Neies Lautre - Juli/August 2015

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NEIES

LAUTRE

ZEITUNG FÜR EINE SOLIDARISCHE UND BASISDEMOKRATISCHE GESELLSCHAFT

ZUM INHALT In dieser fünften Ausgabe haben wir zwei Schwerpunktthemen: Die Entwicklungen in und um Griechenland sowie Streiks, die es nicht nur in Deutschland vermehrt gibt. Wie zu erwarten konnten wir auch diesmal viele dringliche Themen nicht berücksichtigen. Deswegen möchten wir euch unter anderem auch die August-Ausgabe der Gai Dao ans Herz legen, die ihr hier online lesen könnt: fda-ifa.org/gai-dao/ Sie enthält zwei Artikel von uns, einer zur Kapitulation SYRIZAs, einer zu Anarchisten und Linken.

Ralf Dreis ist in der anarchosyndikalistischen FAU in Frankfurt und der anarchistischen Bewegung in Griechenland aktiv. In seinem Kommentar in der Tageszeitung neues Deutschland "Den Widerstand von unten organisieren" (vom 18.07.) erklärt er, warum man 'keine Hoffnung in die Eroberung des Staates setzen, sondern selbst die gesellschaftlichen Strukturen umbauen' sollte. [S. 1] In unserem Text "Solidarität mit den Menschen in Griechenland" erklären wir Hintergründe der GriechenlandKrise und unsere Antwort darauf. [S. 2]

Juli/August 2015 Kaiserslautern Auflage: 50

In seinem Interview "Kleine geile Streiks" mit der Direkten Aktion spricht Peter Nowak über zunehmende Streiks in Deutschland. [S. 5] In "Um sich greifender Ungehorsam" ordnet Hakan Koçak Streiks in der Türkei (die neben den Wahlen, der Gefahr durch den IS und die Repression des Staates leider oft unbeachtet bleiben) in den globalen Kontext der großen Streikwellen in der Automobilindustrie und in den Kontext betrieblicher und gewerkschaftlicher Organisierungsfragen ein. [S. 7]

Sebastian Friedrich analysiert in "Kleinbürgertum oder kleiner Mann", was der Führungsstreit und die darauffolgende Spaltung der AfD bedeuten. [S. 3]

D EN W IDERSTAND VON UNTEN ORGANISIEREN Mit der Unterwerfung unter die maßgeblich durch die Bundesregierung diktierte Ausplünderungspolitik der Troika, hat die griechische SYRIZARegierung den Hoffnungen der parlamentarischen Linken in Europa ein abruptes Ende bereitet. Hatte einst der Putsch gegen Salvador Allende 1973 die Diskussionen über einen friedlichen Übergang zum Sozialismus durch die faktische Macht der Panzer verstummen lassen, so beweist der gegen die griechische Bevölkerung geführte Wirtschaftskrieg nun, dass im von Deutschland dominierten Europa nicht einmal der friedliche Übergang zur Sozialdemokratie möglich ist. In Südamerika, ihrem damals von den USA selbst deklarierten Hinterhof, waren 35 Jahre blutiger Bürgerkrieg, und hunderttausende Tote, der im Namen des Kapitalismus folternden und mordenden Militärdiktaturen die Folge. Es bedarf keines Propheten um nach der Unterwerfung der SYRIZA-Regierung unter die neoliberale Doktrin der Alternativlosigkeit, einen erneuten Zulauf von Teilen der griechischen Jugend zu bewaffnet

kämpfenden Stadtguerillaorganisationen vorherzusagen. Die so genannte Einigung mit der Troika stellt alle von griechischen Vorgängerregierungen gegen weite Teile der Bevölkerung durchgesetzte Spardiktate in den Schatten. Soweit bisher bekannt geht es um weitere Rentenkürzungen bei gleichzeitiger Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge, um die Privatisierung der gesamten staatlichen Infrastruktur, die weitere »Flexibilisierung« des Arbeitsmarktes, sprich die Zerschlagung von Arbeitnehmerrechten, (Ermöglichung von Massenentlassungen), die Erhöhung der Mehrwertsteuer, sowie um die automatische Kürzung des Staatsbudgets bei Nichteinhaltung der Auflagen. Staatsvermögen im Wert von 50 Milliarden Euro wird in einen durch die Gläubiger verwalteten Treuhandfonds überführt, die Sondersteuer auf Haus- und Grundbesitz ENFIA wird weiter erhöht, die von der Vorgängerregierung eingeführte Sonntagsarbeit ausgeweitet und jedes »haushaltsrelevante« Gesetzesvorhaben muss erst durch die Troika genehmigt werden. Früher wurde so etwas als Kolonie bezeichnet.


Ein besonders widerwärtiges Kapitel der letzten Monate betrifft die Berichterstattung der deutschen Leitmedien. Nach wochen- und monatelanger rassistischer Hetze gegen »die Griechen«, nach Verleumdungen und offenen Lügen, nach dem in Herrenmenschenart wiederholten Mantra »die Griechen müssen liefern« und »die Griechen sind reformunwillig«, wird nun umgesteuert. Plötzlich, nachdem die aufmüpfigen Linksradikalen erfolgreich diszipliniert sind, wird die humanitäre Katastrophe entdeckt, arme RentnerInnen, die im Müll wühlen, Selbstmorde, Eltern, die ihre hungernden Kinder im SOS-Kinderdorf abgeben, und sterbende Kranke. Jetzt ist all das Thema, das Ergebnis von fünf Jahren kapitalistischem Spardiktat, durchgesetzt auch und gerade von deutschen Regierungen und begleitender Medienpropaganda. Ist die drohende linke Alternative erst zerschlagen, gibt es Almosen für die Opfer, so die perverse Logik. AnarchistInnen und Basisgewerkschaften hatten vor der Wahl am 25. Januar immer behauptet, SYRIZA werde ein neues Spardiktat unterschreiben. Trotzdem gelang es ihnen nicht, offensiv ihre Differenz zur Regierung sichtbar zu machen. Sie haben abgewartet, statt die gesellschaftliche Spielräume zu erweitern. Nun ist es an ihnen sein die Mobilisierungen gegen Sonntagsarbeit oder Massenentlassungen auf der Straße zu intensivieren; und sie werden wieder mit den nun von SYRIZA befehligten Sondereinsatzkommandos der Polizei konfrontiert sein. Für die schwachen Bewegungen in Deutschland kann nur gelten, diese Kämpfe zu unterstützen. Statt Hoffnung in die Eroberung des Staates zu setzen, sollten wir beginnen gesellschaftliche Strukturen so umzubauen, dass grundsätzliche Veränderung überhaupt denkbar wird. Der Aufbau solidarischer Basisstrukturen, ihre Vernetzung und die Entwicklung gemeinsamer Visionen sind gefragt. Selbstorganisation, solidarische Alltagsstrukturen, gegenseitige Hilfe, praktische Alternativen gegen das alltägliche Elend - sie sind die Basis für erfolgreiche politische Mobilisierung. Eine Mobilisierung die dringend anliegt sollte die Durchsetzung der Reparationszahlungen an Griechenland für die hunderttausenden verhungerten und ermordeten GriechInnen und die tausenden zerstörten Dörfer während der Nazibesatzung des Landes 1941-44, sowie die Rückzahlung des dem Land damals abgepressten Zwangskredits für »Besatzungskosten« sein. Das ist unsere Pflicht.

