www.amnesty.De/joUrnal
Das magaZin für Die mensChenreChte
4,80 eUro
amnesty joUrnal
wer bestimmt über meinen körper?
norDirak auf der flucht vor dem »islamischen staat«
stop folter in Usbekistan sind folter und willkür weit verbreitet
josef haslinger Der präsident des deutschen pen über verfolgte schriftsteller
10/11
2014 oktober/ november
Die amnesty joUrnal app – jetZt aUCh für anDroiD! Mobil und multimedial, mit ausführlichen Bildstrecken und Videos, Podcasts und Online-Aktionen für alle Tablets. Die Amnesty Journal App ist kostenlos. Sie finden sie im App Store und ab sofort auch bei Google Play unter »Amnesty Mag«.
Zeichnung: Mareike Engelke
Weitere Informationen: www.amnesty.de/app
Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals
Foto: Mark Bollhorst / Amnesty
eDitorial
mein körper gehört mir… … ein Satz, der selbstverständlich klingt. Schließlich sind wir frei zu wählen, wen wir lieben, wann und ob wir Kinder haben wollen und welche sexuellen Beziehungen wir eingehen. Trotzdem werden überall auf der Welt diese Freiheiten und verbrieften Rechte durch den Staat oder durch die eigene Familie beschnitten und Menschen diskriminiert. So wie im Falle der 17 Frauen in El Salvador, die dort zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind, weil sie eine Fehlgeburt erlitten hatten (siehe Seite 20 und 25). In Nordafrika werden junge Frauen häufig nach einer Vergewaltigung gezwungen, ihren Peiniger zu heiraten (siehe Seite 33). Die Gesetzeslage und der Zwang durch die Familie ermöglichen die grausame Praxis. Dies sind einige der Themen der Amnesty-Kampagne »My Body, My Rights«, über die wir in dieser Ausgabe berichten. In der alltäglichen Flut an Nachrichten erregen viele dieser Fälle nur wenig Aufmerksamkeit. Oft sind die Regionen entlegen und Informationen nur schwer zugänglich. Dass es uns dennoch möglich ist, darüber zu berichten, ist auch couragierten Journalisten und Fotografen zu verdanken. Meistens arbeiten sie unter äußerst widrigen Bedingungen. Manche von ihnen bezahlen ihren Einsatz mit ihrem Leben, wie die beiden US-amerikanischen Journalisten James Foley und Steven Sotloff, die kürzlich in Syrien brutal ermordet wurden. Unser Autor Carsten Stormer, der mehrfach aus der Region berichtet hat, war mit ihnen befreundet und kennt die Risiken aus eigener Erfahrung (siehe Seite 15). Und er nennt die Gründe, wieso Korrespondenten diese Gefahren auf sich nehmen. Denn ein Krieg, über den nicht mehr berichtet wird, von dem es keine Bilder gibt, findet im Bewusstsein der Öffentlichkeit nicht mehr statt. Für die Opfer ist dies vielleicht eine der größten Demütigungen, die sie erfahren: dass sie nicht mehr wahrgenommen werden. Zu den Orten, über die wenig bekannt ist, gehören sicherlich auch die Gefängnisse in Usbekistan. Die Bedingungen dort gelten als besonders grausam. Amnesty kämpft dafür, dass dort Folter und andere Misshandlungen gestoppt werden. Die Möglichkeit, sich einzusetzen, finden Sie auch hier im Heft. Unterzeichnen Sie die beigelegte Petition für unsere Stop Folter-Kampagne und sammeln Sie zwei weitere Unterschriften (siehe Seite 46).
