieser Satz gilt nicht nur auf dem Papier‘“ – SZ Nr. 229 vom 02./03.10.2004, S. 7 961 Werner Vontobel: „Lohn und Leistung – Peter Sloterdijks ökonomiscghe Kurzschlüsse“ – SZ Nr. 246 vom 26.10.2009, S. 13

253

30 Prozent aller Haushalte im Osten sind beispielsweise derzeit von Sozialleistungen abhängig und erhalten sie auch.962 Für die Nachwuchsförderung gibt es – um ein anderes Beispiel herauszugreifen – neben dem Kindergeld Kinder- und Betreuungsfreibeträge, Kinderbetreuungskosten, Ausbildungsfreibeträge, Vorteile beim selbstgenutzen Wohnungseigentum und bei der Kapitalanlage.963 Interessant und nicht ohne Konsequenz ist in diesem Zusammenhang, daß genau aus Gründen besserer Transparenz die Freien Demokraten eine Bündelung sämtlicher 140 steuerfinanzierter Sozialleistungen in einem sogenannten „Bürgergeld“ vorgeschlagen haben, das dann auch nur von einer Behörde statt von bisher 50 verschiedenen – also künftig allein den Finanzämtern – ausgezahlt werden sollte.964 Der Staat erbringt inzwischen gegenüber dem Staatsbürger auch zahlreiche Leistungen, die nicht unter dem Begriff des Sozialtransfers subsumiert werden.

Man denke nur an die unzähligen Protektionismen und steuerlichen Vergünstigungen und Privilegien, die – unter welchem Aspekt auch immer – nur einzelnen Staatsbürgern zuteil werden. Der Staat verfolgt dabei nicht nur soziale Ziele, sondern diverse Steuerungsfunktionen, indem er Anreize zu einem bestimmten wirtschaftlichen Verhalten setzt. Der Zweck der Leistungen ist also fließend.

Nach Feststellungen des Wirtschaftswissenschaftlers Peter Hampe ist „...die Sozialleistungsquote (also der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt), die anfangs rund 15 Prozent betrug, stieg bereits bis Mitte der 70er Jahre auf 33 Prozent an. Seither debattieren wir schon über die ‚Grenzen des Sozialstaats‘! Sozialreformen und zuletzt die Abnahme der Arbeitslosigkeit haben die Quote dann trotz Wiedervereinigung und ‚Sozialunion‘ auf etwa 34 Prozent im vergangenen Jahr reduziert.“ Im Jahre 2001 wurden in der Europäischen Union durchschnittlich 27,5 % des Bruttoinlandsprodukts für den Sozialschutz ausgegeben, das waren 1,1 Prozentpunkte mehr als 1991. Am höchsten war der Anteil in Schweden mit 31,3 %, am niedrigsten in Irland mit 14,6 %. In Deutschland stieg dieser Aufwand 1990-2001 von 25,4 auf 29,8 % des Bruttoinlandsprodukts.965 Die Sozialschutzausgaben wurden auch je Einwohner berechnet. Als Einheit wurden dabei Kaufkraftstandards (KKS) verwendet, die einen Ländervergleich 962

„Der Osten fällt zurück“ – SZ Nr. 103 vom 06.05.2005, S. 23 Heinz-Josef Simons: „So fördert der Staat den Nachwuchs – Über Zuschüsse und Steuerersparnisse kann ein hoher vierstelliger Betrag zusammen kommen“ – SZ-Spezial „Junge Vorsorge“ – Beilage zur SZ Nr. 96 vom 27.04.2005, S. 17 964 „Bonus für Fleißige – Liberale wollen Sozialleistungen im Bürgergeld bündeln“ – SZ Nr. 20 vom 26.01.2005, S. 20; Philip Grassmann: „FDP will ihr Profil schärfen – Fraktionschef Gerhardt stellt Wahlprogramm vor“ – SZ Nr. 68 vom 23.03.2005, S. 5; „FDP will vereinfachte Sozialleistungen“ – SZ Nr. 101 vom 03.05.2005, S. 5; in ähnliche Richtung Jonas Viering: „Dürftige Konzepte gegen die Arbeitslosigkeit – Für gerechte und wirksame Mittel gegen Deutschlands Dauerproblem fehlt den Parteien der Mut“ – SZ Nr. 208 vom 09.09.2005, S. 4 965 EuroStat-Jahrbuch 2004, S. 111 963

254

ohne Verzerrungen ermöglichen.Bezogen auf den Kopf der Bevölkerung beliefen sich die Sozialschutzausgaben 2001 pro Kopf in der Europäischen Union auf rund 6 405 KKS. Am höchsten waren sie mit 10 559 KKS in Luxemburg, wenig darunter Norwegen, Dänemark, Österreich, Deutschland (etwas unter 8000) und die Niederlande. Am niedrigsten mit 3 644 KKS in Portugal. Inzwischen liegt der Transfer in Deutschland nach Norwegen an zweithöchster Stelle in der Welt.

Zehn Jahre zuvor waren die Pro-Kopf-Ausgaben für den Sozialschutz in der Europäischen Union um rund ein Drittel geringer gewesen als 2001. Die Sozialschutzausgaben umfassen die Sozialleistungen, die aus Geld- oder Sachübertragungen an private Haushalte oder Einzelpersonen bestehen. Sie decken die Lasten, die den Begünstigten durch eine festgelegte Zahl von Risiken oder Bedürfnissen entstehen, sowie die Verwaltungskosten, die den Sozialschutzsystemen durch die Verwaltung und Betriebsführung entstehen, und die sonstigen Ausgaben, die aus verschiedenen Aufwendungen der Sozialschutzsysteme bestehen (z.

B. Zahlung von Vermögenssteuern).966 Nach neueren Zahlen eines Berichts der Bundesregierung hat nicht zuletzt die Wirtschaftskrise die Sozialausgaben in Deutschland auf einen neuen Rekordstand getrieben: Im Jahre 2010 soll ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt voraussichtlich 32,4 Prozent betragen. Das bedeutet, daß fast jeder dritte erwirtschaftete Euro für Soziales (v. a. für die Arbeitslosenversicherung und Hartz-IVEmpfänger, aber auch höhere Leistungen in der Renten-, Kranken- und der Pflegeversicherung) ausgegeben wird. Für das laufende Jahr 2009 rechnete die Regierung mit 31,9 Prozent, was einem Geldvolumen von 754 Milliarden Euro – 32,6 Milliarden mehr als 2008 – entspricht.967 Inzwischen haben sich hierbei manche „Besitzstände“ verfestigt, die einmal einen Sinn gehabt haben mögen, deren aktueller Nutzen jedoch fragwürdig geworden ist, weil er nicht den Schwerpunkten zugute kommt, auf die es künftig ankommt (z.B. Förderung der Wissenschaft und Forschung), oder er jedenfalls nicht mehr erkennbar ist. Schon im Zusammenhang mit einer grundlegenden Steuerreform der Herren Paul Kirchhof oder Friedrich Merz ist – nicht zuletzt auch von den Vertretern unterschiedlicher Parteien Peer Steinbrück (SPD) und Roland Koch (CDU) – eine Streichliste steuerlicher Privilegien entworfen worden, an die bisher niemand so recht herangehen wollte.968 Selbst das Wiederaufleben der bereits stark verminderten, sogenannten „Pendlerpauschale“ (korrekt „Entfernungspauschale“) durch die CSU vor den Landtagswahlen 2008 in Bayern macht das deutlich. Derartige, inzwischen höchst unübersichtliche Privilegi966

Eurostat Jahrbuch 2004, S. 112 „Rekord bei Sozialausgaben – Wirtschaftskrise lässt Kosten für Arbeitslose steigen“ – SZ Nr. 161 vom 16.07.2009, S. 1 968 Siehe auch Claus Hulverscheidt: „Subventionen, die nichts bringen – Volkswirte halten Sparerfreibeträge und Riester-Rente für sinnvoll, steuerliche Privilegien für Nacht- und Sonntagsarbeit sowie bei Flugbenzin für überflüssig“ – SZ Nr. 283 vom 08.12.2009, S. 19 967

255

en erreichen also vor allem eines nicht mehr: Die zielgerichtete, gewollte und funktionierende Steuerung des Sozialgeschehens im Rahmen einer ansonsten freien Marktwirtschaft969.

Der Rechnungshof hielt unlängst beim Bund Einsparungen von 21 Milliarden Euro innerhalb von fünf Jahren für machbar, denn Ministerien und Behörden verschwenden Milliarden. Es werden wegen verminderter Außenprüfungen Steuern nicht erhoben, Aufträge freihändig vergeben und Dinge angeschafft, die überflüssig sind.970 Uwe Jens, ehemaliger wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, hat deshalb auf die „entprivilegierte Aufstiegsgesellschaft“ des früheren SPD-Wirtschaftsprofessors und Ministers Karl Schiller zurückgegriffen und nunmehr erneut das „Leitbild der Politik für eine privilegienfreie Aufstiegsgesellschaft“ als Bedingung allgemeiner Chancengleichheit gefordert.971 Was geschieht, wenn die notwendigen Mittel nicht oder nicht mehr vorhanden sind? Kritisch wird es auch dann, wenn – aus welchen Gründen auch immer (aboluter Geldmangel im Haushalt oder bei den jeweiligen Versicherungsträgern, übergroße Gesamtzahl der Bedürftigen – auch aus demographischen Gründen) die vorhandenen bzw. erwirtschafteten Mittel nicht ausreichen, um den Transfer nach den aufgestellten Kriterien zu erfüllen. Ein Problem entsteht insbesondere, wenn in Zeit langanhaltenden wirtschaftlichen Abstiegs die Steuereinnahmen zurückgehen, zu viele Arbeitslose oder ausgedehnte Kurzarbeit zu wenig voll beitragsleistenden Arbeitnehmern gegenüberstehen, wie wir das in den zurückliegenden Jahren hoher Arbeitslosigkeit gesehen haben,972 oder auch allein dadurch, daß die Menschen immer länger leben.

Es ist keine Frage, daß gerade in Krisenzeiten die finanziellen Mittel für Transferleistungen weiterhin von irgend jemandem erwirtschaftet werden müssen, was gerade dann – wie auch der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete der SPD und 969

„‘Wir können keine Insel der Seligen schaffen“ – Linde-Chef Wolfgang Reitzle über die wachsende Angst vor der Globalisierung, mangelhafte Reformen und sein Verständnis von Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 90 vom 17.04.2008, S. 2; „‘Einen Rettungsschirm für die Steuerzahler aufspannen‘ – Der Heidelbgerger Steuer-Professor Paul Kirchhof über neue Chancen für eine ‚flat tax‘ von 25 Prozent, die richtige Staatsgröße und die Fehlleitung vieler Bankgeschäfte“ – SZ Nr. 191 vom 21.08.2009, S. 18 970 Catherine Hoffmann: „Rechnungshof rügt Merkels Haushaltspolitik – Prüfer kritisieren, dass die Bundeskanzlerin trotz der Rekordverschuldung weitere Steuersenkungen plant“ – SZ Nr. 284 vom 09.12.2009, S. 1; Guido Bohsem: „Der Milliarden-Wahnsinn – Rechtnungshof klagt: Manche Beamte haben zu viele Computer, die Bundeswehr kauft schlechte Funkgeräte – und anderes“ – SZ Nr. 263 vom 14.11.2012, S.17 971 Uwe Jens, Prof. an der Universität Bochum: „In der Krise nicht die Marktwirtschaft vergessen – Die SPD plädiert für eine solidarische Gesellschaft. Besser wäre das Leitbild einer privilegienfreien Aufstiegsgesellschaft, empfiehlt der frühere langjährige wirtschaftspolitische Sprecher der SPDBundestagsfraktion, Uwe Jens, seiner Partei“ – SZ Nr. 220 vom 20./21.09.2008, S. 24 972 „Milliardenloch in Sozialkassen – Arbeitslosigkeit treibt Ausgaben und senkt Einnahmen“ – SZ Nr. 237 vom 15.10.2009, S. 21

256

jetzige Lehrer an der Universität Bochum, Prof. Uwe Jens, anmerkt – allzu schnell vergessen wird.973 Es hat daher keinen Sinn, das immerfort zu tun und zu wiederholen, was seit Jahren – ungeachtet der Parteien und Interessenvertreter – das Bild der politischen Landschaft bestimmt, wonach immer nur die eine Seite, meistens die der Bedürftigkeit, beleuchtet wird, daran Forderungen geknüpft werden, die sich zum größten Teil nachteilig auswirken, wenn es auf der anderen Seite darum geht, auch die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu haben. Nicht das eine gegen das andere ausspielen – in der Ideenwelt und Sprache der Sozialisten ist das die ständige „Umverteilung“ oder der hierbei vorgeführte „Verteilungskampf“, sondern beides ist gefordert: Erwirtschaftung des notwendigen Finanzrahmens u n d gerechte Teilhabe bzw. Unterstützung derer, die aus unverschuldeten Gründen nicht daran teilhaben können.

Um auch jetzt den berechtigten sozialen Bedarf bezahlen zu können, steigen die Beiträge und Steuern eher noch weiter mit der Folge, daß noch mehr Arbeitsplätze entfallen. Weil die Arbeit zu teuer geworden und die Wirtschaft zu den geltenden Arbeitskostenbedingungen global nicht mehr wettbewerbsfähig ist, fallen immer mehr Stellen weg. Die Zahl der Arbeitslosengeld- oder hilfeempfänger steigt, und gleichzeitig fallen die Einnahmen der Sozialkassen und Steuertöpfe, also die Versicherungsbeiträge oder Steuern, aus denen die Leistungen bezahlt werden, immer mehr weg, um diese steigenden Arbeitslosenkosten zu tragen.974 Die Folge daraus ist ein doppelt belastende, weil die Versorgungsträger einerseits weniger Einnahmen zur Verfügung haben, sie andererseits mehr als sonst gerade jetzt solidarische Aufgaben zu erfüllen haben (mehr Ausgaben). Wenn die Geldströme für die Sozialtöpfe sogar unter der „dreifachen Last“ des konsumtiven Transfers in die neuen Bundesländer, der Dauerarbeitslosigkeit und des sich dramatisch verändernden Altersaufbaus der Gesellschaft975 versiegen, die Anspruchssteller aber weiterhin wie bisher daraus profitieren wollen, bricht das ganze System zusammen.

Wo sich ein wirtschaftlich tragbarer und als gerecht empfundener Ausgleich nicht von selbst herstellt, bedarf es einer steuernden Korrektur im Sinne einer Vermögensverschiebung. Vorhandene gesetzliche oder tarifliche Mindestlöhne oder auch andere soziale Leistungen beispielsweise, die sich am Markt in einem dementsprechend kalkulierten Preis nicht absetzen und realisieren lassen, finanzieren sich – auch weil der Produktwettbewerb auf dem Markt nicht die entsprechend erforderlichen „Mindestpreise“ zuläßt – nicht mehr selbst und bedürfen der künstlichen, d.h. zu Lasten anderer gehender solidarischer Subventionierung.

973 Uwe Jens: „In der Krise nicht die Marktwirtschaft vergessen – Die SPD plädiert für eine solidarische Gesellschaft. Besser wäre das Leitbild einer privilegienfreien Aufstiegsgesellschaft, empfiehlt der frühere langjährige wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Uwe Jens, seiner Partei“ – SZ Nr. 220 vom 20./21.09.2008, S. 24 974 So auch Robert Jacobi: „Flucht aus der Wirklichkeit“ – SZ Nr. 105 vom 08.05.2003, S. 4 975 Gustav Seibt: „Die neue Notgemeinschaft“ – SZ Nr. 187 vom 14./15.08.2004, S. 4

257

Hier beginnt „Umverteilung“. Diese kostet Geld, und stets muß die Frage beantwortet werden, woher dieses Geld anderweitig dann auf Dauer kommt.976 Nur kurz vor dieser Frage enden meistens die Argumente der Sozialideologen, nicht selten auch deshalb, weil sie die Zusammenhänge einfach nicht verstehen oder nicht sehen wollen.

Der Topf, aus dem heraus jetzt gerecht verteilt werden kann und muß, steht jedoch nicht bei einzelnen, die man aus welchen beliebigen Gründen auch immer dafür jeweils benennt (Arbeitgeber? Reiche? Warum gerade die oder andere nicht?), sondern es sind nach wie vor die Steuern unter der Voraussetzung, daß das Steuersystem seinerseits auch aus diesen Gründen die Bürger sozial ausgewogen (ich vermeide das doch nicht überprüfbare Wort "gerecht") belastet. Dieses allein schon stellte den Staat in mehrfacher Weise vor völlig ungewohnte Herausforderungen bei der Verwirklichung des Postulats „Sozialstaat“ bzw. in der materiellen Hilfe schuldlos Benachteiligter. Erschwerend hinzu kommen schwankende Steuereinnahmen, hohe Staatsverschuldungen von Bund, Ländern und Kommunen, die bis zum Jahr 2012 um etwa 300 Milliarden weiter ansteigen könnten 977 und nach neueren Schätzungen spätestens 2011 sogar die Schwelle von 2 Billionen überschreiten und bis 2013 2,2 Billionen Euro erreichen werden,978 und sich schnell leerender Sozialkassen bei der Unterstützung der Kin976

„Vorschläge zum Mindestlohn treffen auf Skepsis – SPD-Politiker halten gesetzliche Untergrenzen für bedenklich/Arbeitgeber fürchten Einengung der Öffnungsklauseln“ – SZ Nr. 225 vom 28.09.2004, S. 21; Interview: „Klaus Wowereit (SPD) plädiert für einen umfassenden Subventionsabbau – ‚Alles wird abgeschafft, auch wenn es schmerzt‘ – Berlins Regierender Bürgermeister über die Finanzen seiner Stadt, die Millionärssteuer und den Religionsunterricht“ – SZ Nr. 143 vom 24.06.2005, S. 10; Jens Schneider „Liberale kündigen Widerstand gegen Unionsplan an – FDP lehnt höhere Mehrwertsteuer ab – Westerwelle: Besser wäre es, Subventionen zu streichen/Steuerreform erst 2007“ – SZ Nr. 144 vom 25./26.06.2005, S. 1; Ehrhardt Bödecker, Autor des Buches „Preußen und die Wurzeln des Erfolgs“ in einer Anzeige: „Mit Preußen gegen die Arbeitslosigkeit“ der SZ Nr. 205 vom 06.09.2005, S. 5 977 “Schulden steigen auf zwei Billionen“ – SZ Nr. 61 vom 14./15.03.2009, S. 6; „Dramatische Einnahmeverluste der Kommunen – Erträge aus der Gewerbesteuer sinken um bis zu 40 Prozent/Ude warnt vor Senkung der Abgaben“ – SZ Nr. 164 vom 20.07.2009, S. 5 978 Stefan Braun u. Claus Hulverscheidt: „Staatsschulden explodieren – Verbindlichkeiten werden 2011 zwei Billionen Euro überschreiten – CDU möchte trotzdem die Steuern senken“ – SZ Nr. 108 vom 12.05.2009, S. 5; „Schicksalstag für die Staatsfinanzen – Die Haushaltspolitiker im Landtag fürchten nach der Veröffentlichung der Steuerschätzung Milliarden-Ausfälle“ – SZ Nr. 109 vom 13.05.2009, S. 33; Guido Bohsem: „Deutschland verschuldet sich wie nie zuvor – Weil die Steuereinnahmen wegbrechen, braucht der Finanzminister bis Ende 2010 zusätzlich 145 Milliarden Euro“ und „In der Schuldenfalle“ – SZ Nr. 111 vom 15.05.2009, S. 1 und 4; Guido Bohsem: „Bund verschuldet sich wie noch nie – 2009 nochmal elf Milliarden Euro mehr als geplant“ – SZ Nr. 116 vom 22.05.2009, S. 23; Claus Hulverscheidt: „Deutschland lebt zunehmend auf Pump – Bis zum Jahre 2013 wird die Staatsschuld von zuletzt 66 auf 82 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen“ – SZ Nr. 155 vom 09.07.2009, S. 19; Markus Zydra: „4439 Euro mehr pro Sekunde – Die Staatsverschuldung wächst. Noch ist das nicht dramatisch, aber die Parteien unterschätzen die künftigen Kosten der Sozialversicherungen“ und „‘Erheblich schlechtere Staatsfinanzen‘ – Warum die Bundesbank davon

258

dererziehung und bei der Schaffung hilfestellender Infrastruktur (Kindergärten, Gesamttagesschule ...).

Erst wenn wir derartige Denkprämissen sauber geklärt haben, finden wir – hier ist nicht Polemik, sondern Kreativität gefragt – auch die Wege zu Lösungen, die wirklich solche sind und nicht andere, neue Probleme aufwerfen. Für die Wirtschaft hat der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt eine Binsenweisheit festgestellt: „Ohne ausreichende Gewinne können Unternehmen ihrer sozialen Verantwortung auch nicht gerecht werden.“979 Es bleibt dabei: Entweder sind Mindestlöhne so niedrig, daß sie ein Unternehmen nicht belasten, weil ihre Kosten am Markt erwirtschaftet werden können, oder sie sind so hoch, daß sie vom Unternehmen künstlich bezuschußt werden müssen.980 Dann belasten sie die Wettbewerbsfähigkeit. Vom Markt nicht mehr finanzierte Arbeitsplätze werden abgeschafft oder entstehen gar nicht erst.

Ein anderes Beispiel ist dieses: Wenn etwa die massive Forderung von Arbeitnehmern an die Leitung eines Konzerns gerichtet wird, von den erwirtschafteten „Milliarden“ doch einen gerechten, d.h. erheblichen Anteil denen zu geben, die diese Gewinne durch ihrer Hände Arbeit mit erreicht haben, so erscheint das nach diesem Maßstab zunächst durchaus schlüssig. Die Kehrseite ist nur, daß auch der erreichte Profit keine beliebige absolute Größe ist, über die man frei und menschenfreundlich einfach so verfügen kann. Denn ob es sich bei den „Milliarden“ um viel oder wenig handelt, folgt für Kapitalanleger aus dem Renditevergleich mit anderen Unternehmen Da dieser Kapitalmarkt seinerseits im Wettbewerb steht, gehört dazu ungachtet aller monokausalen Kapitalismuskritik, daß das eingesetzte Kapital sich mindestens marktgerecht verzinst bzw. entsprechende Renditen abwirft.981 Gelingt das nicht, ziehen die Kapitalanleger ihr Kapital von diesem Unternehmen ab. Darunter leiden wegen der dann notwendig werdenden niedrigeren Löhne oder gar dem Wegfall von Arbeitsplätzen in erster Linie die Arbeitnehmer dieses Betriebes selbst.

Verteilt werden kann jedoch grundsätzlich auch jetzt nur, was tatsächlich erwirtschaftet wird oder an Substanz vorhanden ist. Jede soziale Leistung, die von sich selbst ins Verdienen bringender ökonomischer Rationalität abweicht, muß anderweitig finanziert werden, indem beispielsweise die Verwendung des Steuausgeht, dass die Politiker nach den Wahlen kräftig sparen müssen“ – SZ Nr. 191 vom 21.08.2009, S. 19 979 Zitiert nach Helmut Kerscher: „‘Gier nach immer höheren Kapitalrenditen‘ – Verfassungsrichterin Hohmann-Dennhardt sorgt sich um Zukunft des Sozialstaats“ – SZ Nr. 36 vom 14.02.2005, S. 5; Nikolaus Piper: „Wenn Gewinne explodieren“ – SZ Nr. 37 vom 15.02.2005, S. 4 980 „Instrument der Hilflosigkeit“ – SZ Nr. 18 vom 23.01.2009, S. 4 981 Die Anforderungen hierfür werden nicht in den Unternehmen bestimmt, sondern kommen vom Finanzmarkt, der heute auch global ist – vgl. Allianz-Chef Michael Diekmann in dem Interview: „‘Unsere Wachstumsstory wird noch nicht verstanden“ – SZ Nr. 100 vom 02.05.2005, S. 23; vgl. auch Burkhard Müller: „Der unsichtbare Gott – Warum es keinen krisenfesten Kapitalismus geben kann“ – SZ Nr. 150 vom 03.07.2009, S. 13

259

eraufkommens anders priorisiert wird oder vorhandenen Vermögen zusätzlich herangezogen werdern, sei es deren Kapitaleinnahmen oder auch ihre Substanz.

Am Beispiel und der Idee einer aus solchen Gründen zwar populären Vermögenssteuer982 für die Großverdiener oder Besitzenden hatte sich ohnehin schon gezeigt, daß es nicht viel für andere erbringen würde, wenn wenige viel opfern – so auch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), welche die Vermögenssteuer als unpraktikabel und ungerecht bewertete.983, während man erhebliche Wirkungen für die Steuer- und Sozialkassen erreichen kann, wenn man vielen nur vergleichsweise wenig Opfer oder auch Kürzungen zumutet. Die Vermögenssteuer hat sich daher als nur „mildtätige Gabe“ nicht funktionierend, als geradezu unsinnig und unter Berücksichtigung der Kosten und des Verwaltungsaufwands vor allem nicht annähernd ausreichend für die zu lösenden Probleme herausgestellt, auch wenn sie gut klingt in den Ohren derer, die um ihre kleineren Besitzstände ringen.984 Aber vielleicht braucht man sie allein dafür, als Symbol mehr als eine wirkliche Therapie, die dann auch die Heilung bringt. Sie mag das Seelenpflaster sein, das einfach gut tut, auch wenn man für die Heilung in Wahrheit doch noch andere Medikamente benötigt.

Trotzdem gilt: Dem einem muß genommen werden, um dem anderen zu geben.

Der eine muß zusätzlich erwirtschaften, was dem anderen nicht möglich ist. Es ist schon richtig, was der ehemalige Bundeskanzlers Helmut Schmidt dazu sagte: „Schwierige Zeiten verlangen mehr Solidarität der sozial Stärkeren mit den sozial Schwächeren“?985 Hier stehen sich prinzipiell Solidität und Solidarität gegen-

982

Friedrich Karl Fromme: „Unsterbliche Vermögenssteuer“ – NJW 12/2004, S. 828 ff.; Matthias Drobinski: „Hubert: Reiche stärker belasten – EKD-Ratsvorsitzender für ‚zukunftsfesten‘ Sozialstaat“ – SZ Nr. 229 vom 02./03.10.2004, S. 5; Sven Afhüpe, Markus Feldenkirchen u. Horand Knaup: „Sehnsucht nach Gerechtigkeit – Mit einem 30-seitigen Manifest soll die SPD auf den Wahlkampf eingestimmt werden. Ein Punkt könnte die Genossen besonders erfreuen: eine Sondersteuer für Reiche“ – DER SPIEGEL Nr. 25/2005, S. 40 ff.; Ulrich Schäfer: „Pläne für das Wahlprogramm – SPD will Millionäre stärker besteuern – Müntefering und Eichel einig/Parteilinke setzt sich durch/FDP verspricht Bürgern Milliardenentlastung“ – SZ Nr. 140 vom 21.06.2005, S. 1 983 Reymer Klüver: „Grüne Bürgerversicherung – Kleiner Koalitionspartner legt eigenes Konzept vor“ – SZ Nr. 208 vom 08.09.2004, S. 6; vgl. ähnlich Ulrich Schäfer: „Für ein paar Euro mehr – Was eine Reichensteuer bringt“ – SZ Nr. 151 vom 04.07.2005, S. 2 984 Siehe dazu auch Ralf Husemann: „Reiche sollen Beitrag leisten – Was das Mitgliederbegehren will“ – SZ Nr. 89 vom 16.04.2003, S. 2; Heribert Prantl: „Sturmwarnung“ – SZ Nr. 91 vom 19./20./21.04.2003, S. 4 spricht von der „Mobilisierung der Akzeptanz“ bei den „kleinen Leuten“ durch die Vermögenssteuer; vgl. auch Nico Fried: „Streit bei den Sozialdemokraten um die Reformagenda des Kanzlers – SPD-Rebellen präsentieren Gegenvorschläge – Schreiner fordert mehr Neuverschuldung und höhere Lasten für Reiche/Gabriel und Engholm kritisieren Schröder“ – SZ Nr. 92 vom 22.04.2003, S. 6.

985 Helmut Schmidt, S. 26; siehe auch den Volkswirtschaftler an der TU Berlin, Gerd G. Wagner: „Zwischen Freiheit und Bevormundung – Der Staat als Nothelfer“ – SZ Nr. 182 vom 09./10.08.2003, S. 17 und Susanne Höll: „Mehr Gerechtigkeit gefordert – Arbeitnehmerflügel der CDU mit Parteilinie unzufrieden“ – SZ Nr. 228 vom 04./05.10.2003, S. 7

260

seitig im Wege. Die Folge ist eine Form des Konfliktmanagements, das wechselseitige Folgen ebenso beachten muß wie unerwünschte Nebenwirkungen.

Die allein aus einer konkreten Interessensicht – und zugegebenermaßen auch Bedürftigkeit oder Problemlage – gespeisten und dann auch durchgesetzten Verteilungskämpfe verlaufen immer nach dem gleichen Muster. Zunächst argumentiert jeder aus seiner Sicht, oft auch durchaus schlüssig, inhaltlich beschränkt auf die eigene Situation, aber insgesamt betrachtet auch nur einseitg selektiv.

Das gilt auch für diejenigen, die lautstark in der Öffentlichkeit die angebliche soziale Schieflage und zunehmende Armut beklagen,986 aber in ihrer Kritik immer nur auf einzelne Probleme oder Mißstände hinweisen, ohne die Zusammenhänge und wechselseitigen Abhängigkeiten zu beachten.987 Das ganze – das ist auch bei allen übrigen Beispielen so – hat eine gesamtwirtschaftliche Kehrseite, über die viel zu selten deutlich gesprochen wird. Denn mit der Frage, wo die erforderlichen Mittel herkommen sollen und welche Folgen das dort hat, spricht kaum einer. Es beginnt sich vielmehr nur eine teuflische Spirale zu drehen, die das mühsam austarierte Geflecht von Interessen und Solidarität zum Nachteil einzelner – der jeweiligen Verlierer – überspannt und so ständig nach unten dreht. Im Ergebnis widersprechen sich – wenn man die Dinge zu Ende denkt – die Individualinteressen und die dafür zunächst mit Recht ins Feld geführten Argumentationen mit den allgemeinen, übergeordneten Interessen des Staates und der Gesellschaft mit der Folge, daß so letztlich selbst die durchgesetzten Individualinteressen Not leiden werden, weil das Geld dafür einfach nicht mehr vorhanden ist und keiner zusätzliche Opfer bringen will. Sie argumentieren zwar weiter ausschließlich aus der Interessensicht als Betroffene, erkennen aber nicht, daß das ganze System das einfach nicht mehr hergibt, und sie damit auch den Nutzen für sich eher noch früher als später in Frage stellen.

Selbst Reform-Kritiker, welche die Zusammenhänge wohl kennen, fragen nicht, woher das Geld auch in der Zukunft kommen soll. Statt selbst konstruktive und anreizende Beitrage zu leisten, daß Geld auch verdient werden kann, und zwar im Inland, nehmen sie es, woher sie nur können, als ob es irgendwo einen Goldesel gäbe, der automatisch für unbegrenzten Nachschub sorgte.

Auch hier gibt es im allgemeinen wenig Durchblick und geringes Verständnis für die Wechselwirkungen und Wirkvoraussetzungen. Die meisten derer, die in Not sind oder der Unterstützung bedürfen, machen diese vehement offenbar und erwarten allein daraus schon wie selbstverständlich, daß irgend jemand anderes – wer eigentlich genau? – seine Taschen öffnet und hilft. Es gibt wenig Bereitschaft darüber nachzudenken, wieso eigentlich der eine wirtschaftlich am Ende ist und ein anderer helfen könnte, wenn er nur wollte, weil er es offenbar ge-

986 987

So z.B. Heidrun Graupner: „Armut im Reichtum“ – SZ Nr. 112 vom 15./16.05.2004, S. 4 Richtig Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 216 und speziell für die Sozialpolitik S. 218 ff.

261

schafft hat, für sich nicht nur eine vergleichsweise materielle Not zu vermeiden, sondern darüber hinaus eher vermögend ist.

Das 8. Berliner Hauptstadtgespräch der Freien Universität Berlin zusammen mit der BMWGroup und der Süddeutschen Zeitung unter dem Motto „Auslaufmodell Deutschland – Was bleibt vom Wohlstandsstaat?“ hat das wahre Dilemma an einigen Beispielen deutlich gemacht.988 So zeigte der Leiter der Unternehmenskommunikation der BMWGroup, Richard Gaul, auf, daß der Markt applaudiere, wenn Großunternehmen zur Verbesserung ihrer Kostenstruktur und damit der Wettbewerbsfähigkeit Arbeitsplätze abbauten, während das im Interesse der einzelnen Beschäftigten natürlich besser zu vermeiden wäre. Auch der Unternehmensberater Roland Berger wies darauf hin, daß das Land sich entscheiden müsse, ob es sein Geld für die Zukunft oder für eine riesige Umverteilungsmaschine ausgeben wolle. Und fast gleichzeitig passierte das: Selbst nachdem die Gewerkschaft Ver.di eine Lohnerhöhung von deutlich über 3 Prozent im öffentlichen Dienst durchgesetzt hatte, konnte sie darüber nicht froh werden, denn der Staat mußte nun und wird den Mehraufwand an anderer Stelle kürzen.989 Nachdem die Tarifeinigung erfolgt war, sagten das die Vertreter der Länder und Gemeinden, denen der Abschluß noch immer unfinanzierbar hoch erscheint, auch ganz offen. Denn es war ja auch plausibel.

An den vorstehenden Beispielen zeigt sich, daß jede auch noch so sozial, aber nicht zuende gedachte Verteilungsgerechtigkeit für sich genommen das Unsozialste überhauptist, wenn damit auf längere Sicht das Geld dafür nur immer weniger wird, wohingegen ein dauerhafter „Wohlstand für alle“ sich fast von selbst ergibt, wenn kontinuierlich genügend Geld verdient wird, es der Wirtschaft gut geht und – wie in den vergangenen Jahrzehnten – die zu verteilenden Verbesserungen sogar weitgehend nur aus dem Wachstum bezahlt werden können. Der Münchner Wirtschaftsethiker Karl Homann hat daher das Verhalten des heiligen Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler teilte, zwar als Einzelfall in einer Notsituation schon für richtig gehalten. Es ist als freiwilliges Einzelfallkorrektiv weiterhin lobenswert, als vorrangiges politisches Prinzip und Vorbild für eine ganze „Gesellschaft im Normalbetrieb“ aber eine Katastrophe, weil dieses Verhalten ausbeutbar ist. Besser und vorbildlicher wäre es hier, den anderen Mantelherstellern aktiv Konkurrenz zu machen, was dem armen Bettler die zweifache 988

Michael Bauchmüller: „Lobbyrepublik Deutschland“ – SZ Nr. 79 vom 04.04.2003, S. 19; vgl. dazu auch Ulrich Becker, Hans Günter Hockerts und Klaus Tenfelde (Hrsg.): „Sozialstaat Deutschland – Geschichte und Gegenwart“ – Dietz Verlag Bonn 2010 und seine Besprechung von Werner Bührer: „Von der Zukunft des Sozialstaates“ – SZ Nr. 192 vom 21./22.08.2010, S. 30 989 Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Markus Dettmer u. Konstantin v. Hammerstein: „Sieger auf verlorenem Posten – Der Ver.di-Sieg könnte die Gewerkschaften teuer zu stehen kommen. Dem Flächentarifvertrag droht das Aus, Berlin will die beschlossene Gehaltserhöhungen nicht zahlen, und viele Kommunen sowie mehrere Lände überlegen, eigene Tarifgemeinschaften zu gründen – DER SPIEGEL Nr. 03/2003,S. 24 ff.; ähnlich Oswald Metzger: „Einspruch! ..“, S. 200

262

Chance biete, aus eigener Kraft zu einem Mantel zu kommen. Zum einen werden Mäntel billiger. Zum anderen könnte er einen Arbeitsplatz bekommen, der es ihm ermöglicht, Geld zu verdienen und selbst einen Mantel zu kaufen. Daher hält Homann mit Recht den Wettbewerb – wie im übrigen auch die Industrialisierung der letzten zwei Jahrhunderte empirisch gezeigt hat – für solidarischer als das bloße Teilen. Denn gerade unter den Bedingungen der modernen Marktwirtschaft ist gerade der Wohlstand der Ärmsten gestiegen.990 „Wenn die Wirtschaft gut wegkommt, kommen auch die Arbeitnehmer gut weg.“991 „Rettet den Kapitalismus“ hat der Chefredakteur der Financial Times, Christoph Keese, daher mit Recht sein Buch genannt, um sich auf die Erfolgsursachen zu besinnen, denen die Deutschen schon zweimal in ihrer Geschichte einen sagenhaften Aufstieg und in der Folge dessen auch mehr soziale Vorteile und Gerechtigkeit verdanken, beim Übergang vom Agrarland zur Industrienation im 19.Jahrhundert und beim Wirtschaftswunderaufschwung nach dem zweiten Weltkrieg.992 Die sozialdemokratischen Kritiker ebenso wie die Gewerkschaften machen es sich also zu leicht, wenn sie immer nur dagegen halten, Mindeststandards zugunsten der Arbeitnehmer erwarten, sich selbst aber unerläßlichen Mindest-Reformen verweigern.993 Auch der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement bekannte sich zu einem Umdenken: Bisher drehte sich „fast alles um die sozialen Schutzrechte, die aber nicht wirklich schützen, sondern dazu beitragen, dass eine soziale Notlage – die Arbeitslosigkeit – fortgeschrieben wird.“994 Das schien zwischenzeitlich auch Bundeskanzler Schröder einmal so zu sehen, als er den linken Kritikern in seiner eigenen Partei und den Gewerkschaften vorhielt, die Partei dürfe nicht das Wünschbare für die Wirklichkeit halten. Wenn sich die wirtschaftliche Basis einer Gesellschaft so radikal verändere, könne man nicht so tun, als hätte das keine Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Überbau. Die Kritiker wollten an etwas festhalten, dem die reale Grundlage entzogen ist. Trotz 990

Karl Homann in dem Interview: „‘Wettbewerb ist solidarischer als Teilen‘ – Der Wirtschaftsethiker Karl Homann betrachtet die traditionelle Philosophie als unpassend für moderne Gesellschaften und propagiert andere Ansätze“ – SZ Nr. 131 vom 09./10.06.2004, S. 26 991 Marc Beise: „Große Worte, kleiner Anfang“ – SZ Nr. 62 vom 15./16.03.2003, S. 23; Robert Jacobi: „Auf dem Wege ins Abseits – Die Gewerkschaften stehen vor einer historischen Wegscheide“ – SZ Nr. 80 vom 05./06.04.2003, S. 13 992 Christoph Keese: „Rettet den Kapitalismus“ – Hoffmann & Campe 2004; Heribert Prantl: „Das deutsche Wunder – Glückliche Irrungen, lehrreiche Wirrungen: Wie das Land aus Ruinen auferstand, sich der Zukunft zuwandte und zu einer Demokratie wurde“ – SZ Nr. 61 vom 14./15.03.2009, S. 12; Burkhard Müller: „Der Allmächtige – Warum es so schwer ist, gegen den Kapitalismus zu sein“ – SZ Nr. 96 vom 27.04.2009, S. 11 993 „Reformen I: ‚Feuer unterm Dach‘“ – DER SPIEGEL Nr. 14/2003, S. 67; Jonas Viering: „Heldenpose ist zu wenig“ – SZ Nr. 78 vom 03.04.2003, S. 4 994 Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement „..über den deutschen Sozialsaat, die falschen Rezepte gegen die Arbeitslosigkeit und die erforderliche Neuorientierung seiner SPD“ in dem Interview: „Wir sind am Anschlag“ – DER SPIEGEL Nr. 16/23003, S. 64

263

allem Verständnis auch gegenüber den Wunsch der Gewerkschaften, an dem Erkämpften festzuhalten, sagt er ihnen: „Ihr werdet es nicht schaffen, wenn ihr glaubt, dass alles so bleiben könnte wie es ist.“995 Und zur Vorbereitung des SPD-Sonderparteitages im Juni meinte er: „Nicht nur die SPD, sondern die ganze Gesellschaft muss begreifen, dass wir mit den Rezepten von gestern die Probleme von morgen nicht lösen können.“996 Auch der damalige Chef der Bundesanstalt (jetzt „Bundesagentur“) für Arbeit, SPD-Mitglied Florian Gerster wies darauf hin: „Wenn zu sehr umverteilt wird, kommt wenig soziale Gerechtigkeit dabei heraus.“997 In diesem Sinne versteht sich die Rolle des Staates als „Sozialinvestitionsstaat“, d.h. er muß – um auch auf weitere Sicht gerecht sein zu wollen – Vorkehrungen für die Zukunft treffen, statt immer nur die Ausgaben für die Gegenwartsaufgaben zu erhöhen.998 Rahmenbedingungen für verbesserte Wettbewerbschancen, Steuersenkungen, gezielte Investitionen staatlicher Mittel in die zukunftsträchtige Forschungs- und Bildungsarbeit bei gleichzeitiger und konsequenter Einsparung von überholten Positionen im den öffentlichen Haushalten würde helfen, auch extreme Staatsverschuldungen auf Sicht wieder in den Griff zu bekommen.999 Daraus folgt etwa für den Direktor am Frankfurter Institut für Sozialforschung Axel Honneth auch, daß „Gerechtigkeit“ nicht allein eine Aufgabe des Staates ist, auch nicht nur eine Frage der Verteilung von Gütern, sondern auch anderer „zivilgesellschaftlicher Organisationen“ wie Selbsthilfegruppen, Gewerkschaften und kirchliche Gemeinden als „gerechtigkeitswirksame Agenturen“. Er lenkt damit zugleich auf die Menschen selbst und ihre gelebte Moral wechelseitiger unbedingter Anerkennung im zwischenmenschlichen Bereich hin zu einer fairen Gesellschaft, in der die Bürger frei von jeder angst und

995

Bundeskanzler Gerhard Schröder in dem Interview: „Dann laßt uns streiten“ – DER SPIEGEL Nr. 17/2003, S. 50 ff.; ebenso MdB Reinhold Robbe in dem Interview: „Gespenstische Veranstaltungen“ – DER SPIEGEL Nr. 19/2003, S. 21; vgl. auch Christoph Schwennicke u. Nico Fried: „Schröder hält Gegnern persönliche Profilierung vor – SPD-Spitze greift Reformkritiker scharf an“ – SZ Nr. 91 vom 19./20./21.04.2003, S. 1 996 „Schröder will Mentalitätswechsel“ – SZ Nr. 123 vom 30.05.2003, S. 8; „SPD vor Schicksalsparteitag: Schröder mahnt die Genossen“ – HB Nr. 103 vom 30./31.05.2003, S. 1 997 Zitiert nach Robert Jacobi: „Leistung und Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 256 vom 6.11.2002, S. 8 998 Otfried Höffe, Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen: „Dreidimensionales Sparen – Was heißt Soziale Gerechtigkeit heute?“ – SZ Nr. 253 vom 04.11.2003, S. 13 999 So etwa auch der Volkswirt Carsten Brzeski von der ING-Bank – vgl. „Ökonomen wollen Schwarz-Gelb – Volkswirte erwarten jedoch eine Fortsetzung der großen Koalition“ – SZ Nr. 219 vom 23.09.2009, S. 19; Catherine Hoffmann: „Rechnungshof rügt Merkels Haushaltspolitik – Prüfer kritisieren, dass die Bundeskanzlerin trotz der Rekordverschuldung weitere Steuersenkungen plant“ – SZ Nr. 284 vom 09.12.2009, S. 1

264

Scham in der Öffentlichkeit ihre Stimme erheben können und einer Selbstachtung, wo die Menschen sich „in ihren Bedürfnissen geliebt wissen.“1000 So bleibt die ganze Frage der sozialen Gerechtigkeit letztlich doch ganz überwiegend eine solche der „gefühlten“ Gerechtigkeit. Viel leichter und nachvollziehbarer läßt er sich an seinen negativen Beispielen – etwa Verdienst ohne Leistung, persönliche Ungleichbehandlung oder sogar Erniedrigung – aufzeigen, also dem, was „auf jeden Fall“ als ungerecht empfunden wird.1001 Umfragen bestätigen, daß die Menschen zwar einerseits sehr „homogene“ Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit haben, die aber stark dem Gesetz der formalen Gleichheit folgen („gleiche Lebensbedingungen für alle“),1002 sich andererseits zum Teil aber auch widersprechen (z.B. „Leistungsanreize bestehen nur bei hinreichend großen Unterschieden im Einkommen“).1003 Hoffnungsvoll gegenüber solchen Illusionen zeigt sich eine Umfrage von Allensbach zum Freiheitsverständnis der Deutschen: Zwar sind Ost- und Westdeutsche in dieser Frage noch immer ganz unterschiedlicher Auffassung. Aber mit 53 Prozent messen die Westdeutschen in der klassischen Kontroverse inzwischen der Freiheit vor der Gleichheit deutlich Priorität zu, während es sich bei den Ostdeutschen (36 Prozent) noch umgekehrt verhält. Dabei bedeutet Freiheit für die westdeutschen Befragten für sich selbst verantwortlich zu sein, sich für einen bestimmten Beruf oder Wohnsitz frei entscheiden zu können, während bei den Ostdeutschen die Freiheit von sozialer Not, von Armut, Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit das (so nicht gemeinte) Freiheitsverständnis ausmacht.1004 Auch das Beurteilungsund Meinungsdilemma und die „gefühlte“ soziale Gerechtigkeit werfen also schon eine Reihe von ungelösten Fragen auf (...das eigene Verhalten und das

1000

Alexander Kissler: „Das Donnerwort Gerechtigkeit – Die Philosophen Hans-Jürgen Habermas und Axel Honneth debattieren in München über den vermeintlichen Widerspruch zwischen Freiheit und Verteilung“ – SZ Nr. 291 vom 15.12.2008, S. 12 1001 Vgl. den Hamburger Soziologen Heinz Bude: „Eine Frage der Weltsicht – Wie Gerechtigkeit die Wahl entscheidet“ – zugleich Besprechung des Buches von Francois Dubet: „Unrechtigkeit“, Verlag Hamburger Edition Hamburg 2008 – in SZ Nr. 211 vom 14.09.2009, S. 13; von ihm stammt auch das Buch: „Die ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“ – Hanser Verlag München 2008.

1002 So auch die Analyse von Hans-Olaf Henkel: „Die Ethik des Erfolgs“, S. 31 und 235 und Verfassungsrichter Udo di Fabio – vgl. Jeanne Rubner: „Wo bleibt die Gerechtigkeit? – ein Münchner Vortrag des Verfassungsrichters Udo Die Fabio“ – SZ Nr. 293 vom 17.12.2004, S. 15 1003 Vgl. zu der Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) – durchgeführt von Infratest Sozialforschung München – Nikolaus Piper: „Umfrage des DIW zur sozialen Gerechtigkeit – Gleiche Chancen und Leistungsanreize – Die Deutschen zeigen in ihren Einstellungen zur Gesellschaft erstaunlich wenig Unterschiede"“- SZ Nr. 238 vom 16.10.2003, S. 22 1004 Joachim Peter: „Ost-Jugend entdeckt die Freiheit – Allensbach-Umfrage: Selbstbestimmung rangiert vor Gleichheit“ – DIE WELT vom 15.07.2004 – www.welt.de;

265

künftige Geschehen nicht nur aus dem Bauch heraus, „nach Eingebung, Stimmung und Gefühl“1005 zu verändern.)

Daher wäre es für die Frage des als gerecht empfundenen sozialen Ausgleichs auch angesichts notwendiger und einschneidender Reformmaßnahmen nicht ausreichend und richtig, allein die einzelne Maßnahme zu bewerten oder auch nur die Ausgangssituation zu betrachten ohne Rücksicht darauf, wohin die geplanten Maßnahmen führen werden. Dazu kommt für das konkrete politische Handeln eine weitere Frage: Muß beispielsweise immer wieder jede einzelne geplante Maßnahme aus sich selbst heraus die verschiedenen Gruppen unserer Gesellschaft – und welche und wieviel sind das? – jeweils ausgewogen berücksichtigen, also besonders dann, „wenn der Staat etwas nimmt und wenn er Opfer fordert“,1006 so wie es im Hinblick auf die Reformvorschläge des Bundeskanzlers in seiner Rede vom 14. März 2003 besonders von den Kritikern heiß diskutiert und gefordert wurde? Der Grünen-Chef Reinhard Bütikofer hatte sogar Unausgewogenheiten bei den beabsichtigten Maßnahmen eingeräumt, verteidigte aber dennoch den nötigen Umbau des Sozialstaates.1007 Oder ganz konkret: Muß beim Vorziehen der Steuerreformstufe von 2005 auf 2004 zwar der Eingangssteuersatz schnell gesenkt, der Spitzensteuersatz im Hinblick auf die Besserverdienenden aber bei 48,5 Prozent belassen werden? Entscheidend ist doch wohl immer, auf welche Rahmenbedingungen das Handeln trifft und was damit im Ergebnis erreicht werden soll oder auch wird. Man denke bei den höheren Steuersätzen also nicht nur an die vergleichsweise wenigen reichen Privatpersonen, sondern noch mehr an den breiten unternehmerischen Mittelstand, der Kapital bilden muß um zu investieren und auch Arbeitsplätze zu schaffen.1008 Offenbar ist also der Anspruch auf sozial ausgewogenes oder gar gerechtes Handeln allein aus der einzelnen Maßnahme selbst heraus nicht geeignet, abschließende konkrete Lösungen zu generieren oder gar die Entscheidung dafür abzunehmen, was sozial gerecht ist. In diesem Sinne gilt auch der richtige Satz: „Gerechtigkeit läßt sich nicht herbeibürokratisieren“.1009 Dazu kommen immer

1005

Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 354; aber Walter Straub: „Die Mär von der Sachlichkeit – Entscheidungen werden emotional getroffen. Erst dann sucht man zur Begründung Argumente, Zahlen, Tabellen oder Gutachten, die dazu passen“ – SZ Nr. 235 vom 13.10.2009, S. 18 1006 So Heribert Prantl: „Sturmwarnung“ – SZ Nr. 91 vom 19./20./21.04.2003, S. 4 1007 Reinhard Bütikofer in dem Interview: „Da bleibt eine Schieflage“ – SZ Nr. 98 vom 29.04.2003, S. 9 1008 Ulrich Schäfer: „Die Sache mit dem Spitzensteuersatz“ – SZ Nr. 163 vom 18.07.2003, S. 19; „Mittelstand in der Liquiditätsfalle – Kapitalmangel verhindert Investitionen/Kein Ende der Pleitewelle“ – SZ Nr. 132 vom 11.06.2004, S. 20; „IW: Mittelstand ist die stärkste Job-Maschine“ – SZ Nr. 208 vom 08.09.2004, S. 17; Michael Müller: „Mittelschicht muss gestärkt werden“ – SZ Nr. 48 vom 28.02.2005, S. 2 1009 Donata Riedel: Die Wende – HB Nr. 241 vom 13./14.12.2002, S. 11; vgl. allgemein dazu auch Bernhard Losch: „Auf der Suche nach Gerechtigkeit“ – NJW 27/2003, S. 1911 ff.

266

mehr Zweifel, den Ausbau des Sozialstaates und auch die Leistungen allzu sehr nur an das Erwerbsleben zu koppeln.1010 Oder ist es danach wichtiger, die gewachsene, möglicherweise bereits bestehende, schreiend ungerechte oder gesamtwirtschaftlich und sozial mit nachteiligen Folgen versehene soziale Ausgangslage zur eigentlichen Bewertung heranzuziehen und nun gerade diese durch eine weitere unausgewogene politische Entscheidung im Sinne einer „gefühlten“ sozialen Gerechtigkeit zu korrigieren bzw. zu kompensieren? Denn inwieweit ist der historisch gewachsene Sozialstaat angesichts zahlloser und gravierender Veränderungen noch immer wirklich gerecht?1011 Man wird nicht umhinkommen, das gesamte Spektrum dessen, was wir in unserem Staat als sozial gerecht, besser ausgewogen ansehen, als „neue soziale Marktwirtschaft“ zu überdenken und offen zu kommunizieren.1012 Das ist nicht nur eine Frage der maßgeblichen und ausgewogenen zugemessenen Kriterien, der veränderten Rahmenbedingungen, sondern auch eine der Kosten, die dem Staat immer mehr davonlaufen.

Letztlich geht es dabei immer um eine Abwägung dessen, was der Staat für die Allgemeinheit und damit auch den einzelnen leisten soll und was diesem in eigener Verantwortung zu gestalten und selbst zu leisten bleibt. Wie steht es wirklich mit der Eigenverantwortung und wo sind die Grenzen? Wie findet die „richtige Mischung“ zwischen der Selbstverantwortung der Individueen und der „Grundverantwortung“ des Staates statt?1013 Hier schien selbst der SPD-Generalsekretär Olaf Scholz zu zweifeln und das Niveau der erreichten Umverteilung bereits als „sehr weitgehend“ zu beurteilen,1014 während der Altsozialist Erhard Eppler – 1010

Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 159 Kritisch dazu Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 160 ff.

1012 Stefan Ulrich: „Silberlöffel und Sozialhilfe – Europas Gesellschaften müssen sich neue Gedanken über Gerechtigkeit machen“ – SZ Nr. 132 vom 12./13.06.2010, S. 4 1013 Vgl. Ulrich Becker, Hans Günter Hockerts und Klaus Tenfelde (Hrsg.): „Sozialstaat Deutschland – Geschichte und Gegenwart“ – Dietz Verlag Bonn 2010 und seine Besprechung von Werner Bührer: „Von der Zukunft des Sozialstaates“ – SZ Nr. 192 vom 21./22.08.2010, S. 30 1014 Olaf Scholz – zitiert nach Barbara Gillmann: „SPD definiert soziale Gerechtigkeit neu – Generalsekretär Olaf Scholz gegen alte ‚Besitzstände‘“ – HB Nr. 136 vom 18./19.07.2003, S. 3; vgl. auch Christoph Schwennicke: „Ketzerei? Reformation? – Die SPD streitet über den ‚demokratischen Sozialismus‘“ – SZ Nr. 187 vom 16./17.08.2003, S. 8; Philip Grassmann: „Kofi und die Reiterstaffel – Gysis Welt in einem Buch – präsentiert von Olaf Scholz“ – SZ Nr. 191 vom 21.08.2003, S. 3; Christoph Schwennicke: „Scholz fühlt sich bestätigt – ‚Debatte um demokratischen Sozialismus läuft gut‘“– SZ Nr. 195 vom 26.08.2003, S. 6; Christoph Schwennicke: „Viel Bausatzdeutsch und wenig Bonbons – Der Leitantrag soll der SPD den ‚Weg in die Zukunft‘ weisen – Begeisterung löst er jedenfalls nicht aus“ – SZ Nr. 263 vom 15./16.11.2003, S. 2; ähnlich auch Franz Müntefering in dem SZ-Interview: „‘Sie tanzte nur einen Sommer‘ – Der SPD-Chef über die Schwächen von Angela Merkel, soziale Gerechtigkeit und den schmalen Grat zwischen Haushaltssanierung und Wachstum“ – SZ Nr. 186 vom 13./14./15.08.2005, S. 7; „‘Wir können keine Insel der Seligen schaffen“ – LindeChef Wolfgang Reitzle über die wachsende Angst vor der Globalisierung, mangelhafte Reformen und sein Verständnis von Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 90 vom 17.04.2008, S. 21 1011

267

hier schimmert das kommunistische, aber eben nicht funktionierende Prinzip auf: Jeder leistet nach seinen Fähigkeiten, und jeder erhält davon Anteile nach seinen Bedürfnissen, im Zweifel die gleichen – noch gern und weiterhin nur mit dem Begriff der Verteilungsgerechtigkeit spielte.1015 Denn wie auch immer die Zeiten ausfallen: Was den einen gegeben wird, muß anderen genommen werden. Populär, für jeden offenbar ohne weiteres verständlich und unter Ausklammerung allen Davors und Danachs zuvörderst auch richtig erscheint die Forderung, daß jeder, der hat, von dem abgibt an andere, die nichts haben. Das Bild des heiligen Martin, der seinen Mantel aus diesem Grunde teilte, ist ja auch ein anerkanntes Postulat christlicher Nächstenliebe. Schaut man etwas genauer hin, erweist sich dieses schlichte Teilen im erforderlichen Einzelfall als politisch erstrangiges Prinzip für alle als durchaus problematisch.

Teilen ist gut, aber nur einmalig und daher auf Dauer endlich. Es schafft nichts, sondern bedient sich nur aus dem vorhandenen. Als dauerhaftes Modell führt es allein zum Aufzehren der vorhandenen Substanz. Der Mantel des heiligen Martin darf nicht immer wieder und solange nur verteilt werden, bis am Ende jeder friert. Das empirisches Versagen des Modells „Sozialismus“ hat uns dieses weltweit bestätigt. In der DDR hat man empirisch erleben können, wie ein Staat durch Selbstüberforderung im Sozialen zugrunde gegangen ist, weil er das, was er verteilte, nicht erwirtschaften konnte.1016 Alle Leistungen müssen also schlicht von irgendjemandem nachhaltig „erwirtschaftet“ werden. D.h. alles, was jemand aus Gründen sozialen Ausgleichs erhält, muß von einem oder mehreren anderen erst einmal geschaffen und verdient werden, bevor es anderen gegeben werden kann. Ohne mehr Markt und Erfolg auf diesem ist auch nichts zu verteilen, sondern allenfalls noch der Mangel zu verwalten.1017 Um zu einem vertretbaren Ausgleich zu kommen, muß in schwierigen Zeiten auch den Bedürftigen zugemutet werden, nicht nur Sondervorteile oder Wohlstandszuschläge wieder abzugeben, sondern selbst ein Transferleistungsvolumen zu akzeptieren, daß notfalls bis an die existenzielle Grenze geht. Aus dem gleichwohl anhaltenden Individualegoismus – das ist wohlgemerkt nur die unmoralische Perversion des im Grund natürlichen Bedürfnisses nach Selbstentfaltung und Eigenverantwortung1018 – resultiert also nur, daß die Sozialsysteme 1015 Die Reduzierung des Gleichheitsprinzip auf die Verteilung der Leistungen statt auch auf ihre Erwirtschaftung bemängelt auch Hans-Olaf Henkel: „Die Ethik des Erfolgs“, S. 38; vgl. auch Jens Schneider u. Joachim Käppner: „Nach Vorstellung des Unions-Programms – CDU erwartet schwierigen Wahlkampf im Osten – Ministerpräsident Böhmer: Ziel der Verringerung von Arbeitskosten wird in neuen Ländern schwerer verstanden“ – SZ Nr. 160 vom 14.07.2005, S. 5 1016 Jens Schneider: „In einem Land vor unserer Zeit – Sehnsucht nach dem alten Sozialstaat: Die CDU tut sich schwer mit der Kapitalismusdebatte“ – SZ Nr. 95 vom 26.04.2005, S. 4 1017 Ähnlich auch Hans-Olaf Henkel: „Die Ethik des Erfolgs“, S. 259 u. Thomas Sattelberger: „Der Stein auf dem Rücken – SZ-Management – SZ Nr. 206 vom 06.09.2004, S. 20 1018 Vgl. dazu u.a. Helmut Klages: „Der blockierte Mensch“

268

insgesamt noch schneller an Überforderung leiden und um so noch schneller zugrunde gehen. Zum Schluß haben auch diejenigen nichts mehr davon, die sich zunächst darüber gefreut haben, ihre Individualinteressen gewahrt oder gegen alle Widerstände durchgesetzt zu haben. Sie legen damit die Axt nicht nur an einzelne Leistungen, sondern an die Sozialleistungssysteme und damit auch den Sozialstaat insgesamt. Zum Schluß hat jeder das Nachsehen. Was ist daran dann sozial?

Wirtschaftliche Solidität ist in jedem Fall die unverzichtbare Grundlage und Quelle funktionierender Solidarität. Denn wo nichts ist, kann nichts gegeben werden und wer nichts hat, kann auch nicht teilen oder spenden. Der Staat als Sozialleistungsträger benötigt also – in welcher Form auch immer – hinreichende Einnahmen, um als formale Adresse für die gesellschaftlich vereinbarte soziale Verantwortung wirken zu können. Man kann natürlich den immer enger werdenden Spielraum für reine Umverteilungen weiter strapazieren, insoweit die Lösung aus der vorhandenen Substanz suchen und notfalls auch selbst immer mehr Staatsschulden aufzuhäufen. Besser ist es sicher, den Spielraum dafür wieder zu erhöhen.1019 Die öffentliche Hand unterscheidet sich insoweit von keinem Wirtschaftsunternehmen, das ebenfalls wirtschaftlich arbeiten muß, um seine sozialen Verpflichtungen erfüllen zu können.1020 Hier stellt sich somit die weitere Frage, ob Deutschland als Partner im internationalen Wettbewerb seinen hohen sozialen Standard auch tatsächlich verdient und dabei die Mittel erwirtschaftet, diesen hohen Standard fortzusetzen.