Solidarität mit den Menschen in Griechenland! Woher kommen die griechischen Schulden? Alle Staaten der EU sind verschuldet, und die meisten höher, als nach EU-Richtlinien erlaubt. Der griechische Staat war zu Beginn der Wirtschaftskrise noch höher verschuldet als der Rest Europas: er war von korrupten Politikern zum Selbstbedienungsladen umfunktioniert worden und reiche Oligarchen hinterzogen Steuern, ohne von den bürgerlichen Regierungen dafür verfolgt zu werden. Diese und weitere Gründe führten dazu, dass Griechenlands Schulden höher waren als die der anderen EU-Staaten. Aber zu sagen, die Griechen hätten über ihre Verhältnisse gelebt, ist falsch: die einfachen Leute in Griechenland sind nicht schuld an den Vergehen der griechischen Eliten. Es kann nicht jeder gewinnen Der Kapitalismus schafft immer Verlierer: Genauso, wie es selbst in den Reichsten Ländern Armut gibt, ebenso können nicht alle Staaten Europas Exportweltmeister sein. Solange die griechische Produktivität halb so hoch ist wie in Deutschland, wäre das Land auch mit besseren Politikern in der kapitalistischen Konkurrenz von Deutschland überflügelt worden. Und genau deswegen haben sich 'Strukturreformen' allein nicht als Weg in eine blühende Zukunft erwiesen. Selbst wenn Griechenland durch ein Investitionsprogramm (wie es linke Parteien fordern) wirtschaftlich langfristig stärker wird, wird dies wahrscheinlich auch zulasten der deutschen Exportwirtschaft gehen: Der Kapitalismus ist kein Ponyhof. "Hilfen", die keine sind Die "Rettungsprogramme" der Troika haben vor allem zur Verarmung und Verelendung des griechischen Volkes geführt (Arbeitslosigkeit über 25%, unter Jugendlichen bei 50 %, ein Drittel ohne Krankenversicherung, ...). Diese Programme waren aber offensichtlich auch für die Wirtschaft schädlich, die Wirtschaftsleistung brach um 25% ein. Die Troika musste ihre Erwartungen für das Land immer wieder als zu optimistisch korrigieren. Der deutschen Regierung konnte das egal sein: Sie hatte die Kredite von deutschen Banken und Versicherungen übernommen (und diese damit vor hohen Verlusten bewahrt) und solange Griechenland seine Schulden bediente, verdiente sie gut daran (durch Zinsgewinne auf Kredite und eine Abwertung des Euro, was die Exporte ankurbelte). Aber wenn Griechenland aufhört, seine Schulden und Zinsen zurückzuzahlen, ist viel Geld verloren. Unsere Antwort: Solidarität von unten statt Rettungspakete Innerhalb des Kapitalismus gibt es also keine gute Lösung der Krise. Außerhalb dagegen schon. Deshalb unterstützen wir griechische Solidaritätsnetzwerke: unabhängig und von einfachen Menschen selbstorganisiert 'von unten' aufgebaut, organisieren diese Volksküchen, kostenlose Behandlung für Menschen ohne Gesundheitsversicherung, soziale Zentren usw. Dies ist für uns auch ein Vorbild, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen: solidarisch, selbstorganisiert und basisdemokratisch - jenseits von kapitalistischem Wettbewerb und Nationalismus!


K LEINBÜRGERTUM ODER K LEINER M ANN ? Der Führungsstreit in der 'Alternative für Deutschland' (AfD) ist entschieden. Der nationalkonservative Flügel um Frauke Petry hat gewonnen, der rechtliberale sich abgespalten und mit Bernd Lucke als Vorsitzenden eine neue Partei gegründet. Trotzdem ist der Artikel von Sebastian Friedrich vom 15. Juni 2015 noch aktuell, denn bei dem Machtkampf ging "es neben inhaltlichen und persönlichen Fragen auch um die strategische Ausrichtung der Partei. Speziell in der Frage, welche Klassen und Klassenfraktionen angesprochen werden sollen, herrscht[e] Uneinigkeit zwischen den Flügeln." Die AfD war einst angetreten, um das reaktionäre Kleinbürgertum zu einen. Man gab sich moderat wertkonservativ und vertrat ein nationalneoliberales Wirtschaftsprogramm. Mit Erfolg. Wahlanalysen zu den Bundestagswahlen 2013, den Wahlen zum Europaparlament im Mai 2014 sowie den im Sommer 2014 stattgefundenen Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zeigen, dass genau diese Klientel angesprochen wurde: Männlich, unter 45 Jahre, (Fach-)Arbeiter oder selbstständig und sich der Mittelschicht zugehörig fühlend. Außerdem verdiente der ursprüngliche typische AfD-Wähler überdurchschnittlich gut und war eher vermögend. Darauf deuten verschiedene Studien hin. Laut einer repräsentativen Befragung im Auftrag der Universität Leipzig, die zwischen Februar und April 2014 stattfand1, befinden sich unter den Wähler_innen der AfD nur sehr wenige mit niedrigem Einkommen. Lediglich 3,9 Prozent der AfD-Wähler_innen haben ein Haushaltseinkommen von unter 1.000 EUR. Einen niedrigeren Wert hat nur die FDP vorzuweisen (2,8 Prozent). Einer Auswertung des Forsa-Instituts kurz nach den Europawahlen zufolge kommen die Anhänger_innen der AfD überwiegend aus der Mittelschicht (53 Prozent) und der Oberschicht (26 Prozent). Mehr als die Hälfte der Anhänger_innen (55 Prozent) hat Abitur und 44 Prozent verfügen über ein Haushaltsnettoeinkommen von mindestens 3.000 EUR. Was das Vermögen angeht, gibt es kaum verlässliche Daten. Lediglich die Mitteilung des kommissarischen Vorstands des Landesamtes für Statistik Berlin-Brandenburg ist hier auf-