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inhalt
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Die Schauspielerin Álfrún Örnólfsdóttir beteiligt sich für Amnesty Island an der Kampagne »My Body, My Rights«. Foto: Ásta Kristjánsdóttir
thema 19 Mein Körper, meine Rechte Von Timm Christmann
20 Auf Leben und Tod El Salvador hat eines der schärfsten Abtreibungsgesetze der Welt. Ein Schwangerschaftsabbruch ist unter allen Umständen verboten, selbst bei einer Vergewaltigung oder bei Gefahr für das Leben der Mutter. Von Kathrin Zeiske
25 Inhaftiert wegen Fehlgeburt
rUbriken 06 Weltkarte 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Porträt: Ahmed Seif al-Islam 15 Kolumne: Geoffrey Mock 61 Rezensionen: Bücher 62 Rezensionen: Film & Musik 64 Briefe gegen das Vergessen 66 Aktiv für Amnesty 67 Selmin Çalışkan über Krieg
In El Salvador erhielten 17 Frauen lange Haftstrafen, weil Komplikationen während der Schwangerschaft zu Fehlgeburten geführt hatten, die die Gerichte als Abtreibungen ansahen. Frauenrechtsgruppen fordern die Begnadigung der Frauen und eine Reform des Strafrechts. Von Christa Rahner-Göring
27 Selbst entscheiden Wer bestimmt über meinen Körper: Amnesty startet die Kampagne »My Body, My Rights« über sexuelle und reproduktive Rechte. Von Gunda Opfer
30 Aufgetaucht Die Norwegerin John Jeanette Solstad Remø ist eine Frau, die ihr wahres Geschlecht lange verbergen musste. Doch heute setzt sie sich offen für die Rechte von Transgender ein. Von Daniel Kreuz
32 Zynisches Recht Nach dem schockierenden Selbstmord einer 16-Jährigen, die gezwungen worden war, ihren Vergewaltiger zu heiraten, hat Marokko Anfang des Jahres die Straffreiheit für Vergewaltiger abgeschafft. Von Uta von Schrenk
Fotos oben: Øle Schmidt | Amnesty Norwegen | Stephen Dock / VU / laif | Herrgott Ricardo / picture alliance
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36 Wer nicht folgt, muss sterben
52 »Sie nehmen sich zu viel Freiheit heraus«
Hunderttausende flüchten im nördlichen Irak und in Syrien vor der Terrorherrschaft des »Islamischen Staates«. Von Çiğdem Akyol
39 Gemeinsam handeln Das von Amnesty organisierte »Human Rights Camp« fand in diesem Jahr zum dritten Mal statt. Von Deborah Jungbluth
40 Am Ende der Skala In Istanbul sitzen viele Flüchtlinge fest. Vor allem für Frauen sind sexuelle Gewalt und Ausbeutung alltäglich. Von Sabine Küper-Büsch
42 Ein Monarch heiligt alle Mittel Ein böses Wort über den König kann in Thailand zu einer Gefängnisstrafe führen. Von Somchai Fauzi
44 Geschlagen, isoliert und vernachlässigt In Usbekistan ist Folter weit verbreitet. Der zentralasiatische Staat ist daher eines von fünf Ländern, auf die sich die weltweite Amnesty-Kampagne »Stop Folter« besonders konzentriert. Von Daniel Kreuz
46 Ohne Gnade Die Usbekin Dilorom Abdukadirova wurde gefoltert und in zwei Prozessen zu insgesamt 18 Jahren Haft verurteilt – und das nur, weil sie friedlich gegen ihre Regierung demonstriert hatte. Von Daniel Kreuz
49 Verfolgt und verstummt Immer mehr Oppositionelle landen in Aserbaidschan hinter Gittern. Von Janna Sauerteig und Sophia Stark
inhalt
Ein Gespräch mit Josef Haslinger, Autor und Präsident des PEN-Zentrums Deutschland.
54 Georgische Moral Vor zwei Jahren wurde der georgische Schriftsteller Zaza Burchuladze wegen seiner kritischen Texte krankenhausreif geschlagen. Seither lebt er im deutschen Exil. Ein Porträt von Georg Kasch
56 Buchlese In der Zwickmühle: »Ein Kommunist in Unterhosen« von Claudia Piñeiro; Kein Paradies nirgends: »Wir brauchen neue Namen« von NoViolet Bulawayo; Einblicke in russische Gefängnisse: »Meine Mitgefangenen« von Michail Chodorkowski; Auf und nieder: »Die Muslimbruderschaft« von Annette Ranko.