Wenn wir an unsere staatlichen Hilfsfunktionen denken oder auch die Träger der Sozialsysteme, so werden die dafür erforderlichen Mittel nun einmal sowohl aus selbst bezahlten Beiträgen und/oder allgemeinen Steuern entnommen, die von denen geleistet werden, die in Arbeit stehen und Geld verdienen. Sie verhalten sich damit zunächst schon einmal „sozial verantwortlich“, wobei immer die Frage offenbleibt, ob sich auch hier schon Leistung und Gegenleistung, Zumutbarkeit zur Leistung und Entgegennahme in sozial ausgewogenem Verhältnis bewegen. Je komplexer das System ist, weil es strukturell aufgefächert nach ganz verschiedenen Kriterien und Mechanismen funktioniert, entsteht oft das Gefühl auf beiden Seiten, daß die Dinge nicht sozial gerecht gestaltet seien, ohne das als Folge der hohen Komplexität wirklich genau beurteilen zu können.

Zwar ist es richtig, daß das eine nicht automatisch auch das andere zur Folge hat. Wo das Geld sich anhäuft, wird es nicht immer auch solidarisch verwaltet und verwendet. Dennoch: Wo sich Geld anhäuft, wird es auch ausgegeben, so1019 „‘Wir können keine Insel der Seligen schaffen“ – Linde-Chef Wolfgang Reitzle über die wachsende Angst vor der Globalisierung, mangelhafte Reformen und sein Verständnis von Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 90 vom 17.04.2008, S. 21 1020 „‘Sie treffen die Schwächsten‘ – Telekom-Vorstandschef René Obermann und Betriebgsseelsorger Erwin Helmer diskutieren über die Schließung von Callcentern, soziales Handeln, unzureichende Renditen und notwendige Härten“ – SZ Nr. 229 vom 01.10.2008, S. 34

269

fern es im Lande bleibt und nicht weggesteuert wird. Ausgaben bedeuten Investitionen und Konsum. Aus beidem entstehen Wirtschaftskraft und zunehmend Arbeitsplätze. Dieses ist notwendigerweise auch sozial im positiven Sinne mittelbar und anhaltend wirksam. Man kann sogar vertreten, daß auch selbst verschuldete Bedürftige in einem gewissen Umfang noch an einem überbürdenden Wohlstand der Gesellschaft teilhaben, wenn man dieses ausdrücklich befristet und unter den erklärten Vorbehalt stellt, daß das nicht immer so bleiben muß.

Hier ist klare und offene Kommunikation gefragt.

Auch wenn darüber hinaus eine mehr unmittelbare, schnell sichtbare Sozialverpflichtung des Eigentums nach Art. 14 GG oft ausdrücklich eingefordert wird, hat sie weniger investitativen und damit zukunftsträchtigen Charakter. Almosen verpuffen sofort, auch wenn sie kurzfristig einmal notwendig sind. Auf der anderen Seite bedingt die unmittelbare Teilhabe an Transferleistungen nicht automatisch auch eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit derer, die finanziell dafür aufkommen müsse. Eher ist das Gegenteil der Fall. Der Friseurmeister, der seiner Angestellten einen Mindestlohn zahlen soll, den die von ihr eingenommene und ausgeübte Arbeitsstelle auf dem Markt der nachfragenden Kunden nicht erwirtschaftet, also „ins Verdienen bringt“, beschert ihm nur sichere Verluste. Also wird er so bald wie möglich auf die Fortführung dieses Arbeitsplatzes verzichten.

Am Schluß dieser Wirkungskette gibt es immer mehr Mindestlöhne. Nur fehlen die dazu gehörigen Arbeitsplätze. Die Verfassung hat dieses Thema deshalb mit gutem Grund der Tarifautonomie zugewiesen und nicht einem „planwirtschaftlichen Eingriffsverhalten“ des Staates.1021 Mindestlöhne stehen also nur auf dem Papier. Keiner hat wirklich etwas von ihnen.

Am Rande sei hier angemerkt, daß von da her auch der Vorschlag einiges für sich hat, Transferleistungen künftig einfacher zu gestalten, indem die Vielfalt der unübersichtlichen „Abgabensysteme“ und ihre aufwendigen Strukturen abgeschafft und die Leistungen etwa nur noch aus steuerlichen Mitteln bestritten werden, sofern das Steuersystem selbst die Belastungen unter Berücksichtigung aller notwendigen Aspekte einigermaßen „gerecht“ und sozial ausgewogen organisiert, was derzeit nicht der Fall ist. Vorbei wäre es mit dem nutzlosen Streit über Kopfpauschale – sie sucht richtigerweise den sozialen Ausgleich über den Wegfall der Beitragsbemessungsgrnze und die Steuern, die nicht nur aus Einkommen, sondern aus allen Einnahmen resultieren1022 – versus Bürgerversiche1021 Thomas Lobinger: „Überforderter Staat – Was in der politischen Debatte um den Mindestlohn leicht übersehen wird: Vor dem Grundgesetz ist er schwer zu rechtfertigen“ – SZ Nr. 128 vom 06.06.2013, S. 2 1022 Guido Bohsem: „Rückkehr der Kopfpauschale – Arbeitnehmer und Rentner sollen die Belastungen im Gesundheitswesen weitgehend allein tragen“ – SZ Nr. 245 vom 24./25.10.2009, S. 6; Claus Hulverscheidt: „Gerechte Kopfpauschale – Die SPD verzichtet lieber auf mehr Solidarität im Gesundheitswesen als auf ihre Vorurteile“ – SZ Nr. 20 vom 26.01.2010, S. 4; Stefan Huster: „Soziale Gesundheitsgerechtigkeitf“, S. 19

270

rung im Krankheitsfall, über die Beibehaltung diverser Subventionen und steuerlicher Vorteile als Ergebnis jahrzehntelanger Lobbyarbeit und vieles andere mehr. Der immer wieder dazu vorgebrachte Einwand, Sozialabgaben seien sicherer als steuerliche Leistungen, überzeugt nicht. Beides beruht auf Gesetzen und auf laufenden Umlagen, die natürlich beide auch immer einmal wieder geändert werden können. Eine Garantie auf ewig gibt es also letztlich in keinem der bisherigen Leistungssysteme.

So bleibt bei vielen – weil sie diese Fakten entweder nicht kennen oder immer noch als unzureichend bewerten – weiter die Frage: Was ist soziale Gerechtigkeit wann und unter welchen Bedingungen genau? Was ist – um mit dem Philosophen John Rawls zu sprechen – der Inbegriff dessen, was die Menschen sich nicht gnädig gewähren, vielmehr einander schulden, um von wirklicher Gerechtigkeit sprechen zu können?1023 Und was ist es erst recht in einer bestimmten Situation, wenn sich etwa die Volkswirtschaft und auch die internationalen Rahmenbedingungen stark und grenzüberschreitend verändert haben und insgesamt nicht mehr die Mittel erwirtschaftet werden, die bislang zu einem hohen, alle subjektiven Wünsche weitgehend befriedigenden Sozialleistungsniveau geführt hatten?1024 Der Ökonom Friedrich August Hayek hat schon in einer berühmt gewordenen Rede 1979 in Freiburg deutlich gemacht, daß niemand genau weiß, was beispielsweise eine soziale Marktwirtschaft genau ist. „Sozial“ sei ein „Wieselwort“, weil Wiesel Eier aussaugen, ohne die Schale zu zerstören.1025 Es geht also gar nicht primär um die wohlfeilen grundsätzlichen sozialpolitischen Ziele und Aussagen, um die prinzipielle Anerkennung dieser genannten Werte, sondern um die Frage der konkreten, situationsabhängigen und auszubalancierenden Einschätzung, ob, warum bzw. warum nicht diese Maßstäbe erfüllt oder nicht erfüllt sind. Was also heißt – und das fragt selbst Bundeskanzler Schröder1026 – „soziale Gerechtigkeit“, was genau ist wirklich „soziale Marktwirtschaft“ auch in unserer Situation, für eine Gesamtgesellschaft oder auch für

1023

Otfried Höffe: „Was die Menschen einander schulden – Die Gerechtigkeit verlangt nach einer Theorie, die der Welt standhält: Zum Tode des Philosophen John Rawls“ – SZ Nr. 274 vom 27.11.2002, S. 14 und „Gerechtigkeit“, S. 28 ff.; John Rawls: „Theorie der Gerechtigkeit“ – 1971 (deutsche Fassung 1975); vgl. dazu auch Michael Müller, Wolfgang Thierse und Hermann Schwengel: „Wege aus der sozialen Sackgasse“ – SZ Nr. 260 vom 12.11.2003, S. 2 1024 Siehe dazu Roland Tichy: „Totengräber des Sozialstaats – Die Totalaufgabe des Subsidiaritätsprinzip – Die Solidarität der Starken mit den Schwachen wird ausgehebelt“ – HB Nr. 195 vom 10./11.10.2003, S. 7: siehe dazu auch Nikolaus Piper: „Ein Urenkel für Erhard“ – SZ Nr. 234 vom 11./12.10.2003, S. 4; Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 17 1025 Thomas Wieczorek: „Die verblödete Republik“, S.55 und ff.

1026 Gerhard Schröder in dem Interview: „‘Ich habe nicht die Absicht, die Russland-Politik zu ändern‘ – Der Bundeskanzler kritisiert heftig die deutschen Manager: ‚Eigentum verpflichtet – dieser Satz gilt nicht nur auf dem Papier‘“ – SZ Nr. 229 vom 02./03.10.2004, S. 7; siehe auch Heribert Prantl: „Kein schöner Land – Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit“ – Droemer München 2005

271 die ganze Welt jeweils konkret,1027 wer entscheidet das und wie und nach welchen Kriterien ist Solidarität oder das uns geziemende Maß an sozialer Gerechtigkeit wirklich zu erreichen?

Das Zauberwort in allen Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung und – soweit sie ausbleibt – ebenso bei den dann übrig bleibenden reinen Verteilungskämpfen – heißt im übrigen: Soziale Gerechtigkeit. Auch die deutsche Gesellschaft, in der sich alles im Ausgleich befinden muß, bemüht bei der Bewältigung ihrer Probleme1028 und in der Diskussion um Reformen immer wieder dieses besonders hehr und ideal klingendes Argument, das sich leicht und behende handhabt, gerade weil es in seinem materiellen Inhalt so schillernd, eigentlich völlig unklar und deshalb auch ständig umstritten ist.1029 Erstaunlicherweise vermag aber dennoch jeder, der es im Munde führt, die Menschen zu besänftigen. Viele unterschiedliche Interessengruppen und Parteien können es gleichermaßen für sich in Anspruch nehmen und tun das auch intensiv, auch wenn sie dann jeweils etwas völlig anderes darunter verstehen.

Oder wie steht es in Wahrheit mit dem Vorwurf der „sozialen Kälte“ an einem Sozialstaat, in dem es die Bürger angesichts der Abgabe der Verantwortung an den Staat und die Arbeitgeber durch eine öffentlichen Rundumversorgung längst weitgehend verlernt haben, sich durch eine eigene aktive und selbständige Lebensgestaltung – vor allem dem engagierten Willen zum Lernen und Arbeiten – um die wesentlichen Ressourcen ihrer Existenz selbst zu kümmern? Oder sind damit nicht doch eher diejenigen angesprochen, die im Sinne eines überholten „Sozialismus“ fordern, den Mantel des heiligen Martin in gut gemeinter, aber zweifelhafter Ergebnislogik so lange immer wieder nur zu teilen, bis am Ende wirklich alle frieren? Mögen der CSU-Vorsitzende Erwin Huber mit seiner „Pendlerpauschale“ ebenso wie Umweltminister Sigmar Gabriel mit seinem Stromsozialtarif für Geringverdiener den Menschen populistisch vorgaukeln, sie hätten eine wirkliche Lösung für ihre Probleme, so mögen die davon Betroffenen 1027

Nikolaus Piper: „Propaganda und Protektion – Die neue antikapitalistische Polemik der SPD ist ein Wahlkampfmanöver – und politisch gefährlich“ – SZ Nr. 88 vom 18.04.2005, S. 4; Nikolaus Piper: „Einmal Wirtschaftswunder und zurück – Wie die soziale Marktwirschaft nach 1945 entstand und wie sie schleichend in die Krise geriet“ – SZ Nr. 119 vom 27.05.2005, S. 26; Global Marshall Plan Initiative (Hrsg.): „Welt in Balance. Zukunftschance Ökosoziale Marktwirtschaft“ – Verlag Global Marshall Plan Initiative Hamburg 2005 und die Besprechung dazu von Indira Gurbaxani: „Was heißt schon ökosozial?“ – SZ Nr. 144 vom 25./26.06.2005, S. 28 1028 Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 133 1029 Otfried Höffe, Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen: „Dreidimensionales Sparen – Was heißt Soziale Gerechtigkeit heute?“ – SZ Nr. 253 vom 04.11.2003, S. 13; sie auch ders.: „Gerechtigkeit“, S. 26 ff. u. insbes. S. 84 ff.; Hans-Olaf Henkel: „Die Ethik des Erfolgs“, S. 58 ff. und S. 249 ff.; Klaus Bölling: „Die SPD muss Gerechtigkeit neu definieren“ – SZ Nr. 264 vom 17.11.2003, S. 2; Nikolaus Piper: „Propaganda und Protektion – Die neue antikapitalistische Polemik der SPD ist ein Wahlkampfmanöver – und politisch gefährlich“ – SZ Nr. 88 vom 18.04.2005, S. 4

272

sich kurzfristig darüber freuen. Auf Dauer ändern sie aber nichts an der Ressourcenverknappung beispielsweise der Energieträger und helfen nur weiter dazu, an der Preisspirale mitzudrehen, weil es für steigende Nachfrage sorgt.1030 Im Ergebnis müssen wir feststellen, daß es sich bei dem von der Gesellschaft zu erfüllenden Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit um einen flexiblen Begriff handelt, der den ständigen Ausgleich sucht zwischen denen, die die Transfermittel erwirtschaften und denen, die davon profitieren. Für beide Seiten gilt als Steuergröße der Begriff der Zumutbarkeit, auch wenn es sich dabei nun wiederum um einen ausfüllungsbedürftigen Begriff handelt. Die große gesellschaftliche und daher auch politische Aufgabe ist es also, ein Konzept zu entwickeln, daß alle diese Wirkfaktoren in unterschiedlichen Situationen gleichermaßen ehrlich zugrunde legt und dennoch einen Weg weist, wie die großen Ziele eines prosperierenden Landes verbunden werden können mit der Einbeziehung all derer, die unverschuldet arm am Rande er Gesellschaft stehen.

Soweit ersichtlich leistet das bisher keine der politischen Parteien vollständig und überzeugend, weder theoretisch noch in ihrer praktischen Handlungsweise.1031 Jedenfalls sagen sie es den Menschen nicht überzeugend. In Zeitungsbeiträgen und vor allem Fernsehtalkshows stellen sie ihr Licht einseitig dar, um so recht von ihm beleuchtet zu werden. Die Moderatoren sind in den seltensten Fällen fachlich versiert genug und in der Lage, kritisch die Kehrseite zu erfragen und somit einen thematischen Ausgleich für die Schlußfolgerungen herzustellen.

Wer versteht die marktwirtschaftlichen Veränderungen, wonach die Menschen auch in anderen Ländern inzwischen zu niedrigen Kosten gute Produkte herstellen können, ohne daß Deutschland als Hochlohnland darauf wirklich eine überzeugende Antwort gefunden hätte?1032 Wem ist wirklich klar, welche Folgen der grenzüberschreitende Kapitalverkehr, aber auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Europa und die Niederlassungsfreiheit auf Investitionen, Konjunktur und Arbeitsplätze hat, die vom Grundsatz her – nur nicht in allen ihren Nebenwirkungen – politisch gewollt sind und von denen die deutsche Gesellschaft auf der anderen Seite auch nicht unwesentlich profitiert?1033 Wer versteht im übrigen 1030 Nina Bovensiepen: „Weniger reden, mehr tun – Die Politik macht sich die Diskussion um steigende Preise zu einfach“ – SZ Nr. 134 vom 11.06.2008, S. 21 1031 Vgl. dazu allgemein Antje Vollmer: „Wider die Konezptionslosigkeit in der Politik. ‚Das Komitee Europa – ein Vorschlag“ in Thomas Leif/Hans-Josef Legrand/Ansgar Klein (Hrsg,): „Die politische Klasse in Deutschland – Eliten auf dem Prüfstand“, S. 474 ff.

1032 Nikolaus Piper: „Unter Heuschrecken – Hundert Jahre deutsche Kritik am Kapitalismus“ – SZ Nr. 94 vom 25.04.2005, S. 15 1033 Alexander Hagelüken: „Wie Europa besser wird“ – SZ Nr. 94 vom 25.04.2005, S. 4; Wirtschaftsprofessor Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) – vgl. „Basarökonomie als Rettung – Symposium des Instituts der Deutschen Wirtschaft zum Strukturwandel“ – SZ Nr. 128 vom 07.06.2005, S. 22; Karl-Heinz Büschemann: „Appetit auf Traditionsmarken – die Zahl deutscher Aktien im Besitz des Auslands hat sich verdoppelt – nicht schlimm, sagen die Experten“, Nikolaus Piper: „Das Deutsche an der Deutschen Bank – Risiko und Chance zugleich:

273 auch noch, inwieweit sich allgemeine Forderungen nach Bürokratieabbau1034 und wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit der Unternehmen tendenziell im Zielkonflikt mit zumindest kurzfristigen sozialen Erwartungen und Arbeitnehmerschutzvorschriften befinden?1035 Auch die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften haben – soweit erkennbar – hierzu noch keine wirklich praktikablen Beiträge geleistet, auch wenn sie sich darin gefallen, den einen oder anderen Ausschnitt zu kritisieren, ohne auf die dahintr liegenden zusammenhänge hinzuweisen. Wir leben in einer „fragmentierten Informationsgesellschaft“. Der selektiven Betrachtungs- und Darstellungsweise gehört das Feld nach dem Motto „was nützt mir“, weil nur sie es erlaubt, einseitig Interessen zu vertreten, scheinbar zu begründen und Forderungen an andere zu richten. Die große Allgemeinheit, selbst die einigermaßen interessierte Öffentlichkeit, durchschaut viel zu wenig dieses Spiel, an dem sich eigentlich alle Parteien beteiligen. Die Medien als die oft gerühmte „vierte Gewalt“ in unserem Staat sind – trotz einiger Ansätze – aus Gründen ihrer eigenen Vertriebsinteressen zu wenig an der Richtigstellung bzw. ergänzenden Darstellung der meistens komplizierten, damit trockenen und zu wenig halsschreierischen Wahrheit interessiert.

Existieren heißt nicht nur essen und trinken, sondern hierfür auch selbst aufzukommen. Diese Fähigkeit nicht nur zu haben, sondern erlebbar zu praktizieren, schafft das Selbstbewußtsein, das zu einem zufriedenem Leben unabdingbar dazu gehört. Jeder Mensch ist daher – wenn er existieren will – für seine eigene Existenzgrundlage im besten Selbstverständnis auch selbst verantwortlich. Anders gesagt: Niemand kann erwarten, daß sich grundsätzlich und auf Dauer ein anderer darum kümmert oder dafür verantwortlich ist – weder Eltern noch Verwandte, weder der Arbeitgeber noch der Staat. Der eine schafft dieses gleichwohl besser als der andere, weil er subjektiv fleißiger und tüchtiger, begabter und daher erfolgreicher ist oder auch einmal nur Glück hat. Der echte Zufall ist normal verteilt. Dann soll es ihm auch besser gehen als anderen.

Wenn die Freiheit aller Menschen – wohlgemerkt nicht „bindungsloser Liberalismus oder laissez-faire“1036 – eine der wichtigsten Ethiken in unserem Leben und auch in der Ökonomie ist,1037 dann folgt daraus nicht nur die grundsätzliche Mit der Globalisierung hat die Nationalität von großen Unternehmen an Bedeutung verloren“ und Marc Beise: „In der Welt zu Hause“ – SZ Nr. 130 vom 09.06.2005, S. 2 1034 Daniela Kuhr: „Bürokratie kosten Firmen fast 50 Milliarden – Aufwand deutlich höher als erwartet/Industrie fordert dringend weitere Erleichterungen“ – SZ Nr. 284 vom 06./07.12.2008, S. 27 1035 Siehe auch Hans-Peter Bull, Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre in Hamburg: „Wir sind von Kopf bis Fuß auf Vorschriften eingestellt – Entbürokratisierung ist leichter gefordert als getan: Die Bürger selber wollen Regeln für sämtliche Lebensbereiche“ – SZ Nr. 185 vom 12.08.2005, S. 2; ähnlich Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 274 ff.

1036 Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 28 1037 Helmut Schmidt, S. 8; Hans-Olaf Henkel: „Die Macht der Freiheit – Erinnerungen“ − Ullstein Taschenbuch 2000 und „Die Ethik des Erfolgs“, S. 31 u. 34 ff.; ähnlich auch Uwe Jens, ehemaliger

274

Selbstbestimmung und Verantwortung jedes für sich selbst, also eine weitgehende „Individualisierung“, sondern auch die Möglichkeit, es mit einem dementsprechend eigenen Risiko zu gestalten und auszufüllen, und sich eben insoweit auch von anderen zu unterscheiden.1038 Das bedeutet: „Gerechtigkeit bleibt wertlos ohne Freiheit. .. Freiheit aber bedingt bzw. setzt Ungleichheit voraus.“1039 Sie erlaubt den notwendigen, im Prinzip zunächst auch uneingeschränkten Wettbewerb: „...Ohne mehr persönliche und ökonomische Freiheit gibt es auch keine neue Wachstumsdynamik, ohne mehr Dynamik gehen auch die Wettbewerbspositionen verloren, die die deutschen Unternehmen noch halten.“1040 Der Wirtschaftsethiker Karl Homann meint: „Doch was bedeutet Solidarität in einer Wettbewerbswirtschaft? Solidarität darf nicht bedeuten, daß wir den Wettbewerb bändigen wollen, als sei er ein wildes Tier. Um der Solidarität willen sollten wir den Wettbewerb forcieren, wie auf dem Telefonmarkt.“ 1041 Die entscheidenden Ressourcen für Erfolg liegen also allein bei uns selbst.

Wenn wir besser sind als andere, anhaltend stabiler und dadurch auch glaubwürdiger, werden wir uns einen guten Platz in der Welt sichern können. Und die SPD-Bundestagsabgeordneter – jetzt Ruhruniversität Bochum: „Forum: Die SPD und die Wirtschaft – Das Wichtigste ist die Freiheit – Der schwierige Lernprozess der Sozialdemokraten/Fachleute in der Minderheit“ – SZ Nr. 63 vom 16.03.2004, S. 22; Nikolaus Piper: „Deutsche Träumereien – Anmerkungen zum Widerwillen gegen das Ökonomische“ – SZ Nr. 78 vom 02.04.2004, S. 13; Nikolaus Piper: „Die Logik der Freiheit – Friedrich A. v. Hayeks ‚Weg zur Knechtschaft‘ – 60 Jahre nach dem ersten Erscheinen“ – SZ Nr. 223 vom 25./26.09.2004, S. 19; Jürgen Hambrecht, Vorstandsvorsitzender der BASF: „Forum: Kritik an der Wirtschaft – Wir brauchen mehr Kapitalismus – Ohne Wagemut kann nichts Neues entstehen/Zur Globalisierung gibt es keine Alternative/Gemeinwesen mündiger Bürger“ – SZ Nr. 103 vom 06.05.2005, S. 22; Tilo Schabert, Politikwissenschaftler an der Universität Erlangen: „Im Namen der Freiheit – Wir haben dieselben Rechte, aber nicht dieselben Begabungen: Wieso wir dringend Eliten brauchen“ – SZ Nr. 120 vom 28./29.05.2005 (Wochenende), S. I; Udo di Fabio: „Die Kultur der Freiheit“ – C. H. Beck München 2005 1038 Zu diesem „Dilemma der Individualisierung“ siehe Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 101 1039 Gustav Seibt: „Was ist gerecht?“ – SZ Nr. 301 vom Silvester 2002/Neujahr 2003, S. 4; Lothar Späth, S. 175, spricht vom „Mut zur Ungleichheit“. Zur ökonomischen Herkunft der technik- und globalisierungsbedingten Ungleichheit vgl. auch James Peter Neary, Professor für politische Ökonomie an der Universität Dublin in dem Bericht von Christian Kelders: „Wo die Ungleichheit herkommt“ – SZ Nr. 121 vom 27.05.2003, S. 26/18; Florian Gerster – zitiert nach Robert Jacobi: „Einsam unter Scharlatanen“ – SZ Nr. 153 vom 07.07.2003, S. 3 1040 Nikolaus Piper: „Das deutsche Problem“ – SZ Nr. 288 vom 13.12.2002, S. 4; Roland Tichy: „Im Zug nach nirgendwo?“ – HB Nr. 27 vom 07./08.02.2003, S. 11; Thomas Knipp: „Ungleichheit fördert den Wohlstand – Gegen die geplante Steuerreform regt sich immer noch Widerstand – Nun gilt es, über den Tellerrand des politischen Tagesgeschäfts hinauszublicken“ – HB Nr. 121 vom 27./28.06.2003, S. 9; Nikolaus Piper: „Freiheit und Reform – Das schwierige Wort ‚sozial‘ – Über die Debatte der liberalen Ökonomen um die Gefahren des Wohlfahrtsstaates“ – SZ Nr. 170 vom 26./27.07.2003, S. 17; Martin Hesse: „Vom Nutzen der Heuschrecken“ – SZ Nr. 93 vom 23./24.04.2005, S. 23; Nikolaus Piper: „Das Soziale an der Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 95 vom 26.04.2005, S. 17 1041 „‘Wettbewerb ist solidarisch‘ – Der Wirtschaftsethiker Karl Homann über Globalisierung und Nokias Werkverlagerung“ – SZ Nr. 24 vom 29.01.2008, S. 21

275

Menschen werden dabei ihr menschenwürdiges Auskommen haben. Das alles entspricht in dieser Allgemeinheit sicher auch der tatsächlich herrschenden Überzeugung der Menschen und damit der allgemeinen Moral. Der Sozialstaat darf freilich nicht dazu führen, den Menschen so immer mehr ihre Lebenschancen abzunehmen bzw. zu vermindern. Dabei geht es nämlich ebenfalls ihre Freiheit und Würde. Das Soziale selbst wird auch insoweit zu einer moralischen Angelegenheit.1042 Wie ist nun vor dem Hintergrund solcher Tatsachen dieser festgestellte, bereits existierende Transfer in unserem Sozialstaat zu bewerten, welches sind die von allen anerkannten Maßstäbe? Sind wir wirklich schon ein Sozialstaat oder noch immer nicht? Was genau heißt „soziale Gerechtigkeit“? Es dürfte deutlich geworden sein, daß sich Solidität und Solidarität nicht ausschließen, sondern einander bedingen und je nach Ausgestaltung wechselseitig voneinander profitieren.

Soziale Gerechtigkeit ist ein immerwährender Prozeß mit dem Versuch, je nach konkreter Lage immer wieder die beiden Seiten einer Medaille zu verbinden, sich gegenseitig den Rücken zu stärken und damit zu einer festen und starken Konstruktion zu gestalten, die stets eine gerechte und würdevolle menschliche Existenz gewährleistet.

Soziale Schutzsysteme Soziale Gerechtigkeit ist in einem Sozialstaat ein überprüfbares Rechtsprinzip.

Der Staat muß grundsätzlich Solidarität und sozialen Ausgleich der Menschen untereinander gewährleisten (Sozialstaatsprinzip gem. Art. 20 I GG). Das gilt insbesondere auch für das hohe Gut der Gesundheit, das nicht selten vom sozialen Status eines Menschen abhängt. Man spricht insoweit auch von „sozialer Gesundheitsgerechtigkeit“.1043 Sie verpflichtet den Staat nicht nur zum Aufbau sozialer Strukturen und Organisationen, sondern begünstigt nach herrschender Rechtsauffassung als unmittelbar geltendes Recht im Sinne der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sogar als verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch1044 vor allem Hilfsbedürftige, die in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung erheblich behindert sind, wenngleich auch in den sozialen Sicherungssystemen diesem zu entsprechen bislang solange verhältnismäßig 1042 Vgl. dazu und in diesem Sinne Nikolaus Piper: „Die Moral der Reform“ – SZ Nr. 296 vom 24./25./26.12.2003, S. 19 1043 Stefan Huaster: „Soziale Gesundheitsgerechtigkeit – Sparen, umverteilen, vorsorgen?“ – Berlin 2011.

1044 Heribert Prantl: „Sturmwarnung“ – SZ Nr. 91 vom 19./20./21.04.2003, S. 4; Thomas Öchsner: „Riesige Unterschiede beim Vermögen – die große Umverteilung – die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, das darf in Deutschland kein Tabuthema bleiben“ – SZ Nr. 217 vom 20./21.09.2003, S. 21

276

einfach war, wie die wirtschaftlichen Verhältnisse – insbesondere auch die Zuwächse für den Staat – die materiellen Voraussetzungen dafür hinreichend boten.1045 Dazu bedurfte es also nicht immer wieder erst der Forderungen verschiedener Interessengruppen, auch wenn das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip theoretisch schon immer wegen seiner ebenfalls hohen Unbestimmtheit hätte konkretisiert oder präzisiert werden müssen.1046 Die Gründe für die Erfüllung eines individuellen Leistungsanspruchs können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht recht unterschiedlich sein wie etwa eine finanzielle Notlage, körperliche und geistige Gebrechen, auch persönliche Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftliche Benachteiligung. Es kann überhaupt keinen Zweifel daran geben, daß das Ziel all unseres Wirtschaftens ein menschenwürdiges Leben aller ist. Das gebietet der Respekt vor dem Leben ebenso wie die von Ethikern und Religionslehrern gleichermaßen betonte Wertegleichheit allen menschlichen Lebens. Der Mensch arbeitet damit für soziale Ziele des Lebens und Überlebens, sowohl in materieller Hinsicht, aber auch in Bezug auf ein friedliches und menschenwürdiges Miteinander auf dieser Welt.

Tatsache ist, daß die Steuern und Sozialabgaben in den letzten Jahren nicht nur absolut, sondern auch relativ zu Lasten der Geringverdiener immer weiter gestiegen sind, so daß Deutschlands Abgabenlast – so eine Feststellung der OECD – inzwischen weltweit mit an der Spitze liegt. Mit Steuern und Sozialtransfers vermindert Deutschland die Ungleichheit um 29 Prozent und so vergleichsweise zu anderen OECD-Ländern wieder besonders wirkungsvoll.1047 Der Staat nimmt dabei immer mehr den einen und gibt ebenso mit steigender Tendenz den anderen, aber er verdeckt diesen Tatbestand.1048 Dafür zahlen andererseits zehn Prozent der höchsten Einkommensbezieher auch rund die Hälfte aller Einkommen1045

Heidrun Graupner: „Sozialer als der Sozialismus – Der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm hält das Solidaritätsprinzip nach wie vor für das beste Rezept“ SZ Nr. 123 vom 30./31.05.2009, S. 6 1046 So unter Bezugnahme auf das Bundesverfassungsgericht Jarass/Pieroth: „GG – Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ – Art. 20, Rdnr. 73; vgl. dazu auch Konrad Deufel u. Manfred Wolf (Hrsg.): „Ende der Solidarität? Die Zukunft des Sozialstaates“ – Herder Verlag Freiburg 2003‚ und die Besprechung dazu von Thomas Eckardt: „Was genau ist ‚sozial‘?“– SZ Nr. 165 vom 21.07.2003, S. 9; Klaus Adomeit: „Die Agenda 2010 – sozialphilosophisch“ – NJW 33/2003, S. 2356 ff.; Judith Raupp: „Der Streit um die Agenda 2010 – Der Stärkere gewinnt – Die Debatte über Interessenkonflikte wird in Deutschland nicht ernst genug geführt“ – SZ Nr. 20 vom 25./26.01.2003, S. 23; wenig hilfreich: „Moralische Krise des Sozialstaats – Walter-Eucken-Institut berät über Ordnungsökonomik“ – SZ Nr. 224 vom 29.09.2003, S. 22 1047 Marc Beise: „Der Staat langt zu – Deutschlands Abgabenlast ist weltweit Spitze. Das darf so nicht bleiben“ und Markus Balser: „Deutschland schröpft Geringverdiener – Die OECD übt harte Kritik an der Abgabenlast. Kaum ein anderes Land finanziert seinen Sozialstaat so ungerecht“ – SZ Nr. 108 vom 12./13.05.2010, S. 25 und 28; Daniela Kuhr: „Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst schneller – OECD-Studie zeigt: In Deutschland verdienen die oberen zehn Prozent achtmal so viel wie die unteren. Das liegt auch an der Teilzeit“ – SZ Nr. 281 vom 06.12.2011, S. 20 1048 Nikolaus Piper: „Die Moral der Reform“ – SZ Nr. 296 vom 24./25./26.12.2003, S. 19

277

steuer. Zwar entwickelt sich die Vermögenslage der Menschen derzeit eher weiter auseinander. Aber Vermögenssteuern – auch die angeblich sozialwidrige, wenn auch aus Wettbewerbsgründen erforderliche Reduzierung auf die pauschale Abgeltung von 25 Prozent – sind der Einkommenssteuer nicht vergleichbar. Die Vermögensinhaber haften nämlich finanziell zudem insbesondere durch den risikobehafteten Verlust ihres Stammvermögens, wie das gerade in der aktuellen Finanzierungskrise sehr deutlich geworden ist.

Am Beispiel der Gesundheitskosten hat das Statistische Bundesamt Transparenz über die verteilt zu tragenden Kosten gebracht mit der Aussage, daß immerhin die Bürger die Hälfte der Gesundheitskosten selbst tragen.1049 Nur ist das angesichts des vor allem im Steuersystem bereits angelegten sozialen Ausgleichs dann nicht eigentlich selbstverständlich?

Das klassisch-traditionelle Instrument der nationalen Marktwirtschaften, sozial unerwünschte Folgen einzufangen, sind Reglementierungen durch den Gesetzgeber verbunden mit entsprechenden Aufsichtsbehörden und Kontrollorganen. Das beginnt bei den Menschenrechten und mit dem Programm des Art. 14 im Grundgesetz, wonach Eigentum sozial verpflichtet und endet noch nicht bei den Regelungen über unerlaubte Kartelle, unlauteren Wettbewerb, Geheimnisverpflichtungen und Datenschutz, diverse verbraucherschützende Bestimmungen usw., die inzwischen immerhin auch für das Europa der Europäischen Union weitgehend vorhanden sind, auch wenn man mit den Ergebnissen der sogenannten „Lissabon-Strategie“ zu einem der wettbewerbsfähigsten, dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt noch keineswegs zufrieden sein kann.1050 Sie fehlen jedoch in vergleichbarer Weise überhaupt weltweit. Hier können auch nationale Bemühungen allein nichts mehr bewirken. Wir stehen also vor der Tatsache, daß es schon an den institutionellen, demokratisch legitimierten Voraussetzungen für derartige weltweite Eingriffe fehlt. Internationale Abmachungen und Verträge sind zwar teilweise vorhanden, aber oft nicht wirksam, weil manchen Staaten ihnen nicht beitreten und im übrigen bei Verstößen dagegen auch Sanktionsmöglichkeiten fehlen. Im übrigen haben formale Reglementierungen einen großen Nachteil: Sie veralten in einer sich schnell und dynamisch entwickelnden Welt bei ebenso schnell wechselnden Rahmenbedingungen und Einflußfaktoren schnell, wenn sie zu konkret ausfallen. Mangelnde Flexibilität führt immer wieder dazu, daß auch sie als ungerecht empfunden werden, jedenfalls die Probleme nicht mehr angemessen lösen, die als zeittypisch auf die sozialen Belange der Menschen einwirken.

1049

„Bürger tragen die Hälfte der Gesundheitskosten“ – SZ Nr. 95 vom 25.04.2003, S. 6 Lars-Hendrik Röller: „Für eine kraftvolle Europapolitik – Die Lissabon-Strategie ist gescheitert, weil es keine verlässlichen Kontrollen gab. Solche Fehler müssen jetzt vermieden werden“ – SZ Nr. 65 vom 19.03.2010, S. 18; Martin Winter: „Europa ohne Schwung“ – SZ Nr. 207 vom 08.09.2010, S. 4 1050

278

Die größte konkrete Ausprägung dessen, was wir in der Bundesrepublik Deutschland unter sozial verstehen, findet sich in den Formen unserer Sozialordnung und ihrer Schutz- bzw. Sicherungssysteme, in den sonstigen staatlichen Sozialleistungen, Verwaltungskosten und sonstige Ausgaben. Das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip fordert vom Gesetzgeber, soziale Gegensätze auszugleichen und die Sozialordnung gerecht auszugestalten. Hier gibt es auch einen direkten Geld- oder Sachtransfers von Sozialschutzsystemen an private Haushalte und Einzelpersonen zur Verringerung der Lasten, die durch bestimmte Risiken oder Bedürfnisse entstehen. Ausgenommen sind steuerliche Vergünstigungen.

Die Leistungen werden nach den acht „Funktionen" des Sozialschutzes untergliedert:1051 1. Die Leistungen der Funktion „Krankheit/Gesundheitsversorgung" betreffen in erster Linie Lohn- und Gehaltsfortzahlungen im Krankheitsfall, medizinische Versorgung und Versorgung mit Arzneimitteln.

2. Die Leistungen der Funktion „Invalidität/Gebrechen" umfassen hauptsächlich Invalidenrenten und die Versorgung von Behinderten mit Waren und Dienstleistungen (ohne medizinische Versorgung).

3. Die Leistungen der Funktion „Alter" umfassen vorwiegend Altersruhegeld und die Versorgung älterer Menschen mit Waren und Dienstleistungen (außer medizinische Versorgung).

4. Die Leistungen der Funktion „Hinterbliebene" beinhalten die finanzielle Unterstützung und Hilfe im Zusammenhang mit einem Todesfall in der Familie, wie z. B. Hinterbliebenenrenten.

5. Die Leistungen der Funktion „Familie/Kinder" betreffen (außer medizinische Versorgung) Kosten, die im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt, Erziehung und Betreuung von anderen Familienmitgliedern anfallen.

6. Unter die Leistungen der Funktion „Arbeitslosigkeit" fallen auch durch öffentliche Stellen finanzierte Berufsausbildungsmaßnahmen.

7. Die Leistungen der Funktion „Wohnen" umfassen Maßnahmen staatlicher Behörden, die private Haushalte bei der Aufbringung der Wohnkosten unterstützen.

1051

So das Jahrbuch der Europäischen Statistikbehörde 2004 (EuroStat-Jahrbuch S. 109)

279

8. Die Leistungen der Funktion „soziale Ausgrenzung" umfassen Einkommensbeihilfen, Wiedereingliederung von Alkohol- und Drogenabhängigen und sonstige Leistungen (außer medizinische Versorgung).

Legt man zur Bewertung der Frage, wie sozial ein Staat zu seinen Bürgern ist, den international üblichen Maßstab an, also das Verhältnis von Bruttosozialprodukt und sozialen Ausgaben, dann liegt Deutschland ganz oben in der Spitzengruppe sozialer Staaten.1052 Deutschland soll nach Norwegen bereits an zweiter Stelle stehen. Bereits ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts wird allein für Sozialausgaben verwendet.1053 Dabei bringen freilich zahlreiche gering Verdienende ebenso Steuern dafür auf, wie eine eher geringere Zahl von Wohlhabenden. Andere profitieren davon, auch wenn sie nicht geringe Vermögen besitzen.1054 Man kann zumindest fragen, wie es kommt, daß in einem Land, das ein Drittel seines Bruttoinlandsprodukts in irgendeiner Form für soziale Zwecke ausgibt, nachdem fast alle Politiker in der Vergangenheit die hemmungslose Vermehrung der Sozialleistungen schlicht als Machtinstrument erkannt und schamlos für sich genutzt haben, überhaupt noch in diesem Ausmaß über soziale Gerechtigkeit diskutiert wird.1055 Der Göttinger Politologe Franz Walter hat mit Recht darauf hingewiesen, daß unser Sozialstaat besonders in den späten sechziger und siebziger Jahren zu etatistischer Maßlosigkeit und institutioneller Erstarrung geführt hat.1056 Der wichtigste Ausgabenbereich des aktuellen Sozialschutzes ist die Gewährung von Leistungen v. a. für Alte und Kranke, weniger noch immer für Eltern und Familien.1057 Die für den Sozialschutz zuständigen Stellen werden auf unterschiedliche Weise finanziert bzw. mit Geld ausgestattet. Die Einnahmen umfassen Sozialbeiträge von Arbeitgebern und V e r s i c h e r t e n , Beiträge des Staates und sonstige Einnahmen. Die sonstigen E i n n a h m e n stammen aus einer Vielzahl von 1052

Hans-Olaf Henkel: „Die Ethik des Erfolgs“, S. 38 So der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber in dem Interview: „Deutschland-Frankreich – eine Lokomotive ohne Anhänger“ – SZ Nr. 157 vom 10./11.07.2004, S. 9 1054 Beispiele bei Jens Bisky: „Verlogene Volksfront“ – SZ Nr. 183 vom 10.08.2004, S. 4 1055 Helmut Maier-Mannhart: „Steigende Sozialleistungen bei wachsendem Wohlstand – Der Bürger als Kostgänger – Fatale Logik des Wohlfahrtsstaates: Eigenständigkeit und Eigenverantwortung verkümmern“ – SZ Nr. 193 vom 23./24.08.2003, S. 17; Roland Tichy: „Totengräber des Sozialstaats – Die Totalaufgabe des Subsidiaritätsprinzip – Die Solidarität der Starken mit den Schwachen wird ausgehebelt“ – HB Nr. 195 vom 10./11.10.2003, S. 7 1056 Franz Walter, Politologe aus Göttingen: „Nicht etwa Altruismus – Münteferings antikapitalistisches Fanal“ – SZ Nr. 97 vom 28.04.2005, S. 13 1057 Felix Berth: „Letzte Hilfe – Der deutsche Sozialstaat kümmert sich vor allem um Alte und Kranke – Politik für Eltern und Familien hat keine Priorität“ und „Falsche Sozialpolitik“ – SZ Nr. 161 vom 16.07.2009, S. 2 und 4 1053

280

Quellen, z. B. Zinsen, Dividenden, Mieten und Forderungen gegenüber Dritten.

Sozialbeiträge werden von den Arbeitgebern und den Versicherten gezahlt. Sozialbeiträge der Arbeitgeber sind alle Aufwendungen der Arbeitgeber zur Sicherstellung der Ansprüche ihrer Beschäftigten auf Sozialleistungen. Dazu gehören alle Zahlungen der Arbeitgeber an Sozialschutzsysteme (tatsächliche Beiträge) sowie direkt von Arbeitgebern an Arbeitnehmer gezahlte Sozialleistungen (unterstellte unterstellte Beiträge). Die Sozialbeiträge der Versicherten umfassen die von Arbeitnehmern, Selbständigen, Rentnern und sonstigen Personen gezahlten Beiträge. Sozialleistungen werden vor Abzug der von den Empfängern auf sie zu entrichtenden Steuern oder sonstigen Pflichtabgaben erfasst. „Steuerliche Leistungen" (Steuervergünstigungen für Haushalte im Rahmen des Sozialschutzes) sind in der Regel ausgenommen.1058

Altersversorgung Die Renten sind entgegen einem populären, aber falschen Ausspruch des ehemaligen Arbeits- und Sozialministers Norbert Blüm auf Dauer nicht sicher, so daß die Menschen sich auch konkret zunehmend um ihre Altersvorsorge Sorgen machen.1059 Ursache dafür ist nicht die Struktur und Organisation der allgemeinen, noch wesentlich auf dem Umlagesystem (Generationenvertrag) basierenden sozialen Rentenversicherung,1060 auch nicht die konkrete Zahlungsfähigkeit der Zahlungsträger, sondern die ausreichende Finanzierbarkeit für den notwendigen Lebensunterhalt im Alter (Höhe der Altersrente) allein aus eben dieser Rente (Rentenempfänger). Man weiß heute – so u.a. der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück, daß es ausgeschlossen ist, die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme im 21. Jahrhundert ebenso fortzusetzen wie Ende des 20,. Jahrhunderts.

Seit langem schon hielt Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt auf der Basis der nachstehend dargestellten Fakten die Rentenversicherung „ohne nachhaltige Strukturreform“ über dieses Jahrzehnt hinaus nicht mehr für überlebensfähig, weil sie „nicht mehr zu bezahlen und irreparabel“ geworden ist.1061 Das meinte

1058

Eurostat Jahrbuch 2004, S. 110 Simone Boehringer: „Bangen und bauen – Die Deutschen sorgen sich um ihre Altersvorsorge.

Wegen der Schuldenkrise fürchten viele eine Inflation und flüchten in Betongold“ – SZ Nr. 243 vom 21.1ß0.2011, S. 25 1060 Siehe auch Thomas Öchsner: „Das Renten-Reförmchen“ – SZ Nr. 208 vom 09.09.2011, S. 4 1061 Vgl. „Nullrunde für Rentner“ – SZ Nr. 291 vom 17.12.2002, S. 23; ebenso: „CDU-Wirtschaftsrat für Radikalkur – Rentenniveau soll schrittweise auf 60 Prozent gekürzt werden“ – SZ Nr. 137 vom 17.06.2003, S. 21; „Arbeitgeber für Rentenreform – ‚Beitrag darf keinesfalls über 19,5 Prozent steigen‘“ – SZ Nr. 216 vom 19.09.2003, S. 6; siehe dazu auch die Gutachten zum 65. Juristentag und Markus Roth: „Private und betriebliche Altersvorsorge zwischen Sicherheit und Selbstverantwor1059

281

neben dem CSU-Sozialexperten Seehofer zunächst auch die HerzogKommission,1062 obwohl andere in den Vorschlägen doch eher eine „Reform im System“ sahen.1063 Auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, HansJürgen Papier, hat davor gewarnt, die Gemeinschaft nicht dauerhaft zu überfordern, sondern für eine angemessene Leistungsverteilung auch zwischen den Generationen zu sorgen. 1064 Dennoch: Die Parteien unterschätzen noch immer die hier auf alle zukommenden Kosten der Sozialversicherung.1065 Für eine ausreichende Rente maßgeblich ist um Umlagesystem in erter Linie eine ausreichende Zahl von Beitragszahlern.1066 Selbst wenn es zwischenzeitlich gelungen ist, die Zahl der Arbeitslosen zu verringern, wird es doch auf absehbare Dauer keine nennenswerte Erhöhung der beitragszahlenden Erwerbsquote in Deutschland geben. Die Zahlen dafür liegen seit langem vor und sollten von den Politikern ebenso wie von den Medien den Bürgern und Wählern immer wieder „ohne Beschönigung ... öffentlich“ dargelegt werden.1067 Besondere Probleme zeichnen sich als Folge von Arbeitslosigkeit speziell für die gering qualifizierten Menschen in den neuen Bundesländern ab, für die eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), erstellt im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung, einen dramatischen Einbruch der Alterssicherung in den nächsten Jahrzehnten voraussagt.1068 Auch wegen des Booms von Billig-Jobs, der Geringverdiener, der Arbeitslosen und der SoloSelbständigen drohen in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren Millionen in die

tung“ – ZRP 05/2004, S. 154 ff. und Klaus F. Zimmermann u. Holger Bonin: „Arbeiten bis siebzig – Ohne mutige Reformen kollabiert die gesetzliche Kasse“ – SZ Nr. 189 vom 18.08.2005, S. 18 1062 Susanne Höll: „Seehofer rät zu Systemwechsel – Sozialexperte der Union für neuen Kurs in der Rentenpolitik“ – SZ Nr. 198 vom 29.08.2003, S. 6 1063 „CDU auf Rürup-Kurs“ – DER SPIEGEL Nr. 36/2003, S. 17 1064 Heidrun Graupner: „Sozialer als der Sozialismus – Der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm hält das Solidaritätsprinzip nach wie vor für das beste Rezept“ SZ Nr. 123 vom 30./31.05.2009, S. 6 1065 Markus Zydra: „4439 Euro mehr pro Sekunde – Die Staatsverschuldung wächst. Noch ist das nicht dramatisch, aber die Parteien unterschätzen die künftigen Kosten der Sozialversicherungen“ und „‘Erheblich schlechtere Staatsfinanzen‘ – Warum die Bundesbank davon ausgeht, dass die Politiker nach den Wahlen kräftig sparen müssen“ – SZ Nr. 191 vom 21.08.2009, S. 19 1066 Vgl. auch Marc Beise: „Ein letztes Hurra – Deutschland geht es hervorragend. Womöglich nicht mehr lange“ – SZ Nr. 88 vom 15.04.2011, S. 17 1067 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 227 ff. (237, 238); Felix Berth: „Die Gekniffenen der Zukunft – In den kommenden Jahrzehnten werden die Menschen für weniger Rente länger arbeiten müssen“ – SZ Nr. 159 vom 14.07.2009, S. 5; „Milliardenloch in Sozialkassen – Arbeitslosigkeit treibt Ausgaben und senkt Einnahmen“ – SZ Nr. 237 vom 15.10.2009, S. 21; Thomas Öchsner: „Sonderregelung aus dem Jahr 2008 erlaubt Rechentrick – Bundesregierung schönt Arbeitslosenstatistik – Mehr als 100 000 Erwerbslose über 58 Jahre werden nicht aufgeführt/Arbeitsministerium: Zahlen sind transparent“ – SZ Nr. 301 vom 30.12.2011, S. 1 1068 Thomas Öchsner: „Weniger als 600 Euro Rente – Studie prognostiziert ‚dramatischen‘ Einbruch der Alterssicherung in Ostdeutschland in den nächsten Jahrzehnten“ – SZ Nr. 64 vom 18.03.2010, S. 5

282 Altersarmut abzurutschen.1069 Es gibt keine durchgängigen Lebensarbeitszeiten und auch kein den bisherigen Durchschnittseinkommen entsprechenden Verdiensthöhen mehr. Das heißt, daß selbst bei einer angemessenen Zahl von Erwerbstätigen die Höhe der künftigen Altersrente allein dadurch sinkt, daß die Höhe der aktiven Bezüge in einem höheren Maße als bisher absinkt oder nichtfortlaufend gezahlt wird.

Schließlich und vor allem ergeben sich erhebliche Finanzierungslücken aus der wachsenden Zahl von rentenempfängern. Bereits heute beziehen rund 21 Millionen Einwohner, d.h. 25 Prozent der Gesamtbevölkerung Rente aus diesem Zweig der Sozialversicherung. Erst recht schwierig wird das für einen Zielzeitraum von weiteren 30 Jahren, wonach ein Rentner dann ca. 20 Prozent weniger Leistungen zu erwarten hat als einer, der jetzt in Rente gegangen ist. Und auch der hat schon sieben Prozent weniger erhalten als jemand, der vor zehn Jahren in den Ruhestand gewechselt ist.1070 Altbundespräsident Roman Herzog sprach von einer „Rentnerdemokratie“, also auch der Tatsache, daß die älteren Menschen auch meinungsbildend und als Wähler mit speziellen Interessen ein immer größeres Gewicht in unserer Gesellschaft einnehmen. Sie organisieren sich und ihre Repräsenmtanten vertreten ihre Interessen nicht weniger heftig und einseitig als alle anderen auch.

Zahlreiche ungeplante und rechnerisch nicht erfaßte Ereignisse haben sich zudem auf die Rentenversicherung belastend ausgewirkt und tun das auch künftig, von der deutschen Wiedervereinigung bis hin zur Beschäftigung von Migranten, weil Renten und Leistungen bezogen werden für Zeiten, die so nicht vorausgesehen werden konnten und deshalb auch nicht ausreichend finanziert worden sind. Neuerdings kommen als Folge der Schuldenkrise noch Inflationyxängste hinzu.1071 Spannungen entstehen andererseits, wenn die geringer werdende Nachwuchsgeneration immer mehr Beiträge für die Zahlung dieser Renten zahlen muß, ohne selbst jemals in den Genuß entsprechender Leistungen kommen zu können. Dazu kommen Wertverfall und Kaufkraftverluste durch Inflation und steigende Abgaben für die Kranken- und Pflegeversicherung.

Schon bei dem theoretischen Versuch, Lösungen zu finden, herrschen sowohl bei Rentenexperten und nicht zuletzt in der Politik Klagen und Zähneklappern, wobei man sehen und anerkennen muß, daß schon die Ausgangsbedingungen für die Menschen höchst unterschiedlich sind. Dennoch haben sich die Koalitionsparteien trotz einer entsprechenden Vereinbarung im Koalitionsvertrag zwei 1069

Thomas Öchsner: „Das Renten-Reförmchen“ – SZ Nr. 208 vom 09.09.2011, S. 4; so auch die Umfrage „Index Gute Arbeit“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) unter Angestellten in „Angst vor Altersarmut“ – SZ Nr. 270 vom 22.11.2012, S. 22 1070 Thomas Öchsner: „Risiko Altersarmut“ – SZ Nr. 157 vom 11.07.2011, S. 4 1071 Simone Boehringer: „Bangen und bauen – Die Deutschen sorgen sich um ihre Altersvorsorge.

Wegen der Schuldenkrise fürchten viele eine Inflation und flüchten in Betongold“ – SZ Nr. 243 vom 21.1ß0.2011, S. 25

283

Jahre lang gar nichts in dieser Angelegenheit getan. Erst allmählich soll es mit einem „Regierungsdialog Rente“ gegenüber Experten und Interessenvertreternbeginnen.1072 Dabei genügt es keinesfalls, lediglich nochmals die Einflußfaktoren und einzelnen Varianten eines künftigen Systems (Renteneintrittsalter, flexiblere Übergänge, Erwerbsbiographie, Beitragssatz, Rentenniveau und Mindestrente, Altersarmut und Bedürftigkeit, Rentenergänzungen und Subventionierung des Systems durch Steuermittel) aufzuzählen, wie das der ehemalige Bundesminister und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers tut.1073 Es muß aus alledem ein konkretes, mit Blick auf die Folgen schlüssiges, akzeptables und finanzierbares Gesamtkonzept entwickelt werden, wie es bislang noch von keiner politischen Partei vorgelegt worden ist. Die politische Diskussion bewegt sich stattdessen in anlaßbezogenem Gerede mehr oder weniger wahllos von einem auf den anderen dieser Punkte, ohne gleichzeitig zu sagen, welche Folgen das auch im Hinblick auf die übrigen Faktoren hat bzw. haben soll. Politik dieser Art ist ineffizient und letztlich schlicht überflüssig.

Erhöhung der Beiträge Zunächst gehören alle diejenigen fiktiven Beitragszahlungen oder Anrechnungszeiten auf den Prüfstand, mit denen keine wirklichen Beiträge verbunden sind.

Das sind beispielsweise konkret beitragslose Kindererziehungszeiten1074 oder die entsprechende Anerkennung von Studienzeiten.1075 Dort aber, wo aus gesellschaftspolitischen, sozialen oder anderen strategischen Gründen derartige Vorteile gewährt werden sollen und das auch unmittelbar im System der gesetzlichen Altersversorgung – man könnte das alles ja auch außerhalb dieses Systems organisieren, muß den rechnerischen Beiträgen entsprechendes Geld – und sei es aus Steuermitteln – in die Rentenkasse fließen. Alles andere ist eine falsche Rechnung und vernebelt und verschiebt die wahren Verursachungen.

1072

Thomas Öchsner: „Risiko Altersarmut“ – SZ Nr. 157 vom 11.07.2011, S. 4 Jürgen Rüttgers: „Schrittweise in den Ruhestand – Deutschland braucht ein Rentensystem, das flexibler, transparenter und gerechter ist“ – SZ Nr. 3 vom 04.01.2012, S. 2 1074 Siehe dazu auch den Vorschlag des FDP-Sozialexperten Heinrich Kolb zur Einführung einer kapitalgedeckten Kinderrente – FDP: Junge Familien jetzt entlasten“ – SZ Nr. 264 vom 17.11.2003, S. 7 1075 Vgl. Robert Jacobi u. Reymer Klüver: „Einschnitte bei der Rente – Koalition uneins über Aberkennung von Studienzeiten – Grüne und SPD-Linke warnen vor Widerspruch zur eigenen Bildungspolitik/Regierung will an Schritt festhalten“ – SZ Nr. 244 vom 23.10.2003, S. 5; Andreas Hoffmann: „Reform der Sozialsysteme – Schmidt will Rentenbeitrag auf Jahre nicht senken – Ministerin plant Rücklagen in Höhe von 23 Milliarden Euro/Nachbesserung im Streit um Privileg für Akademiker“ – SZ Nr. 245 vom 24.10.2003, S. 5 1073

284

Auch eine grundsätzliche Verbreiterung der Berechnungsbasis für Beiträge über die Arbeitseinkommen hinaus auf die gesamte Wertschöpfung ist bereits vorgeschlagen worden.1076 Diese Idee knüpft an die Tatsache an, daß durch den Ersatz menschlicher Arbeit durch Kapital und besonders auch die Technik die Arbeitseinkommen immer weniger typisch das repräsentieren, was insgesamt als Bruttosozialprodukt einer Gesellschaft erarbeitet wird und entsteht. Ähnlich wie die allgemeinen Steuern würde also letztlich an Kapitalgrößen angesetzt werden müssen, was theoretisch vorstellbar ist, aber andererseits durch die Erhebung von Steuern für andere Zwecke ohnehin schon geschieht. Es zeigt sich aber deutlich, daß es hierbei auch um veränderte Wirkfaktoren der Produktivität geht, damit also um Strukturfragen unseres Gesamtsystems, die daher von Grund auf an neu durchdacht und auf ihre Austauschbarkeit hin überprüft werden sollten.

Besonders auch mit dem „Blick auf die Folgen“ ist jedenfalls nicht einzusehen und zu vermitteln, daß Versicherte nach vierzig und mehr Beitragsjahren mit ca.

40 Prozent des letzten Bruttolohns kaum mehr Rente erhalten1077 als wenn sie beitragsfrei Sozialhilfe in Anspruch nehmen würden. Hier stellen sich ja auch die im Rentensystem tatsächlich behandelten Fragen einer Mindestrente.1078 Zum weiteren wird schon heute tatsächlich mehr als ein Drittel der Renten aus dem Bundeshaushalt gezahlt.1079 Für eine Steuerfinanzierung der Altersgrundversorgung – vorausgesetzt, wir haben ein gerechtes Steuersystem – sprechen also zahlreiche Gründe, obwohl die Rürup-Kommission sich mit keinesfalls überzeugenden Argumenten („verzerrende Effekte“) dagegen ausgesprochen1080 hat. Die Sorge, daß steuerfinanzierte Sozialleistungen gegenüber beitragsfinanzierten grundsätzlich schon deshalb abzulehnen seien, weil sie „zugeteilt“ werden, also der Staat hierüber einseitig 1076

So beispielsweise Heribert Prantl: „Herzliches Beileid – Die Leichenbittermiene des Bundeskanzlers und die Infantilität der Oppositionspolitik“ – SZ Nr. 267 vom 19.11.2002, S. 4; ebenso Eckart Bomsdorf, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler an der Universität Köln: „Wege aus der Demographiefalle“ – SZ Nr. 47 vom 26.02.2003, S. V2/7 (Private Vorsorge) 1077 Andreas Hoffmann: Vorschläge zur Alterssicherung – SPD kritisiert Rentenpläne der RürupKommission – Expertengremium für Senkung der Bezüge auf 40 Prozent des Bruttolohns/Müntefering: Das ist nicht die Bibel“ – SZ Nr. 189 vom 19.08.2003, S. 1; Andreas Hoffmann: „Mehr Arbeit, weniger Geld – Rürups Rentenpläne sollen die Beitragssätze konstant halten/Viele Vorschläge waren auch innerhalb der Kommission umstritten“ – SZ Nr. 197 vom 28.08.2003, S. 2 1078 „Kompromiss in der Fraktion – SPD entschärft Streit über Rentenreform – Regierung soll Absinken des Mindestniveaus verhindern/Koalitionsmehrheit aber noch nicht gesichert“ – SZ Nr. 58 vom 10.03.2004, S. 5; Andreas Hoffmann: „Koalition rechnet mit eigener Mehrheit“ – SZ Nr. 59 vom 11.03.2004, S. 5; siehe dazu auch Gunnar Herrmann: „Arbeitslosengeld II entspricht der Verfassung – Urteil des Berliner Sozialgerichts/Bundesweit mehr als 10 000 Klagen gegen Hartz IV“ – SZ Nr. 177 vom 03.08.2005, S. 6 1079 Johann Eekhoff, Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik in Köln: „Noch fehlt die große Reform“ – HB Nr. 22 vom 31.01./01.02.2003, S. 9 1080 Beschluß vom 20.02.2003 – vgl. die „Zusammenfassung der Beschlüsse“ der Rürup-Kommission vom 24.04.2003 im Internet: www.lva.de/internet/lva/lva00port.ns/ispvwLaunchDoc/pres...