schlussreich. Demnach schnitt die AfD bei den Landtagswahlen in Brandenburg vor allem in Gebieten mit „einer höheren Eigentümerquote“ besser ab. In Gebieten mit vielen Hartz 4-Empfängern war die AfD weniger erfolgreich, so das Landesamt. Es waren also eher nicht die Deklassierten, die sich zur AfD hingezogen fühlten. Außerdem erhielt die AfD vor allem zu Beginn Unterstützung von Teilen der Wirtschaft, insbesondere von denjenigen Unternehmen, die auf lokale und regionale Absatzmärkte setzen. Sie sind nicht exportorientiert und fürchten die europäische Integration wegen einer Intensivierung des Wettbewerbs, der sich negativ auf sie auswirken könnte. Eine Studie von Frederic Heine und Thomas Sablowski, die 2013 für die RosaLuxemburg-Stiftung erstellt wurde, zeigt diese Verbindung eindrücklich auf2. Heine und Sablowski untersuchten Pressemitteilungen und Positionspapiere von Wirtschaftsverbänden zur Regierungspolitik während der Legislaturperiode von Schwarz-Gelb. Sie arbeiteten heraus, dass alle Wirtschaftsverbände mehr oder weniger d’accord waren mit der Regierungspolitik. Alle bis auf einen Verband: der Verband der Familienunternehmer, der sich als Einziger während der Euro-Krise grundsätzlich gegen die Euro-Rettungspolitik stellte. Er unterstützte außerdem die Klage gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus vor dem Bundesverfassungsgericht und forderte den Ausschluss Griechenlands aus der Euro-Zone. Insgesamt sprach sich der Verband gegen wirtschaftspolitische Europäisierung aus und bediente sich laut der Studie einer rechtspopulistischen Rhetorik. Heine und Sablowski kommen zum dem Schluss, dass die nationalkonservativen und neoliberalen Kräfte 2

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Nachzulesen hier: home.unileipzig.de/decker/waehlerherz_2014.pdf

Nachzulesen hier: www.rosalux.de/publication/39834/die-europapolitik-desdeutschen-machtblocks-und-ihre-widersprueche.html


in dem Verband in der AfD ihren parteipolitischen Ausdruck gefunden haben. Sie sollten Recht behalten. Praktisch wurde die Unterstützung des Verbands kurz vor der Europawahl Anfang Mai 2014. Beim „Tag der Familienunternehmer“ in Dresden war Bernd Lucke Hauptredner, erst später durften Christian Lindner und Günther Öttinger ran. Der Hauptgeschäftsführer des Verbands, Albrecht von der Hagen, sprach davon, dass viele Fragen der AfD auch Fragen des Verbands seien. R E C HT S EN T W I CK L UN G

D ER

AFD

Die Partei entwickelte sich zunehmend nach rechts. Heute tut Lucke so, als sei er ein Vorkämpfer gegen die Rechtsentwicklung. Das Gegenteil ist der Fall. Er war es, der um die Bundestagswahl herum die Partei strategisch nach rechts ausgerichtet hat. Knapp zwei Monate vor der Bundestagswahl schrieb Lucke an seine Vorstandskollegen Alexander Gauland und Konrad Adam eine aufschlussreiche Mail, deren Wortlaut das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zum Teil veröffentlichte. Gegenüber seinen heutigen erbitterten Kontrahenten forderte er einen Tabubruch, um den bis dahin schleppend laufenden Wahlkampf ein wenig in Fahrt zu bringen. So schlug er vor, Thilo Sarrazin zu vereinnahmen. Das könne viel Aufmerksamkeit, Kritik der linken Presse und viel Zuspruch in der Bevölkerung einbringen. Laut der AfD-Aussteigerin Michaela Merz wurde von einigen Kräften der Partei offen darüber nachgedacht, „die Partei in Richtung einer konservativ bis rechtspopulistischen Strömung und der SarrazinKlientel zu öffnen“. So habe Lucke angeregt, Sarrazin während einer Wahlkampfveranstaltung einen Buchpreis der AfD zu verleihen, was allerdings insbesondere durch die liberalen Kräfte innerhalb des Bundesvorstands der Partei verhindert worden sei. Rückblickend schreibt Merz Lucke bei der Öffnung nach rechts eine Schlüsselrolle zu: „Er ist maßgeblich für die spätere Entwicklung verantwortlich, da er die Partei bewusst dem rechten und rechtspopulistischen Rand geöffnet hat.“ Im weiteren Verlauf hat sich die Zusammensetzung der AfD nachhaltig verändert. Die rechten Flügel wurden in der Folge immer mächtiger. Sie konzentrierten sich auf die Wahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern, denn dort hatte die AfD bei den Bundestags- und Europawahlen ihre stärksten Ergebnisse geholt, und dort waren die Landesverbände deutlich rechtslastig. In allen drei

Bundesländern zog die AfD mit herausragenden Ergebnissen — in Thüringen und Brandenburg sogar zweistellig — in die Landtage ein. Die Erfolge bestätigten die programmatische Erweiterung nach rechts und lösten harte Flügelkämpfe um die inhaltliche und personelle Zukunft der Partei aus, in deren Folge fast alle Liberalkonservativen die Partei verließen. Spätestens hier fand der aktuelle Führungsstreit in der AfD ihren Ausgangspunkt. SOZIALE BASIS ZERBROCHEN Die AfD war in ihrer Gründung vor allem deshalb gefährlich, weil sie das Zeug hatte, NationalNeoliberale und Rechtskonservative zu verbinden und dadurch ein rechtes Hegemonieprojekt zu etablieren. Die Basis des Projekts war die reaktionäre Mittelklasse, das Kleinbürgertum. Dieses scheint der Partei zunehmend den Rücken zu kehren — und sich wieder mehr in Richtung FDP zu bewegen. Während vor einem Jahr führende Fraktionen des mächtigen Verbands der Familienunternehmer im Zuge der Europawahl 2014 die AfD unterstützten, herrscht heute weitgehend Funkstille zwischen dem Verband und der AfD. Ende April 2015 fanden die Familienunternehmer-Tage in Berlin statt, bei denen neben Gauck auch Vertreter_innen aus FDP, SPD, den Unionsparteien und den Grünen auf Podien sprachen. Die AfD suchte man vergeblich. Die Entwicklung kommt einigen in der Partei gelegen. Gauland, der im Verlauf der vergangenen zwei Jahre immer weiter nach rechts rückte, äußerte im April in einem Interview im Handelsblatt: „Man sollte auch nicht den Fehler machen und auf Stimmen des Bürgertums und früherer FDP-Anhänger setzen. Wir sind eine Partei der kleinen Leute. Damit meine ich auch Leute, die eben kein Asylbewerberheim neben sich haben wollen. Die damit verbundenen Ängste und Sorgen sollten wir ernst nehmen und aufgreifen, dann werden wir auch gewählt.“ Sebastian Friedrich ist Publizist. Im Januar 2015 erschien beim Berliner Verlag bertz + fischer sein Buch „Der Aufstieg der AfD. Neokonservative Mobilmachung in Deutschland“


K LEINE GEILE S TREIKS S TREIKS

SCHEINEN AUCH IN D EUTSCHLAND ZUZUNEHMEN – EINE NEUE DEU TSCHE S TREIKWELLE ?