58 Verkauft, verraten, verloren Ryad Assani-Razaki hat einen drastischen Roman über westafrikanische Straßenkinder geschrieben. Von Maik Söhler
60 Nicht nur der Ku-Klux-Klan lynchte Manfred Bergs Studie über mehr als 200 Jahre Lynchjustiz in den USA beschäftigt sich mit Selbstjustiz und rassistischen Morden. Von Maik Söhler
63 Vorsicht: Film mit homosexuellem Inhalt Der Film »Praia do Futuro« von Karim Aïnouz ist eine globale Migrationsgeschichte. In Brasilien wird er nur mit einer Warnung gezeigt, die auf seinen homosexuellen Inhalt hinweist. Ein Gespräch mit dem Regisseur Karim Aïnouz.
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panorama
mexiko: straffrei foltern
Trotz Verbot sind Folter und Misshandlungen durch Polizisten und Soldaten in Mexiko erschreckend weit verbreitet. Das stellt Amnesty International in einem kürzlich in Mexiko-Stadt vorgestellten Bericht fest. Im Zuge der Militäreinsätze gegen die Drogenkriminalität ist die Zahl der Fälle sprunghaft angestiegen. Im vergangenen Jahr registrierte die mexikanische Menschenrechtskommission 600 Prozent mehr Anzeigen wegen Folter und Misshandlungen als zehn Jahre zuvor. Amnesty fordert die mexikanische Regierung zum sofortigen Handeln auf, um den verbreiteten Einsatz von Folter durch Polizei und Militär zu stoppen. Der Bericht stellt außerdem innerhalb von Justiz, Polizei und Militär eine Kultur der Toleranz gegenüber Folter fest. Folterer gehen fast immer straffrei aus. Nur sieben Personen wurden in Mexiko je wegen Folter von Bundesgerichten verurteilt. Weitere Infos unter: www.amnesty.de/files/P4353_Mexico_report_complete_web.pdf
Foto: Kampagne der spanischen Amnesty-Sektion zur Folter in Mexiko © Amnesty International
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Foto: Sergey Ponomarev / The New York Times / Redux / laif
Ukraine: rUsslanD heiZt konflikt an
Amnesty hat Russland vorgeworfen, den Konflikt in der Ost-Ukraine zu schüren. Auf Satellitenbildern, die Amnesty am 7. September veröffentlicht hat, ist unter anderem die Aufstellung neuer, nach Westen gerichteter Geschütze auf ukrainischem Staatsgebiet zu sehen. »Unsere Beweise zeigen, dass Russland den Konflikt anheizt – sowohl durch direktes Eingreifen als auch durch Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine«, sagte Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty. Russland müsse seine Waffenlieferungen und die weitere Unterstützung für die Rebellen einstellen, weil diese damit die Menschenrechte verletzen. Die Satellitenbilder ließen keinen Zweifel daran, dass dies nun ein internationaler bewaffneter Konflikt sei. Außerdem begehen die Kämpfer beider Parteien Kriegsverbrechen. »Alle Seiten in diesem Konflikt haben Missachtung für das Leben von Zivilisten gezeigt und verletzen eklatant ihre internationalen Verpflichtungen«, erklärte Shetty. Das Bild zeigt ein Flüchtlingscamp in der Nähe von Donezk. Weitere Informationen unter: www.amnesty.org
panorama
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versChwUnDene oppositionelle
Foto: Nish Nalbandian / Polaris / laif
naChriChten
Freie Hand. Von Regierungstruppen zerstörte Wohnhäuser in Maarat al-Nu’man im westlichen Syrien. syrien Im Schatten der schockierenden Menschenrechtsverletzungen des »Islamischen Staates« (IS) setzt sich die Menschenrechtstragödie in Syrien fort: Trotz Appellen der UNO lässt die syrische Regierung Oppositionelle weiterhin systematisch verschwinden. Im Februar hatte der UNO-Sicherheitsrat in einer Resolution sowohl von der Regierung als auch von bewaffneten Gruppen ein Ende der Verschleppungen und anderer Menschenrechtsverletzungen sowie die Aufhebung
von Blockaden und den Zugang für humanitäre Hilfe verlangt. Dennoch wurden auch in den vergangenen Monaten zahlreiche Oppositionelle auf offener Straße oder aus ihren Wohnungen verschleppt. Die Verschwundenen werden ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne Benachrichtigung ihrer Angehörigen in geheimen Gefängnissen festgehalten. Eine unbekannte Anzahl von Menschen ist während der Geheimhaft getötet worden. »Die Ankündigungen im Resolutions-
solDatenmütter als »aUslänDisChe agenten« eingestUft
Erneut wurden zwei russische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) von offizieller Seite als »ausländische Agenten« diffamiert. Neben dem »Institute for the Development of Freedom of Information« hat es nun auch die in Russland bekannte Organisation »Soldatenmütter St. Petersburg« getroffen. Anlass war eine öffentliche Äußerung von Ella Poljakowa, der Vorsitzenden der NGO, die darauf hingewiesen hatte, dass bereits zahlreiche russische Soldaten im Kampf gegen ukrainische Streitkräfte gefallen sind. Seit einer Gesetzesänderung Anfang dieses Jahres ist das Justizministerium befugt, NGOs als »ausländische Agenten« einzustufen. Seither wurden zwölf unabhängige NGOs gegen ihren Willen in das Register aufgenommen.