285 disponieren kann, während auf die anderen gesicherte Ansprüche bestehen,1081 ist schon deshalb keinesfalls zwingend, weil beides gesetzlich abgesichert sein muß, insoweit also gleichwertig ist. Außerdem ist beides immer jederzeit vielfältig rechtlich neu gestaltbar. Im übrigen ist alles gestaltbar. Verzerrungen entstehen nur dann, wenn man die Folgen und Wirkungen nicht mitbedenkt und gegebenenfalls neu regelt. Daß mit diesem Modell freilich nicht alle Probleme – z.B. das der demographischen Entwicklung selbst1082 – gelöst werden, ist klar, weil die Ausgangsfakten nicht verändert werden können. Sie können aber verkraftbar gestaltet werden, weshalb eben absehbar insoweit auch nur eine Grundsicherung dabei herauskommen kann. Es wäre im Interesse der Menschen, wenn sich alle – Politiker und Experten – bald dieser Wahrheit stellen, sie offen aussprechen und nachvollziehbar vorrechnen würden, um rechtzeitig das Nötige und Mögliche in die Wege zu leiten.

Nichts von alledem steht derzeit akut auf der politischen Agenda, obwohl nach wie vor Handlungsbedarf besteht und die Zeit sich verkürzt, innerhalb welcher derart grundsätzliche Reformvorhaben realisiert werden könnten. Lediglich die von der Arbeitsministerin Ursula von der Leyen 2011 vorgeschlagene „Zuschußrente“ zur Aufstockung für Kleinrentner liegt konkret auf dem Tisch, die wegen der strikten Voraussetzungen von 45 Mitgliedsjahren und 30-35 Beitragsjahren nur wenige spezielle Fälle der Zukunft erfaßt, daß man mit Fug von „SymbolPolitik“, nicht aber von einer ehrlichen Problemlösung sprechen muß.1083 Nicht nur die Opposition, sondern auch Mitglieder der eigenen Koalition und Partei lehnen die Vorschläge von der Leyens ab. Aber sie waren Anstoß für eine erneute Diskussion nun auch in der SPD.1084

Mehr Beitragszahler („Bürgerversicherung“) Was die Einnahmeseite anbetrifft, so würde sich natürlich positiv für die Finanzierung im derzeitigen System an erster Stelle die Rückkehr zu einer wieder höheren Beschäftigungsquote auswirken, weil nur so mehr Steuern bzw. Beiträge abgeführt werden können. Das bleibt – wie auch die EU-Kommission ausdrücklich für die Sanierung des gesetzlichen Rentensystems festgestellt hat – als au1081

So für das Gesundheitssystem der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, in dem Interview: „Notfalls legen wir das System lahm“ – SZ Nr. 13 vom 17.01.2003, S. 9 1082 Johann Eekhoff, Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik in Köln: „Noch fehlt die große Reform“ – HB Nr. 22 vom 31.01./01.02.2003, S. 9 1083 Thomas Öchsner: „Das Renten-Reförmchen“ – SZ Nr. 208 vom 09.09.2011, S. 4; ders.: „Rügen für von der Leyen – Die Deutsche Rentenversicherung fürchtet,, dass die geplante Zusatzrente Altersarmut nicht wirksam bekämpft“ – SZ Nr. 248 vom 27.10.2011, S. 19 1084 Susanne Höll: „Mehr oder weniger Rente – In der Spd hadern viele mit dem rot-grünen Eerbe in der Altersvorsorge“ – SZ Nr. 219 vom 21.09.2012, S. 5

286 ßersystemische Rahmenbedingung besonders wichtig.1085 Wie wir aber oben bereits gesehen haben, ist zweifelhaft, ob wir das kurz- bis mittelfristig und erst recht auch langfristig überhaupt noch erwarten dürfen. Es gibt zahlreiche und ernst zu nehmende Stimmen, die mit Rücksicht auf die Globalisierung und die fortschreitende Technisierung bereits eine Vollbeschäftigung bisheriger Prägung überhaupt nicht mehr für vorstellbar halten.

Andere befürworten unter dem Schlagwort einer „Bürgerversicherung“ vor allem die Einbeziehung weiterer Personenkreise und damit von mehr Beitragszahlern in das allgemeine System der Versorgung.1086 Alle Bürger sollen – freilich ohne Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze – in dieses Modell einzahlen, auch rd. 1,7 Mio Beamte – die beispielsweise heute nicht nur keine Rentenversicherungsbeiträge, sondern schon wegen ihrer Unkündbarkeit bislang auch keine Arbeitslosenversicherungsbeiträge zahlen − und rd. 3,6 Mio Selbständige, um so dann auch mehr Verteilungsgerechtigkeit zu schaffen. Gegen den Willen des Kanzlers hat sich auch der SPD-Parteitag in Bochum und später das Präsidium klar für dieses Modell ausgesprochen, Beamte, Selbständige und Freiberufler ebenfalls in die Rentenversicherung einzahlen zu lassen.1087 Damit würden sich dann auch Forderungen nach Beendigung der Sonderstellung für Politiker und Beamte – zum Beispiel bei der Kürzung von Pensionen – erledigen.1088 1085

Vgl. „EU bemängelt Rentensysteme“ – SZ Nr. 292 vom 18.12.2002, S. 21 Vgl. dazu die Serie: „Der große Wurf (3) – Rente: Mehr Beitragszahler sind nötig, um der Altersversorgung aus der Klemme zu helfen“ – SZ Nr. 146 vom 28./29.06.2003, S. 10 1087 Hans-Jörg Heims: „Parteitag in Bochum beendet – Neuer Dämpfer für die SPD-Spitze – Gegen Schröders Willen sollen auch Beamte und Selbständige in die Rentenversicherung einzahlen“ u.

Hans-Jörg Heims: „Schlappen für Clement und die Führung – Wichtige Beschlüsse der Delegierten, denen fast 500 Anträge und Eingaben vorlagen“ – SZ Nr. 267 vom 20.11.2003, S. 1 und 5; „Schily will Pensionäre zur Kasse bitten – Innenministerium plant weitere Kürzungen, um Rentenreform auf Staatsdiener zu übertragen/Weihnachtsgeld soll sinken“ – SZ Nr. 86 vom 14.04.2004, S. 19; Susanne Höll: „Gabriels Bürgerversicherung – SPD stellt Pläne für eine Gesundheitsreform vor und will Arbeitgeber stärker belasten“ – SZ Nr. 85 vom 12.04.2011, S. 5 1088 Reymer Klüver: „Debatte über Altersversorgung – Koalition will Politiker-Pensionen kürzen – Grüne für Systemwechsel/FDP begrüßt Pläne/Union reagiert zurückhaltend“ und zu entsprechenden Aktivitäten der Diätenkommission des bayerischen Landtags auch Sebastian Beck: „Das Ende des Privileg – Abgeordnete müssen mit Kürzung ihrer Pensionen rechnen“ – SZ Nr. 251 vom 31.10./01./02.11.2003, S. 6 bzw. 63; Philip Grassmann: „Einschnitte für Bundesbeamte – Schily übernimmt Renten- und Gesundheitsreform“ – SZ Nr. 260 vom 12.11.2003, S. 6; „Politiker – Rente erst mit 65?“ – DER SPIEGEL Nr. 46/2003, S. 19; Christian Schneider: „Kabinett beschließt heute Neuregelung – Stoiber kürzt Ministern die Pension – Ruhebezüge künftig niedriger und erst mit 65 Jahren“ – SZ Nr. 265 vom 18.11.2003, S. 51; siehe aber auch Sebastian Beck: „Ärger über Umgang mit den Staatsbeschäftigten – CSU-Fraktion bremst Stoibers Reformen – Abgeordnete üben deutliche Kritik an der Regierung“ – SZ Nr. 280 vom 05.12.2003, S. 54; Bernd Dörries: „Schily plant weitere Einschnitte für Beamte – Erhöhung der Wochenarbeitszeit und späterer Ruhestand/Staatsdiener wollen Öffnungsklauseln verhindern“ – SZ Nr. 285 vom 11.12.2003, S. 6; „Pensionskürzung für Beamte geplant“ – SZ Nr. 111 vom 14.05.2004, S. 5; „Klage gegen niedrige Pension – Verfassungs1086

287

Dieses Modell würde ebenso wie eine – längst jährlich stattfindende – Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze zwar sofort zu einer Verbesserung der Einnahmen – freilich auch zu zusätzlichen Beitragsanteilen der Dienstherren, deren Kassen derzeit leer sind, die aber auch keine Rückstellungen für die Versorgungsansprüche ihrer Beamten – geschätzt wird zum Jahresende 2012 ein Bedarf allein im Bund, bei der Bahn und der Post in Höhe von ca 466 Mrd Euro1089 – gebildet haben – führen. Vom Prinzip her ist das jedoch in den kameralistischen Rechnungen der öffentlichen Verwaltung, die künftige Lasten erst dann zählen, wenn sie tatsächlich eintreten, nicht anders.1090 Denn die Bürgerversicherung erhöht zu einem späteren Zeitpunkt auch die Ausgaben und Leistungen der Rentenkasse, wenn auch bei den Beamten um ca. 30 Prozent niedriger als ihren bisherigen Pensionen.1091 In gewisser Weise verschiebt sich damit das umlagebedingte Kernproblem nicht nur auf einen späteren Zeitpunkt, in dem schon die zunehmende Alterung erst einmal zu bewältigen wäre,1092 sondern auch von einem System auf ein anderes. Vor allem werden durch die Bürgerversicherung die Strukturprobleme im Gesundheitswesen nicht gelöst, wie auch Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement kritisch bemerkte.1093 Aber nicht so sehr wegen des untauglichen Modells an sich, sondern wegen des jetzt Finanzbedarf aktivierenden Übergangs hält sich die Begeisterung vieler Politiker in Grenzen.

Gleichwohl mit der Bürgerversicherung in diesem Sinne auch verbunden ist der Gedanke der Reduzierung der Versorgung auf eine Grundsicherung, wie er sich bereits in der Pflegeversicherung findet,1094 aber auch in der allgemeinen „Bürgerversicherung“ der Grünen in Anlehnung an die Schweizer „Bürgerrente“ vorgesehen ist.1095 Selbst die CDU-Vorsitzende Angela Merkel konnte sich eingericht prüft Reform der Bundesregierung“ – SZ Nr. 148 vom 30.06.2005, S. 5; „Karlsruhe billigt niedrigere Pensionen“ – SZ Nr. 224 vom 28.09.2005, S. 1 1089 Bernd Raffelhüschen fordert in einem Gespräch mit dem focus Verbeamtungsstopp: „Wir haben schlicht zu viele Beamte“ – T-Online vom 03.01.2014 1090 Oswald Metzger: „Einspruch! ..“, S. 120 1091 Vgl. dazu Michael Bauchmüller: „Selbständige und Beamte gehören in die Rentenversicherung“ – SZ Nr. 285 vom 10.12.2002, S. 18; vgl. auch Ulf Brychcy: „Pensionen sollen sinken – Weitere Kürzungen bei Beamten und Richtern geplant“ – SZ Nr. 289 vom 13.12.2004, S. 6 1092 Ebenso Johann Eekhoff, Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik in Köln: „Noch fehlt die große Reform“ – HB Nr. 22 vom 31.01./01.02.2003, S. 9 1093 „Clement macht mobil“ und Andreas Hoffmann: „Zweifel an Bürgerversicherung – Wirtschaftsminister Clement hält Idee nicht für ausgereift“ – SZ Nr. 118 vom 24.05.2004, S. 4 und 5; „Sperrfeuer gegen Bürgerversicherung“ – DER SPIEGEL Nr. 22/2004, S. 18 1094 Heidrun Graupner: „Brüchige Säule – Die noch junge Pflegeversicherung macht immer höhere Defizite“ – SZ Nr. 137 vom 17.06.2003, S. 9 1095 Vgl. Gerhard Bläske: „OECD-Expertin – Die Schweiz ist Vorbild bei den Renten – Längere Lebensarbeitszeit sowie Steuererleichterungen und private Vorsorge verstärkt nötig“ – SZ Nr. 131 vom 10.06.2003, S. 24; Katrin Göhring-Eckhardt in dem Interview: „Wir stehen in einer revolutionären Umbruchphase“ – Vor dem Parteitag der Grünen in Cottbus: Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag fordert energischere Reformen und Subventionsabbau“ – SZ Nr. 134 vom 13.06.2003, S. 11; siehe auch Bundeskanzler Gerhard Schröder in dem Interview: „Viel Kraft in

288 mal eine solche „Bürgerversicherung“ vorstellen,1096 während Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement sie mit Recht ablehnte.1097

Verlängerung der Erwerbszeit Wie bei jeder Finanzplanung und deshalb auch Versorgungsform müssen Einnahme- und Ausgabenseite zunächst stets getrennt betrachtet und mit Rücksicht aufeinander zu einem langfristigen Ausgleich gebracht werden. Die Rentenreform bedarf mindestens – und dazu sollte sich auch die eingesetzte RürupKommission bzw. die von ihm geleitete „Reformkommission für die Rentenbesteuerung“ äußern1098 – einer deutlichen „Nachjustierung“. Die sich daraus ergebenden alternativen Konsequenzen sind ebenso klar, wenn auch – hier geht es um einfaches Rechnen – begrenzt: Kürzung der Rentenbezugsdauer, Kürzung der Rente oder Erhöhung der Beiträge bzw. Steuerzuschüsse (auch etwa in Form der bereits eingeleiteten schrittweisen Erhöhung der Lebensarbeitszeit).1099 Es hatte im übrigen bisher schon keinen Sinn, allein die Arbeitgeber zu beschimpfen, wenn es für solche Vorschläge nicht genügend Arbeitsplätze gab,1100 weil gerade die allgemeinen Rahmenbedingungen auch ihnen keine wirklichen Alternativen erlauben. Etwas anderes und durchaus wünschenswert ist es jedoch, wenn der in den Unternehmen bislang verfolgte „Jugendlichkeitswahn“ bzw. die Neigung zu Frühpensionierungen ernsthaft überdacht und in vielen Fällen auch in Frage gestellt wird.1101 Auch hier verschiebt sich jedoch die eigentliche Problematik nur auf eine spätere Zeit, weil die daraus resultierenden Rentenzahlungen an die Ruheständler dann zu einer Zeit anfallen, in der sich die Alterung der Gesellschaft ohnehin verschärft.1102 Aber selbst in der SPD wuchs die Bereitschaft, diesen Schritt auf das 67. Lebensjahr hin zu gehen.1103 diesem Land“ – DER SPIEGEL Nr. 28/2003, S. 26 ff. (28, 29) zu einem angeblichen „Koalitionsprojekt Bürgerversicherung“ 1096 Merkel will bei Rente Bürgerversicherung“! – SZ Nr. 165 vom 21.07.2003, S. 5 1097 „Clement macht mobil“ und Andreas Hoffmann: „Zweifel an Bürgerversicherung – Wirtschaftsminister Clement hält Idee nicht für ausgereift“ – SZ Nr. 118 vom 24.05.2004, S. 4 u. 5; „Sperrfeuer gegen Bürgerversicherung“ – DER SPIEGEL Nr. 22/2004, S. 18 1098 Vgl. hierzu und zur personellen Zusammensetzung der Kommission: „Gesundheitslobby ist in Reformkommission nicht vertreten – Experte: Riester-Reform ‚nachjustieren‘ – Rürup will Abgaben unter 40 Prozent drücken“ – HB Nr. 2236 vom 22./23.11.2002, S. 4 1099 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 227 ff. (237, 238) 1100 Hier scheinen sich im Streit um die Frührente Sozialdemokraten und Union anzunähern – vgl. „Seehofer kritisiert Arbeitgeber“ – SZ Nr. 275 vom 28.11.2002, S. 6 1101 In diesem Sinne auch Andreas Hoffmann: „Alt sein darf nicht der Gang ins Abseits sein“ – SZ Nr. 95 vom 25.04.2003, S. 4; Oswald Metzger: „Einspruch! ..“, S. 130 1102 Vgl. dazu Andreas Hoffmann: „Länger arbeiten – aber wo?“ – SZ Nr. 273 vom 26.11.2002, S. 23; Joachim Winter und Beatrice Scheubel: „Wer mit 65 noch fit ist, soll weitermachen – An der

289

Es ist dringend angezeigt, die Dauer der Beitragsleistung schon dadurch zu verlängern, daß junge Berufseinsteiger früher in das Erwerbsleben eintreten als bisher und so die Lebensarbeitszeit verlängern, wie das in vielen anderen europäischen Ländern, mit denen wir im Wettbewerb stehen, auch selbstverständlich ist. Insoweit leidet Deutschland heute ohnehin an einem Wettbewerbsnachteil, der sich zudem auf die Einnahmeseite unserer Sozialsicherungssysteme als Zusatzbelastung auswirkt.1104 Zur Lösung dieses Problems ist unser Bildungssystem gefordert, denn unmittelbar im System der solidarischen Sicherungen läßt sich das nicht verändern. Das Land Bayern hat – wie andere Bundesländer es auch schon kennen oder wie Nordrhein-Westfalen tun1105 – hierzu gerade eine Verkürzung der Gymnasialzeiten von neun auf acht Jahren auf die Bahn gebracht.

Im übrigen ist Voraussetzung für einen früheren Berufseintritt, daß der Arbeitsmarkt eine frühere und damit insgesamt längere Beschäftigung nach der Art und Zahl der Stellen auch tatsächlich ermöglicht. Aber auch das ist trotz des derzeit noch hohen Stellenabbaus in der Wirtschaft künftig angesichts der stark schrumpfenden Erwerbsbevölkerung keine Frage mangelnder Arbeit, sondern in erster Linie eine solche ihrer Kosten und dann der im Einzelfall angebotenen beruflichen Qualifikation, die – um Mißverständnissen gleich vorzubeugen – nicht abhängig ist von der Dauer der Gymnasialzeit.

Eine Verbesserung der Einnahmen sehen viele dementsprechend dann auch in einer Verlängerung der Beitragszahlung am Ende des Berufslebens1106 – mindestens etwa bis zum 67. Lebensjahr. So lautet auch einer der Vorschläge der Verlängerung der Lebensarbeitszeit führt kein Weg vorbei. Warum sich die Deutschen kränker denken, als sie vermutlich sein werden, und was dagegen zu tun ist“ – SZ Nr. 239 vom 17./18.10.2009, S. 24 1103 Ulrich Schäfer: „Umbau des Sozialstaates – Auf die Bürger kommen neue Belastungen zu – SPD plant höhere Abgaben für Erben, Aktien- und Immobilienbesitzer& .../Rentenbeginn erst mit 67 Jahren“ – SZ Nr. 212 vom 15.09.2003, S. 1; Andreas Hoffmann u. Nico Fried: „Einigung in den Koalitionsverhandlungen – Union und SPD wollen Rentenalter erhöhen – Müntefering: Ruhestand möglicherweise erst mit 67 Jahren/Private Vorsorge soll nicht verpflichtend werden“ – SZ Nr. 249 vom 28.10.2005, S. 1; Varinia Bernau: „Neuer Job statt Frührente – Eine alternde Gesellschaft muss wirtschaftlich nicht zusammenbrechen, sagt der Demographie-Forscher Axel Börsch-Supan. Sie muss sich nur verändern“ – SZ Nr. 115 vom 20./21.05.2009, S. 22 1104 Thomas Hammer: „Kürzer arbeiten und mehr sparen – Vorzeitiger Ruhestand und langes Studium erfordern höhere Vorsorge“ – SZ Nr. 193 vom 23./24.08.2003, S. 25; so auch die Deutsche Bundesbank – vgl. „Längeres Arbeiten und kürzere Ausbildung“ – SZ Nr. 296 vom 21.12.2004, S. 21 1105 „Abitur nach zwölf Jahren – Nordrhein-Westfalen verkürzt die Schulzeit“ – SZ Nr. 58 vom 10.03.2004, S. 5 1106 Oswald Metzger: „Einspruch! ..“, S. 129; Andreas Hoffmann u. Nico Fried: „Einigung in den Koalitionsverhandlungen – Union und SPD wollen Rentenalter erhöhen – Müntefering: Ruhestand möglicherweise erst mit 67 Jahren/Private Vorsorge soll nicht verpflichtend werden“ – SZ Nr. 249 vom 28.10.2005, S. 1; Joachim Winter und Beatrice Scheubel: „Wer mit 65 noch fit ist, soll weitermachen – An der Verlängerung der Lebensarbeitszeit führt kein Weg vorbei. Warum sich die Deutschen kränker denken, als sie vermutlich sein werden, und was dagegen zu tun ist“ – SZ Nr. 239 vom 17./18.10.2009, S. 24

290

Rürup-Kommission – freilich zunächst mit dem Ziel, wenigstens das faktische Renteneintrittsalter zuerst einmal in Richtung auf das 65. Lebensjahr zu erhöhen.1107 Inzwischen befürwortete das auch die Herzog-Kommission,1108 aber gegen den Widerstand der Gewerkschaften.1109 Denn auch das setzt voraus, daß die Arbeitsplätze dafür bzw. solange auch tatsächlich vorhanden sind. Da aus heutiger Sicht alles dafür spricht, daß dieses zu den derzeitigen Arbeitskosten absehbar nicht der Fall sein wird, handelt es sich bei diesen Regelungsvorschlägen daher in Wahrheit um eine verkappte Kürzungsregelung der Renten bei vorzeitiger Inanspruchnahme gegen entsprechende versicherungsmathematische Abschläge.1110 Nicht mehr als nur versicherungsmathematische Zu- und Abschläge zu einem versicherungsmathematisch kalkulierten Regelzeitpunkt folgen daher auch aus dem Modell einer „flexiblen Rente“, wie sie Wirtschaftsminister Wolfgang Clement plante,1111 und das wir im Ansatz ja auch längst haben, so daß hierin kein eigentliches Spar- oder Finanzierungsmodell zu sehen ist.

1107

Andreas Hoffmann: Vorschläge zur Alterssicherung – SPD kritisiert Rentenpläne der RürupKommission – Expertengremium für Senkung der Bezüge auf 40 Prozent des Bruttolohns/Müntefering: Das ist nicht die Bibel“ – SZ Nr. 189 vom 19.08.2003, S. 1; so auch das Anliegen der CDU/CSU – vgl. Andreas Hoffmann: „Streit über längere Lebensarbeitszeit – Stoiber lehnt die Rente mit 67 ab – Ministerin Schmidt stellt sich hinter das Konzept der RürupKommission/Erhöhung der Altersgrenze kaum vor 2006“ – SZ Nr. 97 vom 28.04.2003, S. 1; Andreas Hoffmann: „Mehr Arbeit, weniger Geld – Rürups Rentenpläne sollen die Beitragssätze konstant halten/Viele Vorschläge waren auch innerhalb der Kommission umstritten“ – SZ Nr. 197 vom 28.08.2003, S. 2; Joachim Winter und Beatrice Scheubel: „Wer mit 65 noch fit ist, soll weitermachen – An der Verlängerung der Lebensarbeitszeit führt kein Weg vorbei. Warum sich die Deutschen kränker denken, als sie vermutlich sein werden, und was dagegen zu tun ist“ – SZ Nr. 239 vom 17./18.10.2009, S. 24 1108 Susanne Höll u. Andreas Hoffmann: „Arbeitnehmerflügel in der Union erreicht Änderungen – Herzog-Kommission will Rente mit 67 – Kosten für private Unfälle sollen jetzt doch weiter von Krankenkassen bezahlt werden/Heute offizielle Vorstellung“ – SZ Nr. 225 vom 30.09.2003, S. 1; „Vorschläge der Herzog-Kommission: Opposition legt Gegenbericht zu Rürup vor – Mehr Privatvorsorge für Krankheit und Alter“ – Experten fordern die Rente mit 67 Jahren und die Abkoppelung der Krankenkassenbeiträge vom Lohn“ – SZ Nr. 226 vom 01.10.2003, S. 5; Klaus F. Zimmermann u.

Holger Bonin: „Arbeiten bis siebzig – Ohne mutige Reformen kollabiert die gesetzliche Kasse“ – SZ Nr. 189 vom 18.08.2005, S. 18 1109 Andreas Hoffmann: „Vorschläge der Rürup-Kommission zur Sozialreform – Erst mit 67 Jahren in Rente“ – SZ Nr. 95 vom 25.04.2003, S. 1; „Deutsche sollen länger arbeiten“ und „Länger arbeiten für eine stabile Rente“ – HB Nr. 80 vom 25./26.04.2003, S. 1 und 4 1110 Die Abschläge liegen derzeit bei 3,6 Prozent pro Jahr des vorzeitigen Rentenbezugs, d.h. nur halb so hoch, wie sie sein müßten, um den Beitragszahler nicht vorzeitig zu belasten – vgl. Johann Eekhoff, Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik in Köln: „Das Spielen mit der Rente – Von Verlässlichkeit bei der Alterssicherung kann bei der derzeitigen politischen Diskussion im Land nicht mehr die Rede sein“ – HB Nr. 181 vom 19./20.09.2003, S. 11 1111 Ulrich Schäfer u. Nico Fried: „Freiwillig länger im Beruf bleiben – Clement fordert flexiblen Beginn der Rente – Wirtschaftsminister stellt Ausstieg aus dem Arbeitsleben mit 65 in Frage/Union über Gipfel mit Schröder zerstritten“ − SZ Nr. 188 vom 18.08.2003, S. 1

291

Neuerdings haben die fünf Wirtschaftsweisen in einem Gutachten für die Bundesregierung dafür plädiert, die Lebensarbeitszeit nochmals zu verlängern und den Rentenbezug erst ab dem 69. Lebensjahr zu ermöglichen.1112

Privat finanzierte Zusatzversorgung Auch eine teilweise kapitalgedeckte zusätzliche Absicherung, deren „Beitragszahlung“ dann jedem einzelnen obliegt, ändert nichts daran, daß auch diese Beitrage letztlich von den Erwerbstätigen erwirtschaftet werden müssen. Allenfalls ist – Kopfpauschale oder Bürgerversicherung hin oder her – die alte Idee des ehemaligen CDU-Generalsekretärs und sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf noch immer bzw. aus Wettbewerbsgründen erneut interessant, wonach die Personalnebenkosten sowohl für Arbeitgeber und Arbeitnehmer entlastet werden und von den Steuern übernommen werden sollten, wie das teilweise ohnehin und in zunehmendem Umfang schon der Fall,1113 angesichts der hohen Staatsverschuldung aber gegenwärtig nicht weitergehend darstellbar ist. Je weniger eine junge Familie auf Grund ihres zu geringen Einkommens dazu in der Lage ist, um so prekärer wird gerade für sie, mit diesem Modell eine Zusatzrente aufzubauen.

Rentenabsenkung auf Existenzminimum Wenn deshalb der Beitragsaufwand für die aktive Generation im Umlageverfahren – trotz größerer Flexibilität auch im Arbeitsverhalten1114 – mindestens gleichbleiben, wahrscheinlicher aber sogar sinken muß, weil es auch aus demographischen Gründen auf Dauer keine andere zumutbare Lösung im derzeitigen System gibt, müssen zwangsläufig auch die dadurch gespeisten Leistungen sinken. An diesem Rahmenszenario ändert sich grundsätzlich auch dann nichts, auch wenn eine Reihe von Alternativen zur „einkommensabhängigen Beitragserhebung“ diskutiert wurden, die zur Verbesserung des Systems deshalb nicht überflüssig sind:

1112

Thomas Öchsner: „Wirtschaftsweise fordern Rente mit 69 – Wegen der höheren Lebenserwartung sollten alle Bürger, die nach 1977 geboren sind, länger arbeiten“ – SZ Nr. 115 vom 19.05.2011, S. 1 1113 So jetzt auch Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 242 1114 Varinia Bernau: „Neuer Job statt Frührente – Eine alternde Gesellschaft muss wirtschaftlich nicht zusammenbrechen, sagt der Demographie-Forscher Axel Börsch-Supan. Sie muss sich nur verändern“ – SZ Nr. 115 vom 20./21.05.2009, S. 22

292

Da die Prämissen und ihre rechnerischen Konsequenzen „nach Adam Riese“ ein Faktum sind und für alle politischen Parteien und Interessenvertreter gleichermaßen gelten, kann das Ziel einer solidarisch verankerten Altersvorsorge im Alter nicht mehr wie bisher die Erhaltung des Lebensstandards sein, sondern muß sich künftig auf die bloße Existenzsicherung beschränken. Trotz der Klagen der derzeitigen Rentner zu den sie betreffenden Einschnitten der Regierung Schröder folgt daraus vor allem und noch viel einschneidender eine erhebliche Absenkung des Leistungsniveaus für die kommenden Generationen bei mindestens gleichbleibenden Beitragsniveau. Die Reform der Regierung Schröder hatte immerhin zur Folge, daß sogar die Wirtschaftsweisen zu dem Urteil gekommen waren, daß die Rente damit zukunftsfest sei und keiner weiteren Reform bedarf.

Inzwischen hat die große Koalition die Rentenreform der rot-grünen Vorgängerregierung ausgerechnet in der schlimmsten Phase wirtschaftlicher Rezession mt ihrer allein den bevorstehenden Wahlen geschuldeten Rentenbestandsgarantie wieder „zerfleddert, durchlöchert und aufgeweicht“ mit der Folge, daß die Rücklagen der Rentenkasse um mehrere Milliarden Euro zusammenschmelzen und die Beitragszahler mit erneut höheren Abgaben rechnen müssen.1115 Der neue Wirtschaftsminister Rainer Brüderle hat daher – freilich gegen den erklärten Widerspruch der Bundeskanzlerein Angela Merkel – dafür geworben, diese Rentenbestandsgarantie wieder zu beseitigen und selbst der damals mitverantwortliche inanzminister Peer Steinbrück hat diese Rentengarantie inzwischen als „schweren Fehler“ eingeräumt.1116 Das einzig verbleibende Spiel für weitere Reformen besteht also vor diesem Hintergrund darin, erneut zwischen Beitragsseite und Leistungsseite ideenreich zu variieren, wobei man sich in der Tat auf beiden Seiten zumindest kleinere sinnvolle reformerische Veränderungen vorstellen kann:

Grundversorgung aus Steuermitteln (Biedenkopfmodell) Wie immer man auch rechnet, so deutet sich eines doch ganz klar an: Mehr als eine „Grundversorgung“ oder „Grundsicherung“ – wie Kurt Biedenkopf das schon in den achtziger Jahren nannte – wird dabei nicht mehr herauskommen,1117 1115 Guido Bohsem: „Trümmerhaufen – Die Rentenpolitik muss wieder einen anderen Kurs nehmen“ – SZ Nr. 63 vom 17.03.2010, S. 17 1116 Hans-Jürgen Jakobs: „Bis der Chrash kommt – 30 unterhaltsame Fernsehminuten mit Peer Steinbrück“ – SZ Nr. 177 vom 04.08.2010, S. 15 1117 Kurt Biedenkopf – erneut in dem Interview: „Die Realität frisst sich durch“ – DER SPIEGEL Nr. 41/2003, S. 32 ff. (34); ebenso fw: „Abschied von Illusionen“ – HB Nr. 108 vom 06./07.06.2003, S. 11 sowie Friedhelm Hengsbach, Professor für christliche Gesellschaftsethik in Frankfurt, in dem Interview: „‘Privat ist teuer‘ – Friedhelm Hengsbach plädiert für die solidarische Rente“ – SZ Nr. 146 vom 28./29.06.2003, S. 10; Michael Sauga, Christoph Schult u. Janko Tietz: „Ende einer Illusi-

293

weil – so oder so – letztlich immer die vergleichbare, aber geringer werdende Zahl von Menschen in ihrem aktiven Leben für eine ebenso feststehende, aber steigende Zahl von Versorgungsbedürftigen aufkommen muß. Das sieht wegen der dramatischen Alterung der deutschen Bevölkerung auch Stephanie Wahl vom Institut für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn so.1118 Der Sache nach hat sich dem sogar CSU-Sozialexperte Horst Seehofer mit seinem auf einer Initiative katholischer Familien- Arbeitnehmer- und Frauenverbände basierenden Begriff einer „Sockelrente“ oberhalb des Sozialhilfeniveaus in Höhe von 410 Euro für alle über 65-Jährigen angeschlossen,1119 wenn er damit – von der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion abgesehen − innerhalb der Union zunächst auch weitgehend allein dastand.1120 Nur die Öffentlichkeit hat die klare Haltung Seehofers, sein Stehvermögen und seine Geradlinigkeit honoriert.1121 Die Herzog-Kommission hatte eine Sockelrente noch abgelehnt und dem Grundrentenmodell von Biedenkopf vorgeworfen, es sei bei ihr wegen erheblicher Mängel bei der Berechnung durchgefallen.1122

on“ – DER SPIEGEL Nr. 33/2003, S. 52 ff.; Andreas Hoffmann: Vorschläge zur Alterssicherung – SPD kritisiert Rentenpläne der Rürup-Kommission – Expertengremium für Senkung der Bezüge auf 40 Prozent des Bruttolohns/Müntefering: Das ist nicht die Bibel“ – SZ Nr. 189 vom 19.08.2003, S. 1; Michael Sauga: „Fernab der Realität – Während die Parteien von weiteren Reformen nichts wissen wollen, klaffen in den Alterskassen Milliardenlöcher. Der Staatshaushalt droht unter der Alterslast zusammenzubrechen, die jüngsten Sanierungsmaßnahmen wirken nicht. Muss das System auf eine Grundversorgung schrumpfen?“ – DER SPIEGEL Nr. 31/2005, S. 68 ff.

1118 Zitiert nach Peter Hacker: „Prognose des Statistischen Bundesamtes – Bevölkerung in Deutschland altert dramatisch – Im Jahre 2050 wird jeder Dritte 60 Jahre oder älter sein/Rückgang auf 75 Millionen Einwohner erwartet“ – SZ Nr. 130 vom 07./08./09.06.2003, S. 7; vgl. dazu auch Claas Pieper: „Privatvorsorge macht die Rente sicherer – Finanzdienstleister raten zu Sparquoten von mindestens 15 Prozent des Einkommens“ – HB Nr. 108 vom 06./07.06.2003, S. 35 1119 „Union will Sockelrente von 410 Euro für alle“ – SZ Nr. 136 vom 16.06.2003, S. 5; Norbert Sturm: „Jeder Einkommenssteuerpflichtige soll 420 Euro Sockelrente bekommen“ – SZ Nr. 137 vom 17.06.2003, S. 20; Susanne Höll: „Seehofer rät zu Systemwechsel – Sozialexperte der Union für neuen Kurs in der Rentenpolitik“ – SZ Nr. 198 vom 29.08.2003, S. 6; Horst Seehofer in dem Interview: „‘Ich bin gegen Kopfpauschalen‘ – CSU-Sozialexperte verteidigt seine Modelle von Bürgerversicherung und Sockelrente“ – SZ Nr. 224 vom 29.09.2003, S. 5 1120 Peter Fahrenholz u. Andreas Hoffmann: „Opposition debattiert über Gegenkonzept zur Agenda 2010 – Reformstreit spaltet Union – Wirtschaftsrat kritisiert ‚Meinungsdesaster‘/CSU-Experte Seehofer isoliert/Kompromiss zu Gesundheitskosten“ – SZ Nr. 137 vom 17.03.2003, S. 1; vgl. dazu auch Horst Seehofer in dem Interview: „CSU-Parteitag in Nürnberg: Gewinner und Verlierer bei den Vorstandswahlen – ‚Ich werde kantig und konsequent bleiben‘ – Horst Seehofer hält trotz schlechten Abschneidens an seinem Stil und seinen Inhalten fest“ – SZ Nr. 165 vom 21.07.2003, S. 40 1121 Vgl. NFO Infratest zeigt, daß Seehofer in seinem Renommee noch vor Ministerpräsident Stoiber deutlich nach oben geprescht ist – vgl. „Skepsis überwiegt“ – DER SPIEGEL Nr. 29/2003, S. 38 ff.; ebenso „Politbarometer: Die Stimmung im Juli – Mehrheit gegen Vorziehen der Steuerreform – Die meisten Bundesbürger erwarten von den Plänen der Regierung weder einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen noch persönliche Vorteile“ – SZ Nr. 164 vom 19./20.07.2003, S. 10 1122 „CDU auf Rürup-Kurs“ – DER SPIEGEL Nr. 36/2003, S. 17

294

Plausibel ist das jedoch nicht, weshalb der Gedanke einer Sockelrente auch von dem sogenannten „Seeheimer Kreis“ innerhalb der SPD1123 und unter dem Stichwort „Grundeinkommen“ von Bundespräsident Köhler propagiert wurde.1124 Denn über die wahren Konsequenzen aus den gegebenen Fakten für alle bestehen im allgemeinen wie auch in der Diskussion vieler Politiker noch erhebliche Illusionen.1125 Noch weitergehend, aber durchaus konsequent – wie immer mehr erkennen1126 – ist daher doch das sogenannte „Biedenkopfmodell“, nämlich gleich eine steuerfinanzierte, d.h. auch einfach gestaltete Grundrente für alle Bürger zu installieren, wie das andere Länder längst tun. Damit steigen zwar rechnerisch zunächst die Steuern, da im Ergebnis statt der Beiträge dann ersatzweise zusätzliche Steuern (insgesamt „Abgaben“) anfallen. Der Staat selbst wird insoweit zum Versicherer. Es entfallen aber spezielle Beiträge1127 mit der weiteren dringend erwünschten Folge der Entlastung der Arbeitskosten im Zusammenspiel mit einer umfangreichen Steuerreform.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat ein ähnliches „Modell: Arbeit für alle“ entwickelt, das die Arbeit nur mit den Kosten belastet, die unmittelbar mit dem Job zu tun haben, während alles andere durch private Prämien oder Steuern finanziert werden soll.1128 Ein ähnlicher Grundansatz findet sich zudem bereits in der ab 1.1.2003 eingeführten „bedarfsorientierten“ Grundsicherung für über 65-Jährige und für voll erwerbsgeminderte Menschen (Schwerbehinderte), wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können, ohne daß auf das Geld der Kinder und Eltern zurückgegriffen wird, wenn 1123 Christoph Schwennicke: „Parteispitze kommt linkem Flügel entgegen – SPD plant neue Belastungen für Besserverdienende“ – SZ Nr. 113 vom 17./18.05.2003, S. 1 1124 „Köhler vermisst Zielvorgabe der Koalition – Bundespräsident fordert ‚durchdachten Überbau‘ und regt Grundeinkommen an“ – SZ Nr. 300 vom 29.12.2005, S. 5 1125 Siehe dazu auch „Finanzieller Analphabetismus erschwert richtige Vorsorge – Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt: Grosse Wissenslücken bei Finanzthemen/Mit wachsender Eigenverantwortung überfordert“ – SZ Nr. 64 vom 17.03.2004, S. 25 1126 Ausführlich in diesem Sinne Michael Sauga, Christoph Schult u. Janko Tietz: „Ende einer Illusion“ – DER SPIEGEL Nr. 33/2003, S. 52 ff.; Alexander Jung u. Janko Tietz: „Ziel: Arbeit für alle – Niemals zuvor wurde ein Wahlkampf quer durch alle Parteien so von einer Frage dominiert: Welcher Weg führt aus der Jobkrise? Nach dem Hartz-Debakel ist die Skepsis vor neuen Modellen groß.

Dabei versichern Ökonomen: Vollbeschäftigung wäre durchaus möglich“ – DER SPIEGEL Nr. 30/2005, S. 32 ff. (35) 1127 Marc Beise: „Das Zitat: Deutschland ist kein Hochsteuerland“ – SZ Nr. 17 vom 22.01.2003, S. 20; dafür auch Arnulf Baring, S. 94 ff. und zumindest für die niedrigen Einkommensbezieher Jonas Viering: „Dürftige Konzepte gegen die Arbeitslosigkeit – Für gerechte und wirksame Mittel gegen Deutschlands Dauerproblem fehlt den Parteien der Mut“ – SZ Nr. 208 vom 09.09.2005, S. 4 1128 Ulrike Meyer-Timpe, Ulrich Schäfer u. Gabor Steingart: „Abschied von Bismarck“ – DER SPIEGEL Nr. 11/2003, S. 80 ff.; ähnlich auch Friedhelm Hengsbach, Professor für christliche Gesellschaftsethik in Frankfurt, in dem Interview: „‘Privat ist teuer‘ – Friedhelm Hengsbach plädiert für die solidarische Rente“ – SZ Nr. 146 vom 28./29.06.2003, S. 10 und Otto Graf Lambsdorff in dem Interview: „Es wird zu wenig reformiert“ – DER SPIEGEL Nr. 46/2003, S. 30 ff.

295

sie nicht mehr als 100000 Euro im Jahr verdienen. Diese Grundversorgung liegt um 15 Prozent höher als die Sozialhilfe. Dies soll Altersarmut vor allem bei Frauen verhindern. Sie könnte mit der Einführung einer allgemeinen Grundsicherung im Alter in dieser Weise wieder entfallen.

Krankenversicherung Gesundheit und geistig-körperliches Wohlergehen gehen den Menschen über alles. Die Bedingungen und medizinischen Möglichkeiten haben einen beachtlichen Qualitätsstand erreicht. Die „medizinische Leistungsexplosion“, die im individuellen Bedarfsfall höchst positiv und willkommen ist, erhöht damit aber gleichzeitig die durchschnittliche Lebenserwartung und die Zahl älterer Menschen. Sie läßt die Medizin damit zugleich zum „Opfer ihres eigenen Erfolges“ werden. Sie hat einen immer höheren „Preis der Gesamtheit des medizinisch Machbaren“. Dennoch leidet das deutsche Gesundheitssystem unter erheblichen systematischen und strukturellen Mängeln. Es gibt seit vielen Jahren auch keine Gesundheitspolitik, die daran etwas ändern wollte.1129 Der Aufwand für das deutsche Gesundheitswesen fällt daher mit einer Viertelbillion auch im Vergleich zu den Nachbarstaaten hoch aus. Nach Berechnungen von Ferdinand M. Gerlach, dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen steigen die Ausgaben der gesetzlichen und privaten Krankenkassen Jahr für Jahr um rund fünf Milliarden Euro.1130 Sie lagen im Jahre 2001 bei 225,9 Milliarden Euro bzw. 10,9 Prozent des Bruttsozialprodukts.1131 Wurden 1992 noch 2020 Euro pro Kopf für Gesundheit ausgegeben, waren es 2001 bereits 2740 Euro.1132 Da die Krankenhäuser im Jahr 2001 ein geringes Plus bei der Zahl der Patienten und höhere Kosten verzeichneten, stiegen die Kosten für die stationäre Behandlung im Vergleich zum Vorjahr um 2,6 Prozent auf 54,4 Milliarden Euro.

Später stellte sich die Finanzlage der gesetzlichen Kassen weitaus schlimmer dar als bisher angenommen: Erste interne Berechnungen gingen von einer weiteren Steigerung der Ausgaben um 1,3 Prozent aus, während die Einnahmen stagnierten.1133 Nach den vorliegenden Studien bereits war zu erwarten, daß sich dieser Trend weiter steigenden Kosten auch in den kommenden Jahren fortsetzen 1129

Werner Bartens: „Hilft nicht, nutzt nicht“ – SZ Nr. 278 vom 02.12.2013, S. 4 Vgl. dazu Dietrich Grönemeyer: „Geld allein macht nicht gesund – Medizin ist besser finanziert, als oft behauptet wird. Doch die Mittel werden falsch verteilt, zum Schaden der Hausärzte“ – SZ Nr. 196 vom 26.08.2013, S. 2 1131 a. A. Bert Rürup, der von einer seit 25 Jahren unveränderten Quote von nur 6-7 Prozent spricht – vgl. Christian Kelders: „Rürup sieht Fehler bei der Gesundheitsreform – Mitverantwortlicher des Projekts hält Praxisgebühr weiterhin für richtig, ihre Ausgestaltung aber für diskussionswürdig“ – SZ Nr. 10 vom 14.01.2004, S. 18 1132 „Bürger tragen die Hälfte der Gesundheitskosten“ – SZ Nr. 95 vom 25.04.2003, S. 6 1133 „Gesundheit: Klamme Kassen“ – DER SPIEGEL Nr. 28/2003, S. 17 1130

296 würde.1134 Die Finanzlage der gesetzlichen Krankenkassen, die mit 128,9 Milliarden Euro allein 57 Prozent aller Gesundheitskosten tragen, wies dann am Jahresende 2002 ein Defizit von 2,5 Mrd. Euro auf.1135 Nach abschließender Berechnung machten die Kassen im Jahre 2002 einen Verlust von 2,4 Milliarden Euro, d.h. über 400 Millionen Euro mehr, als die Sozialministerin Ulla Schmidt bis dahin öffentlich eingeräumt hatte. Trotz Erhöhung des Beitragssatzes auf nunmehr durchschnittlich 14,3 Prozent verschärfte sich die Lage im Jahre 2003 weiter.

Im ersten Quartal 2003 ergab sich trotz gestiegener Beiträge und neuer Spargesetze ein Verlust der Kassen in Höhe von 630 Millionen Euro, wenn dieser auch nicht so hoch ausfiel wie im Vorjahr.1136 Ursache für die immer noch sinkenden Einnahmen ist die steigende Arbeitslosigkeit.1137 Bei den Ausgaben (insgesamt 1,6 Prozent) stiegen erneut besonders die Heilkosten (8,2 Prozent) und Fahrtkosten (8,3 Prozent), aber trotz verordneter Nullrunde auch die Verwaltungskosten (3,2 Prozent). Für Krankengeld, Entgeltfortzahlung und Erwerbsunfähigkeitsrenten wurden 67,5 Milliarden Euro aufgewendet.1138 Tatsächlich hatten die gesetzlichen Krankenkassen auch im ersten Halbjahr 2003 mit einem weiteren Defizit von insgesamt ca. 2 Milliarden Euro und in den ersten neun Monaten mit 2,6 Milliarden Euro abgeschlossen.1139 Es sollte sich zunächst bis zum Jahresende noch auf vier Milliarden Euro erhöhen.1140 Es wurde dann schließlich für 2003 ein Defizit bis zu sechs Milliarden Euro erwartet.1141 Nach Schätzungen des Bundesversicherungsamtes und der Spitzenverbände der Krankenkassen im Jahre 2002 hätten als Folge eines geschätzten Defizits von fünf bis sechs Milliarden Euro etwa 90 Kassen ihre Beiträge heraufsetzen müssen.1142 Die Postbeamtenkrankenkasse sollte künftig ihre Kosten selbst tragen, was zu einem Ansteigen der Beiträge bis 2009 um 17,6 Prozent führen könnte.1143 Trotz aller bisherigen Sparmaßnahmen rechnete man daher schon zum Jahresende 2002 mit 1134 Vgl. unter Bezugnahme auf den Tübinger Philosophen und Ethiker Otfried Höffe den Beitrag von Rainer Erlinger: „Stell dir vor, du bist krank – Der Rationalisierung im Gesundheitswesen folgt die Rationierung“ – SZ Nr. 287 vom 12.12.2002, S. 11; zum ersten Quartal 2003: „Kassen verbuchen neue Millionen-Defizite“ – SZ Nr. 115 vom 20.05.2003, S. 6; Defizitprognose lt. Krankenkassen ca 13 Milliarden Ezuro – vgl. „Gesundheitssystem droht höheres Defizit“ – Sz Nr. 130 vom 10.06.2010, S. 21 1135 „Krise des Gesundheitssystems bringt Ulla Schmidt zunehmend in Bedrängnis“ – HB Nr. 236 vom 06./07.12.2002, S. 6 1136 Andres Hoffmann: „630 Millionen Verlust im ersten Quartal – Neues Minus bei den Kassen – Fehlbetrag geringer als im Vorjahr/Einnahmen sinken“ – SZ Nr. 127 vom 04.04.2003, S. 6 1137 Markus Feldenkirchen, Alexander Neubacher u. Michael Sauga: „Vor dem Kassensturz – Die Stimmung in der rot-grünen Regierung ist besser als die Lage im Land. Die Arbeitslosigkeit sorgt für neue Finanzlöcher in Renten- und Krankenkassen. Sozialministerin Ulla Schmidt kann die Beiträge nur noch mit Hilfe von Buchungstricks stabil halten“ – DER SPIEGEL Nr. 44/2004, S. 26 ff.

1138 „Bürger tragen die Hälfte der Gesundheitskosten“ – SZ Nr. 95 vom 25.04.2003, S. 6; Andreas Hoffmann: „Neuer Bericht zur Arzneiverordnung – Ausgaben für Medikamente erreichen Rekordhoch – Experten sehen Sparpotenzial von vier Milliarden Euro/Hoffnungen ruhen auf der Gesundheitsreform/Mehr Information nötig“ – SZ Nr. 226 vom 01.10.2003, S. 22 1139 Norbert Sturm: „Wieder Milliardendefizit der Krankenkassen – Reform soll vor Beitragserhöhung schützen – Geplante Entlastungen bringen Versicherungen zurück in die schwarzen Zahlen/Ursprüngliches Sparziel längst aufgegeben“ – SZ Nr. 197 vom 28.08.2003, S. 20; „KassenDefizit wächst weiter – Gesetzliche sind mit 2,6 Milliarden Euro im Minus“ – SZ Nr. 279 vom 04.12.2003, S. 7 1140 „Krankenkassen – Beiträge bleiben hoch“ – DER SPIEGEL Nr. 44/2003, S. 19 1141 Andreas Hoffmann: „Viele Kassen erhöhen Beiträge – Für 2003 Defizit von bis zu sechs Milliarden Euro erwartet“ – SZ Nr. 296 vom 24./25./26.12.2003, S. 4 u. 6 1142 Vgl. „Kassen befürchten noch höheres Defizit“ – SZ Nr. 280 vom 04.12.2002, S. 2; Andreas Hoffmann: „Weiterer Anstieg der Sozialbeiträge befürchtet“ – SZ Nr. 104 vom 07.05.2003, S. 2 1143 „Drastische Beitragserhöhungen drohen“ – DER SPIEGEL Nr. 47/2003, S. 101

297

einem Anstieg des durchschnittlichen Beitrags für Anfang 2003 von 14 auf den neuen Rekordwert von 14,3 Prozent, der mit 14,32 tatsächlich auch erreicht worden ist.1144 Insgesamt zwölf Betriebskrankenkassen hatten tatsächlich zum 1. Juli 2003 ihre Beiträge erhöht.1145 Auch die privaten Krankenversicherungen erwarteten – als Folge neuer Sterbetafeln, steigender Ausgaben für den ambulanten Bereich, sinkender Stornogewinne und als Folge auch von Fehlspekulationen an den Aktienmärkten − für 2004 Preiserhöhungen von durchschnittlich 10 Prozent.1146 Der Vorstand der Techniker Krankenkasse rechnete sogar mit einem ganzen Prozentpunkt mehr auf diesen Wert.1147 Das Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung betrug zu dieser Zeit 2,96 Milliarden Euro.1148 Andere Experten gingen davon aus, daß der durchschnittliche Kassensatz der Beiträge von 14,4 Prozent schon bis 2004 auf zumindest 14,8 Prozent steigen wird,1149 auch wenn Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt im Hinblick auf angebliche Einsparungen mit einem Rückgang der Beiträge um einen Prozentpunkt gerechnet hatte.1150 Der rechnerische Anstieg der durchschnittlichen Beiträge aus dem absehbaren Finanzbedarf lag jedenfalls schon jetzt zwischen 14,3 und 14,9 Prozent.1151 Für das Jahr 2007 sagten Experten eine Finanzlücke bei den Kassen in Höhe von 10 Milliarden Euro voraus und bis 2009 konnten sie sich sogar eine solche von 25 Milliarden Euro vorstellen.1152 Im Jahr 2010 mit einem Gesamtvolumen von 166,7 Milliarden Euro liegt die Unterfinanzierung voraussichtlich bei 7,4 Milliarden Euro.1153 Ein Schätzerkreis für die gesetzliche Krankenversicherung erwartete für das Jahr 2010 ein erneutes „Milliardenloch“ in Höhe von sogar sechs bis neun Milliarden Euro, so daß bereits mit Zusatzbeiträgen gerechnet wurde.1154 Die Prognosen der Krankenkassen beliefen sich auf ein Defizit von 11, ja bis sogar 13 Milliarden Euro.1155 1144

Andreas Hoffmann: „Gesetzliche Krankenversicherungen in der Krise – Kassendefizit bei fast drei Milliarden Euro – Die Prognosen von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt erweisen sich als zu optimistisch/Union fordert zügige Reformen“ – SZ Nr. 54 vom 06.03.2003, S. 19 1145 „Zwölf Betriebskrankenkassen erhöhten Beiträge“ – SZ Nr. 155 vom 09.07.2003, S. 6 1146 Caspar Dohmen: „Krankenversicherten drohen höhere Beiträge – Experten erwarten Preiserhöhungen von zehn Prozent“ – HB Nr. 200 vom 17./18.10.2003, S. 24; Christoph Pauly: „Krankenversicherung: Gruseliges Ergebnis – Fehlspekulationen an den Aktienmärkten bringen die privaten Krankenversicherer in Bedrängnis. Die Versicherten müssen sich auf drastische Beitragssteigerungen einstellen“ – DER SPIEGEL Nr. 45/2003, S. 108 ff.; „Privat teurer“ – SZ Nr. 272 vom 26.11.2003, S. 5 1147 „Nach Vorwürfen gegen die Politik – Gesundheitsministerium legt TK-Chef Klusen Rücktritt nahe – Vorstand der Techniker Krankenkasse rechnet mit neuen Beitragserhöhungen noch in diesem Jahr“ – SZ Nr. 90 vom 17./18.04.2003, S. 7; „Streit um Beitragssätze der Kassen eskaliert“ – HB Nr. 76 vom 17.04.2003, S. 8 1148 „Kassen verbuchen neue Millionen-Defizite“ – SZ Nr. 115 vom 20.05.2003, S. 6 1149 Andreas Hoffmann: „Weniger ist mehr – Abstriche bei Sozialleistungen“ – SZ Nr. 60 vom 13.03.2003, S. 2; „Kassen verbuchen neue Millionen-Defizite“ – SZ Nr. 115 vom 20.05.2003, S. 6 1150 „Schmidt: Kassenbeitrag 2004 bei ’13 plus‘“– SZ Nr. 108 vom 12.05.2003, S. 6 1151 Andreas Hoffmann: „Weiterer Anstieg der Sozialbeiträge befürchtet“ – SZ Nr. 104 vom 07.05.2003, S. 2; „Krankenkassenbeiträge – Drastische Erhöhung“ – DER SPIEGEL Nr. 51/2005, S. 75 1152 Andreas Hoffmann: „Kassen droht Zehn-Milliarden-Lücke – SPD-Gesundheitsexperte sieht Kosten bei Medikamenten und Kliniken steigen/Arzneipaket hilft wenig“ – SZ Nr. 112 vom 16.05.2006, S. 23 1153 Guido Bohsem: „CSU will Gesundheitsfonds reformieren – Krankenkassen sollen wieder eigene Beiträge festsetzen dürfen/Söder: Es muss einen ‚Bayern-Bonus‘ geben“ – SZ Nr. 233 vom 10./11.10.2009, S. 7 1154 „Neun Milliarden Euro fehlen“ und „Krankenkassen mit riesigem Defizit“ – SZ Nr. 228 vom 05.10.2009, S. 6 und 22; Tobias Dorfer: „Kostenlawine bei Krankenkassen rollt an – Einige große Versicherungen werden wohl in der nächsten Woche in einer gemeinsamen Aktion Zusatzbeiträge

298

Die Gesundheitskosten sind lt. Stat. Jahrbuch 2012 von 212,8 Millionen im Jahre 2000 auf 287,3 Mio Euro im Jahre 2010 gestiegen. Das entspricht 10,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Darüber liegen in Europa nur noch die Niederlande (11,9) und die Schweiz (11,5). Deshalb gab bereits eine OECD-Studie aus dem Jahre 2004 dem deutschen Gesundheitssystem eine vergleichsweise schlechte Note. 1156

Für die Entwicklung der Gesundheitskosten gibt es eine Reihe von Einflußfaktoren, die sich entweder kostensteigernd addieren oder bestensfalls kompensieren.

Das sind vor allem eine wachsende oder abnehmende Zahl von Beitragszahlern (Arbeitslosigkeit?) und die Höhe der Beiträge, der jeweilige Krankenstand, Verwaltungskosten, Arzneikosten und technische Ausstattung, Löhne und Honorare für medizinisches Personal. Betrachtet man einzelne Kosten- und Aufwandsarten genauer, dann zeigt sich zunächst ein keineswegs so transparentes Bild, das es erlauben würde, sofort auf die mißlichen Ursachen zu kommen, sie also nicht nur fachlich, sondern auch sozialpolitisch sinnvoll zu steuern.

Da ist beispielsweise der Krankenstand erwerbstätiger Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahresdurchschnitt seit 1991 von 4,89 Prozent auf 3,40 Prozent im Jahre 2009 gesunken. Tendenziell negativ wirkt sich dagegen aus, daß ein steigendes Durchschnittsalter der Belegschaften in den Unternehmen zu einem höheren Krankenstand führt,1157 auch wenn die demographische Entwicklung – wie noch ein Gesundheitsreport 2003 der Gmünder Ersatzkasse (GEK) zeigte – bislang nicht für die steigenden Kosten verantwortlich war.1158 Nach Mitteilungen des Bundessozialministeriums war der Krankenstand tatsächlich mit einer Fehlquote von zunächst 8,8 Arbeitstagen pro Arbeitnehmer (= 4,01 Prozent der Sollarbeitszeit), im ganzen ersten Halbjahr 2003 sogar mit 3,66 Prozent der Sollarbeitszeit auf dem insgesamt niedrigsten Niveau seit 1991 bzw. sogar von 1970 angelangt. Zwischen Januar und September gingen die Fehltage sogar auf 5,8 zurück, was einem Rückgang gegenüber dem Vorjahr um 11,2 Prozent entspricht.1159 Und über das ganze Jahr ist in den Betrieben für 2003 der tiefste Stand seit der Einführung der Lohnfortzahlung 1970 festzustellen: Gegenüber 2002 sanken die krankheitsbedingten Fehlzeiten nach der Statistik des Berliner Gesundheitsministeriums erneut um 10 Prozent und fielen auf einen Jahres-

verkünden“ – SZ Nr. 17 vom 22.01.2010, S. 23; Guido Bohsem: „Defizit von vier Milliarden Euro erwartet – Für Millionen Bürger steigt der Kassenbeitrag – Krankenversicherungen verlangen bis zu acht Euro mehr im Monat ...“ und ders.: „Kartell der Kassen – Die Krankenversicherer planen wettbewerbsfeindliche Absprachen“ – SZ Nr. 9 vom 25.01.2010, S. 1 und 15; Guido Bohsem: „Die kranken Kassen – Am Wochende will die Koalition das Defizit stopfen – mit Einsparungen und höheren Beiträgen“ – SZ Nr. 134 vom 15.06.2010, S. 17 1155 „Gesundheitssystem droht höheres Defizit“ – Sz Nr. 130 vom 10.06.2010, S. 21; Nina von Hardenberg: „Die Kasse muss stimmen – Eckpunkte eines Sparpakets, das dem Gesundheitssystem das Überleben sichern soll“ – SZ Nr. 219 vom 22.09.2010, S. 2 1156 „Neue OECD-Studie gibt deutschem Gesundheitssystem schlechte Noten – Mittlere Qualität bei hohen Kosten – Bundesregierung sieht ihre Politik bestätigt“ – HB Nr. 200 vom 17./18.10.2003, S. 6 1157 Vgl. „Betagte Belegschaften“ – SZ Nr. 283 vom 07./08.12.2002, S. V1/15 (Bildung und Beruf) 1158 Heidrun Graupner: „Infarkt-Risiko – Herz- und Kreislaufkrankheiten belasten Gesundheitssystem“ – SZ Nr. 101 vom 03./04.05.2003, S. 6 1159 „Krankenstand auf Rekordtief“ – SZ Nr. 243 vom 22.10.2003, S. 20

299

durchschnitt von 3,61 Prozent der Sollarbeitszeit. Die Betriebskrankenkassen verzeichneten mit sogar 2,78 Prozent ebenfalls den niedrigsten Wert.1160 Und auch 2004 setzte sich dieser Trend – offensichtlich aus Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes – fort.1161 Bei den Betriebskrankenkassen sank die Zahl krankheitsbedingter Fehltage im ersten Halbjahr 2004 auf durchschnittlich 6,5 (Vorjahreszeitraum: 7,6 Tage). Damit fiel der Krankenstand bei den Betriebskrankenkassen binnen Jahresfrist von 4,2 auf 3,6 Prozent.1162 Im August 2004 lag die Quote bei nur noch 2,67 Prozent und erreichte damit einen neuen, seit Einführung der Lohnfortzahlung noch nie erreichten Tiefstand.1163 Damit ist der Krankenstand seit 1995 von 5,1 Prozent auf 3,2 Prozent kontinuierlich gesunken. Dieser „historisch niedrige Krankenstand“ (genannt wird auch 3,4 Prozent) in 2004 dürfte den Arbeitgebern nach Schätzung des Gesundheitsministeriums rund eine Milliarde Euro an Einsparungen bringen, wobei das nicht zuletzt auch eine Folge der gestiegenen Arbeitslosigkeit ist.1164 Im Jahre 2005 ist der Krankenstand mit 3,3 Prozent der Arbeitnehmer erneut auf ein historisches Tief gelangt, dem niedrigsten Wert seit Einführung der Lohnfortzahlung 1970. Nach einer BKKStudie fehlten die Beschäftigten in den ersten elf Monaten des Jahres 2005 im Durchschnitt 11,5 Kalendertage, d.h. 0,4 Tage weniger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Dabei spielen die Angst um den Arbeitsplatz ebenso eine Rolle wie die insgesamt jüngeren Belegschaften sowie der Wandel in der Struktur der Arbeitsplätze vermehrt hin zur Dienstleistung.1165 Im Jahr 2006 lag der durchschnittliche Krankenstand wieder bei 12,4 Kranheitstagen, in den Jahren 2007 bis 2009 sogar bei 14,4 Krankheitstagen. Im Gegenstatz zum Vorjahr mit 3,9 Prozent stieg der durchschnittliche Krankenstandswert in den ersten neun Monaten 2010 auf 4 Prozent, wobei die Statistiker annehmen, daß der Krankenstand nicht der Konjunktur folgt.1166 Alles das war dennoch sicherlich einerseits eine Folge der Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes, andererseits aber auch dem Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft und den Bemühungen der Unternehmen um eine Verringerung der Krankenquote zuzuschreiben.1167 Da verwundert es nicht, daß der Krankenstand mit zunehmender Erholung der Konjunktur verbunden mit einem weiteren Rückgang der Arbeitslosigkeit, aber einem Zuwachs psychischer Belastungen1168 inzwischen wieder steigt, wenn auch auf noch niedrigem Niveau. In den ersten sechs Monaten 2010 lag er nach einer Statistik des Gesundheitsministeriums im Schnitt bei 3,58 Prozent, während er im Jahr davor noch bei 3,4 Prozent lag.1169

1160

„Krankenstand auf Rekordtief“ – SZ Nr. 299 vom 30.12.2003, S. 17 „Furcht vor Krankmeldung“ – SZ Nr. 70 vom 24.03.2004, S. 5 1162 „Krankenstand lässt im Halbjahr erneut nach“ – SZ Nr. 189 vom 17.08.2004, S. 20 1163 „So wenig Kranke wie nie“ – SZ Nr. 198 vom 27.08.2004, S. 5; vgl. auch „Krankenstand halbiert“ – SZ Nr. 285 vom 08.12.2004, S. 19; Rainer Erlinger: „Der ausgebildete Kranke – Blaumachen gilt nicht mehr: Aber was bedeutet das?“ – SZ Nr. 87 vom 16./17.04.2005, S. 13 1164 „Niedriger Krankenstand spart eine Milliarde Euro“ – SZ Nr. 303 vom 30.12.2004, S. 19 1165 Heidrun Graupner: „Krankenstand sinkt auf Rekordtief“ – SZ Nr. 02 vom 03.01.2006, S. 6 1166 „Arbeitnehmer öfter krank“ – SZ Nr. 251 vom 29.10.2010, S. 6 1167 Vgl. Christiane Wirtz: „Genesung am Arbeitsmarkt – Zahl der Krankmeldungen in Deutschland geht immer weiter zurück“ – SZ Nr. 2 vom 03.01.2003, S. 1; „Krankenstand auf niedrigstem Niveau seit 1991“ – HB Nr. 2 vom 03./04.01.2003, S. 4; „Krankenstand auf Rekordtief“ – SZ Nr. 161 vom 16.07.2003, S. 17; Dagmar Deckstein: „Präsent, aber nicht voll da“ – SZ-Management – SZ Nr. 1 vom 03.01.2005, S. 25; „Angst um den Arbeitsplatz“ – SZ Nr. 48 vom 28.02.2005, S. 21; zu einer Fehlzeiten-Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK in Zusammenarbeit mit der Universität Bielfeld vgl. „Krankenstand sinkt auf neuen Tiefstand“ – SZ Nr. 278 vom 02./03.12.2006, S. V2/13 (Beruf und Karriere) 1168 Vgl. dazu auch Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“, S. 134 ff.