Demnächst erscheint das Buch „Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht. Arbeitskämpfe nach dem Ende der großen Fabriken“, herausgegeben von Peter Nowak. Darin werden Streiks außerhalb des klassischen Fabrik- und Gewerkschaftsumfelds dargestellt, vor allem in bislang als schwer organisierbar geltenden Sektoren. Auf Einladung der Region Süd der FAU wird der Herausgeber das Buch im September 2015 vorstellen. Siehst du einen allgemeinen Trend zu Streiks in prekären und nicht gut organisierten Sektoren, oder bleiben dies lobenswerte Einzelfälle? Oft sind diese Streiks Einzelfälle, aber sie deuten eine Tendenz an. Die Beschäftigten in den schwer zu organisierenden Branchen machen die Erfahrung, dass sie oft frühkapitalistischen Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind und dass das Gerede über familiäre Arbeitsverhältnisse und flache Hierarchien diese Ausbeutungsverhältnisse nur mühsam ideologisch verschleiern. Sehr deutlich wird das am Arbeitskampf in einem Berliner Spätkauf, den ich im Buch vorstelle. Er ging für den Beschäftigten erfolgreich aus, er erstritt sich mit Hilfe der FAU eine Lohnnachzahlung. Dies war nur möglich, weil der Arbeitskampf auch als politische Auseinandersetzung öffentlich geführt wurde. Der Kollege arbeitete in der Woche bis zu 60 Stunden, hatte aber offiziell einen 20-StundenJob. Er war mit dem Chef per Du und erfüllte oft die Funktion eines Ladenleiters. Als der Chef eine Kamera einbaute, mit der er den Kollegen ständig an seinen Arbeitsplatz beobachten konnte, war das Maß voll. Er forderte nicht nur den Abbau der Kamera, sondern auch eine Bezahlung nach den von ihm geleisteten Arbeitsstunden, Pausen, Urlaub etc. Sofort wurde der Ladenbesitzer, mit dem er per Du war, zum Kleinkapitalisten, der ihm zeigen wollte, wer Herr im Haus war. Er verhängte ein Hausverbot gegen den Kollegen und seine UnterstützerInnen und ging juristisch gegen Medien vor, die über den Arbeitskampf berichteten. Hier begann erst die Geschichte des Arbeitskampfes, der sicher ohne die Unterstützung der FAU und eines UnterstützerInnenkreises so nicht möglich gewesen wäre. So gelang es, innerhalb weniger Wochen mit Flyer- und Plakataktionen im

Umfeld des Spätkaufs deutlich zu machen, dass Ausbeutung in der Nachbarschaft beginnt und bekämpft werden muss. Es gab mehrere Kundgebungen und zunehmend reagierten AnwohnerInnen offener. An diesem Beispiel zeigt sich, dass es möglich ist, auch in Branchen, die schwer zu organisieren sind, einen erfolgreichen Arbeitskampf zu führen. Dazu gehört allerdings der erste Schritt, dass der Beschäftigte die sozialpartnerschaftliche Ideologie „Wir sind eine große Familie“ überwinden muss. Es geht darum zu erkennen, dass es auch in diesen Arbeitsverhältnissen Interessengegensätze zwischen den KäuferInnen und VerkäuferInnen der Arbeitskraft gibt, die nicht durch Chefduzen überwunden werden können. Das ist der erste, aber wichtigste Schritt, um in diesen Branchen einen Arbeitskampf zu führen. Es gibt viele Beispiele, die erst einmal bekannt gemacht werden müssen. Dazu soll das Buch beitragen. Viele kämpferische Streiks gingen von kleinen oder Spartengewerkschaften aus, oder von sich selbst organisierenden ArbeiterInnen. Gleichzeitig geht der gewerkschaftliche Organisationsgrad seit Jahren zurück. Was leisten kleine Gewerkschaften, was die klassischen Massenorganisationen nicht können? Sie können Beschäftigte in Bereichen organisieren, die durch das Raster der DGBGewerkschaften fallen. In Branchen, wo es Betriebe mit einer Handvoll Beschäftigten gibt, werden die großen Gewerkschaften erst gar nicht aktiv. Natürlich gibt es da mittlerweile gerade im Bereich von ver.di auch Bewegung. So sind in Hamburg im ver.di-Fachbereich „besondere Dienstleistungen“ mittlerweile auch SexarbeiterInnen organisiert. Generell aber gilt: Kleine Gewerkschaften sind viel näher an den KollegInnen dran und es gibt auch bessere Möglichkeiten der Basisbeteiligung, weil eben nicht ein großer Gewerkschaftsapparat vorhanden ist, der im Zweifel Basisaktivitäten lähmt. Rosa und Johanna von labournet.tv haben im Buch anschaulich beschrieben, wie sich die oft migrantischen LogistikarbeiterInnen in Norditalien mit Unterstützung der Basisgewerkschaft SI Cobas organisierten, erfolgreiche Arbeitskämpfe führten und auch ein UnterstützerInnenumfeld in der außerparlamentarischen