rUsslanD
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»Der Zeitpunkt der Entscheidung zeigt, dass der Kreml entschlossen ist, Kritiker mundtot zu machen und jede Information über eine aktive Rolle Russlands im Ukrainekonflikt genau im Auge zu behalten – obwohl es dafür von Tag zu Tag mehr Beweise gibt«, erklärte Sergei Nikitin, Direktor des Amnesty-Büros in Moskau. »Die Botschaft lautet: Wag’ es nicht, darüber zu reden – sonst drohen schwere Repressalien.« Russlands »Agentengesetz« wurde im Juni 2012 verabschiedet und trat im November 2012 in Kraft. Anfang des Jahres wurde es dahingehend geändert, dass das Justizministerium die NGOs nun auch ohne ihre Zustimmung und ohne langatmige Gerichtsverfahren – wie dies zunächst der Fall war – registrieren kann.
text des UNO-Sicherheitsrats sind offensichtlich leere Worte geblieben. Damit gibt die internationale Gemeinschaft der syrischen Regierung faktisch freie Hand, die systematische Praxis des Verschwindenlassens fortzusetzen, ohne befürchten zu müssen, dafür – beispielsweise vor dem Internationalen Strafgerichtshof – zur Rechenschaft gezogen zu werden«, sagte Philip Luther, Direktor der Abteilung Naher Osten und Nordafrika von Amnesty International.
rüCksChritt ZUr toDesstrafe
singapUr Der Stadtstaat Singapur hat eine Kehrtwende vollzogen. Erstmals seit 2011 wurden wieder zwei Häftlinge hingerichtet. Tang Hai Liang und Foong Chee Pent waren 2011 wegen Drogenhandels zum Tode verurteilt worden. Noch im November 2012 hatte das Parlament Singapurs die gesetzliche Regelung abgeschafft, wonach die Todesstrafe bei Mord und Drogenhandel unter bestimmten Umständen zwingend sei. Seither wurden Todesurteile gegen mindestens neun Personen in lebenslange Haft umgewandelt. Die Regierung betont, dass die beiden Hingerichteten auf eine Umwandlung ihrer Strafe verzichtet hätten.
amnesty joUrnal | 10-11/2014
»Ich vererbe dir die Gefängniszelle, in der ich einst saß.« Der ägyptische Anwalt Ahmed Seif al-Islam kämpfte in seiner Heimat dreißig Jahre für die Menschenrechte. Am Ende seines Lebens zeigte er sich resigniert.