1169 Guido Bohsem: „Beschäftigte öfter krank“ – SZ Nr. 164 vom 20.07.2010, S. 19 1161

300

Das Institut der Deutschen Wirtschaft führt den Rückgang der Krankenquote in einer Analyse vor allem auf das Nicht-mehr-Vorhandensein älterer, krankenanfälliger Mitarbeiter, auf den verbesserten Arbeitsschutz und sodann auch auf den Strukturwandel weg von körperlicher Arbeit hin zu Dienstleistungen zurück.1170 Nach einer Studie ist dagegen immer mehr auch die Krankenversicherung der Rentner ein besonderes Problem, weil nach Angaben des Instituts für Wirtschaft und Soziales (WISO) im Jahre 2000 die Erwerbstätigen die Rentner mit 35,6 Milliarden Euro subventionieren mußten. 1980 waren es nur 7,7 Milliarden Euro gewesen. Die Ausgaben für die Rentner sind also viel stärker gestiegen als ihre Beiträge.1171 Inzwischen haben nun die niedrige Arbeitslosigkeit und die zu Jahresbeginn 2011 um 0,6 Prozent auf insgesamt 15,5 Prozent erhöhten Beitragssätze in den ersten drei Monaten 2011 dazu geführt, daß sich das Ergebnis der gesetzlichen Krankenkassen um etwa eine Milliarde Euro verbesserte.1172 Nach neuesten Angaben befinden sich die Finanzreserven der Krankenversicherer mit rd. 27 Milliarden Euro auf Rekordniveau.1173 Dennoch sind die Ausgaben im Gesundheitsbereich etwa in Bayern nach Aussage der AOK Bayern im Jahr 2011 erneut drastisch gestiegen – über 1,6 Milliarden Euro und damit um mehr als 16 Prozent als vor fünf Jahren (v.a. für häusliche Krankheitspflege und Haushaltshilfen, für Krankenhausaufenthalte und auch für Arzthonorare).1174 Zudem bleibt – im Sinne eines „ceterum censeo“ – die Erkenntnis und immer wieder darauf hinzuweisen, daß das deutsche Gesundheitswesen mit 23 Cent je Euro zu hohe Verwal-

1170 „Strukturwandel drückt Krankenstand – Institut der Wirtschaft: Ursache für niedrigen Wert ist nicht die Angst vor Arbeitslosigkeit“ – SZ Nr. 190 vom 19.08.2005, S. 18; andererseits Miriam Hoffmeyer: „Stress lass nach! – Der Krankenstand in Deutschland ist seit Jahren niedrig – auch wenn die Zahl der Fehltage neuerdings wieder ein wenig steigt. Nur bei den psychischen Leiden gibt es eine deutliche Zunahme. Warum?“ – SZ Nr. 59 vom 12./13.03.2011, S. V2/9 (BERUF UND KARRIERE).

1171 Vgl. dazu Andreas Hoffmann: „Abschließendes Gespräch über Gesundheitsreform – Seehofer kritisiert ‚Geschwätz‘ in der Union – SZ Nr. 192 vom 22.08.2003, S. 5 und Gerda Frey: „Die Angst der Rentner vor der Politik – Zuzahlungen, Kürzungen, Einschnitte: Der Alltag von zwei alten Münchnerinnen in Zeiten des Sparens“ – SZ Nr. 102 vom 04.05.2004, S. 43; Andreas Hoffmann: „Trotz eines 35-Milliarden-Lochs im Haushalt – CDU und SPD wollen Rentner schonen – Bezüge der Ruheständler sollen nicht gekürzt werden/Steinbrück: Höhere Steuern und weniger Staatsausgaben“ – SZ Nr. 251 vom 31.10./01.11.2005, S. 1 1172 „Gut gefüllte Kassen“ – SZ Nr. 161 vom 15.07.2011, S. 19 1173 Guido Bohsem: „Sparkassen-Kassen – Finanzreseerven der Krankenversicherer sind auf Rekordniveau“ u. „Gesundheitskassen – Raus mit dem Schatz“ – SZ Nr. 201 vom 31.08./01.09.2013, S. 21 u. 4 1174 „AOK: Gesundheitskosten drastisch gestiegen“ – SZ Nr. 170 vom 25.07.2012, S. R 16

301

tungskosten erfordert, die relativ fast viermal höher ausfallen als im Durchschnitt der deutschen Industrieunternehmen.1175 Kein Land steckt also – neben den Niederlanden, der Schweiz und den USA – so viel Geld in sein Gesundheitswesen, wie Deutschland, ohne daß trotz einer höheren Zahl von Ärzten, Krankenhausbetten, geschluckter Pillen und geröntgter Gliedmaßen die vergleichbare Qualität diesem erhöhten Niveau entspricht. Sie steht dazu vielmehr in einem eklatanten Mißverhältnis. Natürlich hat ein hochqualifiziertes Gesundheitswesen seinen Preis. Die Besonderheit gegenüber anderen Leistungsanbietern am Markt besteht darin, daß im Gesundheitswesen nicht die Kunden (Patienten), sondern seine Leistungserbringer selbst durch die Art, Zahl und Qualität ihrer Leistung entscheidend darauf Einfluß nehmen, was der Patient letztlich zu bezahlen hätte. So entscheidet im Gegensatz zu allen sonst üblichen Dienstleistungen der Arzt als ein Leistungserbringer selbst den Bedarf des „Kunden“ Patient und damit letztlich auch über sein eigenes Honorar. Der Plan der großen Koalition, Krankenhäuser entsprechend der Patientenbewertung nach ihrem Behandlungserfolg zu bezahlen, stieß auf deren vehemente Ablehnung. Dernn wie in anderen Anbietersituationen entscheidet auch im Gesundheitswesen immer mehr das wirtschaftliche Interesse und nicht das Wohl des Patienten.1176 Als Folge eines von den Kassenärztlichen Vereinigungen ausgehandelten Verrechnungssystems („Fallpauschale“, konkret zur Vergütung vorgesehene Positionen mit finanzieller Deckelung über alle Anbieter hinweg) mit den Kassen tragen nicht nur die Kassen, sondern auch Krankenhäuser und Ärzte einen Teil des an sich von den Versicherungen zu tregenden Kostenrisikos, so daß es immere wieder zu „Verteilungsungerechtigkeiten“ kommt.1177 Fallpauschalen führen im übrigen zunehmend dazu, daß die Krankenhäuser versuchen, die Zahl der „Fälle“ (also beispielsweise Operationen) künstlich – gegenüber dem vergleichbaren Ausland um mehr als fünfzig Prozent – zu erhöhen und als Anreize dafür den Klinikärzten Bonifikationen und sogar für die Zuweisung von Patienten durch die niedergelassenen Ärzte Gewinnbeteiligungen (sogen. „Fangprämien“) auszuloben. Deutschland nimmt nach einer OECD-Statistik im internationalen Vergleich inzwischen auch hier einen Spitzenplatz ein: Nach Österreich entfallen 1175

Zu einer entsprechenden Studie der Unternehmensberatung A. t. Kearney vgl. Corinna Nohn: „Bürokratie frisst Milliarden – Krasnkenkassen wenden ein Viertel aller Gesundheitsausgaben für Verwaltung auf“ – SZ Nr. 2 vom 03.01.2012, S. 6 1176 „Bezahlung nach Behandlungserfolg: Krankenhäuser sträuben sich gegen Plan der Koalition – Wie Patienten ihre Klinik bewerten, soll sich künftig auf deren Budget auswirken. Doch der Plan der Großen Koalition stößt bei den Krankenhäusern auf wenig Gegenliebe. Die Schuld an schlechten Behandlungsergebnissen trügen oft die Patienten selbst“ – SPIEGEL-Online v. 11.03.2014; Werner Bartens: „Hilft nicht, nutzt nicht“ – SZ Nr. 278 vom 02.12.2013, S. 4 1177 Dietrich Grönemeyer: „Geld allein macht nicht gesund – Medizin ist besser finanziert, als oft behauptet wird. Doch die Mittel werden falsch verteilt, zum Schaden der Hausärzte“ – SZ Nr. 196 vom 26.08.2013, S. 2

302

in Deutschland im Jahre 2010 auf 1000 Einwohner 240 Krankenhausaufenthalte.1178 Diese „Anreize“ nach erbrachter Stückzahl sind ebenso unangebracht wie die bis dahin geltende Vergütung nach Krankenhaustagen, denn beide machen die Ärzte zu Komplizen der Ökonomie des Hauses und setzen in ihnen einen Zielkonflikt gegenüber den eigentlich vorrangig verfolgten Wohl des Patienten.

Daher soll es dazu wohl auch bald neue Musterverträge geben, die Koppelung des Gehalts der Chefärzte an erbrachte „Stückzahlen“ unterbindet.1179 Dabei ist Geld im System – so wird ständig betont – genügend vorhanden. Es kommt in Deutschland nur offensichtlich nicht dort an, wo es gebraucht wird,1180 weil es trotz des medizinischen Fortschritts, des gesunkenen oder zumindest gleichbleibenden Krankenstands, höchstens als Folge hoher Arbeitslosigkeit1181 und der demographischen Entwicklung1182 zu viel Geld im System versickert.1183 Bei dieser hochkomplizierten, verfilzten Mechanik der Absicherung von Gesundheitsrisiken sowie unklaren Zuständigkeits- und Verantwortungsbereichen fehlt es zudem an eindeutigen Verantwortlichkeiten.1184 Das zeigte sich spätestens wieder, als Änderungen der Gesundheitsreform notwendig wurden, weil das versicherte Risiko im Gesetz nicht präzise genug beschrieben war und nun Ärzte und Krankenkassen wieder selbst entscheiden durften bzw. sollten, was unter „chronischer Krankheit“ wirklich zu verstehen sei1185 oder welche Medi1178

Übersicht in „Deutsches Ärzteblatt“ – Heft 16 vom 19.04.2013, S. C 657 „Regeln für Chefarztboni“ – SZ Nr. 27 vom 01.02.2013, S. 5; zu einer stärkeren Betonung der Qualität und einer entsprechenden KPMG-Studie siehe auch „Schlechte Diagnose für Kliniken – Union und SPD fordern einträchtig, das Honorar-System für Krankenhäuser zu ändern“ – SZ Nr. 42 vom 19.02.2013, S. 6 1180 Werner Bartens: „Das kranke System“ – SZ Nr. 57 vom 10.03.2009, S. 4; Dietrich Grönemeyer: „Geld allein macht nicht gesund – Medizin ist besser finanziert, als oft behauptet wird. Doch die Mittel werden falsch verteilt, zum Schaden der Hausärzte“ – SZ Nr. 196 vom 26.08.2013, S. 2 1181 „Milliardenloch in Sozialkassen – Arbeitslosigkeit treibt Ausgaben und senkt Einnahmen“ – SZ Nr. 237 vom 15.10.2009, S. 21 1182 Guido Bohsem: „Der Preis der Gesundheit“ – SZ Nr. 236 vom 14.10.2009, S. 4 1183 Jürgen Dahlkamp, Udo Ludwig, Heiko Martens, Cordula Meyer, Alexander Neubacher u. Michael Sauga: „Kollektiv verantwortungslos – Kaum ein Land gibt so viel für die Gesundheitsversorgung aus wie Deutschland – mit kläglichem Ergebnis. Experten fordern seit Jahren eine Reform für mehr Wettbewerb und Transparenz. Doch die Große Koalition ist im Begriff, mehr Geld in ein ineffizientes System zu pumpen“ – DER SPIEGEL Nr. 27/2006, S. 18 ff.

1184 Vgl. dazu auch Alexander Kissler: „Die Sklaven des Gesundheitsspiels – Ist ein mündiger Patient vorstellbar? Eine Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing und des SZ-Gesundheitsforums räumt mit Illusionen auf“ – SZ Nr. 101 vom 03.05.2004, S. 19; Christian Reiermann u. Michael Sauga: „Der unsichtbare Dritte – Finanzminister Peer Steinbrück macht Druck bei der Gesundheitsreform: Zusätzliche Steuergelder sollen nur fließen, wenn sich die bisher zerstrittenen Fronten der Großen Koalition auf eine klare Strukturreform verständigen. Ein Dossier dazu gibt es schon“ – DER SPIEGEL Nr. 25/2006, S. 42 ff.

1185 „Änderungen bei der Gesundheitsreform – Ärzte und Kassen bessern nach – Erleichterungen für chronisch Kranke und Behinderte“ sowie Andreas Hoffmann: „Fortschritte bei Treffen im Berliner Sozialministerium – Kassen und Ärzte über Chroniker-Regelung einig – Auf der Grundlage einer Liste mit Erkrankungen sollen Patienten weniger zuzahlen/Großzügigere Fahrtkosten-Erstattung“ – 1179

303 kamente die Kasse nun endlich – auf roten Rezepten1186 – erstattet. Entsprechendes galt besonders für homöopathische Mittel, deren Kosten möglichst nicht mehr erstattet werden sollten.1187 Gesetzgebung oder kassenärztliche Selbstverwaltung – alles dieses ist in seinem internen Aufgaben- und Beziehungsgefüge schon viel zu komplex und aufwendig. Und vor allem wird das Gesundheitssystem der gesetzlichen Krankenversicherung beherrscht von dem unkontrollierten „Machtzentrum“ des „Gemeinsamen Bundesausschusses“.1188 Es herrscht zwischen allen Beteiligten, den Krankenkassen, die untereinander nicht im Wettbewerb stehen,1189 den Ärzten, Pharmaindustrie und Apotheken eingespieltes „System“, auch ein Kartell, das für den eigentlich Begünstigten, den Patienten, in hohem Maße undurchsichtig und schon gar nicht beeinflußbar ist. Alle am Gesundheitswesen aktiv beteiligten Stellen entscheiden allein, was geschieht und damit gleichzeitig ihr Einkommen sichert.

Der Patient sieht von alledem nichts. Als der eigentliche Kostenträgerist er diesem Gesundheitssystem, das so zwar noch immer ein hohes Niveau aufweist, dessen Qualitätsverlust jedoch schon von den Ärzten selbst bemängelt wird,1190 SZ Nr. 12 vom 16.01.2004, S. 1 und 6; Robert Jacobi: „Streit um Pannen bei der Gesundheitsreform – Ministerin Schmidt droht Kassenärzten – SPD-Politikerin stellt Ultimatum/Wissenschaftler erwarten höhere Beitragssätze“ – SZ Nr. 14 vom 19.01.2004, S. 5; „Die Manöver der Ministerin“ – SZ Nr. 15 vom 20.01.2004, S. 4; Gerhard Hennemann: „Unter Druck von Ulla Schmidt – Ärzte und Kassen einigen sich – Chronisch Kranke müssen lediglich ein Prozent zuzahlen“ – SZ Nr. 18 vom 23.01.2004, S. 8; Heidrun Graupner: Zuzahlungen für Chroniker entschärft – Kassen rechnen mit erheblichen Mehrbelastungen – Chancen für geringeren Beitragssatz ausgeschlossen/Weitere Unklarheiten bei Praxisgebühr beseitigt“ – SZ Nr. 19 vom 24./25.01.2004, S. 5; „Abzocker unter den Ärzten“ – SZ Nr. 42 vom 21.02.2005, S. 5 1186 „‘Grünes Rezept‘ heißt selber zahlen“ – SZ Nr. 64 vom 17.03.2004, S. 5 1187 Andreas Hoffmann: „Empfehlung eines Fachgremiums: Homöopathische Mittel keine Leistung der Kassen – Selbstverwaltung will Vorgaben der Gesundheitsreform streng auslegen/Ministerin Schmidt dringt auf Ausnahmen“ – SZ Nr. 53 vom 04.03.2004, S. 6 u. ders.: „Die Kraft des Glaubens – Nichts gegen homöopathische Medizin – aber warum sollen die Krankenkassen dafür bezahlen?“ – SZ Nr. 55 vom 06./07.03.2004, S. 4; Andreas Hoffmann: „Gesundheitsministerin Schmidt setzt sich durch – Kassen zahlen weiter für Naturheilmittel – Einigung im Bundesausschuss/Medikamente müssen aber gegen bestimmte Krankheiten helfen“ – SZ Nr. 64 vom 17.03.2004, S. 5 1188 Kritisch dazu Ruth Schimmelpfeng-Schütte: „Deutschland auf dem Weg in ein dirigistisches Gesundheitssystem?“ – ZRP 08/2004, S. 253 ff.; „Das Spiel der Ärzte“ – SZ Nr. 194 vom 24.08.2005, S. 4 1189 So hatte der EuGH die Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften verneint: „Europäischer Gerichtshof gibt Kassen Recht“ – SZ Nr. 64 vom 17.03.2004, S. 19; Guido Bohsem: „Der falsche Wettbewerb – Am Beispiel der DAK zeigt sich die Lage der Krankenkassen“ – SZ Nr. 129 vom 09.06.2010, S. 17; Thomas Öchsner. „Wirtschaft greift Regierung an – Arbeitgeber: Höhere Kassenbeiträge gefährden den Aufschwung/Opposition sieht ‚kleine Leute‘ ausgequetscht“ – SZ Nr. 151 vom 05.07.2010, S. 4 und 5 1190 Andreas Hoffmann: „Ärzte bemängeln Qualitätsverlust durch Gesundheitsreform – Mediziner warnen vor Versorgungslücken und reinem Profitdenken/Kassen widersetzen sich Druck von Pfizer“ – SZ Nr. 292 vom 16.12.2004, S. 8; Werner Bartens: „Die Leiden der Medizin“ – SZ Nr. 102 vom 04./05.05.2005, S. 4

304 in seinen finanziellen Folgen hilflos ausgeliefert.1191 Er muß als Folge der pauschalierten Vergütungssysteme mit tendenziell sinkenden medizinischen Leistungen rechnen, damit für die Anbieter medizinischer Leistungen auch etwas übrig bleibt. Er erhält keine Rechnung, weiß also nicht, welchen Aufwand seine Krankheit konkret verursacht hat, und kann die jährlich steigenden Beiträge zur Krankenversicherung nicht konkret einschätzen, ob und wo es um eine schlüssige Deckung des notwendigen Aufwands handelt oder komerziellen Unternehmen ähnlich die Profitmaximierung einzelner zu Lasten der Versorgung das eigentliche Ziel ist.

Patienten können nicht beurteilen, welche Leistungen für sie angesichts möglicher Alternativen die richtigen sind und auch nicht einschätzen, was sie – und ihre Alternativen – wirklich kosten, so daß man sich nicht wundern darf, wenn sich bei ihnen ein „Vollkasko-Denken“ etabliert hat.1192 Zu allem, was notwendig oder entbehrlich ist, beansprucht der Arzt sein fachliches Wissen, auch wenn es falsch ist oder sogar betrügerisch entartet. Der Patient oder seine Krankenversicherung muß dieses dann in blindem Vertrauen entweder zahlen oder als auf Grund seiner Hilfsbedürftigkeit ohnehin in einer eindeutig schwächeren Position befindlich notgedrungen auf die Leistung verzichten. Das allgemein übliche und preissteuernde Verhältnis von Angebot und Nachfrage ist hier unausgewogen umgekehrt, bedarf also einer anderweitigen wirksamen Steuerung, damit es nicht in unkontrollierte Willkür ausartet.

Die Entwicklung der Finanzierung des Gesundheitswesens, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung, hat sich von ihren Ursprüngen durch Otto v.

Bismarck längst erheblich wegbewegt und nicht nur zu veränderten Lebensdaten der Versicherten1193 und verfehlten Strukturen, sondern teilweise auch zu wettbewerbswidrigen und sogar verfassungswidrigen Finanzierungströmen geführt.

Alle bisherigen Bemühungen seit über dreißig Jahren haben immer nur die Einsicht vermittelt, daß es im fortbestehenden System keine befriedigende, politisch durchsetzbare und vor allem ausreichend finanzierte Lösung geben wird.1194 Das 1191

So auch Oswald Metzger: „Einspruch! ..“, S. 90 ff. (Kapitel: „Gesundheit – Markt ohne Marktwirtschaft“); ähnlich auch der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Deutschen Bundestag, Klaus Kirschner (SPD) und Karl-Heinz Wehkamp, Volkswirt und Mediziner der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaft – zitiert nach Alexander Kissler: „Die Sklaven des Gesundheitsspiels – Ist ein mündiger Patient vorstellbar? Eine Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing und des SZ-Gesundheitsforums räumt mit Illusionen auf“ – SZ Nr. 101 vom 03.05.2004, S. 19; „Finanzielle Selbstheilung“ – SZ Nr. 40 vom 18.02.2005, S. 4; „Ulla Schmidt rügt Zahnarzt-Funktionäre“ – SZ Nr. 237 vom 14.10.2005, S. 6 1192 Oswald Metzger: „Einspruch! ..“, S. 96 ff. (Kapitel: „Das Vollkasko-Denken der Patienten“) 1193 Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“. S. 42 ff.

1194 Siehe dazu insbesondere Helge Sodan: „‘Gesundheitsreform‘ ohne Systemwechsel – wie lange noch?“ – NJW 36/2003, S. 2581 ff.; Heidrun Graupner: „‘Das System ist am Ende‘ – Ärztepräsident Hoppe verteidigt die Proteste seiner Kollegen“ – SZ Nr. 118 vom 23.05.2006, S. 10; Jürgen Dahl-

305

zeigte sich erneut anläßlich einer Tagung „Gesundheit und Verantwortung“ der Evangelischen Akademie in Tutzing im Frühjahr 2004.1195 Die Ergebnisse machen mißtrauisch und befriedigen inzwischen niemanden mehr.1196 Mit Sicherheit gibt es vor und statt immer nur einer sofortigen Beitragserhöhung Aspekte, die vorweg des Überdenkens würdig erscheinen, also Grundlage für wirkliche Reformüberlegungen sein könnten, was auch immer man daraus dann für Schlüsse zieht. So wäre es zuvorderst zielnotwendig, ein Gesundheitssystem zu schaffen, das gesundheitseffizienter wird und dennoch Kosten spart:1197 Auch wenn die Krankenversorgung eine der schwierigsten, unübersichtlichsten und heikelsten Politikbereiche darstellen, die man sich denken kann, wird immer nur daran herumgebastelt, aber nie grundlegend reformiert.1198 Der in der großen Koalition mühsam ausgehandelte Kompromiß eines „Gesundheitsfonds“ bedeutet zwar eine formale Verständigung der großen Parteien, aber nicht wirklich eine Gesundheitsreform mit dauerhafter Lösung vor allem der Finanzierungsprobleme,1199 denn sie verminderte nicht den Aufwand für Gesundheit, sondern kamp, Udo Ludwig, Heiko Martens, Cordula Meyer, Alexander Neubacher u. Michael Sauga: „Kollektiv verantwortungslos – Kaum ein Land gibt so viel für die Gesundheitsversorgung aus wie Deutschland – mit kläglichem Ergebnis. Experten fordern seit Jahren eine Reform für mehr Wettbewerb und Transparenz. Doch die Große Koalition ist im Begriff, mehr Geld in ein ineffizientes System zu pumpen“ – DER SPIEGEL Nr. 27/2006, S. 18 ff.; siehe dazu auch Karl Lauterbach: „Gesund im kranken System – Ein Wegweiser“ – Rowohlt Berlin 2009 und die Besprechung dazu von Guido Bohsem: „Ratschläge für ein gesundes Leben“ – SZ Nr. 67 vom 21./22.03.2009, S. 34; weiterhin Michael Simon: „Das Gesundheitsystem in Deutschland – Einführung in Struktur und Funktionsweise“ – Verlag Hans Huber Bern 2008 und Nikolaus Nützel: „Gesundheitspolitik ohne Rezept – Warum Deutschlands Medizinbetrieb so schwer zu kurieren ist“ – dtv München 2007 1195 Alexander Kissler: „Die Sklaven des Gesundheitsspiels – Ist ein mündiger Patient vorstellbar?

Eine Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing und des SZ-Gesundheitsforums räumt mit Illusionen auf“ – SZ Nr. 101 vom 03.05.2004, S. 19 1196 Vgl. zur Einführung fester Punktwerte für die ärztlichen Leistungen auch Andreas Hoffmann: „Schmidt droht Rückschlag – Wettbewerb unter den Ärzten soll entschärft werden“ – SZ Nr. 154 vom 08.07.2003, S. 6 1197 „Anreiz zur Schwarzarbeit“ und Thomas Öchsner. „Wirtschaft greift Regierung an – Arbeitgeber: Höhere Kassenbeiträge gefährden den Aufschwung/Opposition sieht ‚kleine Leute‘ ausgequetscht“ – SZ Nr. 151 vom 05.07.2010, S. 4 und 5; so vor allem auch die CDU-Ministerpräsidenten Mappus und Tillich – vgl. „Unmut über Gesundheitsreform – CDU-Ministerpräsidenten kritisieren Kompromisse der Koalition“ – SZ Nr. 157 vom 12.07.2010, S. 6 1198 Guido Bohsem: „Der Gesundheitsflicker – Die Krankenversorgung ist der schwierigste, unübersichtlichste und heikelste Politikbereich, den man sich denken kann. Ewig wird daran herumgebastelt, nie wird grundlegend reformiert. Warum eigentlich nicht?“ – SZ Nr. 92 vom 20./21.04.2013, S. 22 1199 Guido Bohsem: „Beim Psycho-Doktor – Die Koalition überschätzt die positive Wirkung des Gesundheitsfonds“ – SZ Nr. 11 vom 15.01.2009, S. 17; Dietrich Grönemeyer: „Scheinheiligkeit im Endstadium – Der Gesundheitsfonds erfüllt vor allem einen Zweck: die Wahrheit über die Kosten zu verheimlichen“ – SZ Nr. 242 vom 21.10.2009, S. 2; kritisch dazu auch Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 242 ff.; „Krankenkassen in Schieflage“ – SZ Ntr. 89 vom 16./17.04.2011, S. 25

306

konzentrierte sich einseitig weiterhin ungesteuert steigende Beiträge ohne Eingriff in die Strukturen der Krankenversicherung, also beispielsweise den kostenmindernden Effekt eines verstärkten Wettbewerbs. Nicht die Abschaffung privater Kassen – wie es auch der DGB gefordert hat,1200 sondern ihr ehrlicher Wettbewerb mit den gesetzlichen Krankenkassen sollte die Lösung sein. Eine erneute, auf absehbare Dauer wirkliche und wirksame Reform – übrigens auch hinsichtlich der Stärkung statt Schwächung der Hausärzte sowie einzelner Aufwandsarten wie beispielsweise der Ärztevergütung, aber auch der sonstigen interessengesteuerten Nutznießer zu Lasten der Patienten – wird unvermeidlich sein.1201 Grundlegende Reformbemühungen zu mehr Transparenz und Wettbewerb im gesamten Gesundheitswesen sind also bislang kaum ernsthaft betrieben worden,1202 obwohl dazu vielfach Anlaß besteht. Statt einer grundlegenden Gesundheitsreform, die offensichtlich keiner der Beteiligten wirklich riskieren will, ohne Einbußen für sich zu befürchten, gibt es seit vielen Jahren immer nur wieder Beitragserhöhungen und – neuerdings – „Sparpakete“, die dem System einigermaßen das Überleben sichern sollen – leider stets nur auf kurze Zeit.1203 Es ist nicht zuletzt deshalb sinnvoll, ein „Patientenrechtegesetz“1204 zu erlassen, daß nicht nur die längst vorhandenen Rechte übersichtlich zusammenfaßt, sondern auch das eine oder andere zusätzlich regelt.

1200

„‘Private Kassen abschaffen‘ – DGB präsentiert Modell für Gesundheitsreform“ – SZ Nr. 289 vom 14.12.2010, S. 6 1201 Guido Bohsem: „Die Reform der Reform – Eine neue Bundesregierung wird viele Aspekte des schwarz-roten Vorzeigeprojekts überarbeiten müssen"“- SZ Nr. 132 vom 12.06.2009, S. 7; ders.: „CSU will Gesundheitsfonds reformieren – Krankenkassen sollen wieder eigene Beiträge festsetzen dürfen/Söder: Es muss einen ‚Bayern-Bonus‘ geben“ – SZ Nr. 233 vom 10./11.10.2009, S. 7; Guido Bohsem, Claus Hulverscheidt und Stefan Braun: „Kompromiss beim Gesundheitsfonds – Union und FDP werden voraussichtlich den Einheitsbeitrag abschaffen“ – SZ Nr. 243 vom 22.10.2009, S. 5; interessant für eine völlig Neuorganisation des verworrenen deutschen Gesundheitssystems ist das Buch von Michael E. Porter u. Clemens Guth: „Chancen für das deutsche Gesundheitssystem – Von Partikularinteressen zu mehr Patientennutzen“ – Springer Gabler Verlag Berlin-Heidelberg 2012 und die Besprechung dazu von Guido Bohsem: „Radikalkur fürs Gesundheitssystem“ – Sz Nr. 99 vom 28./29.04.2012, S. 24 1202 Christoph Butterwegge: „Willkommen im Suppenküchenstaat – Halbzeitbilanz der Koalition am Beispiel der Sozialpolitik: Im Schatten der Finanzkrise geht wenig bis nichts voran“ – SZ Nr. 248 vom 27.10.2011, S. 2 1203 Nina von Hardenberg: „Die Kasse muss stimmen – Eckpunkte eines Sparpakets, das dem Gesundheitssystem das Überleben sichern soll“ und Guido Bohsem: „Große Pläne, klein gemacht – Diese Reform ist ein Zeichen seiner Niederlage: Philipp Röslers Scheitern steht exemplarisch für den freien Fall der FDP in den Meinungsumfragen“ sowie ders.: „Eine unmögliche Reform“ – SZ Nr. 219 vom 22.09.2010, S. 2 und 4 1204 „Mehr Rechte für Patienten – Gesundheitsminister Rösler will Eckpunkte für Gesetz vorliegen“ – SZ Nr. 62 vom 16.03.2011, S. 23; „‘Unser Leitbild ist der mündige Patient‘ – Sabine LeutheusserSchnarrenberger und Daniel Bahr über Behandlungsfehler und ihren Gesetzentwurf“ – SZ Nr. 11 vom 14./15.01.2012, S. 6

307

Zunächst muß der medizintechnische Fortschritt nicht unbedingt nur teuerer sein.1205 Er hilft auch sparen und vereinfachen. Notwendig wäre die Abschaffung von Verschwendung und von nutzlosen Doppelstrukturen im System. Dazu gehört die Beseitigung von sachfremden Strukturen und Einflüssen durch die Pharmalobby und Scheininteressenvertreter wie kassenärztliche Vereinigungen,1206 überhaupt Abschaffung sämtlicher Monopolstellungen und Herstellung von mehr Wettbewerrb und Transparenz1207 auch für die Versicherten.

Der weltweite Trend geht zur Privatisierung. Hier würde mehr Wettbewerb1208 – wo immer ethisch vertretbar – zu deutlichen Kostenverringerungen beitragen, der auch im Gesundheitssystem weitergehend vorstellbar ist, als es heute der Fall ist. Dazu wären die Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen gesetzlichen Kassen und Privatversicherung sinnvoll – zumindest im Hinblick auf einen vergleichbaren Pflichttarif für alle mit klar definiertem Leistungsumfang und darauf aufbauenden, gesondert zu berechnenden „Kasko-Paketen“,1209 eine risikogesteuerte und nicht nach Lohnhöhe gestaffelte Beitragshöhe, die Verlagerung des sozialen Ausgleichs auf das Steuersystem (mit Bedarfszuschüssen) und nicht zuletzt die Überführung vom Umlageverfahren zu einem Kapitaldeckungsverfahren. In Deutschland ist das eher umgekehrt. Das Fonds-System erhöht die planwirtschaftliche Bürokratie und formale Kompliziertheit.

Qualitativ überdacht werden sollten auch andere medizinische Behandlungsmethoden, um vor allem z. B. für die stark gestiegenen psychosomatischen Krankheien ausreichend zur Verfügung zu sein.

Die Vergütung der Ärzte muß sich künftig nicht vor allem „Nullrunden“ beugen, wie das von der schwarz-gelben Koalition angedacht wurde,1210 sondern als System völlig neu überdacht und anforderungsgerecht und vergleichsweise angemessen ausgestattet werden. Ein monatlich verfügbares Einkommen für Allgemeinärzte aus vertragsärztlicher Tätigkeit in Höhe von durchschnittlich 3.068

1205

Werner Bartens: „Eine ungesunde Reform“ – SZ Nr. 222 vom 25./26.09.2010, S. 4 So in einem seltenen Gleichklang sogar die Politiker Karl Lauterbach (SPD) und Markus Söder (CSU) – vgl. „Lauterbach auf Söders Seite“ – SZ Nr. 54 vom 06.03.2009, S. 6 und Charlotte Frank: „Teuer und bürokratisch – Die Ärzte sind mit ihren Standesvertretern unzufrieden“ – SZ Nr. 61 vom 14./15.03.2009, S. 8 1207 „Transparenz beim Arztbesuch“ iund „Quittung nach Arztbesuch“ – SZ Nr. 175 vom 02.08.2010, S. 4 und 6 1208 Guido Bohsem, Claus Hulverscheidt und Stefan Braun: „Kompromiss beim Gesundheitsfonds – Union und FDP werden voraussichtlich den Einheitsbeitrag abschaffen“ – SZ Nr. 243 vom 22.10.2009, S. 5 1209 Dietrich Grönemeyer: „Scheinheiligkeit im Endstadium – Der Gesundheitsfonds erfüllt vor allem einen Zweck: die Wahrheit über die Kosten zu verheimlichen“ – SZ Nr. 242 vom 21.10.2009, S. 2 1210 Daniela Kuhr und Mike Szymanski: „Sparpaket soll Gesundheitskosten verringern – Koalitionsspitzen wollen 2011 mindestens vier Milliarden Euro einsparen/Streit um Kopfpauschale schwelt weiter!“ – SZ Nr. 125 vom 04.06.2010, S. 5 1206

308 Euro1211 dürfte dem keinesfalls genügen. Auch müßte nicht viel Krankheit – wie es das von der großen Koalition neu erfundene „Fondsmodell“ noch immer vorsieht, sondern grundsätzlich die Gesundheit der Menschen Grundlage der Leistungen und Be“lohn“ung sein muß,1212 auch wenn man sehen muß, daß es hierfür medizinisch bedingte Grenzen gibt. Auch sogen. hoffnungslose Fälle haben Anspruch auf bestmögliche Behandlung.1213 Vergütet werden müssen deshalb mehr als bisher „Geborgenheit und .. Barmherzigkeit“1214, die derzeit notleidenden Gespräche und ausreichende Kommunikation1215 als ohnehin billigste und zugleich wirksamste Medizin.

Andererseits muß auch dem Kassen-Patienten durch eine Rechnung, Quittung oder andere regelmäßige Dokumentation der ärztlichen Leistungen1216 bewußt gemacht werden, inwieweit diese vielleicht sogar ein Erfolg, und das aufgewendete Honorar im konkreten Fall in einem angemessenen, vergleichbaren oder für ihn nachvollziehbaren und vertretbaren Verhältnis zueinander stehen. Diese Aufgabe kann man den Ärzten dann nicht abnehmen, wohl aber das medizinfremde bloße Einkassieren der bürokratischen und überdies eine falsche Lenkung bewirkenden Praxisgebühr,1217 wie es dann ja auch geschehen ist.1218

1211 Mittelwert für die Jahre 1999-2001 lt. Stat. Bundesamt – Allgemeinärzte – Kostenstruktur – Ergebnisse.pdf 1212 Nina von Hardenberg: „Land der Kranken – Warum der Gesundheitsfonds aus gesunden Deutschen malade Deutsche macht“ – SZ Nr. 302 vom 30.12.2008, S. 4; Guido Bohsem: „Beim PsychoDoktor – Die Koalition überschätzt die positive Wirkung des Gesundheitsfonds“ – SZ Nr. 11 vom 15.01.2009, S. 17; Klaus Michael Meyer-Abich: „An den Grenzen der naturwissenschaftlichen Medizin: Läßt sich das heutige Krankheitswesen in ein Gesundheitswesen zurückverwandeln?“ – Beitrag zu einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll vom 6. –9. 9. 2007.

1213 „Wirkungslose Boni – Finanzielle Anreize für Ärzte führen nicht dazu, dass sie Patienten erfolgreicher behandeln“ – SZ Nr. 20 vom 26.01.2011, S. 18 1214 Werner Bartens: „Eine ungesunde Reform“ – SZ Nr. 222 vom 25./26.09.2010, S. 4 1215 Werner Bartens: „Der deutsche Patient – Viele Kranke sind mit ihren Ärzten unzufrieden, obwohl sie sich gut versorgt fühlen“ – SZ Nr. 134 vom 15.06.2010, S. 16; „‘Ich behandle ja keine Röntgenbilder‘ – Der Chirurg Bernd Hontschik darüber, was Patienten wollen, Ärzte können, wann Heilung misslingt und über den Grund mancher Operation“ – SZ Nr. 183 vom 11.08.2010, S. 16 1216 Das fordert auch Dietrich Grönemeyer: „Scheinheiligkeit im Endstadium – Der Gesundheitsfonds erfüllt vor allem einen Zweck: die Wahrheit über die Kosten zu verheimlichen“ – SZ Nr. 242 vom 21.10.2009, S. 2; „‘Jeder Kassenpatient soll eine Abrechnung bekommen‘ – Der Chef des Arzneimittelhändlers Celesio, fritz Oesterle, über Arztbesuche, Homöopathie und Zwei-Klassen-Medizin“ – SZ Nr. 178 vom 05.08.2010, S. 19; Nina von Hardenberg: „Arztbesuch gegen Vorkasse – Versicherte sollen von neuen Tarifen profitieren“ SZ Nr. 226 vom 30.09.2010, S. 6 1217 Dietrich Mittler. „Diagnose: Die Praxisgebühr bringt nichts – Bayerns Mediziner machen Front gegen das ‚Bürokratiemonster‘ – In Berlin glauben manche bereits an eine kleine Revolte“ – SZ Nr. 242 vom 20.10.2011, S. R 18; Guido Bohsem: „Grandios gescheitert – Die Arztgebühr hat gefährliche Nebenwirkungen auf die Gesundheit“ – SZ Nr. 286 vom 12.12.2011, S. 17; „Rätsel Praxisgegbühr“ u. Guido Bohsem: „Fünf Euro pro Arztbesuch – Gesundheitsökonomen wollen die Praxisgebühr reformieren: Sie soll häufiger fällig werden. Minister Bahr plädiert allderdings für ihre völlige Abschaffung“ – SZ Nr. 85 vom 12.04.2012, S. 4 u. 19

309

Daß im übrigen die Verwaltungskosten der Kassen immer mehr stiegen, wurde zwar von allen politischen Parteien gern populistisch wirksam beklagt, ist aber nicht zuletzt von ihnen durch ständig steigende Aufgabenzuweisungen (Abrechnungssysteme, künftig für 2006 die Gesundheitskarte oder eine VersichertenChipkarte allein mit einem Aufwand von rund einer Milliarde Euro) nicht unwesentlich mitverursacht worden.1219 Im Jahre 2011 soll diese Gesundheitskarte zu einem Kostenaufwand zwischen 5,4 und 14,1 Milliarden Euro eingeführt werden, obwohl sie unmittelbar weder Ärzten noch Patienten wirklich nützt.1220 Die Bürger haben – so eine neuere Umfrage des Allenbach-Instituts – nur noch wenig Vertrauen in das Gesundheitswesen und sehen – ebenso wie die Ärzte – seine Zukunft mit Sorge,1221 auch wenn einzuräumen ist, daß es sich traditionell im Vergleich zu manchen anderen Staaten qualitativ noch deutlich abhebt und deshalb auch entsprechend hohe Ansprüche fortbestehen.

Dabei muß man sehen, daß immer mehr Menschen überhaupt keine Krankenversicherung mehr haben. Wie auch der Duisburger Gesundheitsökonom Jürgen Wasem zusammen mit anderen im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie feststellte, stieg ihre Zahl zwischen 1995 und 2003 von 105 000 auf 188 000. Die Bundesärztekammer geht sogar von rund 300 000 Menschen ohne Versicherung aus. Viele – Selbständige mit kleinen Einkommen und auch geringfügig Beschäftigte, 1218

„Bundestag schafft Praxisgebühr ab“ und „Bundestag schaffft die Praxisgebühr ab“ – SZ Nr. 260 v. 10./11.11.2012, S. 1 und 6 1219 Andreas Hoffmann: „Mehr Geld für Verwaltung – Krankenkassen gaben acht Milliarden Euro aus“ und ders.: „Die Zombies der Sozialpolitik – an den steigenden Verwaltungskosten der Kassen tragen vor allem die Parteien Schuld“ – SZ Nr. 178 vom 05.08.2003, S. 6 bzw. 4; „Kassen prüfen Stellenabbau – Vorstandseinkommen werden künftig veröffentlicht“ – SZ Nr. 179 vom 06.08.2003, S. 5; Andreas Hoffmann: „Alles auf eine Karte – Elektronische Erfassung von Patientendaten höchst umstritten“ – SZ Nr. 220 vom 22.09.2004, S. 1; andererseits: „Milliarden-Ersparnis erwartet – Neue Gesundheitskarte soll 2006 eingeführt werden“ – SZ Nr. 69 vom 23.03.2004, S. 6; „Für Gesundheitskarte fehlt bislang das Geld“ – SZ Nr. 182 vom 09.08.2004, S. 6; „Ulla Schmidt kritisiert Ärzte – Zeitplan für elektronische Gesundheitskarte gefährdet“ – SZ Nr. 228 vom 01.10.2004, S. 6; Andreas Hoffmann: „Streit um Gesundheitskarte entschieden – Sozialministerin Ulla Schmidt hält Mischmodell für erforderlich, um Probleme zu lösen“ – SZ Nr. 233 vom 07.10.2004, S. 18; Michael Lang: „Alles auf eine karte – Schon 2006 sollen Rezepte und Patientendaten auf einem elektronichen Ausweis gespeichert werden“ – SZ Nr. 61 vom 15.03.2005, S. 10; „Gute Aussichten für Rußfilter und Gesundheitskarte – Im Bundesrat zeichnet sich Einigung zwischen Bund und Ländern ab/Zustimmung zum Telematik-Gesetz“ – SZ Nr. 99 vom 30.04./01.05.2005, S. 7; „Test für Gesundheitskarte“ – SZ Nr. 130 vom 09.06.2005, S. 6; Hilmar Schmundt: „‘Gelenkte Demokratur‘ – Die Gesundheitskarte soll den ‚Gläsernen Patienten‘ schaffen und Kosten sparen. Doch der Testbetrieb muss erneut verschoben werdenb. Drohen Pannen wie bei der LKW-Maut?“ – DER SPIEGEL Nr. 26/2006, S. 118 ff.

1220 Werner Bartens: „Kranke behandeln, nicht Krankheiten – Die neue elektronische Gesundheitskarte nützt weder Ärzten noch Patienten – nur der IT-Industrie“ – SZ Nr. 227 vom 01./02./03.10.2011, S. 4 1221 Vgl. Guido Bohsem: „Krankes System – Bürger haben wenig Vertrauen in das Gesundheitswesen“ – SZ Nr. 276 vom 26.11.2008, S. 5; zu einer neueren Umfrage des Allensbach-Instituts Johann Osel: „Miserable Stimmung – Bürger haben wenig Zutrauen in die Gesundheitspolitik“ – SZ Nr. 179 vom 06.08.2009, S. 5

310

aber auch Frauen nach der Scheidung und solche, die die Voraussetzungen für das Arbeitslosengeld II nicht erfüllen – können sich die hohen Prämien der privaten Kassen nicht mehr leisten.1222

Und so überraschte es eigentlich niemanden mehr, daß die schwarz-gelbe Koaltion endlich die unangenehme Wahrheit der Hinterlassenschaft der großen Koalition zur Grundlage einer realistischen Politik machen wollte und nach einer längerfristig beständigen Lösung suchte.1223 Statt einer nachhaltig wirksamen Effizienzverbesserung des Gesundheitswesens – zum Beispiel auch durch mehr Transparenz und Wettbewerb, auch die Vermeidung zahlreicher Doppelstrukturen und unnötigen Mehrfachleistungen – hat sich jedoch nunmehr auch die schwarz-gelbe Koalition ohne Ausschöpfung und plausible Darlegung ihrer Kostensenkungsbemühungen (sogen. „Sparpaket“) im übrigen vorschnell auf die für sie einfachste „Lösung“ des Problems, nämlich auf Beitragserhöhungen zu Lasten der Versicherten gestürzt.1224 Auch dieser Koalitionskompromiß wird, selbst wenn er die Krankenkassen zu mäßigen Einsparungen zwingt, die Leistungserbringer mit rund 3 Milliarden Euro und die Steuerzahler im Hinblick auf den vorgesehenen sozialen Ausgleich mit symbolischen Anteilen von etwa 2 Milliarden Euro in die finanzielle Pflicht nimmt, den eigentlichen Streit nur vertagen und neue Probleme aufwerfen. Eine Reform, die diesen Namen verdient, ist das nicht.1225 Erst wenn das Leistungsgefüge anforderungsgerecht und effizient optimiert worden ist, würde sich vertretbar die Frage stellen, ob nicht noch immer ein unumgänglich notwendiges und zugleich zumutbares Mehr an Beiträgen sogar gewünscht wird, um das höchste Gut des eigenen Lebens mit all den jeweils zur Verfügung stehenden aktuellen Möglichkeiten auch künftig zu schützen und zu

1222

Heidrun Graupner: „Zu krank und zu alt für die Krankenkasse“ – SZ Nr. 250 vom 29./30.10.2005, S. 8 1223 Guido Bohsem und Claus Hulverscheidt: „Kranken- und Pflegeversicherung deutlich teurer – Koalition will dafür aber die Steuern um 25 Milliarden Euro senken/Familien und Firmen profitieren“ – SZ Nr. 245 vom 24./25.10.2009, S. 1 1224 „Kassenbeitrag steigt – Regierung will Satz auf 15,5 Prozent anheben“, Guido Bohsem: „Weniger Netto vom Brutto – Die Versicherten müssen die höchste Last beim Reformpaket für die Gesundheit tragen“ und ders.: „Kassenbeiträge sollen auf 15,5 Prozent steigen – Koalition will auch höhere Zuasatzprämien zulassen/SPD: Schwarzer Tag für die Versicherten“ – SZ Nr. 150 vom 03./04.07.2010, S. 1, 4 und 6; Nina von Hardenberg: „Die Kasse muss stimmen – Eckpunkte eines Sparpakets, das dem Gesundheitssystem das Überleben sichern soll“ und Guido Bohsem: „Große Pläne, klein gemacht – Diese Reform ist ein Zeichen seiner Niederlage: Philipp Röslers Scheitern steht exemplarisch für den freien Fall der FDP in den Meinungsumfragen“ sowie ders.: „Eine unmögliche Reform“ – SZ Nr. 219 vom 22.09.2010, S. 2 und 4 1225 Nina v. Hardenberg: „Ein großer Wurf – kleinklaut begraben – Den Gesundheitspolitikern bleibt nichts anderes übrig, als ständig an den Finanzen herumzudoktern“ – SZ Nr. 153 vom 07.07.2010, S. 4; Guido Bohsem: „Kopfpauschale nach der Art des Hauses – Der Gesundheitskompromiss der Koalition vertagt den Streit und schafft neue Probleme“ – Sz Nr. 154 vom 08.07.2010, S. 4

311 erhalten.1226 Das bedarf einer offenen und sicher auch mutigen Diskussion der Politiker mit den Wählern, die auch den sozialen Ausgleichsaspakt angemessen betont, die bislang jedoch gescheut wurde.1227 Die schon viel zu lange währende, rein ideologisch bedingte Streitfrage „Bürgerversicherung versus Kopfpauschale“ hilft in der praktischen Bewältigung der Dinge nicht weiter. Teilt man jedoch zunächst einmal die Gesamtausgaben für das Gesundheitswesen durch die Anzahl der Einwohner, ermittelt sich statistisch eine durchschnittliche Einzelfallprämie, die zugleich den für Versicherungen notwendigen Bedarf ausweist („Bedarfsprämie“), sofern es nicht gelingt, die Ausgaben durch noch mehr Leistungseffizienz – also ohne Qualitätseinbußen – zu senken. Sie dürfte rechnerisch so etwa um die 3000 Euro je Einwohner und Jahr liegen,1228 woraus sich eine monatliche „Normalprämie“ von rd. 270 Euro ergibt.

Eine derartige Einheitsprämie enthält, wenn sie von allen zu zahlen wäre, bereits wesentliche Ausgleichsfunktionen (zugleich als nicht zu übersehenden sozialen Risikoausgleich!) zwischen Jungen und Alten, Männern und Frauen, durchschnittlich Gesunden und chronisch Kranken, indem sie den statistisch höheren Prämienbedarf der letzeren (überdurchschnittliches Risiko?) jeweils versicherungstypisch deutlich subventioniert.

Wenn man diesen Beitrag für bestimmte Bevölkerungsgruppen dennoch für nicht leistbar erachtet (hier handelt es sich nicht um „sozial“, sondern um „ökonomisch“ Schwächere!), dann kann man die zu leistende Eigenprämie weiter nach finanzieller Leistungsfähigkeit sozial subventionieren. Die Mittel dafür sollten jedoch nicht nur von Beziehern höherer Arbeiseinkommen, diese auch nicht noch gedeckelt und geschont durch eine Beitragsbemessungsgrenze, aufgebracht werden, sondern von denen, die insgesamt als vermögender anzusehen sind. Dazu gehört neben der Einbeziehung von Arbeitseinkommen alles, was der allgemeinen oder besonderen Besteuerung unterliegt, also insbesondere auch Zinsen und Dividenden, Mieteinnahmen, Unternehmensgewinne, evtl. sogar Steuern aus Vermögen etc. Nur so entsteht ein Ausgleichsvolumen, daß nicht nur das gesamte Eigentum in die Sozialpflicht einbindet, sondern auch dem Volumen nach ein Topf, der für einen akzeptablen Prämienausgleich zur Verfügung steht, ohne die „Geber“ dabei ihrerseits zu überlasten.

Wünschenswert wäre dabei zugleich ein Steuersystem, daß seinerseits Ungerechtigkeiten, insbesondere Steuerschlupflöcher oder nicht vertretbare Subventionen vermeidet und nicht nur zu Lasten von Steuerzahlern mit höherem Ein1226 Vgl. Catherine Hoffmann: „Gute Besserung – Der Frust über die Gesundheitspolitik ist groß, dabei wäre es so einfach“ – SZ Nr. 137 vom 14./15.06.2008, S. 28 unter Hinweis auf Johann Eekhoff: „Bürgerprivatversicherung“ 1227 Siehe dazu auch Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 148 ff.

1228 Das Stat. Bundesamt beziffert die Ausgaben im Jahre 2008 auf 263.216 Mio Euro (=10,5 % des BIP) und auf 3210 Euro je Einwohner – www.gbe-bund.de

312

kommen, sondern auch von problematisch Steuerbefreiten eine gerechte Ausgleichsgrundlage bietet. Aber wir haben ihn ja in gewisser Weise schon, den Ausgleich aus Steuermitteln, und deshalb entfaltet er in seiner aktuellen Bruchstückhaftigkeit mit allen seinen unerträglichen Facetten seine täglichen ungerechten und unbezahlbaren Wirkungen. Denn um einen ausgeglichenen Haushalt im Gesundheitswesen haben sich die politischen Parteien bisher eben so gern gedrückt wie beim Steuersystem und im Staatshaushalt.

Bleibt es dem Einzelnen dann auch noch überlassen, bei welchem der im Wettbewerb stehenden Versicherungsunternehmen er sich versichert, wird es weitere Prämienvorteile geben. Denn wer sich etwa vorstellt, auch hier eine „Allgemeine Autoreparatur-Versicherung“ einführen zu wollen, wie es ein findiger Zeitgenosse einmal in Gedanken getan hat, liegt gar nicht so falsch bei einer analytischen Bewältigung der Probleme, die sich immer in jedem System vielfach variabel gestalten lassen. Jedenfalls müßte er sich keinesfalls die Haare raufen.1229 Wenn alle Krankenversicherer nämlich weiterhin gehalten sind, ein gleiches „Grundrisiko für alle“ zu einem niedrigeren bzw. nicht zu überschreitenden Höchstbeitragssatz anzubieten (Pflichtversicherung und Mindestumfang für alle Sofort- und Notfälle, Schmerzen, sinnvolle Präventionen, Absicherung nur von gelisteten Medikamenten etc.) und alle anderen Krankheitsrisiken nach Schwere und Größenordnung teils auch als Pflicht, überwiegend jedoch freiwillig besonderen Zusatzversicherungen anheim zu geben, dann kann man schon von einer neueren Art „Krankenpflichtversicherung“ sprechen.

Es ist nicht verwunderlich, daß ein derartiges Vorgehen der Politik nicht nur die Menschen nicht überzeugt, sondern auch aus zahlreichen sachlichen und nicht zuletzt sozialen Gründen von den unterschiedlichsten Interessenvertretern heftig kritisiert wurde.1230 Der Unmut kam von fast allen Seiten der Gesellschaft.

Damit wurde auch das Gesundheitswesen zu einem weiteren Beleg für die Unfähigkeit der Politiker, ein Problem „zum Wohle des Volkes“ in der Sache überzeugend und nachhaltig zu lösen und für die Lösung auch das Vertrauen der Menschen zu gewinnen.1231 Wahrscheinlich wird man an einer weiteren Erhöhung der Krankenkassenbeiträge durch die Versicherten nicht immer ganz vorbeikommen. Als erster und 1229

Dr. Jürgen Löbel: „Leistungskontrolle fehlt“ – SZ Nr. 255 vom 06.11.2003, S. 39 Guido Bohsem u. Stefan Braun: „Minister Rösler bricht Sparversprechen – Regierung kapituliert vor Gesundheitskosten – Kassen dürfen künftig unbeschränkt Zusatzbeiträge erheben/Außerdem steigt der Beitragssatz auf 15,5 Prozent“, Guido Bohsem: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben – Die Koalition einigt sich darauf, den Krankenkassen eine Lizenz zum Kassieren zu geben – gelöst sind die Probleme nicht!“, Nina v. Hardenberg: „Ein großer Wurf – kleinklaut begraben – Den Gesundheitspolitikern bleibt nichts anderes übrig, als ständig an den Finanzen herumzudoktern“ – SZ Nr. 153 vom 07.07.2010, S. 1, 2 und 4 1231 Guido Bohsem: „Große Pläne, klein gemacht – Diese Reform ist ein Zeichen seiner Niederlage: Philipp Röslers Scheitern steht exemplarisch für den freien Fall der FDP in den Meinungsumfragen“ sowie ders.: „Eine unmögliche Reform“ – SZ Nr. 219 vom 22.09.2010, S. 2 und 4 1230

313

einfachster Reformschritt ist sie jedoch strikt abzulehnen. Vorrang hat in jedem Fall der effiziente Einsatz der gezahlten Beiträge, den es gründlich zu untersuchen gilt, wobei jeder, der als Leistungserbringer einen wirklich notwendigen oder sinnvollen Aufwand betreibt, auch Anspruch auf eine vergleichsweise angemessene Vergütung habeb muß.