Linken fanden. Dass sind Prozesse, die Mut und Inspiration geben. Es ist überhaupt ein Plädoyer, über den nationalen Tellerrand zu blicken. In vielen europäischen Ländern, aber auch in den USA gibt es interessante Organisierungsversuche von schwer organisierbaren Beschäftigten. Am Ende des Buches sind Zeitschriften und Internetprojekte aufgeführt, die darüber berichten. Der Untertitel – „Arbeitskämpfe nach dem Ende der Fabriken“ – verweist auf einen anderen Trend: In den Hochlohnländern nehmen die Betriebsgrößen ab, Arbeitsverhältnisse werden zunehmend ‚flexibilisiert’. Wie können sich ArbeiterInnen unter diesen veränderten Bedingungen wirksam organisieren? Zunächst mal ist die Flexibilisierung kein Naturgesetz, wie oft behauptet wird. Sie ist die Folge des Machtverlustes der Arbeiterbewegung in den letzten Jahrzehnten. Schließlich wurden alle Rechte von Lohnerhöhungen bis zur Begrenzung der Arbeitszeit etc. durch die Arbeiterbewegung erkämpft und waren kein Geschenk von Staat und Wirtschaft. Allerdings haben die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften einen gewichtigen Anteil daran, dass diese Erkenntnis verloren ging. Es gibt natürlich kein Patentrezept, wie sich KollegInnen organisieren sollen. Wichtig ist, dass sie selber ihre Interessen aktiv wahrnehmen, sich untereinander austauschen, beratschlagen, Forderungen aufstellen und sie dann auch öffentlich durchsetzen. Das ist nicht so viel anders als in der alten Arbeiterbewegung. Denn damals wurde ebenfalls unter extrem prekären und flexiblen Arbeitsverhältnissen gearbeitet und auch dagegen gekämpft. Im Care-Bereich sind Streiks oft besonders schwer zu vermitteln – die von der Arbeitsniederlegung Betroffenen sind oft von den erbrachten Dienstleistungen in hohem Maße abhängig. Siehst du den jüngsten KiTa-Streik in dieser Hinsicht als erfolgreiches Modell? Lässt sich dies auf z.B. den Pflegebereich mit seinen notorisch schlechten Arbeitsbedingungen übertragen? Viele der neuen Arbeitskämpfe werden im Dienstleistungsbereich geführt, in denen vor allem Frauen oft zu niedrigeren Löhnen als Männer beschäftigt sind. Das gilt für den KiTa-Bereich ebenso wie im Gesundheitswesen. Auch im Einzelhandel waren es vor allem Frauen, die sich gegen ihre Arbeitsbedingungen organisierten. Die feministische Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker hat

in ihrem jüngsten Buch „Carerevolution – Schritte in eine solidarische Gesellschaft“ sehr gut dargelegt, dass ein wichtiger Teil der neuen Carerevolution-Bewegung auch gewerkschaftliche Kämpfe im Sorge-, Gesundheits- und Erziehungsbereich sind. Dankenswerterweise hat Alexandra Wischnewski für unser Streikbuch einen Beitrag geliefert, der sich mit den Problemen einer solidarischen Organisierung von Carearbeit befasst. Ihr Aufsatz beginnt mit der Frage: „Wer übernimmt die Versorgung der Kinder und Alten, der Pflegeoder Assistenzbedürftigen, wenn die Beschäftigten streiken?“ Damit spricht sie eine wichtige Frage der neuen Arbeitskämpfe an. Gerade Arbeitskämpfe im Dienstleistungssektor zeigen nur Wirkung, wenn diese Bereiche lahmgelegt werden. Was bedeutet es aber für berufstätige Frauen, wenn die KiTa geschlossen ist? Die Organisierung solidarischer Netzwerke ist auch eine Aufgabe der Gewerkschaften. Wenn während eines KiTaStreiks gewerkschaftliche und feministische Zusammenhänge gemeinsam eine solidarische KiTa organisieren, wächst so auch die Bereitschaft von Eltern, sich mit dem Arbeitskampf der KiTaBeschäftigten zu solidarisieren. Genauso sollten bei Arbeitskämpfen im Gesundheitssektor PatientInnen und ihre Angehörigen einbezogen werden. So wird aus einem Betriebskampf eine gesellschaftliche Auseinandersetzung. Heute ist gerade bei Arbeitskämpfen in Bereichen außerhalb der großen Fabriken eine gesellschaftliche Solidarisierung notwendig für einen Erfolg. Gleichzeitig wird dadurch, dass ein Arbeitskampf aus dem Betrieb in die Gesellschaft getragen wird, deutlich, dass es um mehr als eine Lohnerhöhung oder eine Arbeitszeitverkürzung geht. Es geht um die Infragestellung eines kapitalistischen Systems, dass die Verwertung und Ausbeutung der Arbeitskraft zur Grundlage hat. Interview: Robert Schmidt

Termine der Rundreise unter anderem: Karlsruhe, Di. 15.09.2015, 19.30 Uhr | Viki, Viktoriastr. 12 Mannheim, Do. 17. 09.2015, 20.15 Uhr | wildwest, Alphornstr. 38


U M SICH GREIFENDER U NGEHORSAM ÜBER DIE

S TREIKWELLE

IN DER

T ÜRKEI

Mit wilden Streiks im Metall- und Automobilsektor kam die Türkei Mitte Mai in die Schlagzeilen der Wirtschaftsteile auch europäischer Zeitungen. Einige Artikel berichteten gar von erheblichen Auswirkungen auf die Produktion, denn die Streiks dauerten teilweise Wochen und auch die großen Produktionslinien kamen zeitweilig zum Stehen. Mögliche Folgen für die Reputation des Standortes Türkei wurden diskutiert. Derartige Bewertungen verdeutlichen einmal mehr, dass in der Türkei Streiks, die ernste Auswirkungen auf die Produktion haben, eher selten sind. Schwache Gewerkschaften und disziplinierte ArbeiterInnen scheinen einen wichtigen Teil der im Übrigen stark informalisierten Lohnarbeitsverhältnisse auszumachen. Auch während der Gezi-Revolte war kein Funke auf die Betriebe übergesprungen – wo Lohnarbeitende Teil der Bewegung waren, da waren sie es nach Feierabend. Nur wenige linke Gewerkschaften riefen zu einem Streiktag auf, und dies auch erst spät. Umso mehr überraschten die Streiks, die im Mai mit einem hohen Maß an Spontaneität und an Orten ausbrachen, die, wie Bursa, zwar industrielle Zentren, nicht aber Orte primär linker gewerkschaftlicher Mobilisierung sind. Dennoch waren auch diese Streiks nicht die einzigen, die sich allein im laufenden Jahr in der Türkei ereignet haben. Bereits im Februar hatte es Arbeitsniederlegungen in der Metallindustrie gegeben, die schließlich verboten worden waren. Denn sie hätten in Sektoren stattgefunden, die für die nationale Sicherheit von Bedeutung seien – so die offizielle Begründung. Bei allem betrieblichen Unfrieden im Vorfeld der Parlamentswahlen, der einmal mehr die Selbstdarstellung von Erdogans AKP als Vertreterin des Volkes karikierte, bleibt ungewiss, inwieweit die Streiks für den Ausgang der Wahl relevant gewesen sind. Auch die Beziehungen der kurdischen HDP, die erstmals die Zehn-ProzentHürde nahm und die AKP so um die absolute Mehrheit brachte, zu Gewerkschaften im Allgemeinen und ihre Aufmerksamkeit für die jüngsten betrieblichen Kämpfe im Besonderen hätten stärker sein können. Axel Gehring (express)