porträt ahmeD seif al-islam
Er war einer der Väter der ägyptischen Demokratiebewegung: Nachdem Ahmed Seif al-Islam im Gefängnis gefoltert worden war, widmete er sein Leben dem Kampf für die Menschenrechte. Nun ist er im Alter von 63 Jahren an einem Herzleiden verstorben. Von Ramin M. Nowzad Als der ägyptische Menschenrechtsaktivist Ahmed Seif al-Islam vor einigen Wochen im Sterben lag, fehlten an seinem Totenbett zwei wichtige Personen. Seine 20-jährige Tochter Sanaa war nicht im Krankenhaus erschienen, um sich von ihrem Vater zu verabschieden. Und auch ihr zwölf Jahre älterer Bruder Alaa blieb der Intensivstation fern. Nicht etwa, weil die beiden ihren Vater nicht verehrt hätten. Im Gegenteil, sie waren in seine Fußstapfen getreten: Die Geschwister sitzen derzeit in ägyptischen Gefängnissen, weil sie es gewagt haben, in ihrer Heimat für Demokratie und Menschenrechte auf die Straße zu gehen. Ahmad Seif al-Islam ist am 27. August im Alter von 63 Jahren an den Folgen einer riskanten Operation am offenen Herzen gestorben. »Mors certa, hors incerta«, sagt ein lateinisches Sprichwort: »Der Tod ist gewiss, allein sein Zeitpunkt ist ungewiss.« Ägypten hat einen großen Kämpfer für die Menschenrechte verloren. Und der Zeitpunkt seines Todes hätte tragischer nicht sein können: Seine Stimme wird besonders jetzt schmerzlich vermisst, da wieder einmal eine Revolution ihre Kinder frisst. In Ägypten ist der ehemalige Militärchef al-Sisi der neue starke Mann – und er macht erbarmungslos Jagd auf seine Kritiker. Tausend politische Gegner ließ er erschießen, Hunderte wurden zum Tode verurteilt, Zehntausende landeten hinter Gittern. Was es bedeutet, in einer Diktatur inhaftiert zu werden, musste Seif schon früh am eigenen Leib erfahren. Weil er sich als junger Mann dem Sozialismus verschrieben hatte, landete er mehrmals im Gefängnis. Was er dort erlebte, sollte sein Leben
naChriChten
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porträt
Foto: Hossam el-Hamalawy
toD eines QUerDenkers für immer prägen: Im Jahr 1983 verschwand er unter Präsident Hosni Mubarak in einer Gefängniszelle, wo ihn Offiziere schwer verprügelten und mit Elektroschocks folterten. Es war ein Wendepunkt in seiner Biografie. Noch während seiner Haftzeit begann er, Jura zu studieren. Als er nach fünf Jahren freikam, hatte sein Dasein einen neuen Sinn bekommen: Seif al-Islam widmete sein Leben dem juristischen Kampf für die Menschenrechte. Als Anwalt setzte er sich für Ägypter ein, die willkürlich festgenommen worden waren oder denen ein unfaires Verfahren drohte – egal, ob es sich um Islamisten, Atheisten, Sozialisten, Terrorverdächtige oder Homosexuelle handelte. Im Jahr 1999 gründete er eine Anwaltskanzlei, die sich für Folteropfer engagiert. Als sich das Volk vor drei Jahren gegen den Autokraten Mubarak zu erheben begann, wurde die Kanzlei rasch zu einer Schaltzentrale der Opposition. Sicherheitskräfte versuchten damals, den Aufstand mit Waffengewalt niederzuschlagen – doch vergebens: Mubarak musste abdanken. Mohammed Mursi, der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes, setzte eine Untersuchungskommission ein, um die Verbrechen von Polizei und Militär aufzuarbeiten. Auch Seif al-Islam wurde in die regierungsunabhängige Kommission berufen. Doch er ahnte früh, dass die alten Eliten ihren Machtverlust nicht hinnehmen würden. Und genau so kam es: Das Militär übernahm im Sommer 2013 erneut das Ruder. Seif alIslam kämpfte drei Jahrzehnte für eine bessere Zukunft. Doch am Ende seines Lebens zeigte er sich resigniert. Als sein Sohn Alaa im Januar dieses Jahres festgenommen wurde, richtete er auf einer Pressekonferenz diese Worte an ihn: »Ich wollte dir eine demokratische Gesellschaft vererben, die deine Rechte achtet. Stattdessen vererbe ich dir nun die Zelle, in der einst ich saß und in der heute du gefangen bist.« Ein halbes Jahr später wurde sein Sohn zu 15 Jahren Haft verurteilt.