Ärzte Bei der Häufigkeit der Arztbesuche liegen die Deutschen mit durchschnittlich 9,1 Besuchen im Jahre 1998 deutlich vor ihren europäischen Nachbarn, wie eine Studie des Forschungsinstituts BASYS gezeigt hat, ohne daß dieses sich vergleichsweise positiv für ihren Gesundheitszustand auswirkt.1232 Die Zahl der berufstätigen Ärzte ist in den vergangenen zehn Jahren um gut ein Fünftel gestiegen. Nach einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) gab es beispielsweise in Bayern noch nie so viele Ärzte. Trotzdem droht – so auch Hellmut Koch, der Präsident der bayerischen Landesärztekammer und Wolfgang Hoppenthaller, Landesvorsitzender des bayerischen Hausärzteverbandes – in Deutschland ein Ärztemangel.1233 Nach Ansicht der gesetzlichen Kran1232

„Oft zum Arzt“ – SZ Nr. 112 vom 15./16.05.2004, S. 6; Harold James; Princeton Universität: „Die Deutschen vergessen ihre Tradition – Abkehr von Qualität und Handwerkskunst/Nicht auf die Regierung, sondern auf den Markt hören“ – SZ Nr. 178 vom 04.08.2005, S. 18 1233 Dietrich Mittler: „Krankenkassen warnen vor Ärzte-Schwemme – In Starnberg praktizieren nach Angaben der AOK viermal so viele Internisten, wie eigentlich notwendig wären“ – SZ Nr. 118 vom 23.05.2003, S. 50; Wolfgang Hoppenthaller in dem Interview: „Wir werden Druck machen – Wolfgang Hoppenthaler warnt vor einem Mangel an Allgemein-Medizinern – und hofft, dass die Politik aufwacht“ – SZ Nr. 163 vom 18.07.2003, S. 46; Mike Szymanski: „Für den Nachwuchs gibt es attraktive Berufsalternativen – Der verschwundene Landarzt – Ein Generationswechsel findet nicht statt: Wenn ostdeutsche Mediziner in Rente gehen, will oft niemand ihre Praxis übernehmen“ – SZ Nr. 13 vom 18.01.2005, S. 9; Heidrun Graupneer: „Wenig Lust auf Landleben – Trotz Starthilfen gehen kaum Ärzte nach Ostdeutschland“ – SZ Nr. 31 vom 08.02.2005, S. 1; Andreas Hoffmann: „Studie des Sozialministeriums vorgestellt – Auf dem Lande fehlen Ärzte – Experten gehen von ‚punktueller Unterversorgung‘ aus“ – SZ Nr. 95 vom 26.04.2005, S. 4; Irina Repke: „Frontarbeit an der Ostgrenze – Medizinermangel in den neuen Bundesländern: Da halten selbst ausländerfeindliche Patienten still, wenn der Doktor ein Gastarbeiter ist“ – DER SPIEGEL Nr. 18/2005, S. 48 ff.; Heidrun Graupner u. Andreas Hoffmann: „Deutscher Ärztetag in Berlin – Ulla Schmidt will gegen Medizinermangel vorgehen – Verbände und Politik sollen gemeinsam eine Lösung entwickeln/Kritik an schlechten Arbeitsbedingungen“ – SZ Nr. 102 vom 04./05.05.2005, S. 6; Gunnar Herrmann: „Kassenärzte schlagen Alarm – 700 Millionen Euro für die Versorgung im Osten gefordert“ – SZ Nr. 194 vom 24.08.2005, S. 6; „Medizinerverbände befürchten Ärztemangel“ – SZ Nr. 224 vom 28.09.2005, S. 8; „Kritik an Pflichtjahr für junge Ärzte“ – SZ Nr. 232 vom 08./09.10.2005, S. 7; Dietrich Mittler: „Drohender Medizinermangel – Ärztetag fordert bessere Arbeitsbedingungen“ – SZ Nr. 238 vom 15./16.10.2005, S. 56; Werner Bartens: „Aufgabe statt Hingabe – Ärzte verlieren die Lust“ – SZ Nr. 275 vom 29.11.2005, S. 2; Dietrich Mittler: „Mangel an Medizinern – Verteilungskämpfe gefährden das Gesundheitssystem“ – SZ Nr. 300 vom 29.12.2005, S. 40; Tanjev Schultz:

314

kenkassen gibt es zwar genügend Ärzte. Sie sind aber in der Bundesrepublik nicht bedarfsgerecht, also im Ergebnis falsch verteilt:1234 Nach dem Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer ist die Zahl der Ärzte im Jahr 2012 auf den Rekordwert von 348700 gestiegen. Das sind etwa 6600 mehr als im Jahr zuvor.1235 Schon im ersten Quartal 2002 gab es allein in Bayern 350 offene Hausarzt- und 190 offene Facharztsitze. Deutschland droht ein dramatischer Ärztemangel, besonders weil Ärzte immer mehr auch ins Ausland1236 und andere Berufsfelder abwandern. Ein Drittel aller Klinken plante bereits die Einführung von Warteliste, die Länder wie beispielsweise Sachsen und Sachsen-Anhalt hingegen Zuschüsse als Anschubfinanzierung bei der Praxisübernahme junger Ärzte in unterversorgten Regionen.1237 Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie warnte besonders vor einem Mangel an Chirurgen in Deutschland, nachdem bereits in 28 Prozent westdeutscher Kliniken und in über 30 Prozent der Kliniken in den neuen Bundesländern freie Stellen in der Chirurgie nur sehr schwer oder gar nicht mehr zu besetzen sind.1238 Freilich gab es sowohl in dem Versorgungsgrad nach unterschiedlichen „‘Wir hauen ab‘ – Viele Ärzte gehen wegen schlechter Arbeitsbedingungen ins Ausland, gern in die USA und nach Großbritannien“ – SZ Nr. 15 vom 19.01.2006, S. 2 1234 Guido Bohsem: „Mehr junge Ärzte sollen auf das Land – Zahl der Allgemeinmediziner geht seit Jahren zurück/Viele Krankenhäuser können freie Stellen nicht besetzen“ – SZ Nr. 248 vom 26.10.2010, S. 6; ders.: „Der Reiz des Geldes“ – SZ Nr. 155 vom 08.07.2013, S. 4 1235 Guido Bohsem: „Mehr Ärzte sind immer noch zu wenig – Die Zahl der Mediziner erreicht einen Rekordwert. Doch oft sind Stellen schwer mit der Familie zu verenbaren und bleiben unbesetzt“ – SZ Nr. 155 vom 08.07.2013, S. 6 1236 Tanjev Schultz: „‘Wir hauen ab‘ – Viele Ärzte gehen wegen schlechter Arbeitsbedingungen ins Ausland, gern in die USA und nach Großbritannien“ – SZ Nr. 15 vom 19.01.2006, S. 2; Udo Ludwig: „Flucht aus Deutschland – Das Ärzteangebot wird immer knapper, seit sich Weißkittel ins Ausland locken lassen. Das Beispiel eines Orthopäden, der nach England ging, ist schlagend: Er verdient dreimal so viel wie früher“ – DER SPIEGEL Nr. 6/2006, S. 46 ff.; „Der Exodus der Ärzte – Drei Mediziner erklären, warum sie Deutschland verlassen haben – und einer, warum er wieder zurückkehrte“ – SZ Nr. 59 vom 11./12.03.2006, S. V2/11; Guido Bohsem: „Mehr junge Ärzte sollen auf das Land – Zahl der Allgemeinmediziner geht seit Jahren zurück/Viele Krankenhäuser können freie Stellen nicht besetzen“ – SZ Nr. 248 vom 26.10.2010, S. 6 1237 „Länder planen Zuschüsse für Ärzte“ – SZ Nr. 230 vom 07.10.2003, S. 6; Mike Szymanski: „Für den Nachwuchs gibt es attraktive Berufsalternativen – Der verschwundene Landarzt – Ein Generationswechsel findet nicht statt: Wenn ostdeutsche Mediziner in Rente gehen, will oft niemand ihre Praxis übernehmen“ – SZ Nr. 13 vom 18.01.2005, S. 9; Heidrun Graupneer: „Wenig Lust auf Landleben – Trotz Starthilfen gehen kaum Ärzte nach Ostdeutschland“ – SZ Nr. 31 vom 08.02.2005, S. 1; Andreas Hoffmann: „Studie des Sozialministeriums vorgestellt – Auf dem Lande fehlen Ärzte – Experten gehen von ‚punktueller Unterversorgung‘ aus“ – SZ Nr. 95 vom 26.04.2005, S. 4; Tanjev Schultz: „Nur weg vom OP-Tisch – Mediziner suchen andere Berufe“ – SZ Nr. 179 vom 05.08.2005, S. 2; Gunnar Herrmann: „Kassenärzte schlagen Alarm – 700 Millionen Euro für die Versorgung im Osten gefordert“ – SZ Nr. 194 vom 24.08.2005, S. 6; Dietrich Mittler: „Auf dem Land will keiner Arzt werden – Überalterung der Mediziner verschärft noch das Problem“ – SZ Nr. 235 vom 12.10.2005, S. 37 1238 Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, in dem Interview: „Wartelisten für Operationen“ – DER SPIEGEL Nr. 12/2003, S. 148; vgl. auch Sibylle Steinkohl: „Diagnose: Ärztemangel – Chirurgen fordern vor Bundeskongress neue Strukturen“ – SZ Nr. 98 vom 29.04.2003, S. 34; Rainer Erlinger: „Die Mattscheibe lügt – Der Arztberuf ist schon lange kein Traumjob mehr“ – SZ Nr. 181 vom 08.08.2003, S. 11; Anja Dilk: „Operation Traumberuf beendet – Bereits jeder sechste Mediziner verweigert den Dienst am Krankenbett – und widmet sich lohnenderen Jobs“ – SZ Nr. 182 vom 09./10.08.2003, S. V1/13 (Bildung und Beruf); Christof Geigerseder,

315

Fachgebieten als auch in den einzelnen Regionen deutliche Unterschiede. Wenn es sich hierbei nicht nur um einen interessengesteuerten Öffentlichkeitskrieg handelte,1239 dann spricht auch dieses alles zumindest für diverse Struktur- und Bürokratieprobleme,1240 wie auch immer man diese dann angehen und verbessern kann.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß auch die Bedingungen der ärztlichen Versorgung sich als Folge knapper Kassen immer weiter verschlechtern. Die spezielle Verteilungsmasse für die Einkommen der Ärzte ist zwischen 1991 und 1999 um 43 Prozent gewachsen, die Bruttolöhne der Arbeitnehmer legten vergleichsweise nur um 23 Prozent zu. Gleichwohl trugen die zugelassenen Ärzte höchstpersönlich einen wachsenden Anteil an dem steigenden Kostenrisiko allein durch die Deckelung der Quartalsbudgets,1241 der im übrigen nicht einmal Sozialhilfeempfänger unterfallen, wenn sie ärztliche Behandlung auf Kosten des Sozialamtes benötigen.1242 Solche Deckelungen durch Budgets haben zunächst Arzt im Praktikum beim Anatomischen Institut der LMU München in dem Interview: „Warum gehen junge Ärzte ins Ausland?“ – SZ Nr. 209 vom 11.09.2003, S. 42; rina Repke: „Frontarbeit an der Ostgrenze – Medizinermangel in den neuen Bundesländern: Da halten selbst ausländerfeindliche Patienten still, wenn der Doktor ein Gastarbeiter ist“ – DER SPIEGEL Nr. 18/2005, S. 48 ff.; Heidrun Graupner u. Andreas Hoffmann: „Deutscher Ärztetag in Berlin – Ulla Schmidt will gegen Medizinermangel vorgehen – Verbände und Politik sollen gemeinsam eine Lösung entwickeln/Kritik an schlechten Arbeitsbedingungen“ – SZ Nr. 102 vom 04./05.05.2005, S. 6; Jonas Viering: „Marburger Bund droht mit weiteren Streiks – Klinikärzte fordern 30 Prozent mehr Gehalt – MedizinerVertretung trennt sich von Verdi/Gewerkschaft unterzeichnet Tarifvertrag alleine“ – SZ Nr. 211 vom 13.09.2005, S. 8; Guido Bohsem: „Mehr junge Ärzte sollen auf das Land – Zahl der Allgemeinmediziner geht seit Jahren zurück/Viele Krankenhäuser können freie Stellen nicht besetzen“ – SZ Nr. 248 vom 26.10.2010, S. 6 1239 Siehe dazu die Leserzuschriften von Wolfgang Hoppenthaller, stellv. Vorsitzender des Vorstandes der kassenärztlichen Vereinigung Bayerns und Walter Spaeth, ehem. Präsident des Bayerischen Obersten Rechnungshofes – SZ Nr. 125 vom 02.06.2003, S. 48; „Ungleiche Verteilung – In Ostdeutschland fehlen Praxen“ – SZ Nr. 15 vom 19.01.2006, S. 2 1240 Siehe z.B. Irina Repke: „‘Dumm gelaufen‘ – Eine Novelle der Bundesärzteordnung gefährdet Tausende Existenzen – und verschärft den Medizinermangel“ – DER SPIEGEL Nr. 42/2003, S. 56 ff.; Hans-Peter Bull, Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre in Hamburg: „Wir sind von Kopf bis Fuß auf Vorschriften eingestellt – Entbürokratisierung ist leichter gefordert als getan: Die Bürger selber wollen Regeln für sämtliche Lebensbereiche“ – SZ Nr. 185 vom 12.08.2005, S. 2; Corinna Nohn: „Bürokratie frisst Milliarden – Krasnkenkassen wenden ein Viertel aller Gesundheitsausgaben für Verwaltung auf“ – SZ Nr. 2 vom 03.01.2012, S. 6 1241 Vgl. z.B. Sibylle Steinkohl: „Reaktion der Mediziner auf die von der Gesundheitsministerin angekündigte Nullrunde – ‚Kassenpatienten rechnen sich nicht mehr‘ – Viele Münchner Ärzte sehen schlechte Zeiten anbrechen, doch Streiks kommen für sie nicht in Frage“ – SZ Nr. 285 vom 10.12.2002, S. 33; siehe dazu auch Rainer Erlinger: „Gesunde gegen Kranke – Arzt- und Pflegekosten steigen? Trotzdem runter mit den Prämien!“ – SZ Nr. 198 vom 29.08.2005, S. 11 1242 Vgl. dazu Heidrun Graupner: „Das Märchen von der Luxusversorgung – Mittellose werden nicht wie Privatpatienten behandelt – doch die Ärzte haben einen finanziellen Vorteil“ – SZ Nr. 25 vom 31.01.2003, S. 9; Michael Sauga: „VIP-Status trotz Stütze – Viele Sozialhilfeempfänger werden beim Arzt fast wie Privatpatienten behandelt. Der Hamburger Senat will diese Vorzugsbehandlung abschaffen“ – DER SPIEGEL Nr. 06/2003, S. 77; eine Änderung dieses Zustandes durch Einbeziehung der Sozialhilfeempfänger in die gesetzliche Krankenversicherung scheitert jedoch an steuerlichen

316

immer etwas scheinbar Verführerisches und sind in Verhandlungen gern die Lösung vieler Probleme. In Wahrheit bleiben diese jedoch ungelöst und werden nur in eine ungewisse Zukunft hinein verlagert. Vor allem bleibt ein am konkreten Bedarf und an der konkreten ärztlichen Leistung orientierter Regelmechanismus schlicht aus. Damit entfallen auch Transparenz1243 und kybernetische Anpassung an veränderte Verhältnisse.

Das ist übrigens auch nach einer deutlichen Aufstockung der finanziellen Mittel um – nach aktualisierter Hochrechnung – rund drei Milliarden Euro durch die sogenannte „Honorarreform“ im Jahre 2008 so geblieben, die die ausdrückliche Zustimmung der Ärzte und ihrer Organisationen erhalten hatte.1244 Fachärzte besonders in Teilen Bayerns, Baden-Württembergs, Schleswig-Holsteins und Nordrhein-Westfalens verzeichneten nun plötzlich statt einer Erhöhung sogar Honorareinbußen bis zu 40 Prozent. Der Unmut der Betroffenen – die statt der versprochenen drei Milliarden tatsächlich nur insgesamt 1,2 Milliarden mehr gegenüber dem Jahr 2007 erhielten – schlug sich in lauten Protestaktionen und teilweisen Praxisschließungen nieder, soweit es sich um die wahren Verlierer wie Frauenärzte, Psychiater und Hautärzte – es gab auch schweigende Gewinner – handelte.1245 Es ist eigentlich nicht verwunderlich, daß die Ärzte ihrerseits Einfluß zu nehmen suchen, sich im Rahmen des geltenden Abrechnungssystems finanzielle Vorteile zu sichern, die mit dem Wohl des Patienten nicht zu begründen sind.

Wenn Kassenärzte ihre Patienten, die um einen Termin nachsuchen, im Sinne ihrer gesetzlichen Verpflichtung nicht zuerst danach fragen, welches gesundheitliches Problem sie haben und beurteilen, wie dringlich es ist, sondern nur wissen wollen, wie bzw. wo sie krankenversichert sind, um dann bei Kassenpatienten einen frühestmöglichen Termin allenfalls nach Wochen in Aussicht stellen, wird es gefährlich. Diese inzwischen als „Zweiklassenmedizin“1246 bekannte Erscheinung befördert alle diejenigen, die sich der in unserem Gesundheitssystem als Regel vorgesehenen Absicherung bedienen bzw. bedienen müssen, in den absoluten Nachrang, wofür des keine Rechtfertigung gibt. Das zeigt sich auch an den immer länger währenden Wartezeiten, die trotz eines fest vereinbarten StundenGründen – vgl. „Eichel gegen Schmidt“ – DER SPIEGEL Nr. 07/2003, S. 68; besonders kritisch hierzu auch der Münchner Sozialreferent Friedrich Graffe (SPD) – vgl. „Sozialreferent kritisiert Gesundheitsreform“ – SZ Nr. 237 vom 15.10.2003, S. 39, da nun auch noch Kontrollmöglichkeiten wegfallen.

1243 „Transparenz beim Arztbesuch“ – SZ Nr. 175 vom 02.08.2010, S. 4 1244 „)00 Millionen Euro mehr für die Ärzte“ – SZ Nr. 65 vom 19.03.2009, S. 6 1245 Charlotte Frank: „Das große Abrechnen – Die Ärzte hatten sich viel von der Honorarreform erwartet, doch schon jetzt scheint es mehr Mängel als Vorzüge zu geben“ und Werner Bartens: „Das kranke System“ – SZ Nr. 57 vom 10.03.2009, S. 2 und 4 1246 Stefan Huster: „Soziale Gesundheitsgerechtigkeitf“, S. 9 u. 23; Guideo Bohsem: „Kassenpatienten warten lange auf Facharzt-Termin – Versicherte müssen sich oft wochenlang gedulden, bis sie einen Herzspezialisten oder Urologen aufsuchen können“ – SZ Nr. 157 vom 10.07.2013, S. 1

317

Termins bei den meisten Ärzten inzwischen offenbar als normal angesehen werden, ohne daß es deshalb noch einer besonderen Erklärung oder gar Entschuldigung bei den Patienten bedarf. Es gibt nach Aussage des Ärztepräsidenten JörgDietrich Hoppe auch regelrechte „Abzocker“, die ihr Einkommen über die medizinischen Einsichten stellen, indem sie ihre Patienten sogar zu unnötigen Behandlungen überreden.1247 Wenn Ärzte sich nicht mehr ausschließlich an dem Wohlergehen des Patienten orientieren, sondern an dem, was sie an Eigenvorteilen (auch von der von der Pharmaindustrie) erhalten, wenn sie deren Interessen bei der Verschreibung von Medikamenten in den Vordergrund stellen, dann ist das schlicht Korruption, auch wenn sie derzeit bei Freiberuflern nur nach dem insoweit wirkungslosen Standesrecht verboten ist auch für die Pharmaindustrie noch nicht allgemein der Strafbarkeit unterliegt. Immerhin hat das Problem aber jetzt einen Umfang und ein Gewicht angenommen, daß ernsthaft über die Strafbarkeit solchen Verhaltens nach dem Sozialgesetzbuch nachgedacht wird.1248 Das Hauptproblem bei den Ärzten liegt zweifellos darin, wie sie ihre Beziehung zum Patienten sehen und organisiseren. „Das klassische Arzt-PatientenVerhältnis ist .. paternalistisch geprägt.“1249 Unter den Ärzten gibt es nicht wenige, die – erkennbar eitel – es viel zu gern sehen, daß die Patienten zu ihnen („Halbgötter in Weiß“) aufschauen, statt sich selbst dienstleistend, einfühlsam und auch kommunikativ, d.h. psychosomatisch orientiert1250 zu dem Patienten hinabzubeugen. Das verrät auch ihre verbreitete Äußerung, daß sie selbst mit dem Krankheitsverlauf des Patienten zufrieden sind. Der Patient selbst sollte es jedoch sein. Es verwundert auch und liegt auf der gleichen Linie, wenn ein Assistenzarzt einen Patienten zur Weiterbehandlung einem Professor „vorstellen“ will, statt umgekehrt den Professor dem Patienten. Denn die Auswahl des Arztes liegt beim Patienten.

1247 „Abzocker unter den Ärzten“ – SZ Nr. 42 vom 21.02.2005, S. 5; Werner Bartens: „Hoffentlich nicht privatversichert – Unnötige Operationen, unnütze Röntgenbilder – die vermeintlich privilegierten Patienten leider unter einer Überdosis Medizin“ – SZ Nr. 145 vom 27./28.06.2009, S.V2/1 („Wochenende“) 1248 Guido Bohsem: „Scharfes zur Vorspeise – Der Gesundheitsminister kündigt ein Gesetz gegen die Korruption bei Ärzten an – ausgerechnet bei deren Neujahrsempfang“ – SZ Nr. 16 vom 19./20.01.2013, S. 5; Werner Bartens: „Der blinde Fleck – Interessenkonflikte beeinträchtigen die Unabhängigkeit von Ärzten und schaden Patienten. Werden Mediziner dazu befragt, halten sie sich für immer immun gegenüber gegenüber den Einflüssen deer Industrie. Gefährdet sind immer nur die anderen“ – SZ Nr. 60 vom 12.03.2013, S. 16; Guido Bohsem: „Bestechung in der Praxis – Minister Bahr will Korruption im Gesundheitswesen mit bis zu drei Jahren bestrafen lassen“ und Nina von Hardenberg: „Endlich ein Gesetz“ – SZ Nr. 78 vom 04.04.2013, S. 8 und 4; Guido Bohsem: „Nicht nur verboten, sondern strafbar – Ein Gesetzentwurf der Länder sieht Geldbußen und Haft für korrupte Ärzte vor“ – SZ Nr. 111 vom 15.05.2013, S. 6 1249 Guideo Bohsem: „Mitreden, mitdenken“ – SZ Nr. 157 vom 10.07.2013, S. 4 1250 „‘Ich behandle ja keine Röntgenbilder‘ – Der Chirurg Bernd Hontschik darüber, was Patienten wollen, Ärzte können, wann Heilung misslingt und über den Grund mancher Operation“ – SZ Nr. 183 vom 11.08.2010, S. 16

318

Viele Ärzte verhalten sich äußerst dominant und bevormunden dabei den Patienten. Ihnen ist nicht bewußt, daß sie nur Berater und Helfer, nicht Entscheider sind. Fehlende Einwilligung des Patienten zu einem Eingriff ist strafbare Körperverletzung. Wirksame Einwilligung aber setzt voraus, daß der Patient vorher für iohn verständlich informiert und die Folgen alternativer Vorgehenweisen aufgezeigt werden. Nicht einmal 20 Prozent der Patienten werden nach Aussage des Hamburger Psychologen Martin Härter, Initiator des Webauftritts „Patient als Partner“, in die Therapieentscheidung einbezogen, obwohl das „Shared Decision Making“ nicht nur zu richtigeren Diagnosen führt, sondern auch zu besseren Heilerfolgen. „Hör dem Patienten zu: Er erzählt dir die Diagnose“ sagte der kanadische Arzt William Osler seinen Studenten an der John-Hoplins-Universität schon vor hundert Jahren1251 ebenso wie heute der amerikanische Arzt und Philosoph Jerome Groopman von der Harvard Medical School in Boston und eine Pilotstudie „Gesundheitsfaktor Zuhören“ einer medizinischen Fachzeitschrift das mit Recht und überzeugenden Begründungen kritisch angemerkt haben.1252 So sind die Patienten über Jahrzehnte „zu passiv erduldenden Kranken sozialisiert worden“, wie der Geschäftsführer der Unabhängigen Patientenberatung (UPB) Sebastian Schmidt-Kaehler auf Grund einer 12-monatigen Studie, festgestellt hat.1253 Denn es entsteht sogar beträchtlicher Schaden – von einem Vertrauensschwund abgesehen - , wenn Ärzte und Patienten nicht ausreichend und verständlich miteinander sprechen.1254 Es ist wenig tröstlich, daß die erforderlichen „softkills“, d.h. die sozialpsychologischen Fähigkeiten vieler Ärzte oder die soziale Kompetenz im Rahmen ihrer Ausbildung nicht gelehrt werden, es aber bei den Juristen auch nicht anders ist.1255 Eine der Folgen dieses Mangels war es, daß sogar der Gesetzgeber erneut tätig werden mußte und in seinem „Patientenrechtegesetz“ (§§ 615 ff. BGB) das an sich selbstverständliche, richtige patientenorientierte Verhalten zu dessen Rechtsanspruch ausgestaltete. Selbstkritische Ärzte haben zwar endlich damit

1251

Christa Berndt: „Fehldiagnose einmal anders – Viele Ärzte schätzen falsch ein, was ihren Patienten wirklich wichtig ist und welche Therapien sie sich wünschen“ – SZ Nr. 259 vom 9.11.2012, S. 18 1252 Spiegel-Gespräch: „‘Wissen, wie Doktoren ticken‘ – Der amerikanische Mediziner und Autor Jerome Groopman über ärztliche Fehldiagnosen, typische Denkfehler im klinischen Alltag und seine größte Panne als Arzt“ – DER SPIEGEL 32/2007 S. 128 ff.; vgl. auch Dietrich Grönemeyer: „Geld allein macht nicht gesund – Medizin ist besser finanziert, als oft behauptet wird. Doch die Mittel werden falsch verteilt, zum Schaden der Hausärzte“ – SZ Nr. 196 vom 26.08.2013, S. 2 1253 Guido Bohsem: „Der Normalpatient hat Beratungsbedarf – 14500 Beschwerden im Jahr zeigen: Wenige Kranke kennen ihre Rechte und verhandeln mit Ärzten auf Augenhöhe“ – SZ Nr. 150 vom 02.07.2013, S. 6 1254 Guido Bohsem: „Diagnose: Kein offenes Ohr“ – SZ vom 14.05.2015 – SZ-Online 1255 Leonie Seifert: „Jura ist leicht“ – Interview mit dem Bundesrichter Thomas Fischer – ZEIT Campus Nr. 6/2014

319 begonnen, in einem Verein „Medizin und Menschlichkeit“1256 ihr eigenes Verhalten zu reflektieren. Nicht nur Gesundheitsminister Hermann Gröhe hält eine gut funktuionierende Kommunikation für entscheidend. Der Allgemeinmediziner und Psychotherapeut Ulrich Schwantes hat auf dem diesjährigen Ärztetag seinen Kollegen nahe gelegt, angesichts der zunehmend prägenden Wirkung der technologischen Aspekte des Berufs in der Kommunikation mit dem Patienten besser zuwerden. 1257 Auswirkungen auf die Qualität der ärztlichen Leistungen haben natürlich die Arbeitsbedingungen durch die Konzentration auf die „Apparatemedizin“, auch wenn diese nachgewiesenermaßen in der Hälfte der Fälle schlicht überflüssig sind zahlreiche Leistungen, die heute oft künstlich oder sogar von Krankenkassen und Krankenhausmanagern, ja Ärzten selbst ökonomisch („merkantil“) getrieben (auch zur Amortisation des hohen Anschaffungspreises moderner Geräte) und deshalb ohne meßbaren Nutzen bleibt und zumindest die wirklichen Anforderungen weit übersteigt (z. B. Herzkatheder-Untersuchungen, der Einsatz von sogen. Stents oder auch massenhaft Gelenkspiegelungen, Operationen an der Wirbelsäule).1258 Nach Ansicht der US-Standesorganisation würden Ärzte Patienten besser und effizienter behandeln, wenn sie auf etliche Untersuchungen und Therapien verzichteten. Röntgenbilder, Bluttests, Antibiotika und Herzuntersuchungen seien oft überflüssig oder gar schädlich.1259 Nicht ganz zu Unrecht ge1256

Marie Schoess: „Selbstfindung für Ärzte – Aniko Dobos und Maria Durand fehlte die Menschlichkeit in ihrem Medizinstudium – und lehren sie nun selbst“ – SZ Nr. 115 vom 21.05.2013, S. R 6 Guido Bohsem: „Diagnose: Kein offenes Ohr“ – SZ vom 14.05.2015 – SZ-Online 1258 Beispiel: Günther Stockinger: „Klempnerei am Herzen – Im Kampf gegen den Infarkt gelten sie als Wunderwaffe: Gitterröhrchen sollen verstopfte Herzkranzgefäße von innen heraus offen halten.

Doch neue Studien zeigen: Die sogenannten Stents werden viel zu leichtfertig eingesetzt. Der klassische Bypass ist häufig die bessere Alternative“ – DER SPIEGEL Nr. 2/2009, S. 110 ff.; Werner Bartens: „Zweifel an der Gefäßstütze – Stents sind oft überflüssig und manchmal sogar gefährlich“ – SZ Nr. 12 vom 16.01.2009, S. 16; siehe weiterhin Werner Bartens: „Medizin mit dem Preisschild – Ständige Kosten-Nutzen-Berechnungen untergraben das ärztliche Ethos“ – SZ Nr. 13 vom 17./18.01.2009, S. 22; „‘Ich behandle ja keine Röntgenbilder‘ – Der Chirurg Bernd Hontschik darüber, was Patienten wollen, Ärzte können, wann Heilung misslingt und über den Grund mancher Operation“ – SZ Nr. 183 vom 11.08.2010, S. 16; Nina v. Hardenberg: „Der teure Gang zum Radiologen – Ärzte lassen ihre Patienten immer häufiger mit Hilfe modernster Technik durchleuchten – die Krankenkassen warnen vor steigenden Behandlungskosten“ – SZ Nr. 26 vom 02.02.2011, S. 7; Martin Marianowicz, Facharzt für Orthopädie, Chirotherapie, Sportmedizin und Schmerztherapie, einer der führenden Rückenspezialisten in Europa mit seinem Buch "Aufs Kreuz gelegt: Warum 80% der Rückenoperationen überflüssig sind" – br-online – alpha-forum vo, 03.03.2011; Guido Bohsem: „In Deutschland wird so viel operiert wie nie – Krankenkassen beklagen starken Anstieg der #Eingriffe: Viele seien unnötig und würden nur den Kliniken mehr Geld bringen“ u. ders.: „Geld und Skalpell“ – SZ Nr. 284 vom 08./09.12.2012, S. 1 und 4.

1259 Werner Bartens: „Eindringlicher Appell von US-Standesorganisationen – Ärzte warnen vor zu viel Medizin – Röntgenbilder, Bluttests, Antibiotika und Herzuntersuchungen sind oft überflüssig oder gar schädlich“ und „Aufhören! – US-Ärztevereinigung warnt vor unnötigen und gefährlichen Routinebehandlungen“ – SZ Nr. 119 vom 24.05.2011, S. 1 und 16; unter Bezugnahme auf Studien, insbesondere eine Studie von 2000 Patienten in zwölf europäischen Ländern Katrin Blawat: „Kranke 1257

320

fordert wird daher ein Leistungskatalog, der deutlicher als bislang klarstellt, welche medizinischen Leistungen wann als notwendig von den Pflicht-Kassen bezahlt werden sollen und welche nicht,1260 auch wenn sie nützlich wären oder sich grundsätzlich empfehlen. Ärgerlich ist zudem der Umgang mit den sogeannten „Individuellen Gesundheitsleistungen – Igel“, die angeboten werden, obwohl die Kassen sie nicht erstatten, weil sie – wie Gesundheitswissenschaftler in ihrer Übesichtsarbeit des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation (DIMDI) wiederholt festgestellt haben, für den Patienten schlicht nutzlos sind.1261 Nach einer in Berlin veröffentlichten Umfrage des Verbraucherzentrale Bundesverbandes (vzbv) informieren die Ärzte ihre Patienten nicht vorschriftsmäßig und neutral über die angebotenen Selbstzahlerleistungen. Nur jeder vierte Befragte wurde über Risiken, über den individuellen Nutzen nur jeder zweite informiert. Ausreichende Bedenkzeit gab es nur in jedem zweiten Fall. Eine Aufklärung über die Kosten erfolgte nur in jedem zweiten Fall, eine Rechnung darüber erhielt nur jeder Fünften.1262 Wie läßt sich das mit dem ärztlichen Ethos verbinden? Das Geld ist für Ärzte offenbar gleichbedeutend mit der selbst zuerkannten und deshalb erwarteten sozialen Anerkennung, zumal sie ja insoweit über viele Jahre an der Spitze aller Berufe rangierten.

Bei der neuesten Kürzungsaktion der schwarz-gelben Koalition zur Sanierung des Gesundheitssystems sind es nun vor allem die Hausärzte, die sich vehement wehren und mit einem Ausstieg aus der Kassenärztlichen Vereinigung, ja völlig hemmungslos und ungeniert auch mit der Rückgabe ihrer Kassenzulassung – wenn auch letztlich erfolglos1263 – und sogar mit Todesfällen drohen, obwohl die Ärztehonorare selbst im Krisenjahr 2009 weiter deutlich und weit überdurchschnittlich angestiegen sind und jetzt für sie nicht etwa eine Kürzung der Mittel vorgesehen ist, sondern lediglich ihr weiterer Anstieg etwas begrenzt werden soll.1264 Dabei erhielten sie mehr Honorar als erwartet. Eine Studie des GesundTherapie – Ärzte verschreiben oft nutzlose Antibiotika gegen Erkältung“ – SZ Nr. 293 vom 19.12.2012, S. 1 1260 „Zollitsch für Begrenzung von Kassenleistungen“ – SZ Nr. 1 vom 03.01.2011, S. 6 1261 „Nutzt nur dem Arzt – Unnötige Gesundheitsleistungen für 1,5 Milliarden Euro“ – SZ Nr. 214 vom 16.09.2011, S. 18 1262 „Unzufriedene Patienten“ – SZ Nr. 239 vom 16.10.2012, S. 19 1263 Guido Bohsem u. Dietrich Mittler: „Initiator der Hausärzte-Revolte tritt zurück – Verbandschef Hoppenthaler zieht Konsequenzen aus seinem Scheitern/Bundesgesundheitsministerium will Honorarsystem verbessern“ sowie Dietrich Mittler: „Operation gescheitert – Nach dem misslungenen Ausstieg aus dem Kassensystem zeigen sich Landespolitiker erfreut über Hoppenthalers Rücktritt“ – SZ Nr. 298 vom 24./25./26.12.2010, S. 6 und R 17 1264 Stefan Braun u. Martin Hesse: „Hausärzte machen Front gegen Rösler – Mediziner bereiten umfangreiche Kampagne gegen geplante Kürzungen vor“ – SZ Nr. 159 vom 14.07.2010, S. 6; Guido Bohsem: „Hausärzte laufen Sturm gegen Sparpaket – Mediziner wollen aus Protest Praxen schließen/Verband: Das Ausmaß derf Entrüstung war noch nie so groß“ – SZ Nr. 161 vom 16.07.2010, S. 6; Guido Bohsem: „Dickes Plus – Ärztehonorare im Krisenjahr 2009 deutlich gestiegen“ – SZ Nr.

321

heits-Instituts fand heraus: Niedergelassene Ärzte erzielen mit Kassenpatienten im Schnitt ein höheres Einkommen als ein Oberarzt im Krankenhaus.1265 Das gern gebrauchte Symbolwort „Patientenwohl“ erweist sich auch hier schnell wieder als eine leere Hülse, wenn es um das eigene Honorar geht.1266 Immerhin stiegen nach einer Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bei ihren Mitgliedern ebenso wie nach der letzten Erhebung durch das Statistische Bundesamt die ärztklichen Einkommen zwischen 2007 und 2011 mit durchschnittlich rund 17 Prozent erneut erheblich.1267 Im Mittelpunkt steht im Gesundheitswesen die Gesundung der Patienten und – bei aller Anerkennung einer angemessenen Vergütung – nicht in erster Linie die Gesundung der hieran Beteiligten. Die Ärzte wollten zumindest neuerdings selbst systematisch die Qualität der medizinischen Versorgung überprüfen.1268 Und sie sollten nicht die Krankenkassen bekämpfen, sondern die Politik und Haltung ihrer eigenen Vertreter in den kassenärztlichen Vereinigungen, von denen sie ja vertreten werden, aber offensichtlich eben schlecht.

Das gilt insbesondere für die niedergelassenen Ärzte, die mit ihrem System der Kassenärztlichen Vereinigungen selbst in hohem Maße zur derzeitigen Situation beigetragen haben und nun immer mehr vor dem endgültigen wirtschaftlich begründeten Aus stehen., wie das selbst Insider wie der Vorsitzende der kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, Axel Munte, für richtig halten.1269 Statt dessen 162 vom 17./18.07.2010, S. 6; Guido Bohsem: „Hausärzte warnen vor Todesfällen – Mediziner machen Minister Rösler für dramatische Engpässe verantwortlich, weil er bei Honoraren sparen will“ – SZ Nr. 166 vom 22.07.2010, S. 15; Nina von Hardenberg: „Empörung über neuen Ärztestreik – Krankenkassen kritisieren Praxisschließungen: Mediziner tragen Unmut auf dem Rücken der Patienten aus“ und „Das Misstrauen der Hauärzte“ – SZ Nr. 182 vom 10.08.2010, S. 1 und 4; „Einschnitte auch für Hausärzte – Minister Rösler legt Entwurf für Gesundheitsreform vor“ – SZ Nr. 185 vom 13.08.2010, S. 5; Charlotte Frank: „Sparen ohne Schmerz – Die Reformpläne von Gesundheitsminister Philipp Rösler schonen vor allem Kassen und Ärzte“ u. „Einschnitte für Ärzte, Krankenhäuser und Patienten – Gesundheitsminister Rösler will im nächsten Jahr 3,5 Milliarden Euro einsparen – und muss mit Widerstand vor allem der Mediziner rechnen“ – SZ Nr. 188 vom 17.08.2010, S. 4 und 6 1265 Guido Bohsem: „Mehr Honorar als erwartet – Die Studie des Gesundheits-Instituts findet heraus: Niedergelassene Ärzte erzielen mit Kassenpatienten im Schnitt ein höheres Einkommen als ein Oberarzt im Krankenhaus“ – SZ Nr. 49 vom 01.03.2011, S. 19 1266 „Die Angst des Monopolisten“ – SZ Nr. 161 vom 16.07.2010, S. 4; Guido Bohsem: „Eine Milliarde Euro mehr für die Ärzte – Die Honorare der niedergelassenen Mediziner steigen im kommenden Jahr durchschnittlich um 6700 Euro“ – SZ Nr. 231 vom 06.10.2010, S. 1 1267 Guido Bohsem: „Praxis hat goldenen Boden – Einnahmen der Ärzte zwischen 2007 und 2011 deutlich gestiegen“ u. ders.: „Arzthonorare – Laut und erfolgreich“ – SZ Nr. 188 vom 16.08.2013, S. 1 u. 4 1268 Heidrun Graupner: „Beschluss des Kongresses in Berlin – Ärzte wollen medizinische Versorgung prüfen – Unabhängige Forscher wollen Qualität gewährleisten/Facharztbezeichnung ‚plastische und ästhetische Chirurgie‘“ – SZ Nr. 104 vom 07./08.05.2005, S. 6 1269 „Bittere Pillen für die Ärzte“ und „Ärzte schließen ihre Praxen – Niedergelassene protestieren gegen sinkende Honorare“ – SZ Nr. 13 vom 17.01.2006, S. 4 und 6; Andreas Hoffmann: „Nationaler Protesttag geplant – Ärzte stellen Kassensystem in Frage – Niedergelassene Mediziner prüfen Aus-

322

machte schon Gesundheitsministerin Ulla Schmidt den Vorschlag, die Ärztehonorare für Privatpatienten denen der gesetzlichen Kassen anzugleichen,1270 wo doch heute jeder weiß, daß selbst diese in den meisten Fällen nicht einmal an die Anfahrtsstundenberechnungen von Handwerkern heranreichen.1271 Da braucht man sich wirklich nicht mehr darüber zu wundern, daß den Ärzten die Lust vergeht und sie entweder ins Ausland gehen oder überhaupt der notwendige Nachwuchs ausbleibt.1272 In Bayern haben die kassenzahnärztlichen Vereinigungen nicht einmal davor zurückgeschreckt, ihre Zahnärzte entgegen der Rechtslage und rechtlichen Vereinbarungen mit den Kassen zu Leistungsverweigerungen bzw. zur Erhebung von Praxisgebühren bei Vorsorgeuntersuchungen aufzufordern, so daß zur Beendigung dieses offenkundigen formalen Mißstandes die Einsetzung eines Staatskommissars notwendig wurde.1273 Zwar sind offensichtliche Rechtsbrüche nicht zu tolerieren. Der Kern des Unmuts war aber sicher die damals schon sogenannte Gesundheitsreform, die bei den Zahnärzten auf keinerlei Akzeptanz gestoßen ist.

Krankenhäuser

stieg aus flächendeckender Versorgung“ – SZ Nr. 70 vom 24.03.2006, S. 6; Guido Bohsem: „‘Niemand fällt ins Bodenlose‘ – Ärzte-Honorare werden neu verteilt“ und „Die Schuld der Selbstverwaltung“ – SZ Nr. 13 vom 17./18.01.2009, S. 7 und 4; Guido Bohsem: „Schmidt stützt MedizinerOrganisation – Gesundheitsministerin plädiert dafür, die Kassenärztliche Vereinigung zu erhalten“ – SZ Nr. 72 vom 27.03.2009, S. 7 1270 „Sturm der Entrüstung – Mediziner und private Kassen attackieren Pläne von Gesundheitsministerin Schmidt“ – SZ Nr. 267 vom 19./20.11.2005, S. 6; Guido Bohsem: „Schmidt stützt MedizinerOrganisation – Gesundheitsministerin plädiert dafür, die Kassenärztliche Vereinigung zu erhalten“ – SZ Nr. 72 vom 27.03.2009, S. 7 1271 Heidrun Graupner u. Andreas Hoffmann: „2,55 Euro für eine Untersuchung – Viele Mediziner fühlen sich ausgebeutet – die Gesundheitsministerin spricht von Übertreibung“ – SZ Nr. 15 vom 19.01.2006, S. 2; Leserbrief Kai Kallenberg: „Weniger Lohn als ein Handwerker – Auf dem Rücken der Ärzte...“ – SZ Nr. 65 vom 15./16.03.2006, S. 19 1272 Tanjev Schultz: „‘Wir hauen ab‘ – Viele Ärzte gehen wegen schlechter Arbeitsbedingungen ins Ausland, gern in die USA und nach Großbritannien“ – SZ Nr. 15 vom 19.01.2006, S. 2 1273 Vgl. u.a. „Bayerns Zahnärzte gehen auf die Straße“ – SZ Nr. 52 vom 03.03.2004, S. 44 u. Christine Burtscheidt: „‘Das Mandat des Arztes ist stärker als das Recht‘ – Zahnärzte wehren sich gegen Staatskommissar – Heftige Vorwürfe bei Demonstrationen gegen Entmachtung der Kassenzahnärztlichen Vereinigung“ – SZ Nr. 53 vom 04.03.2004, S. 47; „Zahnärzte entschuldigen sich für NaziVergleich“ – SZ Nr. 55 vom 06./07.03.2004, S. 59; Rolf Jürgen Löffler u. Manfred Kinner, Chef und Stv. der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Bayerns in dem Interview: „Verbandschefs attackieren Ministerin Stewens: ‚Staatskommissar wurde zu Unrecht eingesetzt‘ – Zahnärzte fühlen sich in ‚unglaublicher Weise gegängelt‘“– SZ Nr. 91 vom 20.04.2004, S. 39

323

Im besonderen Blickpunkt der Krankenkassen stehen seit längerem die steigenden Klinikausgaben und Arzneikosten. 1274 Lt. Jahrbuch 2012 des Stat. Bundesamtes stieg der Bruttogesamtaufwand der Krankenhäuser von 66,2 Mrd. Euro im Jahre 2006 auf 79,9 Mrd. im Jahre 2010, also um 20,7 Prozent. Die Personalkosten erhöhten sich in dieser Zeit von 41,217 auf 47,463 Mrd. Euro. Dabei herrschten bereits unzumutbare Diskrepanzen zwischen fachlichem und zeitlichem Einsatz einerseits und der Vergütung vor allem der nachgeordneten Ärzte und Pflegekräfte auf der anderen Seite. 2012 sollen die Krankenhauskosten bereits 83,4 Mrd. Euro betragen haben.1275 Zugleich steigen die Erwartungen der Patienten.1276 1274

„Kassen-Defizit höher als geplant“ – SZ Nr. 275 vom 28.11.2002, S. 19; Robert Jacobi: „Ärzte sollen preisgünstige Arzneien verschreiben“ – SZ Nr. 94 vom 24.04.2003, S. 17; Andreas Hoffmann: „Neuer Bericht zur Arzneiverordnung – Ausgaben für Medikamente erreichen Rekordhoch – Experten sehen Sparpotenzial von vier Milliarden Euro/Hoffnungen ruhen auf der Gesundheitsreform/Mehr Information nötig“ – SZ Nr. 226 vom 01.10.2003, S. 22; Heiko Martens: „Lücken im Geflecht – Trotz Zuzahlung der Patienten und Zwangsrabatten müssen die Krankenkassen wieder mehr für Medikamente ausgeben“ – DER SPIEGEL Nr. 47/2004, S. 112 ff.; „Medikamente werden teurer“ – DER SPIEGEL Nr. 51/2004, S. 77; „Explodierende Kosten“ – DER SPIEGEL Nr. 15/2005, S. 75; Heidrun Graupner u. Kristina Läsker: „Ausgaben für Medikamente stark gestiegen – Krankenkassen erwägen höhere Beiträge – Bisherige Bemühungen um Kostendämpfung gescheitert/Pharmaindustrie lehnt weitere Preisnachlässe ab“ – SZ Nr. 174 vom 30./31.07.2005, S. 1; „Kassen kritisieren hohe Arzneikosten“ – SZ Nr. 183 vom 10.08.2005, S. 6; „Mehr Kosten für Arzneien“ – SZ Nr. 277 vom 01.12.2005, S. 18; Heiko Martens: „Immer tiefer in den Sumpf – Trotz aller Reformversuche der Gesundheitsministerin steigen die Ausgaben für Arzneimittel wieder. Daran wird auch ihr jüngstes Gesetz nichts ändern“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2006, S. 163; Andreas Hoffmann: „Kassen droht Zehn-Milliarden-Lücke – SPD-Gesundheitsexperte sieht Kosten bei Medikamenten und Kliniken steigen/Arzneipaket hilft wenig“ – SZ Nr. 112 vom 16.05.2006, S. 23; Heiko Martens: „Immer tiefer in den Sumpf – Trotz aller Reformversuche der Gesundheitsministerin steigen die Ausgaben für Arzneimittel wieder. Daran wird auch ihr jüngstes Gesetz nichts ändern“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2006, S. 163; zum neuesten Arzneiverordnungsreport von Ulrich Schwabe und Dieter Pfaffrath vgl. Andreas Hoffmann: „Bürger zahlen zu viel für Pillen – Experten: 3,5 Milliarden Euro könnten gespart werden“ – SZ Nr. 242 vom 20.10.2006, S. 7; „Teure Arzneien“ – SZ Nr. 25 vom 31.01./01.02.2009, S. 6: Im Jahre 2008 gaben die Krankenkassen 25,8 Milliarden Euro für Medikamente aus, 5,4 Prozent mehr als im Vorjahr; Kristina Läsker: „Der Patient zahlt drauf – Pharmakonzerne verhindern Billigarzneien – und kaum jemand greift ein“ – SZ Nr. 156 vom 10.07.2009, S. 17; Guido Bohsem: „Kartell der Kassen – Die Krankenversicherer planen wettbewerbsfeindliche Absprachen“ – SZ Nr. 9 vom 25.01.2010, S. 15; Guido Bohsem: „Union übertrifft Rösler bei Pharma-Sparplänen – Drei Jahre lang sollen Arzneimittel nicht teurer werden – Minister für individuelle Gesundheitsprämien der Kassen“ – SZ Nr. 66 vom 20./21.03.2010, S. 10; „Hohe Arzneimittelkosten“ – SZ Nr. 130 vom 10.06.2010, S. 6 1275 Charlotte Frank: „Klinikufenthalt so teuer wie nie zuvor“ – SZ Nr. 262 vom 13.11.2012, S. 5 1276 „Anspruchsvoll auch in der Klinik – Krankenhauspersonal klagt über Patientenforderungen“ – SZ Nr. 190 vom 19.08.2005, S. 39; „Modernes Sklaventum“ – DER SPIEGEL Nr. 37/2005, S. 20; Jonas Viering: „Marburger Bund droht mit weiteren Streiks – Klinikärzte fordern 30 Prozent mehr Gehalt – Mediziner-Vertretung trennt sich von Verdi/Gewerkschaft unterzeichnet Tarifvertrag alleine“ – SZ Nr. 211 vom 13.09.2005, S. 8; „Klinikärzte drohen mit Streik“ – SZ Nr. 213 vom 15.09.2005, S. 9; „Tag und Nacht am Skalpell – Chirurgen operieren ohne Pause“ u. „Ausgebeutete Ärzte“ – SZ Nr. 275 vom 29.11.2005, S. 2 u. 4; Heidrun Graupner: „System Ausbeutung – Die 32-Stunden-Schicht:

324

Die Ausgaben für den einzelnen Patienten (Fall) wuchsen im gleichen Zeitraum bei einer durchschnittlichen Bettenauslastung von 76,3 bis 77,4 Prozent und trotz verringerter Verweildauer von 3450 Euro auf 3.862 Euro, also um 11,9 Prozent. Die Mehrausgaben kamen also nur knapp mehr als die Hälfte unmittelbar den Patienten zugute. Die Kosten pro Fall sollen 2012 bereits 4000 Euro ausgemacht haben. Das sind 2,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Als Hauptgrund für den Kostenanstieg um werden von der Deutschen Krankenhausgesellschaft allein der Anstieg der Personal- und Sachkosten um mehr als 4 Prozent genannt.1277 Teilweise erklärt sich das vergrößerte Ausgabenvolumen der Krankenhäuser durch den Anstieg der Zahl der stationären Patienten vom Jahre 2006 (16,8 Mio) bis zum Jahr 2010 auf 18,03 Mio. um 7,32 Prozent. In Relation zur Gesamtbevölkerung (je 100 000 Einwohner von 20437 auf 22057) entspricht das einer Steigerung um 7,9 Prozent. Darin zeigt sich ein Trend, wonach grundsätzlich mehr Patienten (oder dieselben mehrfach nacheinander) zu einer stationären Behandlung eingewiesen werden als früher. Anreiz dafür bietet das Pauschalvergütungssystem pro Fall und Patient, damit der einzelne Aufenthalt möglichst kurz und betriebswirtschaftlich lohnend gehalten wird.1278 Nach Aussage der AOK Bayern beträgt die durchschnittliche Verweildauer im Einzelfall in einem bayerischen Krankenhaus aktuell 7,5 Tage. Im Jahre 2002 waren es noch 9,1 und 2010 noch 7,7 Tage, wohingegen die Zahl der ambulanten Operationen steigt.1279 Geldmangel in den Krankenhäusern ist in diesem System also durchaus damit erklärbar, daß das Kostenrisiko teilweise nicht mehr von den Kassen, sondern von den Krankenhäusern selbst getragen wird (Versicherungsfunktion!). Das führt zwangsläufig zu eigenen betriebswirtschaftlichen Maßnahmen, die ausschließlich der Kostensenkung dienen. Sie bedrohen u.a. – neben dem teuren und bedacht einzusetzenden medizinischen Fortschritt – zugleich die wohnortnahe Versorgung von Patienten.1280 Trotz bereits mehrfach beschlossener „SoforthilWarum der Streik der Klinikärzte verständlich und notwendig ist“ – SZ Nr. 63 vom 16.03.2006, S. 4; Veronika Hackenbroch u. Julia Koch: “Heilen am Fließband – Leere Betten und leere Kassen: Verzweifelt kämpfen viele Kliniken in Deutschland ums Überleben. Zugleich waren die Ärzte nie zuvor so unzufrieden. Das deutsche Krankenhaussystem steht vor einem gewaltigen Umbau. Die Streiks sind die Folge der Krise – und verschärfen diese zugleich“ – DER SPIEGEL Nr. 17/2006, S. 140 ff.

1277 Charlotte Frank: „Klinikufenthalt so teuer wie nie zuvor“ – SZ Nr. 262 vom 13.11.2012, S. 5 1278 Vgl. die Tabelle und den Fallpauschalenkatalog des Entgeltsystems des Institus im Krankenhaus (InEK) unter „So viel kosten die Behandlungen wirklich“ – tz v. 12.11.2012, S. 4 1279 „Zahl der ambulanten Operationen steigt“ – tz v. 12.11.2012, S. 4 1280 Dietrich Mittler: „Kommunale Krankenhäuser in der Finanzkrise: Immer mehr Kliniken auf dem Land müssen schließen oder privatisiert werden – Der lange Weg ans Krankenbett – Geldmangel und medizinischer Fortschritt bedrohen die wohnortnahe Versorgung von Patienten in Bayern“ – SZ Nr. 25 vom 01.02.2005, S. 48; zu einer entsprechenden Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernest & Young vgl. „Zu viele Kliniken“ – SZ Nr. 42 vom 21.02.2005, S. 5; Werner Bartens: „Die Leiden der Medizin“ – SZ Nr. 102 vom 04./05.05.2005, S. 4; „Mehr als 1400 Ärzte streiken – Mediziner an Unikliniken protestieren gegen längere Arbeitszeit und Gehaltskürzung“ u. Frank Ulrich

325

fen“ für die Kliniken durcvh die Politik bleiben die wirklichen Probleme, so etwa die Strukturprobleme, weiterhin ungelöst.1281 Die Arbeitsbedingungen für Ärzte und Schwestern in Kliniken sind daher inzwischen unerträglich geworden. Klinikärzte schieben 50 Millionen Überstunden im Jahr ohne Freizeitausgleich und Bezahlung vor sich her, wodurch eine Milliarde Euro gespart wird.1282 Vierzig Prozent eines Arbeitstages – so der Präsident Montgomery, Vorsitzender des Ärzteverbandes Marburger Bund: „Die Gehälter für Krankenhausärzte in Deutschland sind erbärmlich“ – SZ Nr. 176 vom 02.08.2005, S. 5 u. 20; Heidrun Graupner: „Akkordarbeit am Krankenbett – Der Streik der Ärzte ist wegen der unzumutbaren Zustände an den Kliniken berechtigt“ u. „Ärzte setzen Streiks fort“ – SZ Nr. 177 vom 03.08.2005, S. 4 u. 6; Sibylle Steinkohl u. Julia Theres Held: „Tausende von Überstunden und keine Zukunftsperspektiven – Demo der Klinikärzte für bessere Bedingungen – Mediziner klagen über Ausbeutung nach Kündigung der Tarifverträge – auch Professoren protestieren“ – SZ Nr. 178 vom 04.08.2005, S. 37; Heidrun Graupner: „Knochenmühle Klinik – Assistenzärzte haben eine 70-Stundenwoche und verdienen dann oft nur 2000 netto“ u. „Das Röntgenbild verschwimmt – Lange Dienstzeiten sind gefährlich“ , Tanjev Schultz: „Nur weg vom OP-Tisch – Mediziner suchen andere Berufe“ sowie Andreas Hoffmann: „Heilen zum Einheitspreis – Wenn Patienten länger in der Klinik bleiben müssen, rechnet sich das für die Krankenhäuser künftig nicht mehr“ – SZ Nr. 179 vom 05.08.2005, S. 2; „‘Abschied vom Halbgott in Weiß‘ – Der Mediziner und Gesundheitsforscher Matthias Schrappe über die Gehaltsforderungenb der Krankenhausärzte, den Wandel ihres Berufs und die Krise der Kliniken“ – DER SPIEGEL Nr. 45/2005, S. 54 ff.; „Ärzte-Protest gegen Kürzungen – Mediziner sehen ambulante Versorgung in Gefahr“ – SZ Nr. 259 vom 10.11.2005, S. 7; „‘Revolution in den Kliniken‘ – Gesundheitsökonom Eckhard Nagel über die Streiks an den Unikliniken, die zunehmende Radikalisierung der Mediziner und die dramatischen Folgen des Ärztemangels“– DER SPIEGEL Nr. 12/2006, S. 160 ff.; Christina Berndt: „Vorsicht, Klinik – In deutschen Krankenhäusern regieren die Controller. Opfer sind Patienten und Angehörige. Die Berichte von traumatischen Erfahrungen häufen sich. Zeit zum Umdenken“ – SZ Nr. 187 vom 14./15.08.2013, S. 3 1281 Nina von Hardenberg: „Ohne Wirkung“ – SZ Nr. 90 vom 18.04.2013, S. 4 1282 Heidrun Graupner: „Ausbeutung der Klinikärzte“ – SZ Nr. 42 vom 20.02.2003, S. 4; „Erste Hilfe für Ärzte“ – SZ Nr. 101 vom 03.05.2005, S. 4; Heidrun Graupner u. Andreas Hoffmann: „Deutscher Ärztetag in Berlin – Ulla Schmidt will gegen Medizinermangel vorgehen – Verbände und Politik sollen gemeinsam eine Lösung entwickeln/Kritik an schlechten Arbeitsbedingungen“ – SZ Nr. 102 vom 04./05.05.2005, S. 6; Sibylle Steinkohl: „Zu viel Arbeit, zu wenig Geld – in den Münchner Kliniken wächst der Unmut – Immer mehr Ärzte fühlen sich krankenhausreif – Einer Umfrage zufolge denken besonders viele jüngere Mediziner daran, ihren Beruf aufzugeben“ – SZ Nr. 127 vom 06.06.2005, S. 45; „Mehr als 1400 Ärzte streiken – Mediziner an Unikliniken protestieren gegen längere Arbeitszeit und Gehaltskürzung“ u. Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Ärzteverbandes Marburger Bund: „Die Gehälter für Krankenhausärzte in Deutschland sind erbärmlich“ – SZ Nr. 176 vom 02.08.2005, S. 5 u. 20; Heidrun Graupner: „Akkordarbeit am Krankenbett – Der Streik der Ärzte ist wegen der unzumutbaren Zustände an den Kliniken berechtigt“ u. „Ärzte setzen Streiks fort“ – SZ Nr. 177 vom 03.08.2005, S. 4 u. 6; Sibylle Steinkohl u. Julia Theres Held: „Tausende von Überstunden und keine Zukunftsperspektiven – Demo der Klinikärzte für bessere Bedingungen – Mediziner klagen über Ausbeutung nach Kündigung der Tarifverträge – auch Professoren protestieren“ – SZ Nr. 178 vom 04.08.2005, S. 37; „Modernes Sklaventum“ – DER SPIEGEL Nr. 37/2005, S. 20; „Klinikärzte drohen mit Streik“ – SZ Nr. 213 vom 15.09.2005, S. 9; „Ärzte setzen Protest fort“ – SZ Nr. 242 vom 20.10.2005, S. 5; „Ärzte-Bund droht kommunalen Kliniken“ – SZ Nr. 246 vom 25.10.2005, S. 6; „‘Abschied vom Halbgott in Weiß‘ – Der Mediziner und Gesundheitsforscher Matthias Schrappe über die Gehaltsforderungen der Krankenhausärzte, den Wandel ihres Berufs und die Krise der Kliniken“ – DER SPIEGEL Nr. 45/2005, S. 54 ff.; Andreas Hoffmann: „Klinikärzte

326

der Bayerischen Landesärztekammer Hans Hellmut Koch – muß ein Assistenzarzt in einer durchschnittlichen bayerischen Klinik für Verwaltungsaufgaben aufwenden.1283 In besonderer Weise und unter noch härteren Bedingungen gilt das alles für die Universitätskliniken.1284 Nachdem auch die Bereitschaftsdienste der Ärzte in den Krankenhäusern am 9.