Die Automobilarbeiter der Renault-Fabrik in Bursa, die in der Metallgewerkschaft Türk Metal Sendikası Mitglieder sind, starteten eine Rebellion, der Funke sprang in andere Fabriken und Regionen über und wuchs. Während einige Streiks mittlerweile beendet sind, zum Teil sogar erfolgreich, halten andere Kämpfe noch an. Die Bewegung ist also noch aktiv, dennoch soll hier versucht werden, sie zu verstehen und eine Einschätzung vorzunehmen. Es folgen daher erste Notizen und Analysen. D I R EK T E R E P R ÄS EN T A T I O N UN D R E C HT A U F S T R EI K Die Arbeiter haben mit ihrer Rebellion zwei Dinge erreicht: ihre direkte Repräsentation und die Nutzung ihres Streikrechts. Damit wurden zwei wichtige, radikale Schritte für ihre Autonomie getan. Durch massenhaften Austritt aus der Gewerkschaft Türk-Metal zeigten sie, dass die bestehende Vertretungsstruktur, die ein Überbleibsel des Putsches vom 12. September 19803 darstellt und zu einem Kontrollapparat der Arbeitgeber verkommen ist, sie nicht repräsentieren kann. Durch die Bildung von Arbeiterräten haben sie die Vertretung ihrer Interessen selbst in die Hand genommen. Damit haben sie eine historische Organisierungsform der internationalen Arbeiterbewegung wieder aufleben lassen. Indem sie ihre Betriebe nicht verließen und die Produktion zum Stillstand brachten, setzten sie das Recht auf Streik, dessen Wahrnehmung durch die Arbeitsgesetzgebung erschwert und durch die von der Regierung im Februar verhängte sechzigtägige Aussetzungsfrist faktisch aufgehoben wurde, wieder in Kraft. Im Resultat erreichten die Metallarbeiter, dass das zwischen der Gewerkschaft Türk-Metal, dem Arbeitgeberverband MESS (Gewerkschaft der Industriellen für Metallwaren) und den übrigen, nicht im Arbeitgeberverband organisierten Unternehmern aufgeführte Tarifverhandlungstheater, dessen Regeln noch vom Putschregime geschrieben wurden, beendet wurde. Indem sie Räte bildeten, haben sie eine direkte Interessenvertretung hergestellt und die Wahrnehmung des Streikrechts ohne Schranken und Verbote erreicht. Sie besannen sich auf den Kern ihrer Interessen und erinnerten daran, dass die Aktion Vorrang gegenüber dem Recht hat. Aufmerksame BeobachterInnen wird diese Entwicklung nicht unbedingt verwundern. Die Arbei3

Am 12. September 1980 putschte das Militär und verhängte das Kriegsrecht in der Türkei. Ende 1982 wurde eine von der Junta vorgelegte Verfassung per Volksabstimmung angenommen, die bis heute gültig ist.


terklasse in der Türkei hat seit 1980 eine qualitativ und quantitativ bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht. Insgesamt haben die Unsicherheiten zugenommen und das Wohlstandsniveau ist gesunken. Das bestehende Arbeitsregime mit seinen überkommenen Regeln aus der Zeit des Putsches konnte die »friedliche« Fortführung des Systems industrieller Beziehungen nicht mehr gewährleisten. Der Rahmen des Regimes wurde immer öfter gesprengt. Die Metallarbeiter haben der objektiven Sackgasse, in der das Regime steckte, nun die subjektive Tat – ihren Kollektivwillen – hinzugefügt und den Rahmen endgültig gesprengt. Ereignisse wie der Tekel-Widerstand, mit dem sich die ArbeiterInnen ebenfalls außerhalb der gewerkschaftlichen Organisierung gegen ihre Prekarisierung in Folge von Privatisierung stemmten, Streiks der Angestellten im öffentlichen Dienst, die Aktionen der Birleşik Metal-İş (Vereinte Metallarbeitsgewerkschaft) gegen Aussetzungen des Streikrechts, bildeten einen neuen Standard für die Arbeiterbewegung. Überall im Land ist es zu Eruptionen gekommen, die an Kraft gewannen. Die Massenarbeitsniederlegungen in den Ziegelwerken in Diyarbakır, den Schuhfabriken in Adana, den Stickereien in Merter, den Textilfabriken in Gaziantep und der BoydakMöbelfabrik in Kayseri sind dafür nur einige Beispiele. G E F ÜGI G E G EW E R K SC H AF T EN , S C HW AC H E LINKE Das wichtigste Merkmal dieser Situation ist zweifellos, dass die Gewerkschaften, die sich seit etwa 30 Jahren im Rahmen der Legalität verfangen haben, nicht die treibenden Kräfte der Kämpfe darstellen. Die Gewerkschaften müssen ihre Praxis dem Kurs der Kämpfe anpassen oder mit ähnlichen Reaktionen der ArbeiterInnen rechnen, die ihre Legitimität weiter untergraben wird. Besonders mit den Folgen der Krise im Jahr 2008, den seither nicht kompensierten Reallohnverlusten, dem gestiegenen Druck an den Arbeitsplätzen, der Verdichtung der Arbeit und der Erhöhung der Arbeitszeiten ist es zunehmend schwieriger für die ArbeiterInnen geworden, sowohl den bestehenden restriktiven Rahmen als auch Gewerkschaften zu akzeptieren, die sie in ihren Kämpfen nicht unterstützen, im Gegenteil, ihren Widerstandswillen absorbieren und passivieren. Es wird schwieriger werden, eine junge, gebildete Arbeiterklasse, die hohe Erwartungen hegt und in der intensiven Nutzung von Kommunikationsmitteln erprobt ist, unter Kontrolle zu behalten. Der linke Gewerkschaftsverband DİSK.