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ehrlose »ehrenmorDe«
Jedes Jahr werden in Pakistan Hunderte Mädchen und Frauen aus Gründen der »Familienehre« umgebracht – zum Beispiel, weil sie angeblich vorehelichen Sex hatten oder einen Mann heiraten wollen, der ihrer Familie nicht genehm ist. Der Staat schützt die Frauen und Mädchen nicht ausreichend gegen dieses Verbrechen, wie die Steinigung von Farzana Iqbal Anfang Juni gezeigt hat. Die 25-jährige Pakistanerin und ihr Ehemann Mohammed wurden angegriffen, als sie auf dem Weg zum Gericht waren. Dort wollten sie bezeugen, dass sie aus freien Stücken geheiratet hatten. 300 Meter vor dem Gebäude wurden die beiden von etwa 20 Angehörigen mit Steinen attackiert, unter anderem vom Vater und von zwei Brüdern Farzana Iqbals. Berichten zufolge schaute die Polizei dem Angriff zu, griff aber nicht
UnmensChliChe isolationshaft
Usa Die Isolationshaft in US-Bundesgefängnissen verstößt gegen internationales Recht und hat verheerende Folgen für die Gesundheit der Gefangenen. Diese entwickeln Angstzustände, Depressionen, Schlafstörungen und andere psychische Beschwerden, wie ein Amnesty-Bericht feststellt. Im US-Hochsicherheitsgefängnis »ADX Florence« in Colorado müssen die Gefangenen bis zu 24 Stunden täglich in Einzelzellen verbringen. Die Gefangenen befinden sich mindestens zwölf Monate in Isolationshaft, bevor bessere Haftbedingungen in Betracht gezogen
Foto: Mohsin Raza / Reuters
pakistan
Der Staat schützt die Frauen nicht. Grabstätte von Farzana Iqbal.
ein. Der Fall löste international Empörung aus. Der pakistanische Premierminister versprach Aufklärung. Inzwischen wurden mehrere Verwandte festgenom-
men. Sie können jedoch ein Gesetz nutzen, wonach Mörder straffrei bleiben, wenn sie den Angehörigen der Opfer Blutgeld bezahlen.
werden. Eine Studie von Rechtsanwälten belegt, dass die Häftlinge im Schnitt 8,2 Jahre in Isolationshaft verbringen. »Die US-Regierung darf Einzelhaft nur in Ausnahmefällen und als letzten Ausweg anwenden. Unter keinen Umständen darf Isolationshaft auf längere oder gar unbestimmte Zeit verhängt werden«, sagte die Leiterin des Amerika-Programms von Amnesty, Erika Guevara-Rosas. Auch der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, Juan Méndez, hatte 2011 alle Staaten aufgerufen, Isolationshaft nur in extremen Ausnahmefällen zu verhängen, nie-
mals aber bei Jugendlichen oder psychisch kranken Menschen. Die USA erwägen hingegen, die Isolationshaft in Bundesgefängnissen noch auszuweiten. Aktuelle Pläne für ein neues Hochsicherheitsgefängnis in Illinois sehen Isolationszellen nach dem Vorbild von »ADX Florence« vor. Isolationshaft wird auch in anderen US-Bundesgefängnissen angewandt. Im Bundesgefängnis »Metropolitan Correction Center« in New York verbringen sogar Untersuchungshäftlinge Monate oder gar Jahre in Isolationshaft, bevor sie vor Gericht gestellt werden.
späte gereChtigkeit
Foto: Damir Sagolj / Reuters
kamboDsCha 35 Jahre nach dem Ende der Schreckensherrschaft
Entscheidender Schritt. Übertragung aus dem Gericht in Phnom Penh.
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der Roten Khmer hat ein Gericht in Kambodscha den 83-jährigen Ex-Staatschef Khieu Samphan und den 88-jährigen ehemaligen Chefideologen Nuon Chea zu lebenslangen Haftstrafen wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Gegen die Urteile kann Berufung eingelegt werden. Die Männer bleiben aber in Haft. »Dieser lang erwartete Gerichtsbeschluss ist ein entscheidender Schritt, um den Opfern des Rote-Khmer-Regimes Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und zeigt, wie wichtig es ist, gegen Straffreiheit vorzugehen«, erklärte Rupert Abbott, Kambodscha-Experte von Amnesty International, nach dem Urteil. Er kritisierte jedoch, dass sich hochrangige Beamte der kambodschanischen Regierung zunächst geweigert hatten, in den Zeugenstand zu treten. Zudem würden Vorwürfe über politische Einflussnahme in weiteren vor dem Völkermordtribunal behandelten Fällen Zweifel an der Fairness der Gerichtsverfahren aufwerfen.