September 2003 erneut durch den Europäischen Gerichtshof nach europäischem Recht (Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG) als Arbeitszeit bewertet worden sind1285 weiter bis zu 24 Stunden täglich im Einsatz – Erst 2007 gilt Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit – Umsetzung des EU-weiten Gesetzes wird laut Beschluss des Bundesrats um ein Jahr verschoben/Heftige Proteste“ – SZ Nr. 273 vom 26./27.11.2005, S. 6; „Charité-Ärzte streiken eine Woche lang“ – SZ Nr. 274 vom 28.11.2005, S. 6; Andreas Hoffmann: „Ein Marathon für die Gesundheit – Klinikärzte fordern ein Drittel mehr Gehalt, weil sie sich ausgebeutet und überlastet fühlen“ u. Nina Bovensiepen: „Im Laufschritt durch die Station – Dienst, Bereitschaft, Bürokratie, Verwaltung, Forschung und Lehre – für die Patienten bleibt nur sehr wenig Zeit“ – SZ Nr. 275 vom 29.11.2005, S. 2; „Ärztestreik weitet sich aus – Weitere Uni-Kliniken schließen sich Protesten an“ – SZ Nr. 276 vom 30.11.2005, S. 5; Veronika Hackenbroch: „Gewagtes Spiel – Der Aufstand der Klinikärzte wird vom Marburger Bund gesteuert – die Medizinergewerkschaft tritt immer selbstbewußter auf“ – DER SPIEGEL Nr. 49/2005, S. 180; Jonas Viering: „Ärzte wollen hart bleiben – Streik in den Kliniken könnte Monate dauern“ – SZ Nr. 285 vom 10./11.12.2005, S. 8; Andreas Hoffmann u. Jonas Viering: „Klinikärzte halten an Streikplänen fest – Marburger Bund kündigt für Januar neue Aktionen an/Kritik an Gerichtsurteil“ – SZ Nr. 288 vom 14.12.2005, S. 6; „Ärzte-Streik gilt als sicher – ausstand an Universitäten soll Donnerstag beginnen“ – SZ Nr. 62 vom 15.03.2006, S. 6; „‘Revolution in den Kliniken‘ – Gesundheitsökonom Eckhard Nagel über die Streiks an den Unikliniken, die zunehmende Radikalisierung der Mediziner und die dramatischen Folgen des Ärztemangels“ – DER SPIEGEL Nr. 12/2006, S. 160 ff., „‘Wir streiken weiter‘ – Ärzte protestieren in Leipzig gegen Haltung der Länder“ – SZ Nr. 91 vom 20.04.2006, S. 5; Michael Bauchmüller: „Ärzte streiken trotz Kompromiss weiter – Marburger Bund lehnt von Verdi erzielte Tarifeinigung für Mediziner ab/Arbeitgeber wollen nicht weiter verhandeln“ – SZ Nr. 117 vom 22.05.2006, S. 6 1283 Dietrich Mittler: „Spar-Operation am Patienten – Bayerns Mediziner kündigen Kürzung ihrer Leistung an“ – SZ Nr. 235 vom 09./10.10.2004, S. 54; Andreas Hoffmann: „Blockierer des Fortschritts – Für den Experten Karl Lauterbach vereiteln Ärzte und Kassen den Erfolg der Gesundheitsreform/Andere Fachleute widersprechen“ – SZ Nr. 101 vom 03.05.2005, S. 22; Heidrun Graupner: „Knochenmühle Klinik – Assistenzärzte haben eine 70-Stundenwoche und verdienen dann oft nur 2000 netto“ u. „Das Röntgenbild verschwimmt – Lange Dienstzeiten sind gefährlich“ , Tanjev Schultz: „Nur weg vom OP-Tisch – Mediziner suchen andere Berufe“ sowie Andreas Hoffmann: „Heilen zum Einheitspreis – Wenn Patienten länger in der Klinik bleiben müssen, rechnet sich das für die Krankenhäuser künftig nicht mehr“ – SZ Nr. 179 vom 05.08.2005, S. 2 1284 Karl M. Einhäupl, Direktor der Neurologischen Klinik der Charité und Vorsitzender des Wissenschaftsrates: „Medizin im Korsett“ – SZ Nr. 214 vom 17.09.2003, S. 2; „Ärzte-Streik gilt als sicher – ausstand an Universitäten soll Donnerstag beginnen“ – SZ Nr. 62 vom 15.03.2006, S. 6 1285 EuGH – NZA 2000, S. 1227 ff. sowie Urteil vom 09.09.2003 – NJW 39/2003, S. VI (Vorbericht) und NJW 41/2003, S. 2971 ff.; „Europarichter verhandeln über Bereitschaftsdienst“ – SZ Nr. 47 vom 26.02.2003, S. 5; Veronika Hackenbroch: „Sieg in Zeitlupe“ – DER SPIEGEL Nr. 09/2003, S. 178; Judith Reichherzer: „‘Bereitschaftsdienste von Ärzten ist Arbeitszeit‘ – Generalanwalt bei Europäischen Gerichtshof gibt die Richtung vor für ein Urteil im Sommer, das deutsches Recht kippen dürfte“ – SZ Nr. 83 v0m 09.04.2003, S. 23; Kristina Läsker u. Judith Reicherzer: „Europäischer Gerichtshof: Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit – Kliniken müssen bis zu 27000 Ärzte einstellen – Auf Krankenhäuser kommen hohe Kosten zu/Bundesregierung will Urteil rasch in nationales Recht umsetzen“ sowie Helmut Kerscher: „Europarecht bricht Landesrecht – Das Urteil des Luxemburger

327 − anders noch das Bundesarbeitsgericht nach bislang deutschem Recht am 18.02.20031286, bedurfte es wegen der nunmehr erforderlichen Einführung von zwei oder drei Schichten wenigstens 15000 zusätzlicher Ärzte. Das entsprach nach ersten Berechnungen des Marburger Bundes einem Kostenmehraufwand von mindestens einer Milliarde Euro.1287 Die deutsche Krankenhausgesellschaft ermittelte sogar einen Ärztefehlbedarf von 27000 Ärzten mit einem Kostenvolumen von 1,75 Milliarden Euro.1288 Nach einer Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Krankenhaus waren beispielsweise im Juli 2002 in Bayern mehr als 600 Arztstellen in Akutkrankenhäusern vakant. Bundesweit waren 2012 mehr als 6000 Arztstellen unbesetzt.1289 Die Zeiten, in denen der Arztberuf noch zu den begehrtesten gehörte, scheint vorbei zu sein. Fast ein Viertel der Jungmediziner verfolgen ihr ursprüngliches Berufsziel nach dem Studium nicht weiter.1290 69 Prozent aller bayerischen Krankenhäuser geben an, Personalprobleme sowohl im ärztlichen als auch im pflegerischen Bereich zu haben.1291 Das gilt trotz eines von der Koalition beschlossenen Sonderprogramms, das die Zahl der Krankenschwestern und Pfleger um 9200

Gerichtshofs zwingt den deutschen Bundestag zu einer Gesetzesänderung“ – SZ Nr. 208 vom 10.09.2003, S. 1 u. 2; siehe dazu auch Marita Körner: „Arbeitszeit und Bereitschaftsdienst“ – NJW 50/2003, S. 3606 ff.; siehe auch Cornelia Bolesch: „EuGH gibt erneut Arbeitnehmern Recht“ – SZ Nr. 278 vom 02.12.2005, S. 7 1286 BAG v. 18.02.2003 – NZA 2003, S. 742 (Vorbericht NJW 29/2003, S. XII); vgl. auch „Bereitschaft gilt nicht als Arbeitszeit“ – HB Nr. 108 vom 06./07.06.2003, S. 7; dagegen Az. 9 AZR 93/03: „Ärztin gewinnt Streit um Bereitschaftsdienst“ – SZ Nr. 64 vom 17.03.2004, S. 5 1287 Vgl. „Krankenhäusern bleibt Kosten-Lawine vorerst erspart – Bundesarbeitsgericht: Deutsches Gesetz muss aber EU-Recht angepasst werden/Neueinstellungen noch unnötig“ – SZ Nr. 41 vom 19.02.2003, S. 1 1288 Andreas Hoffmann: „Mediziner drohen Ulla Schmidt mit Klagewelle – Krankenhausärzte fordern neue Dienstregelung bis 2004/‘Uhr für die Gesundheitsministerin läuft ab‘“ – SZ Nr. 42 vom 20.02.2003, S. 5; Kristina Läsker u. Judith Reicherzer: „Europäischer Gerichtshof: Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit – Kliniken müssen bis zu 27000 Ärzte einstellen – Auf Krankenhäuser kommen hohe Kosten zu/Bundesregierung will Urteil rasch in nationales Recht umsetzen“ – SZ Nr. 208 vom 10.09.2003, S. 1 1289 Guido Bohsem: „Mehr Ärzte sind immer noch zu wenig – Die Zahl der Mediziner erreicht einen Rekordwert. Doch oft sind Stellen schwer mit der Familie zu verenbaren und bleiben unbesetzt“ – SZ Nr. 155 vom 08.07.2013, S. 6 1290 Vgl. zu alledem „Götter in weiß – ein verblasstes Klischee“ – Informationen 4/2002 des Verbandes freier Berufe in Bayern e.V. – Beilage zu RAK München IV/2002; „Jeder Vierte bricht das Studium ohne Abschluss ab“ – HB Nr. 47 vom 07./08.03.2003, S. 5 1291 Vgl. zu alledem „Götter in weiß – ein verblasstes Klischee“ – Informationen 4/2002 des Verbandes freier Berufe in Bayern e.V. – Beilage zu RAK München IV/2002; Heidrun Graupner: „Ausbeutung der Klinikärzte“ – SZ Nr. 42 vom 20.02.2003, S. 4

328

Stellen erhöhte.1292 Die „Nachwuchsprobleme“ in den Krankenhäusern sind „alarmierend“:1293 Wie diese Probleme in kurzer Zeit zu lösen sind, blieb zunächst erst recht offen,1294 nachdem die rot-grüne Koalition schon zwei Tage nach dem Urteil einen freilich auch hinsichtlich der Dringlichkeit umstrittenen Entwurf geänderter Regeln für das Arbeitszeitgesetz vorgelegt, der Bundesrat diesen aber später auf die lange Bank geschoben hatte,1295 es sei denn man orientierte sich an bewährten Vorbildern wie etwa dem LBK Hamburg, die derartige Probleme längst für sich gelöst haben.1296 Tatsächlich waren die Kosten nach einer Studie des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) dann doch weit geringer als ursprünglich befürchtet.1297 Und während alles dieses geklärt wurde, dachte man in Brüssel bereits daran, die geltende Richtlinie wieder zu ändern, so daß das Urteil des Gerichtshofs hinfällig wäre und der Bereitschaftsdienst doch nicht als Arbeitszeit zu gelten

1292

Guido Bohsem: „9200 neue Krankenschwestern und Pfleger – Sonderprogramm schafft Entlastung in den Klniken. Gewerkschaft klagt trotzdem über Personalmangel“ – SZ Nr. 155 vom 08.07.2013, S. 1 1293 Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer – vgl. Markus Balser: „Diagnose Ärztemangel – Krankenhäusern droht Notstand – 3100 Stellen unbesetzt/Hoppe warnt vor Nachwuchsproblemen/Verbände fordern Reformen“ – SZ Nr. 176 vom 02./03.08.2003, S. 17 1294 Bernd Dörries u. Ralf Husemann: „‘Wir können das Urteil nicht umsetzen‘ – Viele Krankenhäuser sehen sich außer Stande, Bereitschaftsdienste auf mehrere Ärzte zu verteilen“ – SZ Nr. 208 vom 10.09.2003, S. 2; Sibylle Steinkohl: „München braucht 700 Ärzte mehr – Medizinermangel und Finanzprobleme befürchtet – Zusammenarbeit der Kliniken soll verbessert werden“ – SZ Nr. 208 vom 10.09.2003, S. 45; Heidrun Graupner: „EuGH-Urteil zum Bereitschaftsdienst: Nun beginnt der Streit um die Umsetzung – Anwerben bis zum Pazifik – Weil in Deutschland Ärztemangel herrscht, sind die Krankenhäuser verstärkt auf ausländische Kräfte angewiesen“ – SZ Nr. 209 vom 11.09.2003, S. 6; Karl M. Einhäupl, Direktor der Neurologischen Klinik der Charité und Vorsitzender des Wissenschaftsrates: „Medizin im Korsett“ – SZ Nr. 214 vom 17.09.2003, S. 2; Veronika Hackenbroch: „Einzug der Stechuhr – Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg gibt es für die Krankenhausärzte endlich Hoffnung auf geregelte Arbeitszeiten. Erste Modelle werden bereits umgesetzt“ – DER SPIEGEL Nr. 38/2003, S. 166 ff.; Rolf Wank: „Bereitschaftsdienst von Ärzten – gesetzgeberischer Handlungsbedarf“ – ZRP 11/2003, S. 414 ff.; vgl. dazu auch Dietmar Boerner: „Anpassung des Arbeitszeitgesetzes an das Gemeinschaftsrecht“ – NJW 22/2004, S. 1559 ff.; Heidrun Graupner: „Patient Krankenhaus“ – SZ Nr. 101 vom 03.05.2005, S. 22 1295 „Schnelle Reaktion auf Urteil des Europäischen Gerichtshofs – Koalition ändert Regeln für Bereitschaftsdienst – Ärzte, Feuerwehr und Wachleute sollen maximal 48 Stunden pro Woche arbeiten/Spielraum für Tarifparteien“ – SZ Nr. 210 vom 12.09.2003, S. 7; „Arbeitszeitgesetz bleibt umstritten – Klinikärzte erwarten schnelle Umsetzung der Vorgaben“ – SZ Nr. 292 vom 19.12.2003, S. 20; Andreas Hoffmann: „Klinikärzte weiter bis zu 24 Stunden täglich im Einsatz – Erst 2007 gilt Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit – Umsetzung des EU-weiten Gesetzes wird laut Beschluss des Bundesrats um ein Jahr verschoben/Heftige Proteste“ – SZ Nr. 273 vom 26./27.11.2005, S. 6 1296 Vgl. Ulf Debacher, Arzt und Projektleiter am LBK Hamburg, in dem Interview: „Wieso hängen Ärzte am Bereitschaftsdienst?“ – SZ Nr. 223 vom 27./28.09.2003, S. V1/15 (Bildung und Beruf) 1297 „Arbeitszeitmodelle doch billiger – Studie: Ausgaben für Krankenhausdienste weit geringer als befürchtet“ – SZ Nr. 51 vom 02.03.2004, S. 21

329 hätte.1298 Die damit verbundene „Ausbeutung“ der Ärzte und die zunehmende Gefährdung der Patienten haben alle Verantwortlichen zusammen, Politiker, Krankenhausträger und Chefärzte seit Jahren („progressiver Realitätsverlust“) längst aus den Augen verloren.1299

Arzneimittel Im deutschen Gesundheitswesen wurden im Jahre 2000 insgesamt 31,5 Mrd. Euro für Arzneimittel ausgegeben. Im Jahre 2010 waren das bereits 46,3 Mrd. Euro. Das bedeutet einen Anstieg um 47 Prozent und des Anteils der Arzneimitel an den Gesamtkosten des Gesundheitswesens von 14,8 auf 16,4 Prozent (Jahrbuch 2012 des Stat. Bundesamtes).

Zwischenzeitlich wurde (unterschiedliche Rechenauswahl oder regionale Teilgebiete?) berichtet: Für Arzneimittel sind die Ausgaben im Jahre 2002 auf ein Rekordhoch von 22,7 Milliarden Euro gestiegen, wobei allein in Deutschland 4000 Tonnen der verschriebenen Arzneimittel auf dem Müll landen.1300 – Nach dem aktuellen Arzneimittelreport des Gesundheitsministeriums weist das Ausga-

1298

„Bereitschaftsdienst soll neu geregelt werden“ – SZ Nr. 261 vom 13.11.2003, S. 6; „Ärzte-Urteil wird überprüft – Brüssel denkt über Reform der Arbeitszeit-Richtlinie nach“ – SZ Nr. 262 vom 14.11.2003, S. 22; „Konsultation zur Arbeitszeit“ – NJW 05/2004, S. XII; „Kommission schlägt Neufassung der Arbeitszeitrichtlinie vor“ – NJW 41/2004, S. XVI (u.a. inaktiver Bereitschaftsdienst, der nicht als Arbeitszeit gilt) 1299 Heidrun Graupner: „Ende einer Dienstzeit“ – SZ Nr. 208 vom 10.09.2003, S. 4; Andreas Hoffmann: „Ein Marathon für die Gesundheit – Klinikärzte fordern ein Drittel mehr Gehalt, weil sie sich ausgebeutet und überlastet fühlen“ u. Ausgebeutete Ärzte“ – SZ Nr. 275 vom 29.11.2005, S. 2 u. 4; Heidrun Graupner u. Andreas Hoffmann: „2,55 Euro für eine Untersuchung – Viele Mediziner fühlen sich ausgebeutet – die Gesundheitsministerin spricht von Übertreibung“ – SZ Nr. 15 vom 19.01.2006, S. 2 1300 Gerald Traufetter: „Friss oder stirb – 4000 Tonnen verschriebene Arzneimittel landen auf dem Müll. Jetzt sollen Ärzte lernen, Patienten im richtigen Gebrauch zu unterrichten“ – DER SPIEGEL Nr. 03/2004, S. 118 ff.; Heiko Martens: „Lücken im Geflecht – Trotz Zuzahlung der Patienten und Zwangsrabatten müssen die Krankenkassen wieder mehr für Medikamente ausgeben“ – DER SPIEGEL Nr. 47/2004, S. 112 ff.; Heiko Martens: „Immer tiefer in den Sumpf – Trotz aller Reformversuche der Gesundheitsministerin steigen die Ausgaben für Arzneimittel wieder. Daran wird auch ihr jüngstes Gesetz nichts ändern“ – DER SPIEGEL Nr. 20/2006, S. 163; zum Arzneiverordnungsreport von Ulrich Schwabe und Dieter Pfaffrath vgl. Andreas Hoffmann: „Bürger zahlen zu viel für Pillen – Experten: 3,5 Milliarden Euro könnten gespart werden“ – SZ Nr. 242 vom 20.10.2006, S. 7; „Die Mondpreise der Pharmabranche“ und Guido Bohsem: „‘Verantwortungslose Preispolitik‘ – Der neue Arzneimittel-Report geißelt die überteuerten Medikamente in Deutschland – jährlich könnten Milliarden Euro eingespart werden“ – SZ Nr. 215 vom 18.09.2009, S. 1, 4 und 5; Guido Bohsem: „Pillen für 32 Milliarden Euro – Die Arzneimittel-Ausgaben wachsen Jahr um Jahr – nun will der Gesundheitsminister gegen das Preisdiktat der Industrie angehen“ – SZ Nr. 59 vom 12.03.2010, S. 5

330 benvolumen der Krankenkassen für Arzneimittel 30,9 Milliarden Euro aus.1301 Zuzahlungen durch die Patienten kommen noch hinzu.

Die Pharmaindustrie gab ihre Umsatzrendite 2003 weiterhin mit 20 Prozent an, in Einzelfällen (Boehringer) aber auch nur 14,3 Prozent. Dennoch wurde beklagt, daß Deutschland unrentabel sei. Wie der Wissenschaftsrat festgestellt hat, dauert die Zulassung von Arzneimitteln zu lange.1302 Es wird auch immer schwieriger, Forscher und Wissenschaftler in Deutschland zu halten, geschweige denn aus dem Ausland wieder nach Deutschland zurückzuholen.1303 Andererseits wurde kritisiert, daß die Pharmaindustrie zu wenig innovativ sei. Denn die Forschung ist teuer.1304 Die Kosten für ihre (auch Alt-) Produkte („Freiraum bei der Preisgestaltung“) sind nicht zuletzt als Folge des hier vorherrschenden Patentmonopols bislang anstandslos von den Krankenkassen bezahlt, weil es an einer funktionierenden und preisordnenden Marktwirtschaft1305 und einer neutralen und unabhängigen Wirksamkeitskontrolle über den jeweiligen Nutzen neuer Produktefehlte. Billigerer Präparate sind vorhanden, wie auch das Expertenteam des Arzneiverordnungsreports der Krankenkassen ermittelte. Dennoch sei der wirkliche „pharmazeutische Fortschritt“ seit 1990 nur um ca. 15 Prozent gestiegen.1306 1301 Nina von Hardenberg: „Pillenknick – Der Preisstop wirkt: Kosten für Medikamente sinken, obwohl mehr verschrieben werden“ – SZ Nr. 225 vom 28.09.2012, S. 5 1302 Jeanne Rubner: „Wissenschaftsrat untersucht Institute – Mehr Effektivität gefordert – ‚Zulassung von Arzneimitteln dauert zu lange‘“ – SZ Nr. 123 vom 29./30./31.05.2004, S. 6; zu einer schnelleren Freigabe hat Bundeskanzler Schröder der Pharmabranche seine Unterstützung zugesagt – vgl. „Mehr Tempo bei Prüfung neuer Arzneien“ – SZ Nr. 130 vom 08.06.2004, S. 24 1303 So auch Nikolaus Schweickart, Vorstandsvorsitzender des Pharmakonzerns Altana in dem Gespräch: „Wo ist die Ratio dieser Politik?“ – SZ Nr. 27 vom 03.02.2003, S. 21; Rolf Krebs, Chef von Boehringer, in dem Interview: „‘Viele Pillen, wenige Innovationen‘ – Der Chef von Boehringer Ingelheim über ehrgeizige Expansionspläne und mangelnden Erfindergeist“ – SZ Nr. 214 vom 17.09.2003, S. 28; Kay Brune, Universität Erlangen: „Die Pharmaindustrie verlässt das Land – Arzneimittel werden im Ausland patentiert und hergestellt – aber in Deutschland teuer verkauft“ – SZ Nr. 301 vom 28.12.2004, S. 20 1304 Peter Meier-Abt, Pharmakologe und Toxikologe am Universitätsspital Zürich, in dem Interview: „‘Forschung ist teuer‘ – Innovative Medikamente dürfen etwas kosten, sagt der Pharmakologe Peter Meier-Abt“ – SZ Nr. 19 vom 25.01.2005, S. 10; „Pharma-Mittelstand investiert weniger – Verbandsstudie: 2004 hat jde dritte Firma ihre Ausgaben für die Arzneimittelforschung gesenkt“ – SZ Nr. 141 vom 22.06.2005, S. 22; „Pharmaforschung hinkt hinterher“ – SZ Nr. 193 vom 23.08.2005, S. 20 1305 Oswald Metzger: „Einspruch! ..“, S. 90 ff. (Kapitel: „Gesundheit“ – ohne Markt und Marktwirtschaft); siehe dazu auch das Streitgespräch zwischen dem Chef des Pharmaverbandes BPI Bernd Wegener und dem Arzneimittelforscher Gerd Glaeske: „Absturz auf Rezept“ – SZ Nr. 23 vom 29.01.2004, S. 20; Andreas Hoffmann: „Festbeträge für patentgeschützte Arzneien – Ulla Schmidt stellt sich gegen Pharmaindustrie – Sozialministerin segnet umstrittene Preisregeln für Medikamente ab/Experten sehen aber Probleme für die Zukunft“ – SZ Nr. 187 vom 14./15.08.2004, S. 18; Gerhard Bläske u. Lothar Gries: „Sanofi kritisiert deutsche Gesundheitspolitik – ‚Gesetzesvorlage gefährdet Patentrechte‘/Bekenntnis zum Standort Höchst/Berlin als Verwaltungssitz im Gespräch“ – SZ Nr. 216 vom 17.09.2004, S. 27 1306 Vgl. dazu Harald Schumann: „Jäger der Patentmilliarden – Machtkampf im Gesundheitswesen: Um ihre Reformen zum Erfolg zu führen, muss sich die Ministerin Ulla Schmidt mit einer der mäch-

331

In der Pharmaindustrie laufen im Jahr 2011 weltweit 40 Prozent der Patente ab, so daß diese Pharmaprodukte „reife“ Medikamente sein werden. „Das ruft Nachahmer auf den Plan und setzt die Konzerne unter Druck“.1307 Inzwischen beklagte die Branche eine Stagnation des Umsatzes bei 23,2 Milliarden Euro, nicht zuletzt belastet durch Arzneimittelbudgets, Preisregulierung und Festbeträge, so daß lediglich auf den Auslandsmärkten noch Wachstumsmöglichkeiten gesehen werden.1308 Die Apotheker-Umsätze wuchsen lt. Statistischem Bundesamt seit 1996 inflationsbereinigt um 22,2 Prozent – deutlich stärker als die Erlöse des klassischen Einzelhandels mit einem Zuwachs von 1,5 Prozent. Im Jahr 2001 stieg lt. Bundesvereinigung Deutscher Apothekenverbände (ABDA) das Einkommen eines Durchschnitts-Apothekers mit einem Jahresumsatz von einer Million Euro um mehr als 11 Prozent auf 79000 Euro und führte damit zum höchsten Einkommen seit zehn Jahren.1309 Nach der Gesundheitsreform galten zwar die Apotheken neben den Ärzten1310 noch immer als die Profiteure. Der Bundeskanzler suchte nach einem „Patentrezept“ im Streit um die im ersten Halbjahr 2005 um 20,1 Prozent gestiegenen Medikamenten-Festpreise.1311 Erst nach und nach zeigte die Gesundheitsreform

tigsten Industrien der Welt anlegen – den Pharmakonzernen. Deren Lobby ist perfekt organisiert, selbst die US-Regierung steht auf ihrer Seite“ – DER SPIEGEL Nr. 14/2003, S. 84 ff. (85 und 92, 94); zum neuesten Arzneiverordnungsreport von Ulrich Schwabe und Dieter Pfaffrath vgl. Andreas Hoffmann: „Bürger zahlen zu viel für Pillen – Experten: 3,5 Milliarden Euro könnten gespart werden“ – SZ Nr. 242 vom 20.10.2006, S. 7 1307 Zu einer Untersuchung der Beratungsgesellschaft Accenture vgl. Sibylle Haas: „Reifezeit in der Pharmaindustrie – Noch nie haben so viele Medikamente ihren Patenschutz verloren wie derzeit. Das ruft Nachahmer auf den Plan und setzt die Konzerne unter Druck“ – SZ Nr. 183 vom 11.08.2010, S. 18 1308 Markus Balser: „Pharmabranche lehnt Zentralinstitut ab – Herstellerverband warnt vor Folgen der Gesundheitsreform für Patienten/Umsätze stagnieren“ – SZ Nr. 129 vom 06.06.2003, S. 26; ähnlich auch Rolf Krebs, Chef von Boehringer, in dem Interview: „‘Viele Pillen, wenige Innovationen‘ – Der Chef von Boehringer Ingelheim über ehrgeizige Expansionspläne und mangelnden Erfindergeist“ – SZ Nr. 214 vom 17.09.2003, S. 28; „Pharmagipfel ohne Ergebnis – Industrievertreter enttäuscht/Kanzler plant neues Treffen“ – SZ Nr. 19 vom 25.01.2005, S. 21; dagegen: „Obergrenze für Arzneien fördert Innovationen“ u. Karl Lauterbach: „Festbeträge fördern Innovationen – Preisgrenzen für Arzneien schaden nicht, sondern nutzen Firmen und Patienten“ – SZ Nr. 18 vom 24.01.2005, S. 21 u. 22 1309 „Apotheken erwarten Kündigungswelle“ – SZ Nr. 48 vom 27.02.2003, S. 5 1310 Das sehen die Ärzte selbst jedoch anders – vgl. Werner Bartens: „Die Leiden der Medizin“ – SZ Nr. 102 vom 04./05.05.2005, S. 4 1311 Andreas Hoffmann: „Patentrezept für Pharmaka – Kanzler sucht Lösung im Streit um Medikamenten-Festpreise“ – SZ Nr. 12 vom 17.01.2005, S. 1; „Streit über hohe Kosten der Arzneimittel“ – SZ Nr. 172 vom 28.07.2005, S. 6; zu dem wirkungslosen Sparplan für die Arzuneimittelausgaben vgl. auch „Krankenkassenbeiträge – Drastische Erhöhung“ – DER SPIEGEL Nr. 51/2005, S. 75

332 Wirkungen.1312 Die Umsätze sanken deutlich.1313 Nunmehr wichen die Apotheken immer mehr auf den Verkauf von Produkten aus, die nicht Arzneimittel im klassischen Sinne sind, sondern angeb lich wie Kosmetik- und WellnessProdukte allenfalls im weitesten Sinne der Gesundheit dienen.

Aber nicht primär die Gesundheitsreform, sondern das Aushandeln von PreisRabatten von 35 Prozent würde den Beitragssatz zu den gesetzlichen Kassen – so errechnete es der Kölner Regierungsberater Karl Lauterbach – um 0,3 Prozent sinken lassen.1314 Nun überboten sich die Hersteller mit Rabatten, aber die Kassen und Kunden hatten zunächst nichts davon.1315 Neuerdings sind vor allem in Norddeutschland sogar illegale und gefälschte Medikamente verkauft und abgerechnet worden.1316 Daher gilt eine Anpassung der Apothekenbetriebsordnung als dringend, welche die Kundenberatung deutlich verbessert und überhaupt das Sortiment sowie vor allem die Verkaufsfläche von Zusatzprodukten auf beispielsweise 30 Prozent begrenzt.1317 Inzwischen haben sich die Verhältnisse nicht grundsätzlich verändert. Die Pharmaindustrie sucht weiterhin mit allen Mitteln, einer nicht über alle Zweifel erhabenen, agressiven Pharmalobby1318 und einer teuren Werbung alle möglichen Arzneimittel auf den Markt zu bringen und auch die Ärzte zum Verschreiben ihrer eigenen Angebote zu veranlassen, deren Preisniveau oft weit über dem im Ausland liegt. Es ist verständlich, daß sich die Hausärzte strikt dagegen einstellten, weil dieses nur den Apotheken Vorteile bringen würde.1319 Immerhin konnten die gesetzlichen Krankenkassen nach ihrem Arzneiverordnungsreport 2011 bei den Arzneimitteln ohne Nachteile für die Patienten 8,1 Milliarden Euro ein-

1312

„Folge der Gesundheitsreform – Kassen sparen bei Arzneien 2,4 Milliarden Euro – Höhere Zuzahlungen der Patienten und Ausgliederung nicht verschreibungspflichtiger Medikamente senken Kosten“ – SZ Nr. 301 vom 28.12.2004, S. 6 1313 Kristina Läsker: „Wo der Patient zum Kunden wird – In den Apotheken sinken die Umsätze – das befördert offenbar den Service-Gedanken“ – SZ Nr. 227 vom 30.09.2004, S. 2 1314 „Sinkende Beiträge möglich“ – SZ Nr. 170 vom 26.07.2005, S. 20 1315 Heiko Martens: „Medikamente – Verlagerung des Kampfgebietes – Apotheken gelten als die Profiteure der Gesundheitsreform. Jüngste Zahlen zeigen: Die Hersteller überbieten sich mit Rabatten. Der Kunde hat davon gar nichts“ – DER SPIEGEL Nr. 22/2004, S. 86; Heidrun Graupner: „Schlacht um Rabatte – Der Verteilungskampf wird härter“ – SZ Nr. 227 vom 30.09.2004, S. 2; Heiko Martens: „Lücken im Geflecht – Trotz Zuzahlung der Patienten und Zwangsrabatten müssen die Krankenkassen wieder mehr für Medikamente ausgeben“ – DER SPIEGEL Nr. 47/2004, S. 112 ff.

1316 „Apotheken verkaufen gefälschte Medikamente“ – SZ Nr. 181 vom 09.08.2010, S. 8 1317 Guido Bohsem: „Rösler schreibt neues Rezept – Ministerium will geplante Regeln für Apotheken überarbeiten“ – SZ Nr. 166 vom 22.07.2010, S. 17 1318 Guido Bohsem: „Unheilkunde – Lobbyist der Apotheker soll Ministerium ausspioniert haben“ – SZ Nr. 287 vom 12.12.2012, S. 1 1319 „Arzt-Kritik an Positivliste“ – SZ Nr. 213 vom 15.09.2011, S. 6

333

sparen, fast ein Drittel der Gesamtumsätze für Arzneimittel, wenn und weil die Ärzte verstärkt auf preiswertere Medikamente umstiegen.1320 Natürlich können die Kassen mit den Herstellern Vereinbarungen treffen über die Höhe des Preises, den sie im Rahmen ihrer Versicherungsleistung zu erstatten bereit sind. Besser wäre jedoch, wenn eine verbindliche Übersicht durch eine „Positivliste“ der als wirksam anerkannten, verschreibungsfähigen und bezahlten Arzneien aufgestellt würde, wie es die schwarz-gelbe Koalition plante und erproben wollte, so daß damit für alle Beteiligten eine wesentliche Begrenzung und damit zugleich Transparenz1321 über das Verhältnis von Wirksamkeit und Kostenaufwand hergestellt werden würde.

Pflegeversicherung Die Kosten-Situation im Pflegebereich weist für pflegerische Leistungen im Jahre 2011 einen Anteil von 9,3 Prozent an den gesamten Gesundheitskosten aus. Das entspricht einem Aufwand für pflegerische Leistungen von 52403 Mio. Euro, für stationäre und teilstationäre Pflegeeinrichtungen 21733 Mio Euro (Jahresbericht 2012 des Stat. Bundesamtes).

Die dafür heute erbrachten Leistungen stehen in hohem Maße in der Kritik. Ob alte Menschen in einem Heim gut gepflegt werden, bleibt zwar schwer festzustellen und zu vergleichen.1322 Das beginnt bereits mit den zu verfolgenden Zielen, über die nach wie vor keine hinreichende Klarheit in der erforderlichen Konkretisierung besteht. Indiz dafür ist die Arbeitsweise der Heimaufsicht, insbesondere durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und die damit verbundenen Frage, worin denn die entscheidenden Prüfkriterien zu finden sind.1323

1320

„Zu viele teure Medikamente – Krankenkassen könnten acht Milliarden Euro sparen“ – SZ Nr. 213 vom 15.09.2011, S. 28 1321 „Transparenz beim Arztbesuch“ iund „Quittung nach Arztbesuch“ – SZ Nr. 175 vom 02.08.2010, S. 4 und 6; Werner Bartens: „Eine ungesunde Reform“ – SZ Nr. 222 vom 25./26.09.2010, S. 4 1322 Charlotte Frank: „Pflege-TÜV bleibt zahm – Verbesserung nach Ausstieg zweier Verbände unmöglich“ – SZ Nr. 273 vom 25.11.2010, S. 6; dies.: „Gute Deko ersetzt gutes Essen – Woran der Pflege-TÜV krankt: Es darf nicht sein, dass die Heime bei ihrer Benotung mitreden dürfen“ – SZ Nr. 274 vom 26.11.2010, S. 4; Nina von Hardenberg: „Pflegeheime werden strenger bewertet – Seit 2009 gibt es den Pflege-Tüv. Doch weil fast alle Senioren-Einrichtungen mit ‚sehr gut‘ abschneiden, wird die umstrittene Benotungspraxis reformiert. Kritikern geht das nicht weit genug“ – SZ Nr. 187 vom 14./15.08.2013, S. 1; vgl. dazu auch www.pflegenoten.de.

1323 Dietrich Mittler: „‘Pflegemängel sind K.-o.-Kriterien‘ – Problem Heimaufsicht: Haderthauer kritisiert Ulla Schmidts Pflege-TÜV“ – SZ Nr. 119 vom 26.05.2009, S. 34; vgl. dazu auch Charlotte Frank: „Diem betreute Gesellschaft – Mehr als zwei Millionen Deutsche sind schon auf Pflege angewiesen – ihre Familien allein können ihnen nicht mehr helfen“ und dies.: „Alles auf einen Klick

334

Die teils wirklich menschenunwürdigen Verhältnisse in den Pflegeeinrichtungen werden ebenso kritisiert wie die steigenden Kosten, die jetzt schon dafür aufgebracht werden müssen, jedoch nach Ansicht der meisten Experten weiter deutlich steigen.1324 Nach Ansicht vieler Fachleute und Betroffener entsprechen jedoch seit Jahrzehnten zu viele Pflegeeinrichtungen trotz feierlicher Beschwörung unseres Grundgesetzes, insbesondere seiner Art. 1 und 20 zur Menschenwürde und dem Sozialstaat nicht diesen Mindestvoraussetzungen, ja gehen teilweise bis an den Rand der Mißhandlungen und strafbaren Körperverletzung.1325 Letzteres hat jedenfalls der in Genf tagende UN-Ausschuß für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nach 2001 im Jahre 2011 auf Grund neuen Vorbringens durch die Münchner Menschenrechts-aktivisten Christiane Lüst und Rechtsanwalt Alexander Frey zum zweiten Male angeprangert und darauf gedrängt, „sofortige Schritte zu unternehmen, um die Situation älterer Menschen in Pflegeheimen zu verbessern.“ Abschließend hat er seine tiefe Besorgnis darüber geäußert, daß die Bundesrepublik“ keine ausreichenden Maßnahmen unternommen hat, um die Situation älterer Menschen in Pflegeheimen zu verbessern.1326 Die Deutsche Hospiz-Stiftung und die Senioren-Union fordern bessere gesetzliche Regelungen bei Mißhandlungen bzw. sogar die Einrichtung von Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften sowie eine bundesweite Notruf-Nummer für Pflegebedürftige.1327 Nach einer Studie der Barmer Ersatzkasse GEK müssen die Menschen jetzt schon im Schnitt 37 000 Euro (Frauen 45 000, Männer 21 ooo) aus eigener Tasche für die Pflege im Alter – vor allem für die Heimpflege – aufbringen. Das bedeutet, daß es sich bei der derzeitigen Pflegeversicherung allenfalls um eine Teilkaskoversicherung handelt.1328 Einer wirksamen Pflegereform bedarf es um so mehr angesichts einer Entwicklung, die nach Hochrechnungen des Statistischen Bundesamtes und einer Studie der Barmer Ersatzkassen („Pflegereport 2010“) in den nächsten Jahrzehnten mit einem dramatischen Anstieg der pflegebedürftigen Menschen zu rechnen hat. Jede zweite Frau und jeder dritte Mann wird danach vor seinem Tode ein Pflegefall sein. Regional besonders davon

– Die Ergebnisse der Tests werden im Internet veröffentlicht, so sollen Verbraucher die Einrichtungen besser vergleichen können“ – SZ Nr. 149 vom 02.07.2009, S. 2 1324 Guido Bohsem: „Kritik an Röslers Pflege-Reform – Kassen: Pläne für Zusatzversicherung sind untauglich und verantwortungslos“ – SZ Nr. 16 vom 21.01.2011, S. 6 1325 Heidrun Graupner: „Die Pflege der Alten“ – SZ Nr. 119 vom 26.05.2009, S. 4 1326 Sven Loerzer: „‘Es gibt schwere Misshandlungen´ - Münchner Menschenrechtrs-aktivisten kritisieren vor UN-Ausschuss in Genf die Zustände in deutschen Pflegeheimen“ – SZ Nr. 121 vom 26.05.2011, S. R 11 1327 „Experten fordern Schutz für Pflegebedürftige“ – SZ Nr. 136 vom 15.06.2011, S. 6 1328 Nina von Hardenberg: „Pflege frisst Ersparnisse auf – Eine Studie zeigt, dass jeder Betroffene im Schnitt 37 000 Euro aus eigener Tasche zahlen muss. Die neue Zusatzversicherung mit staatlicher Förderung bringt nach ansicht der Autoren nur wenig Entlastung“ – SZ Nr. 275 vom 28.11.2012, S. 5

335 betroffen sind bereits heute die neuen Bundesländer.1329 Nach Berechnungen des Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen wird die Zahl der Pflegefälle von heute 2,3 Millionen auf 4,4 Millionen im Jahre 2050 ansteigen. Neuere Zahlen des Statistischen Bundesamtes sprechen in ähnlicher Größenordnung von einem Ansteigen von derzeit 2,4 Millionen Pflegebedürftuigen bis zum Jahre 2040 auf 3,4 Millionen, bis zum Jahre 2050 auf eine Verdoppelung.1330 Demgegenüber ist die Zahl der fehlenden Altenpfleger nach Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit seit dem Jahre 2008 von 4500 auf derzeit (2013) 14000 gestiegen.1331 Das hat Folgen: Würde die Pflegeversicherung nicht reformiert, müßte bei gleichbleibenden Leistungen bereits heute der Beitragssatz von 1,95 Prozent bis 2060 auf fünf Prozent steigen.1332 Schon im Jahr 2025 werden dafür mindestens 152000 qualifizierte Beschäftigte fehlen.1333 Um das System insgesamt zukunftsfähig halten, bedarf es aber weiterer Veränderungen gegenüber dem heutigen Zustand, der längst als „Pflegenotstand“ bezeichnet wird und angesichts des Stillstands in der Politik zu Verfassungsklagen führt. 1334 •

1329

Ziel muß es sein, möglichst viele Menschen so lange wie möglich in der eigenen Wohnung zu betreuen, insbesondere wenn die Pflegebedürftigkeit sich nur auf einzelne Lebensbereiche konzentriert. Dazu würde es beispielsweise auch gehören, den Begriff der „Pflegebedürftigkeit“ nicht an einzelnen Krankheiten differenziert festzumachen, sondern ihn vom Ergebnis her zu definieren.1335

Charlotte Frank: „Jede zweite Frau wird im Alter dement – Nach einer Studie der Barmer Ersatzkasse wird es in den kommenden Jahrzehnten deutlich mehr schwere Pflegefälle geben/Ansturm auf Heime absehbar“ – SZ Nr. 278 vom 01.12.2010, S. 5; Claus Hulverscheidt: „Junge Parlamentarier pochen auf Pflegereform – Unionsabgeordnete werden der Koasöitionsspitze vor, Neugestaltung aus Angst vor den Wählern zu verschleppen“ – SZ Nr. 176 vom 02.08. 2011, S. 5 1330 Guido Bohsem: „Neue Regeln für die Pflege – Wer sich um Angehörige kümmert, erhält künftig mehr Geld und Unterstützung“ – SZ Nr. 149 vom 30.06./01.07.2012, S. 8 1331 „14 000 Altenpfleger fehlen“ – SZ Nr. 40 vom 16./17.02.2013, S. 6 1332 „Pflegereform angemahnt“ – SZ Nr. 101 vom 03.05.2011, S. 5 1333 Nina von Hardenberg: „Zahl der Pflegebedürftigen steigt drastisch – Statistisches Bundesamt: Bis 2030 werden 50 Prozent mehr Menschen auf Hilfe angwiesen sein“ – SZ Nr. 271 vom 23.11.2010, S. 4 und 6; Charlotte Frank: „Die Pflege-Lücke – Statistiker erwarten einen massiven Personalmangel bei der Betreuung alter und kranker Menschen“ – SZ Nr. 283 vom 07.12.2010, S. 5 1334 Heribert Prantl: „Aufschrei gegen den Pflegenotstand – Eingesperrt, ruhig gestellt, verwahrlost: Die Situation vieler Menschen in Altersheimen ist alarmierdne. Sieben Beschwerdeführer haben jetzt genug, sie reichen in Karlsruhe Verfassungsklage ein“ und Nina von Hardenberg: „Kekse sind schnell hingestellt – Wenn Prüfer kommen, schneiden fast alle Pflegeheime gut ab. Dabei fehlen ausgebildetes Personal und wirksame Kontrollen. Gesundheitsminister Gröhe hat eine Reform angekündigt – doch das reicht nicht“ – SZ Nr. 257 vom 08./09.11.2014, S. 1 und 7 1335 Guido Bohsem: „Empörung über Bahrs Pflegereform – Sozialverbände, Wirtschaft und Opposition kritisieren die Benachteiligung Demenzkranker“ und ders.: „Pflege bleibt pflegebedürftig – Demenzkranke sollen mehr Unterstützung erhalten – die Kassenbeiträge steigen leicht“ – SZ Nr. 75 S. 1 und 6; ders.: „Geld für nur 1,6 Millionen Verträge – Private Vorsorge: Wer den neuen Pflege-Riester

336

•

Reformbedarf besteht bei den zu erbringenden Leistungen. Sie sollten bereits jetzt verbessert werden (Demenzkranke, Abstellen auf den Grad der Selbständigkeit, Erweiterung auf fünf Pflegestufen).

•

Auch sollten die Pflegekräfte zugunsten eines menschenwürdigen sozialen Miteinanders zu den Pflegebedürftigen von bürokratischer Arbeit entlastet1336 und die zeitlichen Arbeitsbedingungen und die Verdienstmöglichkeiten insgesamt verbessert werden.

•

Problematisch bleibt nicht zuletzt die Trennung von Kranken- und Pflegekassen und die vergleichsweise zu geringe Bezuschussung der Pflege und Betreuung zu Hause.1337

•

Daß dieses zwangsläufig zu höheren, über die 2007 aufgewendeten 17,5 Milliarden Euro nochmals um ein bis vier Milliarden hinausgehenden Kosten führt, blieb – zumal in Zeiten einer großen Wirtschaftskrise und bevorstehender Bundestagswahlen – bis zuletzt einfach ausgeklammert.

•

Die Selbstverwaltungsorgane bedürfen angesichts der übergroßen Implementierung eigener, aber sachfremder Interessen insoweit offenbar des regulierenden Eingriffs durch den Staat.1338

Alles dieses kommt über das Stadium ewig dauernder Diskussionen über die Frage, worin denn wirkliche Verbesserungen bestehen müssen, und immer wieder nur vager politischer Ankündigungen nicht hinaus.1339 Die aktiven Jüngeren der Gesellschaft melden sich bereits vehement zu Wort, da weiteres Nichtstun – abschließen kann, was er bringt und wie viel er kosten“ sowie „Mit fünf Euro dabei – Die Koalition will die private Pflegeversicherung fördern, hilft hiermit aber den Falschen“ – SZ Nr. 129 vom 06./07.06.2012, S. 5 und 4 1336 Guido Bohsem: „Mehr Zeit für die Pflege – Rösler will qualifiziertes Personal in Heimen entlasten“ – SZ Nr. 284 vom 08.12.2010, S. 5 1337 „Das Pflegesystem braucht neue Pflege“ und Nina von Hardenberg: „Zahl der Pflegebedürftigen steigt drastisch – Statistisches Bundesamt: Bis 2030 werden 50 Prozent mehr Menschen auf Hilfe angwiesen sein“ – SZ Nr. 271 vom 23.11.2010, S. 4 und 6 1338 Guido Bohsem: „Koalition verschärft Pflege-TÜV – Heime sollen nur noch dann eine gute Gesamtnote erhalten, wenn sie alle wichtigen Kriterien erfüllen“ und „Lanfer Weg zum Pflege-TÜV“ – SZ Nr. 20 vom 26.01.2011, S. 1 und 4 1339 Guido Bohsem: „‘Satt und sauber‘ reicht nicht mehr – Ulla Schmidt will die Leistungen der Pflegeversicherung verbessern – allerdings erst nach der Bundestagswahl“ und Heidrun Graupner: „Die Pflege der Alten“ – SZ Nr. 119 vom 26.05.2009, S. 6 und 4; Guido Bohsem: „Pflege wird teurer – Gesundheitsminister Rösler plant die nächste Reform – die Beiträge werden wohl kräftig steigen“ – SZ Nr. 231 vom 06.10.2010, S. 6

337

wie es sich die schwarz-gelbe Regierung auf die Fahnen geschrieben zu haben scheint – nicht generationengerecht ist.1340 Dazu kommen die Unsicherheiten in der Renditeentwicklung auf den Finanzmärkten. Die aktuelle Politik scheint hierzu das letzte Wort noch nicht gesprochen zu haben.1341 Der CDU-Parteitag im November 2011 in Leipzig fand jedenfalls auch noch keine hinreichend konkreten Lösungen.1342 Die Verbände mahnen, endlich ein Konzept für eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung an, das zu entwickeln und vorzulegen bislang von der Politik nicht geleistet worden ist.1343 Und auch das von der schwarz-gelben Koalition ausgerufene „Jahr der Pflege“ 2011 fiel verheerend aus, denn es hat sich fast nichts bewegt.1344 Zum Thema Pflegeversicherung gab es politisch praktisch mindestens zehn verlorene Jahre.1345 Nur die SPD mit ihrem Wahl-Kandidaten Karl Lauterbach für das Gesundheitwesen hat jetzt hierzu ziemlich konkrete Vorschläge (neue Begutachtungskriterien, kassenunabhängiger Prüfdienst, höhere Löhne und bessere Aufstiegschancen für Pflegekräfte, Verschmelzung der gesetzlichen und privaten Pflegekassen) vorgelegt, die mit Sicherheit den finanziellen Aufwand nicht unwesentlich erhöhen.1346 Die zuletzt von den Parteien propagierte politische Lösung („Pflege-Reform 2012“) soll darin bestehen, daß die Menschen frühzeitig durch privates Ansparen eigener Mittel („Pflege-Riester“ bzw. Pflege-Bahr) mit einer monatlichen Förderung dieser Privatvorsorge durch den Staat in Höhe von 5 Euro selbst vorsorgen.1347 Nur wie soll diese Idee praktisch verwirklicht werden, wenn gerade den Bedürftigsten wegen eigener Arbeitslosigkeit, aktiver Geringbeschäftigung oder Niedrigeinkommen hierfür schlicht die Mittel fehlen? Diese sogen. „Pflegere1340

„Die Pflegekasse und ihre Schuldner“ und Claus Hulverscheidt: „Junge Parlamentarier pochen auf Pflegereform – Unionsabgeordnete werden der Koasöitionsspitze vor, Neugestaltung aus Angst vor den Wählern zu verschleppen“ – SZ Nr. 176 vom 02.08. 2011, S. 4 und 5 1341 Guido Bohsem: „Richtungswechsel in der Pflege – Die Koalition wirft ideologischen Ballast ab.

Gut so!“ und ders.: „Schwarz-gelbe Kehrtwende – die Koalition will bei der Pflege nun doch keine verpflichtende Zusatzversicherung einführen. Offiziell will sie dies aber noch nicht einräumen"“- SZ Nr. 23 vom 29./30.01.2011, S. 25 und 27 1342 Guido Bohsem u. Charlotte Frank: „Pflegereform im Kabinett – Regierung stimmt über bessere Versorgung Dementer ab‘– SZ Nr. 264 vom 16.11.2011, S. 5 1343 Guido Bohsem: „Die Wut der Pflegenden – Verbände werden der Koalition vor, Reform zu verzögern“ – SZ Nr. 254 vom 04.11.2011, S. 6; sers.: „Pflegereform in Gefahr – Berater verweigert Mitarbeit wegen offener Fragen“ – SZ Nr. 265 vom 17.11.2011, S. 7 1344 Charlotte Frank: „Verschärfter Notstand – Verheerende Bilanz: Ausgerechnet im ‚Jahr der Pflege‘ hat sich in der Pflege fast nichts bewegt“ – SZ Nr. 2 vom 03.01.2012, S. 4 1345 Nina von Hardenberg: „Vier, nein, zehn verlorene Jahre“ – SZ Nr. 182 vom 08.08.2013, S. 4 1346 Guido Bohsem: „Totalumbau – Die Spd will die Pflegeversicherung weitgehend refornieren“ – SZ Nr. 144 vom 25.06.2013, S. 19 1347 Guido Bohsem: „Kritik an Röslers Pflege-Reform – Kassen: Pläne für Zusatzversicherung sind untauglich und verantwortungslos“ – SZ Nr. 16 vom 21.01.2011, S. 6; Christine Arentz u. Ines Läufer: „Mehr Gerechtigkeit unter den Generationen – Die Ergänzung der gesetzlichen Pflegeversicherung durch eine Kapitaldeckung weist in die richtige Richtung“ – SZ Nr. 125 vom 31.05.2011, S. 26

338 form“1348 wurde von allen Seiten als verfehlte Neuausrichtung und zu wenig weitreichend und nachhaltig kritisiert. Sie beinhalte keine Lösungen für die zentralen Probleme im Pflegebereich,1349 aber auch nicht für die sozialen Probleme.

Abgesehen von dieser individuellen Vorsorge sowie Erhöhung des Pflegegeldes für pflegende Angehörige und einige weitere Leistungen – wirklich grundsätzliche und realisierbare Veränderungen, die einer immer stärker alternden Gesellschaft und damit den betroffenen Menschen zugute kommen, werden zwar immer wieder politisch angekündigt, sind jedoch bis heute nicht erkennbar.1350 Die schwarz-gelbe Koalition ist gemessen an den Notwendigkeiten und im Juni 2013 erneut vorgetragenen Ideen von Experten und Wissenschaftlern bis hin zu einer ausgefeilten Reformvorlage bei der Pflege schlichtweg gescheitert.1351 Unsere Gesellschaft wird nicht umhinkommen, den Menschen, die unverschuldet in eigene Pflegenot geraten, einen menschenwürdigen Mindestbeistand zu leisten. Und wenn im Staatshaushalt die Mittel dafür fehlen, muß eine neue und von der bisherigen Mittelverwendung losgelöste Prioritätenbildung erfolgen und dieses auch klar politisch vertreten werden. Wer sich dieser Notwendigkeit verschließt, ignoriert sowohl die absehbaren Fakten als auch die moralische Handlungsverpflichtung einer Gesellschaft, die sich noch immer christlich geprägt sieht und demgemäß auch ihr Grundgesetz verfaßt hat.

Arbeitslosenversicherung Die heute im Dritten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB III) geregelte „Arbeitsförderung“ begründet u. a. ein Versicherungspflichtverhältnis für Beschäftigte gegen Pflichtbeiträge. Die hierüber erworbenen Leistungsansprüche umfassen jedoch keinesfalls nur Entgeltersatzleistungen (Arbeitslosengeld I), sondern auch weitergehende Maßnahmen zur Arbeitsförderung, die teilweise auch Nichtversicherten zustehen. Die Leistungen sind also nicht nach klassischem Versiche1348

Guido Bohsem: „Neue Regeln für die Pflege – Wer sich um Angehörige kümmert, erhält künftig mehr Geld und Unterstützung“ – SZ Nr. 149 vom 30.06./01.07.2012, S. 8; ders.: „Eintritt kostenlos – Die Praxisgebühr entfällt . In der Pflege wird einiges besser“ – SZ Nr. 300 vom 29./30.12.2012, S. 27 1349 Sarah Ehrmann: „Schlechte Noten für Pflege-Bahr – Stiftung Warentest rät von staatlich geförderten Pflegetagegeldtarifen ab – mit ihnen müssen Versicherte im Pflegefall immer noch ordentlich draufzahlen. Für Demenzerkrankte bieten viele Tarife zu wenige Leistungen“ – SZ Nr. 89 vom 17.04.2013, S. 25 1350 Sibylle Haas: „Gute Pflege – Wer im Alter versorgt sein will, darf sich nicht auf andere verlassen“ – SZ Nr. 222 vom 26./27.09.2009, S. 25; Nina von Hardenberg: „Zahl der Pflegebedürftigen steigt drastisch – Statistisches Bundesamt: Bis 2030 werden 50 Prozent mehr Menschen auf Hilfe angwiesen sein“ – SZ Nr. 271 vom 23.11,2010, S. 6; Christoph Butterwegge: „Willkommen im Suppenküchenstaat – Halbzeitbilanz der Koalition am Beispiel der Sozialpolitik: Im Schatten der Finanzkrise geht wenig bis nichts voran“ – SZ Nr. 248 vom 27.10.2011, S. 2 1351 Guido Bohsem: „Und wieder grüßt das Murmeltier“ – SZ Nr. 147 vom 28.06.2013, S. 4

339

rungsrecht beitragsgerecht (äquivalent) und vermischen sich mit staatlichen Förderungsmaßnehmen im Falle der Arbeitslosigkeit. Demzufolge ist beispielsweise die Arbeitslosenversicherung durch versicherungsfremde Leistungen wie Umschulungs- und Arbeitsförderungsmaßnahmen belastet, während die eigentliche Aufgabe dieser Versicherung nur die Zahlung eines Einkommensersatzes im Falle der Arbeitslosigkeit sein sollte. Andererseits wurde zum 1. Januar 2005 die Zahlung eines Arbeitslosengeldes für jeden Beitragszahler auf ein Jahr begrenzt.

Hans H. Glismann und Klaus Schrader vom Kieler Institut für Weltwirtschaft stellten fest, „dass die staatliche Arbeitslosenversicherung nicht der erfolgreichen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit diene und den Arbeitnehmer nicht zum Erhalt seines Arbeitsplatzes motiviere. Allerdings soll die Arbeitslosenversicherung auch lediglich im Schadensfall der eingetretenen Arbeitslosigkeit Ersatzzahlungen leisten und nicht per se die Arbeitslosigkeit verhindern oder beheben. Fraglich erscheint auch, ob die persönliche ‚Motivation‘ bzw. Sorge um den Arbeitsplatzerhalt einzelner Beschäftigter im Verhältnis zu den strukturellen (fremdbestimmten) Veränderungen in einer Branche (Rationalisierung, Produktionsverlagerung, Standortverlagerung) überhaupt ein relevanter Faktor ist.“1352 Unabhängig von dieser Arbeitslosenversicherung, die keine ist, existiert für den Fall der Arbeitslosigkeit die sogen. „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ (SGB II) – besser bekannt als „Hartz IV“. Hier geht es fast ausschließlich um Geldleistungen (Arbeitslosengeld II) nach gleichzeitiger Zusammenlegung mit der früheren „Arbeitslosenhilfe“ und Bereinigung bislang unterschiedlicher Zuständigkeiten von Arbeitsamt und Sozialamt.

Dieses Nebeneinander von Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung mit sich wechselseitig überschneidenden Zielen, Entscheidern und Leistungen ist nicht nur sehr kompliziert und aufwendig, sondern hat nach allgemeiner Wahrnehmung die Höhe der Leistungen im Fall der Arbeitslosigkeit insgesamt verringert. Hier ließe sich vieles vereinfachen, zusammenfassen und thematisch bereinigen. Auch dieses Beispiel macht deutlich, wie ineffizient die deutsche Sozialordnung arbeitet und wieviel Aufwand hier noch zugunsten der eigentlichen Leistungen an die Bürger erspart werden könnte. Die Sozialpflichtigkeit des Staates umfaßt auch diesen Aspekt. Es bleibt abzuwarten, inwieweit Bemühungen um eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung der Euro-Länder einmal in der Lage sein werden, reformbedingte, unverhältnismäßig hohe Job-Verluste abzufedern.1353

1352

Peter Bofinger u.a. – zitiert nach http://wikipedia .org/wiki/Arbeitslosenversicherung „Neue Solidarität – Die Euro-Länder sollen eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung bekommen“ – SZ Nr. 283 vom 07.12.2012, S. 8 1353

340

Solidarität als Anreiz?

Was also ist „soziale Gerechtigkeit“, welches ihre inhaltlichen Ausprägungen und ihre Konkretisierungen? Man muß sich wohl damit abfinden, daß die anzustrebende soziale – gemeint ist dabei wohl vor allem eine ökonomische – Gerechtigkeit kein objektiver und feststehender Wert, sondern eine mehrfache relative, in der Zeit und zwischen vielen Einflußfaktoren immer wieder neu auszubalancierende Größe ist, ein dauerhafter variabler Prozeß, wobei sowohl Bedarfsgerechtigkeit (angemessene Deckung von Grundbedürfnissen, Existenzminimum, ungleiche Startchancen) als auch Leistungsgerechtigkeit (die Bewertung erfolgt zunächst grundsätzlich durch den Markt) eine maßgebliche Rolle spielen.

Sie ist jeweils das, worauf sich eine auf das Zusammenleben angewiesene Gesellschaft in einem faktischen „contrat social“, also einem Verständigungsprozeß unter Berücksichtigung seiner Wechselwirkungen auf Gebende und Nehmende und die bis dahin entwickelten Wertvorstellungen, immer wieder neu einigen muß. Das ist schon schwierig genug innerhalb der alten, verblassenden nationalen Grenzen, aber – wenn auch graduell abgestuft – zunehmend erforderlich auch im europäischen und sogar globalen Rahmen menschlichen Miteinanders.

Solidarität und Sozialstaatlichkeit wird üblicherweise staatlich verordnet, damit sie Beachtung finden in einer ansonsten auf Freiheit, das freie Wirken der Kräfte bis hin zu ihren Exzessen ausgerichteten Marktwirtschaftsordnung. Aber wie wir oben schon festgestellt haben, regelt der Markt eben nicht alles. Es bedarf Rahmenbedingungen und Grenzen, damit Ziele zur Wirkung kommen, die sich außerhalb des Wirkungs- und Angebots- und Nachfragezyklus bewegen. Wenn man so will, stehen diese Rahmenbedingungen insoweit gegen den Markt, begrenzen ihn oder behindern ihn sogar, wie manche ohne Blick auf das angestrebte Ziel meinen.

Ein allzu bekanntes Beispiel für ein solches staatlich verordnetes, den Markt begrenzendes Verhalten sind Regulierungen wie folgende: Wenn man davon ausgeht, daß es in einem freien Markt kurzfristig-ökonomisch am effizientesten ist, sich asozial und unmoralisch zu verhalten (Diebstahl fertiger Ideen oder Produkte, Bestechung und Korruption usw.), müssen entsprechende Ordnungsregeln dieses verbieten und möglichst verhindern. So gibt es Strafen und Bußgelder bei entsprechenden Verstößen gegen „unmoralische Anreize“..

Dennoch: Um wieviel besser und interessanter wäre es, wenn wir uns auch zur Erfüllung sozialer oder ökologischer Ziele in den Eigengesetzlichkeiten des auf Eigennutz und Wettbewerb angelegten Marktes bewegen würden und auch diese Anliegen als unmittelbar wirksame Anreize in die erwünschte Richtung darin

341 verankern könnten.1354 Soziale und moralische Belange der Menschen, Solidarität und Gemeinsinn zu praktizieren müßten sich im weitesten Sinne „lohnen“, ja für die Akteure am Markt so reizvoll sein, daß sie im internationalen Wettbewerb selbständig wirken. Zwar müßten sie nicht auf materielle Vorteile abzielen, aber doch zusätzliche oder sogar alternative Wettbewerbsvorteile schaffen, die damit systemimmanent letztlich vom traditionellen Ergebnis her betrachtet auch ökonomisch von Interesse sind. Statt den immer schneller laufenden komplexen Gegebenheiten nur planerisch-regulierend hinterherzulaufen, wäre es auch vom Procedere her die eleganteste und wirksamste Form, solidarische oder soziale Wirkmechanismen vornherein in das bewegliche Marktgeschehen so einzubauen, daß ihre auch sozialen Ergebnisse „marktwirtschaftlich“ generiert werden. Wenn damit sowohl das soziale als auch das individuelle Wohl den wirklichen Sinn des Marktwirtschaftens ausmachte, könnte der integrierte Kapitalismus gewinnen.1355 Soweit ich sehe, ist über derartige Ansätze noch viel zu wenig nachgedacht worden, geschweige denn zu politischen Forderungen oder gar Parteiprogrammen erhoben worden. Schon die Idee erscheint vielen von vornherein als abwegig, weil sie sich nicht sofort anbietet und zumindest auch schwierig und aufwendig zu organisieren ist. Demgemäß ist auch „die politische Phantasie für die Entwicklung dieses Paradoxes noch unterentwickelt“. 1356 Es lohnt sich, nein – es wird die höchste Zeit, darüber mehr als bisher nachzudenken und auch auf diesem Sektor systemimmanent und wettbewerbsrelevant ideenreich und innovativ zu werden.1357 Wie also könnte man sich das konkret vorstellen? Was wären sonstige Vorteile, die der Markt belohnt? Zu denken sind vor allem soziale und übergeordnete Gemeinschaftsanliegen und Belange, altruistische Verhaltensweisen und soziale Kompetenzen erkennbar werden zu lassen, die der Abnehmer schätzen lernt und ihn beispielsweise immer wieder neu veranlaßt, seine Waren oder Dienstleistungen gerade von dem Anbieter abzurufen, der Gemeinsinn praktiziert und ihm auch in der Art und Weise zuverlässig, glaubwürdig, vertrauenserweckend und wertschätzend entgegenkommt. Das muß gar nicht viel kosten.