Für die türkische Metallindustrie ist die Rede von einem System, das den Arbeitsprozess neben einer Mischung aus Konsens und Zwang durch Gewerkschaften reguliert, die sich im Einklang mit den Bedürfnissen des Kapitals bewegen. Einige wissenschaftliche Publikationen haben die Herausforderung der in den Produktionsprozessen hergestellten Hegemonie durch alltägliche Widerstände der ArbeiterInnen bereits wiederholt thematisiert. Überliefert wurde dabei, dass unter der sichtbaren Oberfläche einer fügsamen Arbeiterschaft kontinuierlich ein verdeckter Widerstand junger ArbeiterInnen stattfindet. Neben dieser Feststellung wurde auf die autokratische Verfasstheit der Gewerkschaft Türk-Metal hingewiesen und betont, dass die ArbeiterInnen diese Interessenvertretung ablehnen und dass sie sich bereits in früheren Auseinandersetzungen, wie z.B. im Jahr 1998, entschieden, aber bislang mit wenig Erfolg gegen diese Gewerkschaft gestellt haben. Nun sind die Metallarbeiter an einem Punkt angelangt, an dem sie sich sowohl der Kontrolle der Unternehmen als auch der Gewerkschaft entziehen könnten. Hier kommt ein dritter Kontrollmechanismus ins Spiel, der sich auf soziale und ideologische Grundlagen stützt. Die Metallarbeiter sind in Übereinstimmung mit den in ihren Wohnorten vorwiegenden ideologischen Überzeugungen oft stark nationalistisch und konservativ geprägt. Das hat nicht nur zur Folge, dass sie gegenüber Autoritäten wie der Polizei, der Gewerkschaftsführung oder dem Arbeitgeber gefügig sind, sondern auch, dass sie distanziert gegenüber linksorientierten und effektiv kämpfenden Gewerkschaften wie der Birleşik Metal-İş sind, die Mitglied in der Konföderation Revolutionärer Arbeitergewerkschaften DİSK (zweitgrößter Gewerkschaftsdachverband in der Türkei) ist. Es war die Birleşik Metal-İş, die vor wenigen Jahren bei dem für die jetzige Rebellion beispielhaften Arbeitskampf in der Bosch-Fabrik durchsetzen konnte, dass ein relativ guter Tarifvertrag zustande kam. Trotz aller Verbote setzte sie damals den Streik als Mittel des Kampfes effektiv gegen den Arbeitgeberverband MESS ein.4 Dennoch gelingt 4

Der Keim für die heutige Rebellion wurde vor einigen Jahren ebenfalls in Bursa gelegt. Die Arbeiter der Firma Bosch, die Mitglieder in der Gewerkschaft Türk-Metal waren, kündigten ihre Mitgliedschaft und traten der Vereinten Metallarbeitsgewerkschaft (BMİS) bei. Diese erste militante Massenbewegung wurde von der Türk-Metal aufs Härteste bekämpft. Die ArbeiterInnen wurden zudem vom Ministerium für Arbeit und den Arbeitgebern unter Druck gesetzt, einigen wurde gekündigt und die Übriggebliebenen mussten zu Türk-Metal zurückkehren. Doch diese Bewegung


es ihr aufgrund der gegebenen sozialen und ideologischen Verfasstheit der ArbeiterInnen nicht, deren Gunst zu gewinnen. Dieser Tatbestand stellt eines der wichtigsten Kennzeichen der aktuellen Arbeiterbewegung dar. So besteht der Unterschied zu globalen Erfahrungen und unseren Erfahrungen zwischen 1960 und 1980 darin, dass wir es heute mit einer Bewegung zu tun haben, die nur sehr marginal linke politische Kennzeichen trägt. Dies beeinträchtigt die Fähigkeit, als Klasse zu handeln enorm und muss auf alle Fälle überwunden werden. S T R EI K W E L LE N I N D E R A U T O M O BI LI N D US T RI E Die Rebellion der MetallarbeiterInnen verfügt über eine globale Dimension. Beverly Silver erörtert in ihrem Hauptwerk, wie in den USA der 1930er-Jahre eine militante Bewegung der Automobilarbeiter entstand, die sich 1960 über Europa ausdehnte, in den 70er und 80er-Jahren Anschluss in Brasilien fand und sogar nach Südafrika und Südkorea übersprang. Überall, so Silver, provozierten militante Arbeiterbewegungen ähnliche Reaktionen des Kapitals – und dies sei einer der Gründe für die Verlagerung von Produktionsstätten in der Automobilindustrie. Die Widerstandswelle der Automobilarbeiter begünstigte die Bildung autonomer Gewerkschaften, diskreditierte »verantwortungsbewusstes« gewerkschaftliches Handeln im Sinne der Unternehmen und hat sogar eine beschleunigende Wirkung auf den Übergang zur Demokratie (in Brasilien) und die Befreiung von der Apartheid (in Südafrika) entfaltet. Für die Türkei kann gesagt werden, dass sich die militante Bewegung der Automobilarbeiter in den 1970ern unter der Führung von Maden-İş (Gewerkschaft für Bergbau) entwickelte, durch den Putsch von 1980 unterbrochen wurde, 1998 dann mit der Rebellion der ArbeiterInnen gegen ihre unternehmernahe Gewerkschaft Türk-Metal erneut Fahrt aufnahm und schließlich, mit Höhen und Tiefen, ihre heutige Form angenommen hat. Nun ist es auch möglich, die heutige Rebellion im Rahmen der anhaltenden globalen ökonomischen Krise als absehbares Resultat der Strategie der Automobilkonzerne anzusehen, die ihre über den gesamten Globus verteilten Standorte in Konkurrenz zueinander setzen, um die Produktionskosten zu senken. Während Silver die nächste Widerstandswelle für China und Mexiko erwartete, kristallisierte sie sich de facto in der Türkei heraus. Die Erklärung von Renault, die Produktion zu hatte auch zur Folge, dass Türk-Metal einen neuen Tarifvertrag vereinbaren musste, um nicht einen Großteil der Arbeiter zu verlieren.

verlagern, wenn der Streik anhalte, ist ein Zeichen dafür, dass die Manager die Widerstände, wie auch schon bei vergangenen Widerstandswellen, mit Standortverlagerungen kontern möchten. Kurzum: Historisch und global betrachtet gibt es einige auffällige Ähnlichkeiten. K RI S T A L LI SA T I O N S P U N K T E

VON

A R B EI T S -

K Ä MP F EN

Der erste, in den letzten Jahren besonders aktive Strang der Arbeiterbewegung in der Türkei bestand aus Beschäftigten staatlicher Betriebe, die von Privatisierungen betroffen waren und sich gegen deren Folgen zur Wehr setzten. Der Widerstand bei Tekel (dem privatisierten Monopolunternehmen für Alkohol und Zigaretten) und der langjährige Widerstand der ArbeiterInnen gegen die Privatisierung des Kohlekraftwerkes in Yatağan (Ägäis) gehören zu den herausragenden Arbeitskämpfen in diesem Sektor. Getragen wurden dieser Widerstand hauptsächlich von ArbeiterInnen staatlicher Unternehmen, deren relativ privilegierter, weil mit umfassenden Sicherheiten und Rechten ausgestatteter Status sich insgesamt in Auflösung befand. Obgleich diese Kämpfe auch auf starke Initiativen an der Basis zurückgingen, wurden sie maßgeblich von etablierten Gewerkschaften gelenkt. Sie waren Beispiele dafür, wie eine Radikalisierung sich in disziplinierter Form in gewerkschaftlichen Kanälen bewegt – und sie waren eine letzte und daher radikale Antwort auf den langen Privatisierungsprozess. Zwar motivierten diese Kämpfe die Arbeiterbewegung und die gesellschaftliche Opposition und bereicherten sie mit ihrer Widerstandskultur, doch blieb der inspirierende Effekt aufgrund des sich insgesamt in Auflösung befindlichen Status dieser ArbeiterInnen begrenzt. Der zweite Strang besteht allgemein formuliert aus ArbeiterInnen, die wir als Prekarisierte bezeichnen würden: TagelöhnerInnen, LeiharbeiterInnen, flexibilisierte ArbeiterInnen in fordistischen, paternalistisch geführten Fabriken überwiegend in ruralen Regionen. Den Streik beziehungsweise den Widerstand der LeiharbeiterInnen im Energie- und Gesundheitssektor, die Massenarbeitsniederlegung der Textil- oder Ziegeleibeschäftigten in Gaziantep und Diyarbakır oder die spontanen und kurzlebigen Widerstände der Bauarbeiter kann man hierunter zählen. In diesem sehr heterogenen und dynamischen Bereich, in dem sich auch einige politische AktivistInnen engagieren, wird sich sicherlich noch viel tun, möglicherweise bildet sich hier etwas, aus dem in Zukunft eine stärkere Organisierung erwächst.


Die Metallarbeiter haben heute einen dritten Weg geebnet. Dieser in letzter Zeit vergleichsweise statische, bewegungslose Teil der Arbeiterklasse ist mit der jetzigen Rebellion zu einer motivierenden, antreibenden Kraft geworden. Die Bewegung der Automobilarbeiter, die den Typus des fordistischen Arbeiters und einen gewerkschaftlichen Prototyp des 20. Jahrhunderts darstellen, zeigt, dass auch aus hoffnungslos erscheinenden Fällen unerwartet eine Dynamik entstehen kann. Trotz ihrer vergleichsweise guten Bezahlung, aber konfrontiert mit sinkenden Reallöhnen, mit einer außergewöhnlichen Arbeitsverdichtung und einer Gewerkschaft, die zum Kontrollorgan verkommen ist, haben sie sich erhoben und eine Dynamik hervorgebracht, die die zentralen Anliegen der gesamten Arbeiterklasse umfasst. Für den ersten Strang war der primäre Ansprechpartner die Regierung. Für den zweiten Strang, die Prekären, besteht der Kampf oft schon darin, ein verantwortliches Gegenüber ausfindig zu machen, und/oder dieses Gegenüber an einen Verhandlungstisch zu bringen. Für den dritten Strang der Arbeiterbewegung, die Metallarbeiter, ist der erste Ansprechpartner die Gewerkschaft. Hier zeigt sich nun ein wesentliches Problem aktueller Arbeitsbeziehungen in der Türkei: Die überkommenen gewerkschaftlichen Formen müssen überwunden werden, damit die ArbeiterInnenbewegung in der Türkei an Fahrt gewinnen kann.

Identität des Rates muss so konzipiert werden, dass er gegenüber der Gewerkschaft einen starken Einfluss hat und die Bürokratie und den Bürokratismus der Gewerkschaft aufhebt.« Vor dem Hintergrund dieses Vorschlags von Gramsci haben wir die Einschätzung, dass die Metallarbeiter ihre bestehenden Räte stärken, auf eine gewerkschaftliche Organisierung jedoch nicht verzichten sollten. Doch das läuft auf ein Verständnis von GeAntonio Gramsci (1891werkschaft hinaus, das 1937), ital. Kommunist. die Arbeiter nicht auf Ist in der heutigen LinMitglieder reduziert ken sehr beliebt. und nicht die Auflösung der Arbeiterräte vorantreibt. Die entschiedene und mutige Rebellion der Metallarbeiter hat grundlegende Erfahrungen für eine energische Organisierung an der Basis ermöglicht. Ein gewerkschaftliches Verständnis, das diese Erfahrungen produktiv weiterführt, gilt es zu entwickeln. So müssen für eine aufstrebende Arbeiterbewegung drei Hauptsäulen gebildet werden: Eine gut funktionierende, partizipative gewerkschaftliche Struktur; Räte, die eine starke Initiative an der Basis ermöglichen; und im Hintergrund eine linksorientierte Politik, die die hegemonialen Kapazitäten der Arbeiterklasse erhöht. Wie sagte Etienne Balibar einst: »Es wird immer eine Zeit für die Arbeiterbewegung kommen, in der sie sich gegen die bestehenden Organisierungsformen und -praktiken neu formieren muss«. Die Arbeiterbewegung in der Türkei erlebt genau diesen Moment. Es ist an der Zeit, die Solidarität, die Ideen und die Erfahrungen zu vervielfältigen.

R E FO R MI E R UN G D ER A R B EI T E R BE W EG UN G Die von den MetallarbeiterInnen gegründeten Räte sind beachtenswert und stellen einen historischen Gewinn dar. Antonio Gramsci unterstrich, dass die Räte die Gesetzeskonformität im Bereich industrieller Beziehungen zurückweisen, und in unserem Fall passiert genau das. Wiederum nach Gramsci repräsentieren die Gewerkschaften eben jene Konformität und versuchen, ihre Mitglieder an die Gesetze zu binden. Denn die GewerkschafHakan Kocak arbeitet an der Universität Kocaeli, ten müssen sich gegenüber dem Arbeitgeber verFachbereich Arbeitsbeziehungen, und ist ehemaliantworten. An dieser Stelle entwickelte Gramsci ger Mitarbeiter der Gewerkschaft Petrol-İş einen kritischen Vorschlag im Hinblick auf das Übersetzung: Fitnat Tezerdi und Errol Babacan Verhältnis zwischen diesen beiden organisatorischen Modellen, der darauf zielt, den spontan ge- Empfehlung: Das Lower Class Magazine zur Repression der wachsenen Räten die Permanenz von GewerkTürkei gegen die kurdische Freiheitsbewegung: http://lowerclassmag.com/2015/07/krieg-fuer-machterhalt/ schaften zu geben und den Bürokratismus der Gewerkschaften aufzuheben: »Die Beziehungen Macher*innen dieser Zeitung sind organisiert in der zwischen den beiden Institutionen müssen so orAnarchistischen Initiative Kaiserslautern (anarchistiganisiert werden, dass die Arbeiterklasse durch sche-initiative-kl.blogspot.de). Bei Fragen kann man die spontanen Impulse der Räte nicht zurückgesich an diese per Mail wenden (aikl@riseup.net). worfen wird oder eine Niederlage erfährt. Mit anWir sind organisiert im Anarchistischen Netzwerk deren Worten, die Räte müssen die Disziplin der Südwest* (a-netz.org) und der Föderation deutschGewerkschaft verinnerlichen. Die revolutionäre sprachiger Anarchist*innen (fda-ifa.org).


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