Als dieser Mangel in zugegeben besonders herausfordernder Art von dem SPD-Vorstand der Deutschen Bundesbank und ehemaligem Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin zum Gegenstand eines Buches „Deutschland schafft sich ab“ gemacht worden war, konzentrierte sich alles von den Spitzen der Politik bis hin zu den Kommentaren der Medien hochemotional und empört auf seinen 1354 Ähnlich schon Anselm Görres und Damian Ludewig: „Für Geld tun Leute alles – auch das Gute – Als Vordenker für anständige Marktwirtschaft und gebändigten Eigennutz ist Adam Smith aktueller denn je“ – SZ Nr. 163 vom 19.07.2010, S. 18 1355 Andreas Zielcke: „Wer regiert die Welt?“ – SZ Nr. 287 vom 12./13.12.2009, S. 4 1356 Andreas Zielcke: „Wer regiert die Welt?“ – SZ Nr. 287 vom 12./13.12.2009, S. 4 1357 Klaus Schwab: „Das Ende des Kapitalismus – und was nun? – Die entscheidenden Wettbewerbsfaktoren der Zukunft sind Kreativität und Innovationskraft“ – SZ Nr. 84 vom 11.04.2012, S. 18

342

provozierenden Stil statt auf die Fakten – keinesfalls alle Kritiker hatten das Buch schon wirklich gelesen – und lenkte damit erneut von dem viel entscheidenderen Befund ab, daß es noch immer keine Lösung in der Sache gibt, die inzwischen auch andere zum ernsthaften Gegenstand ihrer Betrachtungen gemacht hatten.1358 Es war nicht zuletzt dem besonnenen ehemaligen Hamburger Bürgermeister und SPD-Mitglied Klaus von Dohnanyi zu verdanken, daß er in seiner kenntnisreichen, aber auch nüchtern intellektuellen Art die sich selbst hysterisch steigernde, überhitzte Diskussion auf der Basis der Fakten sowohl in dem Buch als auch der gelebten Realitäten wieder vom Kopf auf die Füße stellte.1359 Die Mehrheit des Volkes hatte diesen Streit ohnehin nur mit Mißmut verfolgt, denn viele spürten das Problem der ungelösten Integration unmittelbar selbst bei sich oder ihren Kindern.

Bei dem Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen – wie sich das insbesondere zwischen Zuwanderern islamischen Glaubens in christlich geprägte westliche Industriestaaten zeigt, muß man auch einräumen, daß es ungelöste Zielkonflikte gibt, nach denen die Menschen leben wollen und glauben, auch leben zu dürfen. Nachdem aber die in den meisten westlichen Staaten – und zu Zeiten Atatürks auch in der Türkei – geltende Unabhängigkeit von Staat und Religion (Laizismus) praktisch in keinem islamisch geprägten Land mehr besteht, somit religiöses und staatliches Gebot nicht mehr nahtlos übereinstimmen, kommt es bei der Einwanderung von Moslems in christlich und religionsunabhängig verfaßte Staaten zwangsläufig unaufgelöste Spannungen.

Wie verhält sich also der Migrant, wenn im Ergebnis unterschiedliche Sollvorgaben bestehen? Der Moslem ist gehalten, vorbehaltlos nach seiner Religion zu leben, denn die Gesetzgebung gebührt niemandem außer Allah (Koran, Sure 49).

Auch der deutsche Staatsbürger darf zwar sein gesamtes Verhalten an den Lehren seiner religiösen Überzeugung ausrichten. Nach Art. 4 Abs. 2 des Grundgesetzes wird „die ungestörte Religionsausübung gewährleistet“. Jedoch unterliegt diese Freiheit den Einschränkungen anderen, kollidierenden Verfassungsrechts (das erfordert zumeist eine Abwägung!) und nach richtiger Ansicht – entssprechend Art. 136 I der Weimarer Reichsverfassung – auch dem Vorbehalt allgemeiner, für alle ungeachtet ihrer Religion geltenden Gesetze, also etwa dem demokratisch verfaßten Strafgesetz.1360 Wäre das anders, könnte über die Religionsfreiheit das gesamte übrige Grundgesetz ausgehebelt werden. Denn auch nach dem Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs. 3 des Grundgesetzes darf niemand 1358

So die ehemalige Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig in ihrem Buch ...

Klaus von Dohnanyi: „Feigheit vor dem Wort – Anmerkungen zum Fall Sarazzin: Nur in Deutschland macht man sich unmöglich, wenn man das Offensichtliche benennt“ – SZ Nr. 205 vom 06.09.2010, S. 2 und Hermann Simon: „Die Wirtschaftstrends der Zukunft“ – Campus Verlag Fft./M. 2011 mit der Besprechung von Dagmar Deckstein: „Nicht bange um die Zukunft“ – SZ Nr. 53 vom 05./06.03.2011, S. 34 1360 Jaerass/Piereoth, Kommentar zum GG der BRD, Rd-Nr. 28 zu Art. 4 GG 1359

343

wegen seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen benachteiligt, aber eben auch nicht bevorzugt werden. Diese Vorschrift sichert so die weltanschauliche Neutralität des Staates. Danach muß sich jeder Mensch und insbesondere Staatsbürger in Deutschland in gleicher Weise nach dem hier geltendem Recht und Gesetz verhalten und nicht stattdessen nach dem religiös-islamischern Recht der Scharia.

Religiös bedingte Vorbehalte, latenter oder auch offener Widerstand gegen die staatlichen Spielregeln erhöhen nicht zuletzt den Eindruck, hier solle nach dem militärischen Abwenden einer Islamisierung Westeuropas 1697 in Zenta durch Prinz Eugen v. Savoyen nun auf dem Wege einer Infiltration nach und nach der Wandel zu einem islamisch geprägten Land verfolgt werden. Nach einer Studie der Meinungsforschungsinstitute Info GmbH (Berlin) und Liljeberg Research International (Antalya) ist beispielsweise jetzt schon der Anteil der Türken in Deutschland, die am liebsten mit Türken zusammen sind, von 40 auf 62 Prozent gestiegen. 46 Prozent von ihnen möchten, daß in Deutschland irgendwann mehr Muslime als Christen wohnen. Im Jahre 2010 wollten das nur 33 Prozent.1361 Das provoziert natürlich trotz der geltenden individuellen Glaubensfreiheit und erforderlichen Toleranz auf beiden Seiten erneut Vorbehalte, Ängste und Widerstände gegen eine schleichende Überfremdung bei den traditionell christlich oder durch die Aufklärung geprägten deutschen Einwohnern.

Alle bisherigen politischen Maßnahmen haben beispielsweise in BerlinNeuköln „nicht viel gebracht“ (Buschkowsky). Erkannte Zielkonflikte müssen aufgelöst werden, bevor es zu folgenschweren Reibungen oder gar kriminellen Handlungen kommt. Die Politik kommt nicht umhin, von den Einwanderern, die dauerhaft in Deutschland leben wollen, zu erwarten, daß sie sich durch ein klares, ausdrückliches Bekenntnis den demokratisch gesetzten Regeln des Ziellandes unterwerfen, die ausschließliche deutsche Staatsbürgerschaft annehmen und somit in jeder Beziehung Deutsche werden..Ansonsten können sie hier nicht dauerhaft aufgenommen werden. Das muß ihnen auch frühzeitig unmißverständlich vermittelt werden, wie das der in diesen Dingen erahrene Bezirksbürgermeister von Berlin-Neuköln Heinz Buschkowski in seinem Buch „Neukölln ist überall“1362 fordert und was leider viel zu wenig geschieht.

Nahe läge es zwar und unmittelbar wirksam wäre es auch, viele der ideellen Ziele möglichst in einem materiellen Wert auszudrücken und ihn in den Preis für ein Produkt oder eine Dienstleistung wie einen Sonderrabatt einfließen zu lassen, so daß er Angebot und Nachfrage im Wettbewerb positiv beeinflußt. So etwas könnte man sich andererseits auch als Zuschlag vorstellen etwa zum Schutz 1361

Vgl. den Bericht in tz vom 18./19.08.2012, S. 2 Roland Preuss: „Buschkowkys Abrechnung“ – zu dem Buch von B.: „Neukölln ist überall“ – 2012

1362

344

unserer Umwelt, wenn man dem bislang kostenlosen (!) Raubbau an der Natur – was und wie immer man das definiert – als Kosten, die irgendwann ohnehin der Gesellschaft insgesamt anheimfallen, sofort und anteilig als solche des Produkts und seiner Erstellung speziell den Käufern in Rechnung stellt.1363 Da ein solches Vorgehen zu höheren Preisen und damit zu Wettbewerbsnachteilen einzelner führen würde, kann dieses nur markteinheitlich geschehen und müssen hierüber internationale Abkommen getroffen werden.

Es gibt weitere mögliche Ansätze: Kommen wir zurück zu dem Beispiel unmoralisch oder strabarer Wettbewerbspraktiken, von denen wir gesagt haben, daß sie ökonomisch betrachtet am effizientesten sind. Das gilt aber nur kurzfristig.

Denn auf Dauer bekommen Unternehmen am Markt, bei ihren Kunden, Geschäftspartnern und Mitarbeitern Schwierigkeiten mit einem solchen Verhalten, wie eine Entwicklung zeigt, die sich gerade in den jüngsten Monaten vermehrt vor den Augen der Öffentlichkeit abgespielt hat (v.a. Siemens). Langfristig betrachtet ist es eher umgekehrt. Internationale Ethikstandards und wirtschaftliche Effizienz sind keine Gegensätze, denn wenn – so sieht es auch der Wirtschaftsethiker Karl Homann – das Wirtschaftsleben menschlicher wird, zahlt sich das langfristig aus.1364 In einem kürzlich erschienenen Buch „Identity Economics“ machen der US-Ökonom George A. Akerlof, Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2001, und seine Mitautorin Rachel E. Kranton darauf aufmerksam, daß nicht ein in der bisherigen ökonomischen Lehre dominierendes rationales Nutzenkalkül, sondern die Vorstellung, wie sie selbst und andere handeln sollen, darüber bestimmt, was Menschen tun.1365 Die vielverkündete und als Wert im Wettbewerb bereits vermarktete „Nachhaltigkeit“ wirtschaftlichen Handels unter Bedingungen, die den sozial wünschenswerten Bedingungen und weltanschaulichen Erwartungen der meisten Menschen entsprechen, verlangt also ein Verhalten, das neben Funktionalität, Qualität und Preiswürdigkeit eines Produkts oder einer Leistung auch Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit und Compliance als wesentliche Wettbewerbselemente einschließt.1366 Einzelne Elemente sind weltweit hoch mobil, andere noch immer sehr stark lokal gebunden. Lokale Fähigkeiten und wettbewerbsfähige Rahmenbedingun1363

Ebenso „Eine neue Ordnung mit bewährten Prinzipien – Schwarz-gelber Schulterschluss: Norbet Röttgen (CDU) und Christian Lindner (FDP) plädieren für eine Besinnung auf die soziale Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 71 vom 26.03.2010, S. 5; Georg Kell von UN Global Compact in dem Interview: „‘Preisschild für Umweltschäden‘ – Fordert langfristiges Denken, ein gemeinsames Wertegerüst und globale Strategien“ – SZ Nr. 127 vom 03.06.2011, S. 25 1364 „‘Wettbewerb ist solidarisch‘ – Der Wirtschaftsethiker Karl Homann über Globalisierung und Nokias Werkverlagerung“ – SZ Nr. 24 vom 29.01.2008, S. 21; vgl. dazu auch Rainer H. Thierfelder: „Wertewandel ...“ 1365 George A. Akerhof und Rachel E. Kranton: „Identity Economics – Warum wir ganz anders ticken, als die meisten Ökonomen denken“ – Hanser Verlag München 2011 und die Besprechung von Windfried Kretschmer: „Ein Sprengsatz für die Ökonomie2 – Sz Nr. 267 vom 19./20.11.2011, S. 38 1366 Rainer H. Thierfelder: „Wertewandel ...“

345

gen wirken dabei wie lokale Eingriffe oder Reglementierungen des freien Spiels der Marktkräfte, auch wenn sie schlicht nur auf unveränderlichen Fakten beruhen. Sie nicht zum Standortnachteil, sondern zum Wettbewerbsvorteil werden zu lassen – so wie Bundespräsident Horst Köhler das auch am Beispiel eines einheitlichen und überschaubaren Arbeitsvertragsgesetzs auf dem 67. Deutschen Juristentag in Erfurt für Rechtsordnungen gefordert hatte1367 – wird für die Menschen daher immer wichtiger, damit sie in ihrem persönlichen und wirtschaftlichen Status in der Liga der Welt weiterhin auf den oberen Plätzen spielen. Doch so ganz einfach ist auch dieses nicht.

Man denke beispielsweise an die jetzt vielbeschworene Ressource Bildung, der einzige Rohstoff, aus dem wir im übrigen an irdischen Rohstoffen arme Länder wirklich noch etwas machen können. Nur was nützt eine noch so gute Ausbildung, wenn deren Absolventen dann ins Ausland abwandern, weil sie dort bessere berufliche Chancen haben. Denn am Standort gemachten Investitionen und Anstrengungen stehen keine ebenso auf den Standort rekurierenden Nutzungsmöglichkeiten, Vorteile oder Ergebnisse gegenüber. Der Arbeitsmarkt gehört nun einmal zu den mobilen Faktoren der globalen Wettbewerbswirtschaft.

Ausbildung, Bildung und Forschung stehen also nicht für sich allein. Sie müssen eingebunden sein in eine Fülle weiterer Standortspezifika, so daß wirklich der Standort als solcher zum Wettbewerbsfaktor wird mit der Folge, daß die dort lebenden Menschen dann auch dort bleiben und die Segnungen ihrer Einmaligkeit genießen können. Standortbedingungen weiterer Art aus der Sicht der Produzenten und Leistungsanbieter wären beispielsweise harte und weiche Faktoren wie Technik- und Verkehrs-Infrastruktur, Rechtssystem, Sicherheit, Steuermodell und nicht zuletzt eine Wertewelt sogenannter „bürgerlicher Tugenden“ (Helmut Schmidt)1368, die sich deutlich von dem absetzt, was derzeit als angebliche Schmiermittel eines nur auf materielle Ergebnisse ausgerichteten Kapitalismus vorgeführt werden – Bestechung, Korruption, Bespitzelung und Wirtschaftsspionage.

Einer der wesentlichsten Einflußfaktoren für die „Entfesselung des Kapitalismus“, damit aber vor allem auch der Berücksichtigung sozialer Belange im Rahmen der Marktwirtschaft kommen zweifelsfrei von den vielfältigen Marktteilnehmern, insbesondere also von den Kunden und Konsumenten. Sie bilden zwar als einzelne noch kein ausreichendes Gewicht. Aber insgesamt verkörpern sie die stärkste Kraft („Kaufkraft“), die notwendig ist, daß ideelle Erwartungen unmittelbarer Bestandteil des Marktgeschehens werden.1369 Das Problem, das es 1367 Helmut Kerscher: „Köhler fordert Reform des Arbeitsrechts – Der Bundespräsident plädiert auf dem Juristentag für überschaubare Regeln, die den Wirtschaftsstandort stärken“ – SZ Nr. 223 vom 24.09.2008, S. 6 1368 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 336 1369 Vgl. dazu auch Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“. S. 77 ff.

346

offenbar auch hier zu lösen gilt, ist eine Wertewelt bei den Verbrauchern, die den meisten Menschen gemeinsam ist und ihr Verhalten auch am Markt bestimmt, so daß sie – ohne auch dieses wieder mühsam reglementieren zu müssen – automatisch zum Zuge kommt. Hier deutet sich an, wie das in einer zunehmend indiviualisierten und pluralistischen Gesellschaft vorstellbar wäre, zumal auch die traditonell werteprägenden Organisationen wie Kirchen dafür immer mehr ausfallen.1370 Es bleiben daher in unserer offenen, demokratischen Gesellschaft eigentlich nur die politischen Parteien, die solches leisten könnten, sofern sie sich endlich aus ihrer lavierenden und unkonturierten Programmatik verabschiedeten und als überzeugendes „Bindeglied in der Legitimationskette zwischen Volk und politischer Füghrung“1371 klar und offen Maßstäbe anböten, die sie glaubhaft ebenso konsequent in die politische Realität umzusetzen vermögen. Man kann viel kritisieren an unserem Parteienstaat und mehr noch an der konkreten Erscheinungsweise vieler Politiker, die doch nach dem grundgesetzlichen Auftrag nur an der politischen Willensbildung „mitwirken“ (Art. 21 GG). Aber schon das erfordert klare Programme, überzeugende Argumente, Führung und Werbung dafür zum Wohle aller statt den Wählern ständig nach dem Munde zu reden, nur um selbst wiedergewählt zu werden. (Helmut Schmidt!)

Unterstützt werden solche Aktivitäten nicht nur durch auch gelebte innere demokratische Ordnung und Freiheit (Art. 21 I 3 GG), sondern darüber hinaus durch ein hohes Maß an Transparenz, so daß alle Menschen verstehen, was sich hier tatsächlich ereignet und was dabei speziell auf sie als Kunden zukommt.

Angesichts der zurückliegenden Kapitalmarktmisere ist schon sofort mit gutem Grund gefordert worden, daß sich kein Bankkunde mehr Produkte aufschwätzen lassen soll, die er nicht versteht. Verbraucherschutzverbände und Testeinrichtungen können das hilfreich begleiten, indem sie ihre Erfahrungen und Untersuchungen schnell der breiten Öffentlichkeit an auffallender Stelle zugänglich machen. Der Ausbau solcher Aktivitäten ist eine wichtige Rahmenbedingungen für das eigentliche Funktionieren der Marktmechanismen.

Breite Zustimmung findet sicher die Auffassung, daß das Geldverdienen kein Selbstzweck ist. Es ist zwar in hohem Maße auch eine Reflexionswand für die eigene Bedeutung. Aber die Geldmittel selbst werden für andere Zwecke eingesetzt. Von da her betrachtet muß auch der Markt, in dem das Geld erwirtschaftet wird, als ein gesellschaftlich-kulturelles Geschehen gesehen werden, das den Normen der Gerechtigkeit und Fairness unterworfen ist. Er muß letztlich der

1370

Ebenso Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“, S. 11 ff., 18 ff.

1371 Konrad Hesse: „Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“, S. 76 (Rdnr. 169)

347 Realwirtschaft und damit der Gesellschaft und den Menschen dienen.1372 Allein schon aus dem Interesse, aus Geldkapital Sachkapital werden zu lassen, ergibt sich nicht zuletzt ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt. Und wo dieses Interesse nicht oder noch nicht dominiert, muß das Geldkapital durch Bekämpfung des „Hanges zur Liquidität“ (John Maynard Keynes), der in jedem Sparer steckt, möglichst zur Bildung von Sachkapital gedrängt werden, wie es beispielsweise in Zeiten ausgeprägter Inflation als „Flucht in Sachwerte“ geübt wird. Hier ist als Rahmen und Standortbedingung nicht nur Innovation, Produktqualität und davon ausgehender Erfolg der Unternehmen im Wettbewerb, sondern auch eine einfühlsam steuernde Zinspolitik für Barguthaben ebenso gefragt wie der mutige und dennoch maßvolle Einsatz des „Instruments der Inflationserwartung“.1373 Und auf ein weiteres hat der Umweltminister Sigmar Gabriel in seinem Buch „Links neu denken“ hingewiesen. Wirkliche Märkte vermögen mit Folgen, die bei unbeteiligten Dritten als Umweltzerstörung und bei allen als Gefährdung des Weltklimas anfallen oder mit einer hohen Unsicherheit verbunden sind, nur dann effizient umzugehen, wenn der Staat wenigstens insoweit ordnend eingreift und dazu zwingt, derartige Effekte in die wirtschaftlichen Kalküle einzubeziehen, so daß Märkte dann wieder effizient funktionieren.“ Hierbei müssen nicht Ge- oder Verbote aufwendig überwacht werden, sondern derartige ökonomische Effiziienzregeln funktionieren schnell und überall ohne formalen Vollzug.1374

1372 Friedhelm Hengsbach: „Der Markt muss der Gesellschaft dienen – Erkenntnisse aus dem Zusammenbruch der Banken: Nicht die Akteure sind korrupt – das System, in dem sie agieren, ist es“ – SZ Nr. 229 vom 01.10.2008, S. 2; Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Woran der Kapitalismus krankt – Die Krise liegt im System. Eigentum muss dem Gemeinwohl dienen“ – SZ Nr. 94 vom 24.04.2009, S. 8 1373 Eckhard Behrens, Heidelberg, in seinem Leserbrief „Geldspritzen sind nur Notfallmedizin“ – SZ Nr. 237 vom 11./12.10.2008, S. 42; zur Bedeutung einer ausgwogenen „Inflationskontrolle“ für die Sozialpolitik auch Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 51 ff.; Catherine Hoffmann: „Die dritte Welle – Geld, Geld, noch mehr Geld: Mit immer neuen Milliarden kämpfen die Notenbanker gegen die Schuldenkrise. Der Wirtschft hiklft das wenig, die Anleger jubeln“ – SZ Nr. 226 vom 29./30.09.2012, S. 35 1374 Sigmar Gabriel: „‘Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren‘ – Bundesumweltminister Sigmar Gabriel entwirft das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und fordert Mindeststandards für die internationalen Finanzmärkte“ – SZ Nr. 226 vom 27./28.09.2008, S. 26 (Auszug aus seinem Buch „Links neu denken“); ebenso Felix Ekardt: „Endliche Ressourcen müssen Geld kosten – Das Beispiel des lebenswichtigen Rohstoffs Phosphor: Wie Abgaben oder Zertifikationsmärkte die Gerechtigkeit fördern“ – SZ Nr. 119 vom 27.05.2010, S. 18

348

Mensch der neuen Zeit Und wie steht es nun mit den Menschen? Sind sie nach wie vor die gleichen wie schon immer, oder haben auch sie sich verändert? Was ist aus ihnen geworden und wohin werden sie sich wohl weiter entwickeln? Waren es wirklich die Zeiten, die uns verändert haben, von denen die alten Römer sagten, „Tempora mutantur“ – die Zeiten verändern sich – „nos et mutamur in illis“ – und wir verändern uns in ihnen.

Wir haben eingangs schon festgestellt, daß es wesentlich der Mensch ist, der auf dieser Erde für viele Änderungen verantwortlich ist – wer sonst? Er hat sich die Erde untertan gemacht, greift in ihre natürlichen Abläufe ein und verändert mit den so erreichten Ergebnissen zugleich seine Einsichten, das eigerne Denken und sein weiteres Handeln. Immer neu und anders waren die Lebensumstände und damit verschieden auch die Gegenstände, Themen und die Wirkungen ihres Tuns.

Aber selbst sicheres Wissen – wo es uns denn zur Verfügung steht, garantiert nicht, daß wir Menschen dementsprechend schlüssig und rational handeln. Politik und Wirtschaft, aber auch die Umwelt sind die Hauptfelder, in denen wir das beobachten können. Vieles folgt nicht allgemeinen Erkenntnissen und sachlichen Bedingungen, sondern ausschließlich der individuellen, höchst unterschiedlichen Natur des einzelnen Menschen, seinen Interessen, Wünschen und Ängsten, seinen Idealen, Phantasieen und Phobien. Und diese unterscheiden sich weltweit noch erheblich voneinander, so wie sich auch die regionalen Umstände sehr verschieden darstellen, in denen wir leben. Die menschliche Gesellschaft, ihr Zusammenleben, der Umgang untereinander sind dann oft nicht mehr als die Überreste dessen, was uns die Haupthandlungsfelder und die in ihnen agierenden Hauptdarsteller gebieten, übrig lassen oder ermöglichen.

Früher war alles besser Es ist nicht zu leugnen, daß es gerade in den letzten Jahrzehnten einen beachtlichen Veränderungsprozeß gibt, den wir als Fortschritt begreifen und erleben. Wir wissen als Menschheit immer mehr immer schneller, und wir setzen unser Wissen um. Wir genießen den Zuwachs an Technik und Infrastruktur, die unser Leben erleichtern. Aber auch dieser schnelle Fortschritt hat eine Kehrseite. Über die hier im Einzelfall entstehende Bildsungsproblematik haben wir schon gesprochen. Nicht minder schwierig sind Ansichten wie: „Früher war alles besser.“ Wer kennt nicht diesen resignativen Aufschrei einer von Schnellebigkeit und scheinbarer Beliebigkeit geprägten Gesellschaft, bei der die Verfallzeiten für

349

die Geltung der Werte und Rituale immer wieder von der Unklarheit dessen überholt wird, was denn nun an deren Stelle tritt. Es ist dieses vor allem die Sicht vieler älterer Menschen. Er kennzeichnet die subjektive Not, in der sich viele finden, mit den zahlreichen Neuerungen souverän umzugehen. Man konnte sich mit seinem Erfahrungen und Erkenntnissen und Verhaltensweisen über längere Zeit auf alles erlebte Geschehen einrichten – beruflich, örtlich und familiär, ohne befürchten zu müssen, dieses schnell wieder in Frage gestellt zu sehen. Damit entstand so etwas wie bürgerliche Sicherheit, die zuverlässige Planungen ebenso erlaubte wie hin und wieder ein entlastendes Zurücklehnen, ohne sogleich befürchten zu müssen, den Anschluß zu verlieren. So entstand eine existentiell stabilisierende Identifikation mit der Lebenszeit, in die Menschen hineingewachsen sind.

Wir haben uns an manches gewöhnt, sind damit vertraut geworden und empfinden die Beständigkeit vor allem mancher Rituale im gesellschaftlichen Miteinander als stressfrei und erholsam. Deswegen müssen also die Dinge früher noch keineswegs besser gewesen sein, allenfalls anders. Einiges war deutlich schlechter: Verordnete Spielregeln im gesellschaftlichen Miteinander, deren Sinn nicht mehr erkennbar ist, sind zu Recht in Frage gestellt worden. Befreiung wurde ertrotzt, auch wenn manches davon erneut erschreckt wegen seiner Nähe, die sie plötzlich anderen gegenüber zeitigen.

Dabei können wir Deutsche keinesfalls nur mit Stolz auf die letzten 150 Jahre zurückblicken. Jede Entwicklung mit zahllosen Veränderungen schafft zweifellos Gewinn, aber – man sollte es nicht negieren – auch Probleme und Verluste.

Manches geht verloren, was wir unter den obwaltenden Umständen lieb gewonnen oder als Lebensqualität außerordentlich zu schätzen gelernt hatten. Dazu zählt eine gewisse Berechenbarkeit der Lebensumstände und dessen, was damals vor uns lag. Da die Dinge früher noch nicht so schnellebig voranschritten und sich nicht immer wieder auch überraschend veränderten, waren die Arrangements stets eine gute Zeit lang valide. Man beherrschte das Leben mit seinen doch eine zeitlang andauernden Rahmenbedingungen, seien sie nun positiv oder eben auch weniger gut.

Was heute schlechter ist, weil wir es im Vergleich zu früher ersatzlos verloren haben, sehen wir sofort. Medien tragen es „als Nachricht“ in aller Ausführlichkeit wie nie zuvor um den Globus. Und so scheint es, daß in der Tat vieles nur schlechter geworden ist. Dabei mag die mitunter geäußerte subjektive Überzeugung zutreffen, daß wir ohne die Segnungen der Neuzeit auch nicht weniger glücklich gewesen sind. Denn auch Glück ist relativ.1375 Alle diejenigen, denen es – früher oder jetzt – gut geht, sogar besser geht, schweigen ohnehin. Sie sind keine Nachricht.

1375

Christian Weber: „Irgendwann ist es genug – Steigender Wohlstand macht Gesellschaften auf Dauer nicht glücklicher“ – SZ Nr. 289 vom 14.12.2010, S. 16

350

Der Satz über „früher“ ist dumm und falsch. Zweifellos richtig wäre es auf jeden Fall festzustellen: Früher war vor allem vieles anders. Besser war es deshalb nicht unbedingt. Denn es gab immer schon eine manchmal eher langanhaltende, dann aber von den Ergebnis her betrachtet sichtbare Entwicklung, die man wirklich Fortschritt nennen kann, auch wenn sie nicht selten eine Kehrseite hat.1376 Mancher Fortschritt wird auf einem anderen Feld teuer oder unter Verlusten erkauft. Wir werden später hierauf zurückkommen, denn hier liegen wichtige Aufgaben für die Zukunft. „Lieber reich und gesund als arm und krank“ ist eine gern gebrauchte Umschreibung für eine Lebensutopie, von der alle wissen, daß sie nie erreichbar ist.

Das normale reale – d.h. auch das verwirklichbare – Leben ist weitaus bescheidener, wenn man zumindest alles mögliche dazu tut, was auch Träume zu verwirklichen hilft: Äußere Stabilität der physischen Existenz – lat. soliditas, die Festigkeit, der feste Boden unter den Füßen – verbunden mit einem Grad psychischer Stabilität und innerer Zufriedenheit, der das Leben im weitesten Sinne lebenswert und akzeptabel macht. Zu letzterem zählen dann auch achtsame soziale und solidarische Beziehungen der Menschen untereinander. Beides hängt eng miteinander zusammen, wenn auch keinesfalls ausschließlich. Und es gilt der bekannte Ausspruch von Bertolt Brecht: Erst kommt das eigene Fressen und dann die Moral.

Wir kennen auch die Ansicht, daß sich alles immer wiederholt. Es ist alles schon einmal dagewesen. Als neu erscheint oft schon das, was für die gerade lebenden Menschen ungewohnt daherkommt, mag es in früheren Generationen längst wohl vertraut gewesen und dann verloren gegangen sein.

Wenn Menschen immer nur tauschen und täuschen, mit Geld, Zuneigung und Macht, wäre dann gar kein Mißbrauch politischer oder wirtschaftlicher Macht, ein Verlust von Moral oder Verfall staatlicher Strukturen zu beklagen, sondern alles nur die „logische Folge dieser Grundform menschlichen Zusammenlebens – und gerade dadurch ist die Zukunft offen“ (Brennig).1377 Mit ihrem Tun bewirken die Menschen den Geist der Zeit, in der sie leben. So geronnener Geist ist dabei zu verstehen als Gefühlswelt, als Ideologie, die Anschauung der Welt, als Überzeugung und damit auch als Moral. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich alles Denken, Wollen und Handeln der Menschen. Und nur indem sie handeln, zeigt sich ihre wahre Moral. Beim Vergleich des Redens und des Tuns entscheidet immer nur das Tun. Es ist unbestechlich, unmißverständlich und insoweit allein ehrlich, auch wenn es sich dabei um Missetaten handelt.

1376

Ähnlich auch Ulrich Schlie: „Jedes Jahrhundert prägt das nächste – Wieder einmal befindet sich die Welt in einer Übergangszeit – wie 1815 nach dem Wiener Kongress, wie 1919 nach dem Krieg“ – SZ Nr. 302 vom 30.12.2010, S. 2 1377 Vgl. die Anzeige zu dem Buch von Manfred Brennig: „Tauschen und Täuschen – Warum die Gesellschaft ist, wie sie ist“ – Ueberreuter 2008 in Süddeutsche Zeitung Nr. 73 vom 28.03.2008, S. 13

351

Wenn Menschen immer nur tauschen und täuschen, mit Geld, Zuneigung und Macht, wäre dann gar kein Mißbrauch politischer oder wirtschaftlicher Macht, ein Verlust von Moral oder Verfall staatlicher Strukturen zu beklagen, sondern alles nur die „logische Folge dieser Grundform menschlichen Zusammenlebens – und gerade dadurch ist die Zukunft offen“ (Brennig).1378 Mit ihrem Tun bewirken die Menschen den Geist der Zeit, in der sie leben. So geronnener Geist ist dabei zu verstehen als Gefühlswelt, als Ideologie, die Anschauung der Welt, als Überzeugung und damit auch als Moral. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich alles Denken, Wollen und Handeln der Menschen. Und nur indem sie handeln, zeigt sich ihre wahre Moral. Beim Vergleich des Redens und des Tuns entscheidet immer nur das Tun. Es ist unbestechlich, unmißverständlich und insoweit allein ehrlich, auch wenn es sich dabei um Missetaten handelt.

Eine der wesentlichen Veränderungen, die fortschreitende „Entindustrialisierung“, war zunächst noch keineswegs unmittelbar durch die Globalisierung bedingt. Der Übergang von der alten, von der Mechanik geprägten Industriegesellschaft zur digital hochtechnisierten (Intelligenztechnik!) Dienstleistungsgesellschaft, die schnelle Anhäufung von Wissen und die Entwicklung zur Wissensgesellschaft, aber auch neueste Erkenntnisse der Psychologie über das Miteinander der Menschen und die dabei geltenden und wirksamen Faktoren sind ebenso kennzeichnend wie der Aufstieg Deutschlands in der zweiten Hälfte des 20.

Jahrhunderts nach dem zweiten Weltkrieg in eine fast alle gesellschaftlichen Schichten erfassende Wohlstandsgesellschaft.

Ihre Ursachen liegen in der steigenden Produktivität des produzierenden Gewerbes als Folge des technischen Fortschritts, die für immer bessere Produkte immer weniger Arbeitskräfte benötigte, und zum anderen in der mit steigendem Wohlstand immer größer werdenden Nachfrage vielfältiger Dienstleistungen.1379 Durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung und ihrer globalen Vielfalt wurden die alten Industriegesellschaften immer komplexer und ausdifferenzierter, ob es nun um die erstellten Produkte und Dienstleistungen selbst geht oder das eigene Zusammenleben und der dafür geschaffene politische und gesellschaftliche Rahmen. Als Folge einer nie dagewesenen Individualisierung sind die zu lösenden Probleme oft auch sehr individueller Natur, dennoch in den Bedingungen stark vernetzt. Sie erfordern zu ihrer Lösung immer mehr den Sachverstand von Spezialisten, die sich damit zugleich in der Berufswelt immer schneller ausbilden, und von denen die anderen immer abhängiger werden, weil sie auf deren unvertretbare Mitwirkung angewiesen sind. Man kann sehen, wie sich die

1378

Vgl. die Anzeige zu dem Buch von Manfred Brennig: „Tauschen und Täuschen – Warum die Gesellschaft ist, wie sie ist“ – Ueberreuter 2008 in Süddeutsche Zeitung Nr. 73 vom 28.03.2008, S. 13 1379 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 224

352

klassische Beschreibung eines Spezialisten konkretisiert, und feststellen: Immer mehr Menschen verstehen von immer weniger immer mehr.

Aber es gibt sie fortlaufend, diese Veränderungen. Sie entfalten eine Dynamik und schnell zunehmende Verflechtung, der sich ein Land oder Unternehmen, aber auch jeder einzelne nicht mehr entziehen kann. Sie finden den High-techNationen ebenso wie in den Entwicklungsländern mehr oder weniger, aber unumkehrbar einfach statt.1380 Ungewohntes kommt in variablen, oft in komplexen Erscheinungsweisen daher. Dabei geschieht vieles im Kleinen und alles ist immer mehr miteinander vernetzt.1381 Kaum hat jemand etwas für sich und sein Leben erworben, Kenntnisse, Einsichten, Zusammenhänge verstanden und ähnliches mehr, dient es nicht mehr der Stabilisierung der eigenen Existenz, sondern markiert nur den aktuellen Standort, der verloren geht, wenn die Bemühungen um das täglich Neue ausbleiben. Plötzlich steht der neuzeitliche Mensch vor einer Situation, auf die er sich nicht rechtzeitig eingestellt hatte1382 oder hätte einstellen können. Immer mehr Menschen fühlen sich dem atemberaubenden Tempo einfach nicht mehr gewachsen.

Dennoch: Die Macht des Gewohnten gibt uns ein Gefühl der „Sicherheit, Geborgenheit und Kompetenz und reduziert die Furcht vor der Zukunft“ Das hat Folgen für die Neigung und Fähigkeiten zur eigenen Veränderung.1383 Besonders junge Menschen, die seit Ende des Krieges in ihrem fortschreitenden Leben überwiegend nur den Aufstieg und zunehmenden Wohlstand erfuhren, stehen heute vor dem psychologischen Problem, von den sie umgebenden Gütern und Errungenschaften nur noch verlieren zu können. Demgemäß kämpfen sie gegen den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abstieg. Sind die eigenen Veränderungsnotwendigkeiten dann offensichtlich unvermeidlich geworden, haben sich gleichwohl viele mit dem Versuch, sie wenigstens für sich aufzuhalten, kräftezehrend und dennoch vergeblich bemüht. Bevor der bedrängte Mensch einmal zu klaren strukturellen Veränderungen in seinem Leben und Umfeld bereit ist, sucht er durch ein angepaßtes oder nur minimal verändertes Verhalten Linderung gegenüber belastenden Auswirkungen. Noch immer fällt es vielen schwer, nüchtern zu erkennen, daß allzulanges Ausruhen auf dem Erreichten, das Aufhören des 1380 „‘Wir können keine Insel der Seligen schaffen“ – Linde-Chef Wolfgang Reitzle über die wachsende Angst vor der Globalisierung, mangelhafte Reformen und sein Verständnis von Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 90 vom 17.04.2008, S. 21; Hans Küng: „Anständig wirtschaften – Warum die Ökonomie Moral braucht“, S. 21 ff.

1381 Frederic Vester: „Unsere Welt – ein vernetztes System“ – dtv-Sachbuch 1983/1990; John Naisbitt – 8 Megatrends, die unsere Welt verändern“ – Signum Verlag Wien 1995, S. 27 ff.

1382 Christine Burtscheidt: „Ärzte und Lehrer dringend gesucht – Studie prognostiziert für Bayern einen Fachkräftemangel und den Übergang zur ‚Wissensgesellschaft‘“ – SZ Nr. 26 vom 02.02.2009, S. 52 1383 Nikolas Westerhoff: „Die Illusion vom großen Wandel – Jenseits der 30 fällt es Menschen zunehmend schwer, sich zu verändern – auch wenn viele das ersehnen“ – SZ Nr. 131 vom 07./08.06.2008, S. 24

353

Ruderns, lediglich bedeutet, daß er zurückfällt, und das erneute Bemühen um die Spitze kostet ungeahnte neue Kräfte. Manchmal erreicht man die Spitze gar nicht mehr, wenn sie verloren wurde. Denn andere rudern auch und nicht wenige von ihnen leisten sich dabei keine Pausen. Der ökonomische Abstieg vieler, die sich der Entwicklung entgegenstellen oder ihr nicht mehr gewachsen sind, und die damit gleichzeitig einhergehende Erosionen machen uns zu schaffen, bedrohen Arbeitsplatz, Einkommen, soziale Sicherheit und manches andere mehr.

Deutschland zeitigt daher auf seinem Pfad weg von der tradierten Industriegesellschaft hin zu einer „reifen“ Dienstleistungsgesellschaft für die Menschen eine zunehmende Spaltung. Es gibt jetzt in der Arbeitswelt die hochqualifizierten, flexibel arbeitenden Menschen, die immer mehr und schneller, zu jeder Zeit und an den unterschiedlichsten Orten ihre Dienste oder Arbeit leisten. Daneben stehen die offenbar hoffnungslos schlecht und immer unzureichender qualifizierten und immobilen Menschen. Letztere bilden das Spektrum der prekären Arbeitsverhältnisse, „die sich in der Grauzone zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung ein Leben lang von Job zu Job hangeln; auch Studierte sind unter ihnen. Es gibt Frauen, die allzu gern eine qualifizierte Abeit hätten, fänden sie nur eine Kinderbetreuung – und Menschen, die bewusst ihre Arbeitszeit reduzieren; Rentner, die fit genug sind, um sich sozial zu engagieren. Es verschwinden die lebenslangen, gesicherten Arbeitsverhältnisse, auf die sich die christliche Lehre bezieht.“1384

Wertewandel Über die Folgen dieser Entwicklung, insbesondere die wirtschaftliche Globalisierung mit allen ihren Aspekten, ist bereits viel gesagt – natürlich auch lamentiert worden.1385 Gabor Steingart bezeichnete dieses in seinem „Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“ als „Das Ende der Normalität“, wobei es sich offenbar um eine „Sehnsuchtsvokabel“ der Deutschen handelt.1386 Speziell die Globalisierung zeitigt Folgen für die Menschen, die oft erst an den sicht- und spürbaren 1384

Matthias Dobrinski: „Mehr Mensch – Die christliche Sozialethik hat eine unvergleichliche Stärke: Sie kann der globalisierten Wirtschaft eine globale Ethik zur Seite stellen“ – SZ Nr. 130 vom 07.06.2011, S. 2; „Das Prekariat ist überall“ – SZ Nr. 226 vom 29./30.09.2012, S. 28 zu entsprechenden Untersuchungen der IG Metall und des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen.

1385 Vgl. etwa Rainer H. Thierfelder: „Wertewandel in der Unternehmensführung“, S. 58 ff. und 286 ff; neuerdings auch Wolfgang Michalski: „Hamburg – Erfolge und Erfahrungen in der globalisierten Welt“ – Murmann Verlag Hamburg 2010 und die Besprechung von Werner Bührer: „Hamburger Globalisierung“ – SZ Nr. 66 vom 20./21.03.2010, S. 38 1386 Gabor Steingart: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“ – Piper Verlag GmbH München 2011 (spez. S. 143 ff.)

354

Nachteilen festgemacht werden, wenn man den Vergleich zu früher oder vorher als alleinigen Maßstab anwendet. Natürlich haben auch die vergangenen Jahrzehnte schon den Menschen geprägt und fortentwickelt, seine eigene Art zu leben, zu denken und zu wirtschaften. Nur ergeben sich inzwischen gravierende, nicht nur vorrübergehende „soziale Belastungen“ mit teilweise existentiellen Folgen für die Menschen, die unerwartet damit konfrontiert werden oder sich unter dem Druck der Verhältnisse arrangieren müssen. Spätestens der durch die Finanzkrise 2008 bedingte weltweite Konjunktureinbruch hat das allen drastisch vor Augen geführt.1387 Was wir heute als besser bewerten, muß objektiven Vergleichen nicht stand halten. Darauf, wie es früher einmal war, kommt es heute in Wahrheit nicht mehr an. Unsere Zeit, die Welt, in der wir leben, setzt die Beurteilungsmaßstäbe für das, was zeitgemäß gut, also nach dem, was wir aktuell vermögen, positiv und was weniger gut ist. Sie allein sind für unsere Ansprüche verantwortlich und damit auch der Gradmesser, Fehlentwicklungen zu erkennen, zu markieren und – natürlich möglichst abzustellen. Wir neigen mehr als andere zum Nörgeln, zur Selbstkritik bis hin zur „Selbstzerfleischung“1388 Aber auch die Fortschritte haben stets eine Kehrseite. Bereits die Erfindung des Messers hat nicht nur geholfen, viele nützliche Dinge vom Äpfelschälen bis zur Herzoperation zu tun, sondern erlaubt auch, Menschen damit schnell und wirksam zu töten. Noch deutlicher wird das bei der Atomspaltung. Nicht der Fortschritt selbst ist also gut oder böse, sondern wie wir damit umgehen. Und das richtet sich weniger nach den Eigenschaften und Möglichkeiten dessen, worüber wir rechten. Es ist vielmehr die Folge von Überzeugungen, Werten und Maßstäben der konkret handelnden Menschen, die außerhalb der betrachteten Gegenstände liegen, aber Einfluß darauf nehmen, wie wir mit ihnen umgehen. Deshalb gibt es allen Grund, sich immer wieder verstärkt mit der Kehrseite des begrüßenswerten Fortschritts, mit den Auswüchsen, den Perversionen und dem Mangel an zugedachter Funktionalität zu beschäftigen, auch wenn das viel zu oft nur als ein „Schlechtreden“ unserer doch so schönen Welt gegeißelt wird. Man könnte dieses zwar sogleich damit replizieren, daß eine solche formale Kritik umgekehrt ebenso nur ein unbegründetes „Schönfärben“ der Realität sei. Aber

1387

Jens Glüsing u.a.: „Kein Land bleibt verschont – Das Beben an den Finanzmärkten schlägt Wellen um den gesamten Erdball, die Rezession hat die globale Wirtschaft voll erfasst. Die Volkswirtschaften in ameerika, Europa und Asien sind eng miteinander verbunden – auf Gedeih und Verderb.

Docvh jetzt droht ein neuer Protektionismus“ – DER SPIEGEL Nr. 2/2009, S. 48 ff.; Andreas Oldag: „Land unter – Großbritannien steuert in Richtung Staatsbankrott“ – SZ Nr. 19 vom 24./25.01.2009, S. 23 1388 Wolfgang Reitzle in dem Interview: „‘Wir können keine Insel der Seligen schaffen‘ – Linde-Chef Wolfgang Reitzle über die wachsende Angst vor der Globalisierung, maqngelhafte Reformen und sein Versändnis von Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 90 vom 17.04.2008, S. 21

355

viel entscheidender sind die feststellbaren Fakten, die Bereitschaft und Notwendigkeit, sie nüchtern wahrzunehmen und sich ihnen vorbehaltslos zu stellen.

Jeder, der in einer, in „seiner“ Zeit lebt, nimmt das Positive gern gelassen und als selbstverständlich hin. Was ihn mit Recht beschäftigt, sind die Fehlentwicklungen, die geschehen oder die er zumindest als solche betrachtet. Und damit läßt sich auch Aufmerksamkeit erwecken, wenn es das negative Geschehen selbst schon nicht hinreichend vermocht hatte. "Was läuft in Politik und Wirtschaft alles falsch?“ ist beispielsweise so ein Thema, das sich in der Tat trefflich analysieren und als „provokant, illusionslos, spannend“ den Zeitgenossen zurückspiegeln läßt.1389 Ja früher – früher war alles besser, einfach, überschaubar und – natürlich besser. Früher war die Zeit, in die wir hinein geboren wurden, die wir gelernt haben, und in der wir uns daher auch zurechtfanden. Alles, was danach kam, hat uns von diesem nur wieder entfernt, unsere Identität mit dem Sein gestört und teilweise auch beendet.

Die Globalisierung beispielsweise – so stellte auch der Theologe Hans Küng fest1390 – ist keine Verschwörung der Amerikaner oder Japaner, auch nicht der Banker oder Politiker, sondern das Ergebnis einer Entwicklung, die schon vor Jahrhunderten begann, sich jetzt aber unter neuen politischen, ökonomischen und technischen Rahmenbedingungen spektakulär schnell von der Nationalökonomie zur Globalökonomie fortentwicklelt. Da sie im Kern die Akzente auf materielle Werte setzt und somit auf einen nüchternen internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb, ist diese sogenannte „globale Marktwirtschaft“ ein Modell, bei dem die ökonomischen Kriterien und Wirkfaktoren für Erfolg, gemessen und bewertet in Geld (Gewinn, Verdienst usw.) im Vordergrund stehen. Erfolgreiche Ökonomie wurde sodann ganz von selbst auch zum natürlichen Vorbild für alles andere. Wirtschaftlich erfolgreicher Wettbewerb wird nun auch zur Grundlage persönlicher Wertebildung. Viele traditionelle menschliche Werte werden dabei verdrängt oder als ökonomisch eher belastend statt als förderlich angesehen. Der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau hat dieses Phänomen kritisch mit dem Wort gekennzeichnet, alle Welt wisse nun von allem den Preis, aber von fast nichts mehr den wahren Wert. Überzogener Abbau traditioneller respektvoller Manieren und sonstiger menschlicher Werte ging einher mit den Befreiung erheischenden Forderungen der „68-iger-Bewegung“. Das alles bedeutete weiterhin wachsende ökonomische Unabhängigkeit und unterstützt als mutmachende Forderung Authentizität und Individualisierung des Menschen und seine wachsende Unfähigkeit, sich mit

1389

Vgl. die Anzeige zu dem Buch von Manfred Brennig: „Tauschen und Täuschen – Warum die Gesellschaft ist, wie sie ist“ – Ueberreuter 2008 in Süddeutsche Zeitung Nr. 73 vom 28.03.2008, S. 13 1390 Hans Küng: „Anständig wirtschaften – Warum Ökonomie Moral braucht“, S. 21 ff.

356 anderen unter einem gemeinsamen Dach für bestimmte Zwecke zu vereinen.1391 Es wird offensichtlich immer schwieriger, die Vielfalt der Wünsche und Interessen aufeinander abzustimmen und Lösungen zu finden, die für alle Beteiligten gleichermaßen hilfreich sind. Hier bleiben jedenfalls viel zu oft die Ergebnisse aus. Damit scheint die Welt nun für viele Menschen – wenn auch aus ganz anderen Gründen – in einem Unverständnis individueller Freiheit auch aus den Fugen geraten zu sein.

Die Folgen sind zunehmender persönlicher Egoismus und Rücksichtslosigkeit im menschlich-gesellschaftlichen Miteinander. Man hält – und dieses auch symbolisch – anderen nicht mehr selbstlos die Tür auf, damit diese als erste hindurchgehen konnten, sondern sah zu, daß man schnell noch vor ihnen durch die Tür kam, möglichst ohne sie selbst öffnen zu müssen. Buchstäblich ‚Die Nase vorn haben‘ ist die Devise. Dabei bleibt es nicht aus, daß auch die Beziehungen der Menschen untereinander auskühlen und leiden, vor allem soweit sie auf einem achtbaren Mitgefühl mit der jeweiligen Lebenssituation des anderen basierten. Statt dessen wurde alles dem ökonomischen Prinzip geopfert. Allenfalls als Objekt des Marktes nivellierten sich die Menschen unter dem Gesichtspunkt des „Verbrauchers“ bzw. ihrer Bedeutung als „Konsument“ kleinbürgerlich zu einer nur als Summe wahrzunehmenden Größe. Diese Massen-Konsumentenhaltung wurde immer intensiver – und vom Niveau her auch immer niedriger1392 – von allen Seiten, nebem der Wirtschaft auch von der Politik, der Kultur und den Medien bedient.

Im neuen Verständnis dessen, was wichtig geworden war, wurde nun auch versucht, dem immer mörderischer werden ökonomischen Wettbewerb mit Mitteln zu begegnen, die – am ökonomischsten – das eigene Überleben sichern.1393 Die Nutzung kleiner oder auch größerer „Kunstgriffe“ einschließlich wahrheitswidriger Außendarstellungen war nicht mehr verpönt. Die Anwendung unlauterer oder verbotener Mittel ist kurzfristig erfolgreicher als Redlichkeit und Recht-

1391 Siehe dazu auch „‘Nichts ist heute so gewiss wie ein unsicherer Job‘ – Der Soziologe Ulrich Beck über das Ende der Wirtschaftswunder-Republik, die Probleme moderner Partnerschaften und die Frage, was er an Helmut Kohl schätzt“ – SZ Nr. 35 vom 12.02.2010, S. 30 und Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 24 1392 Kritisch dazu Michael Jürgs: „Seichtgebiete – Warum wir hemmungslos verblöden“ – 5. Auflage C Bertelsmann 2009 und Thomas Wieczorek: „Die verblödete Republik – Wie uns Medien, Wirtschaft und Politik für dumm verkaufen“ – Knaur Taschenbuch Verlag München 2009; Max Otte: „Der Informationscrash – Wie wir systematisch für dumm verkauft werden“ – Econ 2009 1393 Vgl. dazu auch Frank Schirrmacher: „Ego – Das Spiel des Lebens“ – Blessing Verlag 2013 und die Besprechung von Andreas Zielcke: „Das Monster in uns – Am Anfang war nur eine Fiktion: der Homo oeconomicus. Doch längst hat dieses Modell die Macht über die reale Ökonomie, vor allem aber über die Individuen gewonnen. Frank Schirrmachers Buch ‚Ego‘ lehrt uns das Grauen“ – SZ Nr. 40 vom 16./17.02.2013, S. 13

357 streue.1394 Und weil kurzfristige Erfolge notwendig erscheinen, wächst die Kriminalität. Erfolgreich war jetzt nicht mehr der „ehrbare Kaufmann“, der ethisch motivierte seriöse Arzt,1395 sondern der, dem es gelingt, mit Mitteln der Korruption, Bestechung, Täuschung und ähnlichem sich einfacher, schneller und billiger Vorteile im harten wirtschaftlichen Wettbewerb zu sichern, die dem anderen nicht zur Verfügung stehen.1396 Man kann das beispielsweise an der vielfältigen Diskussion festmachen, die sich um die rapide um sich greifende Aberkennung des akademischen DoktorTitels wegen nachgewiesener Plagiate rankt. Zur modernen Form der „Reue“ dessen, der beim Lügen ertappt worden ist, entwickelte sich das Zerreden des Geschehens, wie das Kurt Kister in der Süddeutschen Zeitung1397 als nunmehr geltendes Motto einmal beschrieben hat: „Erstens war es keine Lüge und zweitens lügen sowieso alle“. Über alle möglichen Umwege gibt es Rechtfertigungsversuche – die inzwischen gezeigten Leistungen, die abgelaufene Zeitdauer seit dem Begehen der „Tat“, die „Mitschuld“ der Doktorväter bzw. Prüfer bis hin zu dem Vorschlag, Dissertationen überhaupt abzuschaffen. Letzteres kommt der Idee gleich, das Messer abschaffen zu wollen, nur weil man damit auch Menschen umbringen kann. Alles übrige bis hin zu einem nicht minder problematischen – weil entlarvenden – politiischen Kalkül bei Politikern mag zusätzlich ein Aspekt sein, beseitigt aber nicht das primär relevante, unlautere Verhalten dessen, der die Täuschung nachweislich verwirklicht hat. Und sie verkehren das Prinzip, die Bedingung und oft auch erforderliche ausrückliche Bestätigung, daß der Handelnde selbständig, ehrlich, redlich und vertrauensvoll gearbeitet hat, und nicht die Tatsache ihn entschuldigt, daß er bislang nicht erwischt worden ist, in ihr Gegenteil.

Wohin ein solcher Verlust „bürgerlicher Tugenden“ auch jenseits von Recht und Gesetz in einer Gesellschaft führt, hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt uns in seinem Buch „Ausser Dienst“ mahnend vor Augen geführt.1398 Wer mit guten Startbedingungen erfolgreich war, hatte es zwar zunächst leichter, seinen Erfolg fortzuschreiben. Wer jedoch den Anschluß verloren hatte, geriet immer mehr ins materielle und gesellschaftliche Abseits. Neben dem Mangel an sozia1394

Siehe dazu auch Erwin Helmer: „Klar und verlässlich – Manager sollten die alten Tugenden der ehrbaren Kaufleute annehmen, damit sie das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen und die Wirtschaftskrise bewältigen können“ – SZ Nr. 161 vom 16.07.2009, S. 18 1395 dpa: „Kampf gegen korrupte Ärzte – Immer mehr Betrugsfälle werden aufgedeckt. CDU verlangt eine Kronzeugen-Regelung für die Branche“ – SZ Nr. 211 vom 14.09.2009, S. 19 1396 Helmut Lölhöffel: „Bestechung und Betrug gehören zum Alltag – In deutschen Großstädten wie in der Provinz ist Korruption längst so verbreitet wie auf Sizilien – und die Politik schaut gezielt weg“ – Besprechung der Bücher von Hans Martin Tillack: „Die korrupte Republik“ und Jürgen Roth: Mafialand Deutschland“ – SZ Nr. 175 vom 01./02.08.2009, S. 32 1397 Kurt Kister: „Und keiner weinte bitterlich“ – Süddeutsche Zeitung Nr. 68 vom 20./21.03.2008, S. 4 1398 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 335 ff.

358

len Werthaltungen verbreiteten sich nun schnell auch bei vielen Menschen der ökonomische Mängel. Seit der Rezession 2002 sind viele Reiche in Deutschland trotz teilweise ebenfalls beachtlicher materieller Verluste reicher geworden und weniger Wohlhabende und Arme ärmer. Trotz aller Relativität und Vieldeutigkeit des Begriffs moderner „Armut“ als eines „gesellschaftlichen Konstrukts“1399 war es jedenfalls nicht das, was man früher Armut nannte.1400 Auch hier zeigte sich ein weltweiter Trend bereits seit den frühen neunziger Jahren, der sich eher noch weiter verstärken dürfte, auch wenn das Gegenteil notwendig wäre.1401 Armutsberichte wurden alarmierend verfaßt, besonders als Folge von Arbeitslosigkeit, steigender sogen. „atypischer Beschäftigung“ wie Teilzeitarbeit, wechselnde Leiharbeit und Befristungen, niedriger Löhne und damit auch wachsende Kinderarmut.1402 Man denke auch an die Diskussion um die „raffgierigen“ Manager und nicht zuletzt die neue „Unterschicht“ („Prekariat“). So entstand seit der Überwindung der frühindustriellen „Klassengesellschaft“ durch den Sozialstaat und eine breite, wohlstandssituierte Mittelschicht ein so nicht mehr gewohntes Auseinanderdriften der Gesellschaft in wieder mehr Arme und Reiche.1403 Nach Angaben des Manager Magazins (2012) stieg das Vermögen der 1399

Rudolf Walther: „Frivoles Spiel mit der Armut – Das Thema wurde jahrzehntelang schlicht ignoriert“ – zugleich Besprechung von Christoph Butterwege: „Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird“, Campus Verlag Frankfurt/M 2009 – SZ Nr. 211 vom 14.09.2009, S. 16; vgl. dazu auch Thomas Öchsner: „Deutschlands Mitte bröckelt – Vom wachsenden Wohlstand profitiert nur eine Elite. Forscher des Berliner DIW und der Universität Bremen widerlegen die These von dedr Stabilität der Mittelschicht“ – SZ Nr. 288 vom 13.12.2012, S. 19 1400 Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 128 u. 212 1401 Bob Geldof: „Wohlstand für alle – oder für niemanden – Die simplen Gesetze der Wirtschaft: Wer die Krise bekämpfen will, muss die Armut von drei Milliarden Menschen bekämpfen“ – SZ Nr. 32 vom 09.02.2009, S. 2; zu dem bis heute politisch ungelösten Problem sozialer Ungleichheit siehe auch Paul Nolte: „Generation Reform“, insbes. S. 40 ff.

1402 Nadja Klinger u. Jens König: „Einfach abgehängt. Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland“ – Rowohlt-Verlag Berlin 2006; Ulrike Meyer-Timpe: „Unsere armen Kinder – Wie Deutschland seine Zukunft verspielt“ – Siedler 2008; Sibylle Haas: „Immer mehr Menschen droht die Armut – Fünf Prozent der Vollzeitbeschäftigten kommen kaum über die Runden“ – SZ Nr. 12 vom 16.01.2009, S. 19 zu einer aktuellen Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg; Thomas Öchsner: „Ostdeutschland verarmt – Wohlstand für wenige – Studie: Die Mehrheit der Deutschen konnte vom vergangenen Aufschwung nicht profitieren. Risiko von Altersarmut steigt“ – SZ Nr. 17 vom 22.01.2005 S. 15; zu aktuellen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes Helga Einecke und Sibylle Haas: „Immer weniger Bürger können von ihrer Arbeit leben – In den vergangenen zehn Jahren stieg die Zahl der Beschäftigten ohne regulären Vollzeitvertrag um 2,5 Millionen“ und Sibylle Haas: „Einstieg oder Ausstieg – Leiharbeit und befristete Jobs dürfen nicht zur Dauerlösung werden“ – SZ Nr. 190 vom 20.08.2009, S. 1 und 19 1403 Vgl. auch Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 33 ff („Neue Ungleichheit, Neue Klassengesellschaft?“) und „‘Lieber Karotten essen als Gummibärchen‘ – Der Historiker Paul Nolte über Ernährungstipps für die Unterschicht, das Auslaufen der Wohklstandsgesellschaft und seine schwierige Kindheit im Pfarrhaus“ – SZ Nr. 120 vom 28.05.2010, S. 26; Nikolaus Piper: „Reiche werden wieder reicher – Die Verluste der Wirtschaftrskrise sind fast vergessen: Weltweit steigen die Vermögen.

Allein in Deutscghland gibt es 430 000 Millionäre“ – SZ Nr. 131 vom 11.06.2010, S. 28; Gustav A.

359

100 Reichsten seit 2011 um 4 Prozent auf 320 Milliarden Euro. Das Vermögen der 500 reichsten Deutschen liege mit 500 Milliarden Euro über dem Bruttoinlndsprodukt der Schweiz.1404 Das Armutsrisiko in Deutschland lag nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahre 2009 bei etwa 12,6 Millionen Menschen, d.h. 15,6 Prozent der Bevölkerung, wobei vor allem Arbeitslose und Alleinerziehende, Frauen häufiger als Männer, Jugendliche öfter als Ältere, Singles häufiger als Menschen mit Familie betroffen und gefährdet waren. Neuerdings kommen Rentner hinzu. Im Jahre 2011 erhielten etwa 844000 ältere oder erwerbsgemindeerte Menschen die Grundsicherung (5,9 Prozent mehr als im Vorjahr - vgl. Studie der deutschen Rentenversicherung - DRV).1405 Eine sich aus dieser Werteverwirrung ergebende Folgewirkung war nun auch die wachsende Orientierungslosigkeit in der Erziehung junger Menschen bis hin zu regelrechten Verwahrlosungen (Paul Nolte: „verwahrloste Gesellschaft“).1406 Traditionelle Wertevermittlung findet kaum mehr statt, auch nicht in den Familien,1407 scheint aber auch immer weniger zu überzeugen. Die Rolle der Eltern als Vorbild, Leitstelle für Werte und Orientierungen versagte zunehmend vor dem Hintergrund und dem Vorbild ihrer eigenen Orientierungslosigkeit oder Neuausrichtung, die sie zum Teil als 68-iger Generation selbst proklamiert und dann etwa in Form einer geradezu anarchischen Kinder(Nicht-)erziehung verwirklicht haben. Sie boten ihrem Nachwuchs einen höchst zweifelhaften Weg für das Überleben im harten Wettbewerb nach der Devise: „Der Ehrliche ist der Dumme.“ (Ulrich Wickert). Jung Erlebtes galt als Maßstab der eigenen Lebensform.

Man sprach besorgt vm „Erziehungsnotstand“ (Petra Gerster u. Christian Nürn-

Horn: „Des Reichtums fette Beute – Wie die Ungleichheit unser Land ruiniert“ – Campus Verlag Frankfurt/M. 2011 mit Besprechung von Indira Gurbaxani („Abschied von einem Ideal“) – SZ Nr. 59 vom 12./13.03.2011, S. 36 1404 „Reiche immer reicher“ – SZ Nr. 233 vom 09.10.2012, S. 19 1405 „Armutsrisiko konstant hoch“ – SZ Nr. 254 vom 04.11.2011, S. 6; vgl. dazu auch „Das Prekariat ist überall“ – SZ Nr. 226 vom 29./30.09.2012, S. 28 zu entsprechenden Untersuchungen der IG Metall und des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen; Thomas Öchsner: „Armutsrisiko für Rentner steigt deutlich – Nie zuvor waren so viele alte Leute auf Grundsicherung angewiesen. Besonders prekär ist die Lage für Erwerbsunfähige“ – SZ Nr. 242 vom 19.10.2012, S. 1 1406 Paul Nolte: „Wider den totalen Pluralismus“ – http://www.tagesspiegel.de vom 19.10.2006; ähnlich Peter Hahne: „Schluss mit lustig ...“, S. 38 ff. („Freizeit, Gleichgültigkeit, Liederlichkeit“) und Marc Beise: „Ein Land verlottert“ – SZ Nr. 31 vom 08.02.2010, S. 4; vgl. auch den Roman von Tina Übel: „Last Exit Volksdorf“ – Verlag C. H. Beck München 2011 und die Besprechung dazu von Till Briegler: „Wühlarbeiten im Vorgarten – In ihrem Roman ‚Last Exit Volksdorf‘ untersucht Tina Übel die Wohlstandsverwahrlosung einer Hamburger Vorstadtsiedlung – und findet lauter Abgrüne hinter Rollläden“ – SZ Nr. 169 vom 25.07.2011, S. 14 1407 Siehe dazu insbes. Norbert Blüm: „Familie am Ende – Ehen werden nur noch auf Zeit geschlossen, Kinder vom Staat betreut: Damit verliert die Gesellschaft ihren Zusammenhalt“ – SZ Nr. 104 vom 06.05.2013, S. 2

360 berger).1408 Dazu kommen zweifelhafte Vorbild- und Erziehungswirkungen seitens der Medien und insbesondere des Fernsehens (Michael Jürgs: „Seichtgebiete“), die in Teilen die Erziehung durch die Eltern ersetzt haben und das gegenwärtige soziale Verhaltensmuster prägen.1409 Die Wirkungen dieser unheilvollen Entwicklung sind überall zu besichtigen.

Die schlechten Beispiele des „Null Bock“-Lebens werden bei vielen Jugendlichen als attraktiv und nachahmenswert („cool“) empfunden, sofern nur der Staat – und das sind alle anderen – für das existenzielle Minimum sorgt (Berufswunsch: „Hartzer“). Die Bereitschaft, selbst mühsam einen Beruf zu erlernen, sich weiter zu bilden oder auch flexibel und mobil den sich bietenden Gelegenheiten zu folgen, sinkt gegenüber der Verwahrlosung schon in jungen Jahren.

Statt dessen nimmt Jugendgewalt zu.

Inzwischen ist ein bedenkliches Stadium erreicht¨ Rechnungen werden nicht mehr oder viel zu spät bezahlt. „Mietnomaden“ prägen das Bild. Die Justiz ist hoffnungslos überlastet,1410 die Gefängnisse sind überfüllt. Es wurde immer schwieriger, die ausufernden Probleme und Folgen der Verwahrlosung mit Mitteln der Polizei und Justiz in einem geordneten Rahmen zu halten. Der Staat, der auf Einhaltung gesellschaftlicher Regeln verpflichtet ist, kann seine Aufgaben immer weniger erfüllen, weil die abweichlerischen Ausnahmen zur Regel werden. Und insgesamt steigen die Staatskosten, die von den stets zu knappen Steuern nicht mehr gedeckt sind.

Wie wir aus dem Vorstehendem gesehen haben, neigt der Mensch dazu zu glauben, daß die erreichten fortgeschrittenen Lebensbedingungen andauern, wenn sie einmal geschaffen worden sind. Er lehnt sich dann gern zurück und genießt die dadurch scheinbar erreichte Entlastung. So hatte sich auch in Deutschland nach dem wirtschaftlichen Wiederaufstieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei entsprechend gestiegenen Ansprüchen und Erwartungen an die eigene Lebensqualität eine starke Mentalität des bloßen Haltens individueller „Besitzstände“ um jeden Preis eingeschlichen, ohne zu erkennen, wie sehr sich die Rahmenbedingungen für ihren Erhalt verändert hatten. Der Politologe Chri1408 Petra Gerster u. Christian Nürnberger: „Der Erziehungsnotstand: Wie wir die Zukunft unserer Kinder retten“ – Rowohlt Berlin 2002 und dies.: „Stark für das Leben: Wege aus dem Erziehungsnotstand“ – Rowohlt Berlin 2003; Peter Hahne: „Schluss mit lustig..“, S. 90 ff. und 93 ff.; Christa Eder: „‘Wir müssen dafür sorgen, dass die Richtigen Lehrer werden‘ – Studiendirektor Hans-Ulrich Hesse über ängstliche Pädagogen, unmotivieerte Schüler, Eltern ohne Präsenz und Hürden der Bürokratie“ – SZ Nr. 134 vom 15.06.2009, S.52 1409 Kritisch dazu Michael Jürgs: „Seichtgebiete – Warum wir hemmungslos verblöden“ – 5. Auflage C Bertelsmann 2009 1410 Wolfgang Janisch: „Eine Gebühr für aussichtslose Fälle – Das Bundesverfassungsgericht will die Klageflut in Karlsruhe durch eine neue Missbrauchs-Abgabe eindämmen“ – SZ Nr. 45 vom 24.02.2011, S. 6; Sven Loerzen: „400 Verfahren pro Richter – Hartz IV hat auch am Münchner Sozialgericht eine Klagewelle auswgelöst – die Erfolgsaussichten sind geringer als anderswo“ – SZ Nr. 46 vom 25.02.2011, S. R 13

361

stian Graf von Krockow hat unsere Gegenwart vor kurzem noch so charakterisiert:1411 Auch das Erstarken alternativer politischer Parteien (AfD) baut auf dem Irrtum auf, man könne die eigene Welt anhalten und die Probleme der Zukunft mit den Zuständen und Mitteln der Vergangenheit lösen.

Wir sind bis heute als Folge des einmal erreichten allgemeinen Wohlstandes anspruchsvoller geworden und glauben, damit stets weiterhin an der Spitze zu stehen und unseren Wohlstand halten zu können, was auch immer sonst auf der Welt passiert. Das ist natürlich unrealistisch. Und nach der großen weltweiten Finanzkrise werden die Aussichten auch angesichts der enormen Staatsverschuldungen für ihre schwächeren Bürger kurzfristig nicht einfacher werden.1412 Aus allen diesen Gründen werden in der betroffenen und vordergründig kritischen Öffentlichkeit, bei Interessenvertretern, in den Medien1413 und noch viel zu selten auch in der Politik nicht zu leugnenden Nachteile thematisiert, die Kehrseite einer aktuellen Entwicklung, als ob sie in einer immer unübersichtlicheren Gemengelage von Ursachen und Wirkungen nur von der „Globalisierung“ herrührt oder diese ausschließlich für nachteilige Veränderungen allein verantwortlich ist.

Das Wort „Globalisierung“ wird gleichwohl zum Kampfbegriff und Unwort hochgespielt, was natürlich eine höchst einseitige und selektive Betrachtungsweise darstellt. „Der Protest dagegen“ – so Altbundeskanzler Helmut Schmidt – „bleibt naiver Unfug.“1414 Der Ökonom und Politikprofessor Jagdish Bhagwati hat sich 2004 eingehend mit den Argumenten der Globalisierungskritiker befaßt in seinem Buch über das „menschliche Antlitz“ der Globalisierung und sie letztlich Zug um Zug entkräftet. Auch er zeigt zunächst auf, wie sich die Lebensbedingungen für Millionen von Menschen während der Globalisierung erheblich 1411 Christian Graf von Krockow: „Bismarck – Eine Biographie“ – Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1997/1998, S. 417 ff. („Ein Nachwort zur Gegenwart“) 1412 Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler Köln : „Die Agenda 2020 wird kommen – Der Staat hat immer weniger Geld, wie also wird er sich sanieren? Indem er wieder Sozialleistungen kürzt“ – SZ Nr. 150 vom 03.07.2009, S. 2; Claus Hulverscheidt: „Deutschland lebt zunehmend auf Pump – Bis zum Jahre 2013 wird die Staatsschuld von zuletzt 66 auf 82 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen“ – SZ Nr. 155 vom 09.07.2009, S. 19; Martin Hesse: „Europa muss noch 20 Jahre für Finanzkrise zahlen – Zentralbank: Staaten sollen deshalb stärker sparen/Deutschlands Schulden auf 1,7 Billionen euro gestiegen“, Helga Einecke: „Gnadenlos sparen – Die Euro-Staaten müssen runter von ihren Schulden“ – SZ Nr. 59 vom 12.03.2010, S. 1 und 17; Catherine Hoffmann: „Klar ist, dass es kracht – Seit acht Jahrhunderten verschulden sich Staaten, Bürger und Unternehmen immer wieder bis zum Gehtnichtmehr. Erst kommt der Boom, dann das böse Erwachen“ – SZ Nr. 64 vom 18.03.2010, S. 20 und dort auch das Interview mit Elga Bartsch, Chefökonomin bei Morgan Stanley: „Inflation ist keine Option – Eine Ökonomin erklärt, wie sich Europa aus der Klemme befreit“.

1413 August-Wilhelm Scheer: „Verloren in der Welt der Modelle – Ökonomen lernen im Studium zu viel über Zahlen und zu wenig über Menschen – auch und darum sind sie der Krise nicht gewachsen“ – SZ Nr. 106 vom 09./10.05.2009, S. 2 1414 Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 178; ebenso Hans Küng: „Anständig wirtschaften – Warum Ökonomie Moral braucht“, S. 22

362 verbessert haben.1415 Er bedauerte, daß es nur von vielen noch nicht erkannt worden sei, sei es, daß ideologische Standpunkte die Sicht verbauten, sei es, daß alle diejenigen einem „gigantischen Trugschluß“ unterlägen, die in der Globalisierung die Ursache für soziale und ökologische Mißstände auf dieser Erde sähen.1416 Nicht alle Menschen, die diesen neuen globalen technologischen und ökonomischen Entwicklungslinien ausgesetzt waren, haben sie verstanden oder einen für sich und ihre Mitmenschen gedeihlichen praktischen Ausweg daraus gefunden. Mißverständnisse, Fehlinterpretationen, Ratlosigkeit und sogar bewußter Fehleinsatz kennzeichnen noch immer die gesellschaftliche Szene, die sich nun in folgenden Aspekten und Kennzeichnungen deutlich weiter verändert hat. Auch der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer stimmt ihm in seinem Vorwort zu der deutschen Ausgabe zu: „Bei der Globalisierung überwiegen eindeutig die Gewinner“.1417 Nochmals zurück zur Erfindung des Messers: Alles auf dieser Welt ist „ambivalent“,1418 also alles hat auch eine Kehrseite. Nicht die Globalisierung als solche ist schlecht, sondern allenfalls einige ihrer unerwünschten und sich nicht von selbst regulierenden Auswirkungen. Über die mit ihr verbundenen Segnungen spricht kaum jemand. Man nimmt sie stillschweigend und als selbstverständlich hin und genießt ihre Vorteile. Weit weniger im selbstverständlichen Blickfeld stehen daher die positiven sozialen und menschlichen Folgen, die auch durch die Globalisierung eingetreten sind. Man muß dabei eine negative Seite der Entwicklung nicht leugnen.1419 Dennoch sollte man sich zunächst klarmachen, welche zahlreichen und überwiegend positiven Auswirkungen die Globalisierung auf die Menschen hat und weiter haben wird. Nur ein ehrliches Gesamtbild erlaubt es, den Wert des erreichten Entwicklungsstandes für die menschliche Gesellschaft einigermaßen gerecht einzuschätzen.

Der Markt – und somit auch seine globale Erweiterung – ist im Kern sozial.

Das zeigte uns in Europa die freie Markt- und Wettbewerbswirtschaft im Sinne der Freiburger „Ordoliberalen“ um Walter Eucken und Ludwig Erhard: „Das Soziale in der sozialen Marktwirtschaft lässt sich nicht nur an den Ausgaben für das soziale Netz ablesen. Es ruht vielmehr auf drei Säulen...“1420 (primär auf den 1415 Jagdish Bhagwati: „Verteidigung der Globalisierung“ – Pantheon und Paperback bei Siedler 2008; ebenso Manfred Wittenstein: „Geschäftsmodell Deutschland – Warum die Globalisierung gut für uns ist“ – Murmann Verlag Hamburg 2010 1416 Jagdish Bhagwati: „Verteidigung der Globalisierung“ – Vorwort: Joschka Fischer – Pantheon Verlag München 2008 1417 Buchbesprechung von Helmut Lölhöffel: „Eine Chance für die Armen“ – SZ Nr. 296 vom 20./21.12.2008, S. 36 1418 Hans Küng: „Anständig wirtschaften – Warum Ökonomie Moral braucht“, S. 24 ff.

1419 Dazu auch Hans Küng: „Anständig wirtschaften – Warum Ökonomie Moral braucht“, S. 25 ff.

1420 Peter Hampe: „Soziale Marktwirtschaft ist mehr als Hartz IV – Verdient unser Wirtschaftssystem seinen Namen noch? Die Höhe des Arbeitslosengeldes und ähnliche Leistungen sagt darüber nicht viel aus. Die soziale Komponente ist viel tiefer verankert“ – SZ Nr. 263 vom 12.11.2008, S. 22;

363

sozialen Effekten einer wettbewerbsorientierten, monopolfreien Marktwirtschaft...“, Freiheit der Entscheidungen für Konsumenten und Produzenten, die Orientierung der Produktion am Bedarf und an den Wünschen der Verbraucher, eine durch Wettbewerb erzwungene hohe wirtschaftliche Effizienz) – all das führe zu entsprechend hohen Pro-Kopf-Einkommen und damit zum ‚Wohlstand für alle‘.

Die Deutschen können immer billiger Massenware kaufen und gut und vor allem Dank des gemeinsamen Euro in Europa erfolgreich auch ihre eigenen Produkte verkaufen („Waren-Exportweltmeister“), selbst wenn es in einzelnen Bereichen schwächelte oder Wirtschaftskrisen zu überwinden waren.1421 Wir erfreuen uns an Konsumgütern der Elektronik, bei Textilien und Billigreisen in den Süden. Daß sich auf absehbare Zeit die bisherigen Billiglöhne beispielsweise in den osteuropäischen Nachbarländern allmählich wieder den unseren angleichen, kommt diesen Menschen zugute und verringert den sozialschädlichen Wettbewerb auf lange Sicht, so daß sogar einige Unternehmen ihre Produktion schon wieder nach Deutschland zurück verlegen, weil die Kostenvorteile schwinden. Vieles davon gefällt uns durchaus gut und wir genießen es stillschweigend als moderner Fortschritt. Einiges nimmt man zwar gern an und genießt die Vorteile. „Seit wir auf dem Telefonmarkt Wettbewerb zulassen, ist das Telefonieren so billig wie nie zuvor.“1422 Der Nationalökonom David Ricardo hat diese positiven Effekte in seiner „Theorie der kompatiblen Kostenvorteile“ schon Anfang des 19. Jahrhunderts deutlich gemacht.1423 Wenn wir als Folge der erfolgreichen globalen wirtschaftlichen Entwicklung immer schneller die gewohnte Arbeit verlieren oder Löhne sich wettbewerbsbedingt verringern, dann muß man sehen, daß diese Folgen durch die gleichen Wirkmechanismen verursacht worden sind, die uns die beschriebenen Vorteile beschert haben. In einer Gesellschaft, die allein dem ökonomischen Wettbewerbsprinzip huldigt, gibt es notgedrungen stets Gewinner und Verlierer.

Die Menschen genießen nicht zuletzt eine nie zuvor erreichte verkehrstechnische Mobilität mit der nicht unwichtigen Folge, daß sie sich geistig und kulturell „näherkommen“, mehr voneinander und den unterschiedlichen Lebensbedingungen erfahren und so auch mehr Verständnis füreinander entwickeln. Nicht weniErgebnisse eines Symposiums „Grundgesetz und Soziale Marktwirtschaft“ des Bayerischen Wirtschaftsministeriums in München – vgl. Alina Fichter: „Mit Erhard durch die Finanzkrise – Experten debattieren in München über die soziale Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 172 vom 29.07.2009, S. 20; siehe dazu auch Hans Küng: „Anständig wirtschaften – Warum Ökonomie Moral braucht“, S. 66 ff.

1421 Horst Wildemann: „Globale Industrialisierung – Wie deutsche Unternehmen weltweit neue Märkte erobern und Wirtschaftskrisen überstehen können“ – SZ Nr. 40 vom 18.02.2011, S. 20 1422 „‘Wettbewerb ist solidarisch‘ – Der Wirtschaftsethiker Karl Homann über Globalisierung und Nokias Werkverlagerung“ – SZ Nr. 24 vom 29.01.2008, S. 21 1423 zit. nach Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 91

364

ger lehrreich und prägend ist es, auch einmal das eigene Land von außen zu sehen. Ähnliches gilt für den Wissensaustausch, das know-how, dank der schnellen Verfügbarkeit von Informationen überall in der Welt. Alles in allem liegen damit bereits gewaltige Wandlungen unserer rechtlichen und politischen, auch der sozialen und ökonomischen Kultur hinter uns.1424 Erst eine solche, „funktionierende Wettbewerbswirtschaft biete das tragfähige Fundament für eine sozialstaatliche Einkommensverteilung. Diese Einsicht geht politisch immer wieder verloren, wenn man außer Acht lässt, dass jede Sozialausgabe letztlich nur via Sozialabgaben oder Steuern aus den Markteinkommen anderer finanziert werden kann“ (Helmut Schmidt).

Es gibt weitere Effekte, die durch die Globalisierung befördert worden sind.

Bei vielen, früher unbehandelbaren Krankheiten und körperliche Leiden sind wir dank des medizinischen Fortschritts, des Verstehens der krankmachenden Vorgänge, verbesserter Pharmaprodukte und vor allem auch in der Medizintechnik deutlich vorangekommen.1425 Man denke nur an die Krankheiten und Seuchen, auch die hohe Kindersternblichkeit, die im Mittelalter über die hilflosen Menschen hinwegzogen und viele dahinrafften. Ungläubig lesen wir manches in Geschichtsbüchern und alten Zeitungen. Überwunden ist eine noch bis zur Jahrhundertwende um 1900 andauernde hohe Kindersterblichkeit. Als Folge dessen ist auch die Lebenserwartung gestiegen und wir dürfen meistens auch in höherem Alter noch mit einer zumutbaren Lebensqualität rechnen.

Immer mehr Menschen leben inzwischen in einer Welt, die sich zu den allgemeinen Menschenrechten, besonders den Freiheitsrechten bekennt, die also sowohl die individuelle Handlungsfreiheit als auch die des freien Wirtschaftens grundsätzlich bejahen. Die neuesten Aufstände und Befreiungsbewegungen in den nordafrikanischen Staaten sind zweifellos eine Folge auch der Ursachen, welche die moderne Globalisierung bewirkt hat.

Und noch eines könnte sich ereignen: Künftig wird – so mein Horst W. Opaschowski – materieller Reichtum voraussichtlich weniger im Mittelpunkt stehen als bisher. Das zeigen uns auch die neuesten Umfragen der sogen. Glücksforschung. Zufriedenheit hängt nicht allein am Geld. Das persönliche Wohlergehen emanzipiert sich von der Macht des Geldes und jeder soll sein Wohlergehen im

1424

Vgl. auch Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 10 und 21 ff.

Siehe etwa Otto-Albrecht Müller: „Ein schier unübersehbares Arsenal – Die enorme Erweiterung des diagnostischen Spektrums und große Fortschritte in der Therapie kennzeichnen die Entwicklung der Inneren Medizin“ – SZ Nr. 256 vom 05.11.2010, S. 31; Dieter Schweer: „Industrie im Jahr 2030 – Technologische Umbrüche sind nicht aufzuhalten. Und das Tempo der Veränderungen nimmt deutlich zu“ – SZ Nr. 29 vom 04./05.02.2012, S. 2

1425

365

Sinne einer Verwirklichung selbst formulierter Ziele aus eigener Kraft anstreben.1426 Es ist also trotz aller bisher erreichten Erfolge kein Selbstgänger, wenn Deutschland oder Europa auch künftig im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb bestehen will und zwar den Ansprüchen entsprechend erfolgreich. Es bedarf ständiger neuer Anstrengungen der Unternehmen, aber auch der sie unterstützenden Politik, um dieses Grundziel für die eigene Existenz zu erreichen.

Weitere Veränderungen bestimmen maßgeblich die neuen Rahmenbedingungen, in denen wir uns künftig bewegen werden. Werten wir sie als Fortschritt oder Rückschritt – sie sind vorhanden. Meistens sind sie mehr oder weniger ambivalent. Das gilt auch für die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft im Sinne einer Aktualisierung und modernen Ausrichtung in dem jetzt bestimmenden Umfeld,1427 wobei wir zugleich in anderen Dimensionen denken müssen, als es unsere Vorgenerationen getan haben. Die teils fundamentalen Veränderungen der technischen und ökonomischen Rahmenbedingungen auf dieser Welt erfordern ebenso wie die Überwindung der Finanz- und Eurokrise schnellstens Anpassungen. Wie bleiben die bisherigen Industriestaaten auch künftig wettbewerbsfähig und global erfolgreich? Wie wird die Wirtschaftskrise überwunden und wie bleibt die Währung stabil und vertrauenswürdig? Was hilft aus der Schuldenfalle? Welcher Weg führt zur Vollbeschäftigung? Wie entsteht mehr soziale Gerechtigkeit? Woher kommt die Energie der Zukunft und wie verhindern wir die ökologische Belastung unserer Umwelt? Wie beschaffen müssen Sicherungssysteme für Krankheit, Pflege und das Alter sein?

Trotz aller dieser Perspektiven ist sicher auch richtig: Der Mensch als teils rationales, teils emotionales und von unbekannten Trieben und Phantasien bewegtes Wesen wird sich kaum grundsäötzlich verändern. Vieles, was hier kritisch zur Zeitgeschichte angemerkt wurde, läßt sich nicht verändern, weil der Mensch in seiner Mischung von Eigenschaften so ist wie er eben ist. Das mag einerseits aufzeigen, wie wenig durchschlagend Zeitkritik bleibt. Die Hoffnungen auf einen disziplinierteren und nur dem Guten verspflicheten Menschen bleibt unerfüllbar. Das läßt Kritik zum anderen auch ein wenig naiv erscheinen.

Denn was folgt daraus wirklich?

1426 Peter Felixberger: „Bescheiden macht glücklich“ – Buchbesprechung von Horst W. Opaschowski: „Wohlstand neu denken – Wie die nächste Generation leben wird“ in SZ Nr. 239 vom 17./18.10.2009, S. 24 1427 Uwe Jens, Prof. der Universität Bochum: „In der Krise nicht die Marktwirtschaft vergessen – Die SPD plädiert für eine solidarische Gesellschaft. Besser wäre das Leitbild einer privilegienfreien Aufstiegsgesellschaft, empfiehlt der frühere langjährige wirtschaftspolitische Sprecher der SPDBundestagsfraktion, Uwe Jens, seiner Partei“; „Eine neue Ordnung mit bewährten Prinzipien – Schwarz-gelber Schulterschluss: Norbet Röttgen (CDU) und Christian Lindner (FDP) plädieren für eine Besinnung auf die soziale Marktwirtschaft“ – SZ Nr. 71 vom 26.03.2010, S. 5

366

Die Zukunft ?

Die Zukunft ist ebenso wie die Vergangenheit nicht monokausal zu erfassen, also nicht nur von einer oder wenigen Einflußgrößen abhängig, sondern von einer unübersehbaren und variantenreichen Vielzahl, deren tatsächliche Entwicklung, aber auch planerische Kalkulation – Bildungsstandard, Produktivität, Klima usw. – sehr unsicher bleibt und deshalb zu wenig in das Prognosefeld einbezogen werden können.1428 Die Vielfalt der Einflußfaktoren nach Inhalt, Größe, Gewicht und zeitlicher Dauer ist in der immer mehr vernetzten globalen Welt derart angewachsen, daß auch Wissenschaftler etwa der Volkswirtschaften wie in jeder Chaos-Situation nicht mehr wirklich in der Lage sind, die Vielfalt der Einfluß – und Wirkfaktoren zu realistischen Planungen zu verarbeiten. Selbst das alles widerspruchsfrei zusammenzufügen, was etwa als demographische Entwicklung noch zu erwarten ist, stellt trotz der einigermaßen konkreten Statistik hohe Herausforderungen an den Sozialstaat. Aber zumindest den Versuch, auch seine Fortschreibung nach den sich klärenden Verhältnissen, sollte man machen. So warnte der Leiter des Centre for European Policy Studies, Daniel Gros, ebenso wie schon andere vor ihm vor absehbaren negativen Folgen für unsere Volkswirtschaft.1429 Seit mindestens zwei Jahrzehnten befindet sich die Bundesrepublik Deutschland nicht nur in einem politischen Stillstand, in der Unfähigkeit zum Wandel, sondern geradezu in einem breit aufgelaufenen „Reformstau.“(Paul Nolte)1430 Denn sowohl in der Gesellschaft als auch in der Politik herrscht ein großes Beharrungsverhalten.1431 Die Wirtschaftsweisen haben anläßlich der Vorlage ihres Jahresgutachtens im November 2013 die aktuell laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD, bei denen es um die weitere Zzukunft geht, sogar als „rückwärtsgewandt“ verurteilt und den mangelnden Blick auf die großen zukünftigen Herausforderungen kritisiert.1432 Besonders schwer tun sich 1428

Gerd Bosbach: „Albtraum Demographie – Die Deutschen sterben aus, die Rente ist nicht sicher.

Wie mit der Bevölkerungsstatistik Angst gemacht wird“ – SZ Nr. 1 vom 02.01.2012, S. 2 1429 „‘Polen wird Deutschland überholen‘ – Der Leiter der Brüsseler Denkfabrik CEPS, Daniel Gros, warnt Europas größte Volkswirtschaft vor dem langen Abstieg nach der Krise“ – SZ Nr. 62 vom 16.03.2010, S. 20; ebenso Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 243 ff. und Max Otte: „Der Crash kommt“ – Econ 2006 (2009) 1430 Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 15 1431 Eingehend dazu Paul Nolte: „Generation Reform“ – 1. Auflage Verlag C. H. Beck 2004 1432 Guido Bohsem u. Claus Hulverscheidt: „Vernichtendes Zeugnis für Union und SOPD – Die Wirtschaftsweisen verurteilen die Pläne der angehenden Koalition als ‚rückwärtsgewandt‘,. Sie

367

die politisch Verantwortlichen, sich rechtzeitig mit den Fakten zu befassen und ausgewogen und sozialverträglich auf die anstehenden Erfordernisse einzustellen. Statt überzeugende und wenigstens plausible Lösungen zugunsten der Menschen zu finden verharren die politischen Parteien in ideologischen Denkweisen und Debatten.1433 Es scheint, als ob die Selbstzufriedenheit mit dem bislang Erreichten jeden Fortschritt blockiert.

Immer wieder führen teils bewußte, teils zwangsläufige Vernebelungen der Realitäten, Verzögerungen und Versäumnisse allenfalls zu einem unerfreulichen, belastenden und letztlich doch nur mühsam befriedigenden – weil meistens zu spät eingeleiteten – Reparaturbetrieb. Entsprechende Sonntagsreden sind zwar viel zu lange gehalten worden. Aber selbst mehrfach angekündigte sogenannte „Reformen“ werden – wer immer gerade die Politik des Handelns zu vertreten hat – wenn überhaupt auf relativ unwichtigen Gebieten (Maut, Arbeitsmarktmaßnahmen, Mindestlohn etc. statt Fragen der Alterung der Gesellschaft), viel zu spät, inhaltlich halbherzig und auf dem geringsten Verständigungsnenner der beteiligten Parteien und Gremien verabschiedet, aber auch nicht oder nicht ausreichend entschieden umgesetzt. Viel zu mühsam vollziehen sich notwendige Entscheidungs- und Handlungsprozesse, die uns die Demokratie als gemeinsamen politischen Handlungs- und Entscheidungsrahmen ohnehin auferlegt.1434 In der Ära Kohl war das Thema „Reform“ – auch im Sinne einer Rückkehr zu bewährten, aber in Vergessenheit geratenen und verfallenen Zuständen1435 – praktisch nicht vorhanden, obwohl sich die Anzeichen für ihre Notwendigkeit längst abzeichneten. Bundeskanzler Schröder hatte reichlich spät, auch erst zum Ende seiner Regierungszeit immerhin die Agenda 2010 auf den Weg gebracht, auch wenn danach von einigen versucht wurde, die wenigen, aber doch bedeutsamen Wirkungen wieder zurückzufahren. Wo so schnell und entschlossen zu handeln versucht wird wie von Schröder, kostet es schnell das Amt.1436 Und die große Koalition unter Bundeskanzlerein Angela Merkel – von Führung mag man hier gar nicht sprechen – brachte bis zur großen Finanzkrise und ihren Folgen in einem Jahr mit zahlreichen Wahlen nicht viel wesentlicheres zustande als ein nur an unterschiedlichen Parteiwünschen und populistischen Effekten orientiertes, weiternhin schuldentreibendes Konjunkturpaket, dessen ökonomische Problemakritisieren Mietpreisbremse und höhere Mütterrenten. Das Demografie-Problem bleibe ungelöst“ – SZ Nr. 262 vom 13.11.2013, S. 1 1433 Nico Fried: „Wegregieren von ich selbst – Über die Zukunft der Union entscheiden nicht Konservatismus-Debatten, sondern nahende Reformen“ – SZ Nr. 185 vom 13.08.2010, S. 4; Martin Winter: „Europa ohne Schwung“ – SZ Nr. 207 vom 08.09.2010, S. 4 1434 Andreas Zielcke: „Im Treibsand: „Trotz guter Verfassung: Die Demokratie stellt sich dumm“ – SZ Nr. 116 vom 22.05.2009, S. 13; siehe dazu auch Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 269 ff.

1435 Hans-Olaf Henkel: „Die Abwracker“, S. 231 ff.

1436 „‘Wir können keine Insel der Seligen schaffen“ – Linde-Chef Wolfgang Reitzle über die wachsende Angst vor der Globalisierung, mangelhafte Reformen und sein Verständnis von Gerechtigkeit“ – SZ Nr. 90 vom 17.04.2008, S. 21; Helmut Schmidt: „Ausser Dienst“, S. 270

368

tik von einer breiten Öffentlichkeit erkannt und dessen anhaltende Wirksamkeit mit guten Gründen bezweifelt wurde.1437 Die großen, versprochenen Wirkungen bleiben jedenfalls aus. Der Begriff und das Wort „Reform“ ist – so Paul Nolte – nach alledem längst „abgenutzt und abgeschmackt, verbraucht in den politischen Kämpfen der vergangenen Jahre, die zu häufig nur Scheingefechte gewesen sind.

Die Aussicht auf Reformen schreckt die Bürger mittlerweile mehr, als dass sie mobilisieren und Zuversicht vermitteln könnte.“ 1438 Das bestätigt eine ländervergleichende Studie der Bertelsmann-Stiftung, wonach sich Deutschland („klare Defizite“) in der Kategorie „Steuerung und Strategiefähigkeit“ nur auf Platz 24 noch hinter Österreich, Südkorea und Portugal findet, auch wenn der sogen. „Management-Index“ der Reformfähigkeit dann ein etwas besseres Zeugnis ausstellt. An der Spitze liegen die USA und Finnland.

Insbesondere bei der effizienten Umsetzung politischer Vorhaben sind die Deutschen mit einem Rang 16 „nur mäßig erfolgreich.“1439 Nun mag der Vergleich mit Ländern, in denen noch weitaus schlechter gewirtschaftet wird, ein noch einigermaßen erträgliches Bild abgeben. Am Maßstab der akuten Problemlage und der Erwartungen der Menschen gemessen sieht es jedenfalls auch keinesfalls so erfreulich aus.

Lediglich die Wirtschaft verändert sich unter dem weltweiten Wettbewerbsdruck relativ schnell, wobei sich nicht selten unveränderte Systeme als nicht mehr passende Rahmenbedingungen oder Hindernisse erweisen. Die Fähigkeit zu schnellem und intelligenten Handeln scheint sich dem Zögern gegenüber den eingetretenen Veränderungen bei jedem Einzelnen kaum anzupassen. Offenbar dominiert in der Politik immer wieder der Glaube daran, man könne die Ent1437

Ulrich Blum: „Der Staat versagt – Eine leistungs- und wachstumsorientierte Reform sucht man bisher vergebens. Ein neuer Aufschwung mus auf den Erfahrungen des alten Niedergangs aufbauan“ – SZ Nr. 15 vom 20.01.2009, S. 18; siehe auch die Einmütigkeit der Leserzuschriften unter „Berliner Katastrophenpaket – Die Milliarden für Deutschlands Konjunktur sind falsch angelegt, weil sie das Wachstum ankurbeln sollen, statt Nachhaltigkeit zu fördern“ – SZ Nr. 17 vom 22.01.2009, S. 39; Ulrich Schäfer: „Die Staatskapitalisten – Retten ohne Plan: Warum Politiker sich mit Milliardenhilfen überbieten“ – SZ Nr. 25 vom 31.01./01.02.2009, S. 23; grundsätzlich ähnlich auch Andreas Zielcke: „Im Treibsand: „Trotz guter Verfassung: Die Demokratie stellt sich dumm“ – SZ Nr. 116 vom 22.05.2009, S. 13; Marc Beise: „Der große Schein – Warum ein Bündnis derVolksparteien das Land teuer zu stehen kommt“ – SZ Nr. 162 vom 17.07.2009, S. 17; Thomas Öchsner: „Milliardenschwere Erblasten – Die nächste Bundesregierung muss auf dem Arbeitsmarkt noch viele Probleme lösen“ – SZ Nr. 203 vom 04.09.2009, S. 19; Christoph Butterwegge: „Willkommen im Suppenküchenstaat – Halbzeitbilanz der Koalition am Beispiel der Sozialpolitik: Im Schatten der Finanzkrise geht wenig bis nichts voran“ – SZ Nr. 248 vom 27.10.2011, S. 2; Guido Bohsem u. Claus Hulverscheidt: „Vernichtendes Zeugnis für Union und SOPD – Die Wirtschaftsweisen verurteilen die Pläne der angehenden Koalition als ‚rückwärtsgewandt‘,. Sie kritisieren Mietpreisbremse und höhere Mütterrenten. Das Demografie-Problem bleibe ungelöst“ – SZ Nr. 262 vom 13.11.2013, S. 1 1438 Paul Nolte: „Generation Reform“, S. 8 1439 Hans-Jürgen Jakobs: „Deutschland wird besser ... aber das Kanzleramt hat noch einiges zu tun – Ergebnisse einer Studie der Bertelsmann-Stiftung“ – SZ Nr. 75 vom 31.03.2011, S. 19

369

wicklung aufhalten und diejenigen „Besitzstände“ auf ewig festhalten, die man einmal erreicht hatte. Und so sind alle Bemühungen und Aufwände um Verbesserungen meist nur rückwärts gewandt, statt in die Zukunft zu sehen und das rechtzeitig vorzubereiten, was dann gefordert wird. Jetzt kommt es allein darauf an, endlich unverzüglich zu handeln. Denn Zufriedenheit und Nichtstun werden zum neuen, aber überflüssigen und vermeidbaren Risiko.1440 Wie wir mehrfach festgestellt haben, ist nichts nur gut oder schlecht. Deshalb gibt es selten zu allem – insbesondere auch zu dem, was zu tun ist – nur eine klar bejahende oder ablehnende Entscheidung. Maßnahmen und Verhaltensweisen verwirklichen die erwünschten Ziele, erzeugen aber oft gleichzeitig höchst unerwünschte Nebenwirkungen. Stets führen viele Wege nach Rom. Nichts ist alternativlos. Alles gilt es in offenen und ehrlichen politischen Entscheidungsprozessen stets abzuwägen, bevor man sich zu der einen oder anderen Handlungsweise entschließt. Dabei die Öffentlichkeit einzuschließen, ihnen die Dinge frühzeitig verständlich zu machen und sie höchstmöglich an dem Meinungsbildungsprozeß zu beteiligen, gehört zu einer lebendigen Demokratie. Die Frage, wie effizient man zu den erhofften Ergebnissen kommt, ist nicht zuletzt, wie offen man auch mit den Nachteilen umgeht, die für jede Lösung mehr oder weniger in Kauf zu nehmen sind.

1440

Markus Balser: „Risiko Zufriedenheit – Soll der Boom anhalten, muss Deutschland Reformen vorantreiben“ – SZ Nr. 15 vom 20.01.2011, S. 19

370

371

Literatur Becker, Ulrich – Hockerts, Hans Günter – Tenfelde, Tenfelde, Klaus (Hrsg.): „Sozialstaat Deutschland – Geschichte und Gegenwart“ – Dietz Verlag Bonn 2010 und die Besprechung von Werner Bührer: „Von der Zukunft des Sozialstaates“ – SZ Nr. 192 vom 21./22.08.2010, S. 30 Butterwegge, Christoph: „Wohlfahrtsstaat im Wandel. Probleme und Perspektiven der Sozialpolitik“ − 3. Auflage Leske + Budrich-Verlag 2001 Conze, Eckhart: „Die Suche nach Sicherheit – Eine Geschichte dern Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart“ – Siedler-Verlag München 2009 und dessen Besprechung von Godehard Weyerer: „Vom Glück der Deutschen – Die erstaunlich erfolgreiche Geschichte der Bundesrepublik wäre vermutlich ohne die Alliierten so nicht möglich gewesebn“ – SZ Nr. 146 vom 29.06.2009, S. 14 Deufel, Konrad und Wolf, Manfred (Hrsg.): „Ende der Solidarität?: Die Zukunft des Sozialstaats“ − Herder-Verlag 2003 Dönhoff , Marion Gräfin: „Zivilisiert den Kapitalismus – Grenzen der Freiheit“ – DVA Stuttgart 1997 Döring, Diether u.a. (Hrsg.): „Sozialstaat in der Globalisierung“ − Suhrkamp-Verlag 1999 Goeudevert, Daniel: „Das Seerosen-Prinzip. Wie uns die Gier ruiniert“ – Dumont Köln 2008 – besprochen von Hans Leyendecker: „Verantwortung wäre schon genug“ – SZ Nr. 222 vom 23.09.2008, S. 16 Häring, Norbert: „Markt und Macht – Was Sie schon immer über die Wirtschaft wissen wollten, aber bisher nicht erfahren sollten“ – Schäffer-Poeschel mit Besprechung von Winfried Kretschmer („Kritik der Neoklassik“) in SZ Nr. 59 vom 12./13.03.2011, S. 36 Haffner, sebastian: „Anmerkungen zu Hitler“ – Fischer Verlag Frankfurt/M 1981 Hahne, Peter: „Schluss mit lustig – Das Ende der Spaßgesellschaft“ – Verlag Johannis 2004 Hank, Rainer: „Das Ende der Gleichheit“ – Fischer Verlag Frankfurt 2000 Henkel, Hans-Olaf: „Die Abwracker – Wie Zocker und Politiker unsere Zukunft verspielen“ – 5.

Auflage Wilhelm Heyne Verlag München 2009 Heinsohn, Gunnar: „Söhne und Weltmacht – Terror im Aufstieg und Fall der Nationen“ – Orell Füssli 2006 Hesse, Konrad: „Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ – 20. Auflage C. F. Müller 1995/1999 Höffe, Otfried: „Gerechtigkeit – Eine philosophische Einführung“ – C. H. Beck Verlag München (Wissen in der Beck’schen Reihe) 2001

372

Horn, Gustav A.: „Des Reichtums fette Beute – Wie die Ungleichheit unser Land ruiniert“ – Campus Verlag Frankfurt/M. 2011 mit Besprechung von Indira Gurbaxani („Abschied von einem Ideal“) – SZ Nr. 59 vom 12./13.03.2011, S. 36 Horster, Detlef (Hrsg.): „Sozialstaat und Gerechtigkeit“ – Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2005 Hüther, Michael: „Die disziplinierte Freiheit – Eine neue Balance von Markt und Staat“ – Murmann Verlag Hamburg 2011 und die Besprechung von Winfried Kretschmer: „Keynes nur im Krisenfall“ – SZ Nr. 71 vom 26./27.03.2011, S. 36 Huaster, Stefan: „Soziale Gesundheitsgerechtigkeit – Sparen, umverteilen, vorsorgen?“ – Berlin 2011 Jürgs, Michael: „Seichtgebiete – Warum wir hemmungslos verblöden“ – 5. Auflage C Bertelsmann 2009 Kaufmann, Franz-Xaver: „Herausforderungen des Sozialstaates“ – 4. Auflage Suhrkamp-Verlag 2001 Kaufmann, Franz-Xaver: „Schrumpfende Gesellschaft – Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen“ – 2005 Kaelble, Hartmut u. Schmid, Günther (Hrsg.): „Das europäische Sozialstaatsmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat“ – WZB-Jahrbuch 2004 – Edition Sigma Berlin 2004 Klöckner, Bernd W.: „Die gierige Generation. Wie die Alten auf Kosten der Jungen abkassieren“ – Eichborn-Verlag 2003 Kloepfer, Michael: „Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung – Zur Verfassungsgebung im vereinten Deutschland“ – Antrittsvorlesung 25. November 1993 – Humboldt-Universität zu Berlin – Juristische Fakultät – tttp://edoc.hu-berlin.de/humboldt-vl/klopfermichael Koch, Claus: „Die Gier des Marktes – Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft“ – Carl Hanser Verlag München Wien 1995 Kraus, Katrin u. Geisen, Thomas (Hrsg.): „Sozialstaat in Europa: Geschichte, Entwicklung, Perspektiven“ − Westdeutscher Verlag 2001 Krockow, Christian Graf von: „Bismarck – Eine Biographie“ – Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1997 (hier zit. aus der 4. Auflage 1998) Küng, Hans: „Anständig wirtschaften – Warum die Ökonomie Moral braucht“ – Piper Verlag München 2010 Meyer-Abich, Klaus Michael: „An den Grenzen der naturwissenschaftlichen Medizin: Läßt sich das heutige Krankheitswesen in ein Gesundheitswesen zurückverwandeln?“ – Beitrag zu einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll vom 6. –9. 9. 2007 Metzger, Oswald: „Einspruch! Wider den organisierten Staatsbankrott“ – Riemann Verlag München 2003

373

Metzler, Gabriele: „Der deutsche Sozialstaat – Vom Erfolgsmodell zum Pflegefall“ – Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 2003 Michalski, Wolfgang: „Hamburg – Erfolge und Erfahrungen in der globalisierten Welt“ – Murmann Verlag Hamburg 2010 und die Besprechung von Werner Bührer: „Hamburger Globalisierung“ – SZ Nr. 66 vom 20./21.03.2010, S. 38 Miegel, Meinhard und Wahl, Stefanie: „Gesetzliche Grundsicherung – Private Vorsorge – Der Weg aus der Rentenkrise – Schriften des Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik e.V. (IWG) – 1.

Auflage Verlag Bonn Aktuell Stuttgart 1985 Miegel, Meinhard: „Die deformierte Gesellschaft – Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen“ – Propyläen Verlag Berlin 2002 Miegel, Meinhard: „Epochenwende“ – Propyläen 2005 Miegel, Meinhard: „Exit – Wohlstand ohne Wachstum“ – Propyläen Verlag Berlin 2010 und die Besprechung von Björn Finke: „Die große Sause ist vorüber“ – SZ Nr. 66 vom 20./21.03.2010, S. 38 Möller, Hauke: „Die verfassunggebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision – Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG und zur verfassungsgebenden Gewalt nach dem Grundgesetz – dissertation.de – 1. Auflage 2004, ISBN 3-898-25848-3 – http://www.haukemoeller.org/art79.pdf Müller, Albrecht: „Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren“ – Droemer Verlag 2004 Nolte, Paul: „Generation Reform – Jenseits der blockierten Republik“ – beck’sche reihe – 1. Auflage Verlag C. H. Beck 2004 Prantl, Heribert: „Kein schöner Land – Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit“ – Droemer München 2005 Sarrazin, Thil: „Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ – DVA 2010 Schirrmacher, Frank: „Ego – Das Spiel des Lebens“ – Blessing Verlag 2013 und die Besprechung von Andreas Zielcke: „Das Monster in uns – Am Anfang war nur eine Fiktion: der Homo oeconomicus. Doch längst hat dieses Modell die Macht über die reale Ökonomie, vor allem aber über die Individuen gewonnen. Frank Schirrmachers Buch ‚Ego‘ lehrt uns das Grauen“ – SZ Nr. 40 vom 16./17.02.2013, S. 13 Schmid, Josef: „Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme“ − Leske + Budrich-Verlag 2002 Schmidt, Helmut: „Ausser Dienst – Eine Bilanz“ – Siedler Verlag München 2008 Schmidt, Helmut (Hrsg.): „Vertiefungen – Neue Beiträge zum Verständnis unserer Welt – Protokolle der Freitagsgesellschaft“ – 3. Auflage Siedler Verlag München 2010 Sen, Amartya: „Ökonomie für den Menschen – Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft“ – Deutscher Taschenbuchverlag München 2002

374

Siebert, Horst: „Jenseits des sozialen Marktes – Eine notwendige Neuorientierung der deutschen Politik“ – Deutsche Verlags-Anstalt München 2005 mit der Besprechung von Indira Gurbaxani: „So sozial soll Marktwirtschaft sein“ – SZ Nr. 75 vom 02./03.04.2005, S. 30 Siegel, Nico A.: „Baustelle Sozialpolitik. Konsolidierung und Rückbau im internationalen Vergleich“ − Dissertation. Schriften des Zentrums für Sozialpolitik Bremen − Campus-Verlag 2002 Simon, Hermann: „Die Wirtschaftstrends der Zukunft“ – Campus Verlag Fft./M. 2011 mit der Besprechung von Dagmar Deckstein: „Nicht bange um die Zukunft“ – SZ Nr. 53 vom 05./06.03.2011, S. 34 Steinbach, Armin u. Steinberg, Philipp: „Nach der Krise ist vor der Krise – Haben wir die richtigen Lehren gezogen, und was bleibt zu tun?“ – Metropolis Verlag 2010 und Besprechung dazu von Moritz Koch: „Alles eine Frage deer Haftung“ – SZ Nr. 47 vom 26./27.02.2011, S. 34 Steingart, Gabor: „Das Ende der Normalität – Nachruf auf unser Leben, wie es einmal war“ – Piper Verlag GmbH München 2011 Stolleis, Michael: „Geschichte des Sozialrechts in Deutschland“ – UTB Lucius & Lucius, Stuttgart 2003 mit der Besprechung von Annette Mentrup: „Wohin des Weges? Ausbeutbarer Boden – Unsystematisches System: Michael Stolleis über das deutsche Sozialrecht“ – SZ Nr. 136 vom 16.06.2004, S. 18 Thierfelder; Rainer H.: „Wertewandel in der Unternehmensführung – Die Unternehmenspersönlichkeit als Ausdruck ökonomischer Vernunf“ – Verlag Wissenschaft & Praxis Sternenfels 2001 Thierfelder, Rainer H.: „Zeit meines Lebens – Menschen, Ereignisse und Gedanken zur eigenen Biographie“ – 1. Auflage Books on Demand GmbH (BoD) Norderstedt 2008 Walter-Eucken-Institut: „Moralische Krise des Sozialstaats – Walter-Eucken-Institut berät über Ordnungsökonomik“ – SZ Nr. 224 vom 29.09.2003, S. 22 Weiss, Hans u. Schmiederer, Ernst: „Asoziale Marktwirtschaft. Insider aus Politik und Wirtschaft enthüllen, wie die Konzerne den Staat ausplündern“ – Kiepenheuer & Witsch Köln 2004 Wieczorek, Thomas: „Die verblödete Republik – Wie uns Medien, Wirtschaft und Politik für dumm verkaufen“ – Knaur Taschenbuch Verlag München 2009 Wittenstein, Manfred: „Geschäftsmodell Deutschland – Warum die Globalisierung gut für uns ist“ – Murmann Verlag Hamburg 2010 und die Besprechung von Winfried Kretschmer: „Nationale Stubenhocker“ – Sz Nr. 168 vom 24./25.07.2010, S. 34

375

STICHWORTVERZEICHNIS

A Agenda 2010 25 Altersarmut 27, 282, 283, 295 Apotheker 303, 331 Arbeiterklasse 15 Arbeitsförderung 338 Arbeitskosten 290, 294 Arbeitsleben der Zukunft 125 Arbeitslose 281 Arbeitslosengeld 256, 310 Arbeitslosenhilfe 89, 339 Arbeitslosenkosten 256 Arbeitslosenversicherung 252, 254, 286, 339 Arbeitslosigkeit 12, 298, 300, 302, 339 Arbeitsplätze 127, 256 Arbeitswelt 126 Arbeitszeit 298, 326 Armut 122, 222, 223, 234, 238, 260, 264, 358 Arzneikosten 298 Arzneimittel 323 Ärzte 303, 313, 315, 325 Ärztevergütung 306 Arzthonorare 315, 322 Atomkraft 19 Ausländer 17 B Bachelor 24, 133, 139 Bankenabgabe 167 Beamte 286 Beitrag, gesetzliche Rentenversicherung 291 Beiträge 297 Beiträge, gesetzliche Krankenkassen 297 Beitragsbemessungsgrenze 287 Bereitschaftsdienst 326 Berufseintritt 289 Besitzstände 186, 360, 369 Betreuungsgeld 175 Bewußtseinsveränderung 63 Beziehungen 125 Bildungsaufwand 147 Bildungsförderung 186

Bildungsgipfel 23 Bildungspolitik 81, 82, 85, 104, 111, 120, 148, 181 Bildungsstandards 105 Bildungssystem 289 Bologna-Prozeß 135 Bologna-Reform 131, 133, 135, 138 Brexit 22 Bruttosozialprodukt 284 Bundesländer 100 Bundesrat 100 Bundeswehr 28, 202 Bundeswehrreform 202 Bund-Länder-Finanz-Ausgleich 89 Bürgergeld 248, 253 Bürgernähe 98, 117 Bürgerproteste 169 Bürgersteuer 89 Bürgerversicherung 286, 287 C Chancengleichheit 62, 186, 237, 243, 246, 255 Computer 124 D Dauerarbeitslosigkeit 256 Demographie 16 Demokratie 232 Dienstleistungsgesellschaft 299, 353 digitale Revolution 27 Dissertation 41 E Eigenverantwortung 108, 244, 245, 266, 267 Einwanderung 28 Energiewende 29 Entwicklung, demographische 16, 285 Entwicklungspolitik 212 Erziehung 122, 133, 278 Erziehungsnotstand 359 Euro 9 Eurobonds 169

376

Europa 9, 10, 22, 48, 61, 62, 64, 91, 107, 118, 139, 166, 205, 272, 277 Weiterentwicklung 23 Euro-Währung 160

Grundeinkommen 248 Grundgesetz 10 Grundsicherung 287, 292, 294 Grundsicherung für Arbeitssuchende 339

F Fallpauschale 301 Familie 248, 359 Familienpolitik 189 Finanzausgleich 177 Finanzkrise 105, 152, 354 Finanzverfassung 108 Flexibilität 117, 118 Flüchtlingsfrage 22 Flüchtlingskonzept 28 Flüchtlingsstrom 28 Föderalismus 29, 39, 68, 75, 81, 85, 95, 106, 110, 113, 114, 183 Föderalismus-Kommission 87, 98, 102, 103, 109, 110, 113, 116, 148 Föderalismusreform 102 Föderalismus-Reform 140 Forschung 105, 112 Fortschritt 11, 350 Freiheit 55, 62, 77, 104, 129, 138, 141, 153, 183, 208, 227, 235, 241, 264, 273, 275, 364 Freitagsgesellschaft 122 Freizeit 325 Frieden 9 Führung 54

H Haftung 58, 162, 199 Halbwertzeiten 124 Hartz IV 339 Haushalt, öffentlicher 171 Heim 333 Heimaufsicht 333 Heinsohn Gunnar 224 Herzog-Kommission 281, 290, 293 Hochschulausbildung 24 Homo-Ehe 234 Huntington Samuel P. 224 I Individuelle Gesundheitsleistungen 320 Industrialisierung 11 Industriepolitik 185 Infrastruktur 17, 25, 26 Integrationspolitik 212 Interessen, organisierte 130 Investitionen 186 Islam 130, 342 J

G Gemeindefinanzreform 87, 89 Gemeinden 87, 98, 101, 261 Gemeinsamer Bundesausschuß 303 Generationengerechtigkeit 228 Gerechtigkeit, soziale 43, 222, 225, 226, 228, 233, 236, 246, 263, 264, 270, 272, 340, 365 Gesundheit 295 Gesundheitsfonds 305 Gesundheitskarte 309 Gesundheitskosten 277 Gesundheitssystem 303 Gewaltmonopol, staatliches 201 Gewerbesteuer 88 Gleichbehandlung 237 Globalisierung 13, 353, 361 Glücksforschung 364

Jahrtausendwende 7 K Kapitalertragssteuer 191, 193 Kapitalismus 153, 231, 239, 258, 262, 345 Kinder 252 Kinderbetreuung 253 Kindergarten 94 Kindergeld 252 Kleinstaaterei 75, 183 Klimapolitik 20 Klimaschutz 17, 28 Klinikausgaben 323 Kombilöhne 128 Kommissionen 32 Kompetenz soziale 318, 341

377

konkurrierende Gesetzgebung 99 Korruption 357 Kraftfahrzeugsteuer 89 Krankenhäuser 295 Krankenkassen, gesetzliche 296 Krankenkassenbeiträge 296, 297 Krankenstand 298 Krieg, kalter 10 Kuba-Krise 10 Kultusministerkonferenz 81, 84 Kyoto-Protokoll 20 L Laizismus 342 Länderfinanzausgleich 26, 108, 116, 171 Langzeitarbeitslose 245 Lebensarbeitszeit 289 Lebensstandard 122 Legitimation demokratische 22 Lehrerausbildung 24 Leistung 243, 316 Leistungserbringer 301 Leistungsgerechtigkeit 243 Lissabon-Strategie 277 Lobby 33, 74, 270, 307

Neoliberalismus 56, 228 P Parteien 53 Parteien, politische 32, 33, 51, 53, 65, 95, 102, 111, 112, 130, 175, 194, 198, 205, 208, 227, 237, 246, 254, 272, 309, 346, 367 Parteien, politischeenen 312 Patient 303, 304, 323 Patientenrechte 306 Patientenrechtegesetz 318 Pauschalvergütungssystem 324 Pflegeeinrichtungen 333 Pflegefälle 335 Pflegekosten 334 Pflegenotstand 27, 335 Pflege-Riester 337 Pharmaindustrie 303, 330 Pharmalobby 307, 332 Plagiate 357 Politiker 33, 39, 41, 71, 74, 206, 311 Polizei 202 Positivliste 333 Präimplantationsdiagnostik (PID) 143, 145 Praxisgebühr 175, 308, 322 Privilegien 111

M Marktwirtschaft, freie 255 Marktwirtschaft, nationale 277 Marktwirtschaft, soziale 15, 227, 243, 247, 270 Master 133, 139 Medizintechnik 364 Mehrwertsteuer 195, 198, 200 Meinungsfreiheit 39 Merkel 14, 72, 148, 168 Mindestlohn 35, 249, 250, 269 Mindestlöhne 128, 256 Mindestrente 284 Mineralölsteuer 89 Mobilität 117, 363 Moral 66, 125, 143, 178, 213, 221, 241, 263, 275, 341, 350 N Nachbarstaaten 58 Nachwuchs 328 Nationalstaaten 183

R Rahmengesetzgebung 80, 99 Rauchverbot 93 Rechtschreibreform 132 Reformstau 366 Reglementierungen 277 Rente flexible 290 Rentenbesteuerung 288 Renteneintrittsalter 290 Rentenversicherung 286 Rentner 300 Rettungsschirm 158 Rückblick 121 S Schuldenbremse 196 Schulstrukturen 133 Selbstentfaltung 267 Selbstheilungskräfte 63 Selbstverwaltung 303

378

Sicherheit, öffentliche 201 Sockelrente 293 Solidarität 178, 209, 213, 223, 225, 231, 235, 239, 242, 245, 251, 260, 271, 274, 275 Solidaritätszuschlag 26 Solidarpakt 92 Solidität 178 Sozialhilfe 252, 284, 315 Sozialstaat 10, 243, 268, 275 Sozialstatus 178 Staatsaufgaben 182 Staatsausgaben 180 Staatsschulden 152 Staatsverschuldung 154, 197, 257 Standortfaktoren 185 Startbedingungen 122, 357 Steuergerechtigkeit 193 Steueroasen 168 Steuerreform 26 Steuerreform, Vorziehen 265 Strategie wirtschaftspolitische 25 Strukturreformen 280 Studiengebühren 85, 116 Subsidiaritätsprinzip 109 Subventionen 26, 199, 235, 300 T Tarifautonomie 269 Tarifparteien 230 Telefonmarkt 363 Transaktionssteuer 157, 158, 161, 168 Tugenden, bürgerliche 357 Ü Überfremdung 28 Überzeugungsarbeit 54 Umverteilung 98, 238, 242, 247, 256, 257, 261, 266, 268, 364 Umweltschutz 17 Umweltzerstörung 18 V Veränderungsmanagement 178 Verantwortlichkeiten 302

Verfassungsschutzorgane 27 Vergütungssystem 304 Vergütungssysteme 168 Vermögenssteuer 259 Versäumnisse, politische 21 Verschwendung 26 Versicherten-Chipkarte 309 Versicherungssteuer 89 Verteilungsgerechtigkeit 243 Verteilungskampf 178 Verwahrlosung 360 Verwahrlosungen 359 Verwaltungsaufgaben 326 Verwaltungskosten 101, 301 Verwaltungsreform 101 Vollbeschäftigung 178 W Wachstum 18 Wachstumsbremse 25 Wehrdienst 203 Wehrpflicht 203 Weltbevölkerung 16 Weltklima 18 Weltordnung 61 Werte 125, 213, 355 Wertschöpfung 242, 284 Wettbewerb 274, 306, 356 Wettbewerbsfähigkeit 117, 256, 261 Wettbewerbsföderalismus 96, 108, 117 Wiedervereinigung 31, 77, 116, 171, 253, 282 Wirtschaft 25 Wirtschaftsflüchtlinge 224 Wirtschaftssteuer 89 Wirtschaftswunder 121 Wissen 124, 130, 141, 304 Wohlstand 11, 15, 123, 361 Wohlstand für alle 178 Wohlstandsstaat 261 Z Zentralismus 110 Ziele 228 zuhören 318 Zuständigkeit 302

379