amnesty joUrnal | 10-11/2014
kolUmne: Carsten stormer
Zeichnung: Oliver Grajewski
Schon wieder eine Straßensperre. Schwarz vermummte Islamisten blockieren den Weg. Sie sagen kein Wort, richten ihre Waffen auf unser Fahrzeug, in dem ich mit fünf Aufständischen der Freien Syrischen Armee (FSA) sitze. Meine Begleiter entsichern ihre Kalaschnikows. Einer zieht den Stift aus einer Handgranate. »Sag kein Wort! Das sind Verrückte«, flüstert mir ein Rebell zu, während ein Mann mit Skimaske den Kofferraum durchsucht. Ich trage Turban, Bart und eine Galabija. Die Verkleidung soll mich davor schützen, sofort als Ausländer erkannt zu werden. Mir klopft das Herz in den Ohren. Der gefährlichste Teil meiner Reise liegt vor mir: Der Rückweg aus Syrien in die Türkei. Die Straßen, die aus Aleppo führen, sind gespickt mit Checkpoints islamistischer Gotteskrieger. In den vergangenen Wochen wurden mehrere Kollegen hier entführt. Ich habe mehr Glück. Eine Stunde und zwei weitere Straßensperren später laufe ich über die türkische Grenze. Erleichtert.
stell Dir vor, es ist krieg, UnD niemanD sChaUt hin
Es war die Zeit, als die Kämpfer des »Islamischen Staates« (IS) das Vakuum füllten, das der Krieg hinterlassen hatte. Viele Male hatte ich das Land bis dahin besucht und konnte eine allmähliche Radikalisierung unter den Rebellen beobachten. Dutzende lokale Aktivisten, Zivilisten, die anderen Religionen angehörten, wurden hingerichtet. Kaum eine Woche verging, ohne dass ein ausländischer Journalist entführt wurde. Syrien wurde zum gefährlichsten Konflikt für internationale Berichterstatter. Die Wahrscheinlichkeit, in Nordsyrien entführt zu werden, ist heute höher, als von einem Scharfschützen erschossen oder von einer Fassbombe getötet zu werden. Es war eine schleichende Entwicklung. Je mehr Einfluss die Islamisten gewannen, desto öfter verschwanden Journalisten. Politik und Öffentlichkeit reagierten mit Achselzucken. Bis sich kaum noch Journalisten nach Syrien wagten und der Krieg allmählich aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwand. Nach Angaben von »Reporter ohne Grenzen« sind in Syrien seit Beginn des Aufstands gegen Präsident Baschar al-Assad mindestens 120 Medienschaffende getötet worden. Noch immer befinden sich etwa 20 bis 30 ausländische Journalisten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in den Händen des IS. Im August dieses Jahres wurde mein Freund, der US-Videojournalist James Foley, vor laufender Kamera enthauptet. Das Video seiner Ermordung landete im Netz. Zwei Wochen später wurde der US-Journalist Steven Sotloff geköpft. Beides freie Journalisten, die daran geglaubt hatten, dass es wichtig ist, aus Syrien zu berichten. Sie kannten die Risiken. Aber sie waren keine Cowboys. Schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort. Seitdem ist in den Medien eine Debatte darüber entbrannt, wie man freie Journalisten besser schützen kann. Oder darüber, ob man für eine Story sein Leben riskieren dürfe. Beide Debatten gehen am Thema vorbei. Es darf nicht darum gehen, ob aus Syrien berichtet wird. Es ist ohnehin schon eine Bankrotterklärung der Medien, dass die Berichterstattung von ein paar Dutzend schlecht bezahlten Freelancern und wenigen festangestellten Reportern gestemmt wird. Weil Medien die Risiken scheuen, die Versicherungssumme sparen wollen, die Verantwortung abwälzen können, indem sie keine Aufträge vergeben, Spesen nicht übernehmen – aber hinterher kostengünstig Geschichten abkaufen. Es ist eine scheinheilige, unverantwortliche Haltung. Syrien ist der bestimmende Konflikt dieses Jahrzehnts – und er findet im Windschatten der Medienöffentlichkeit statt. Ohne Bilder gibt es keine Belege. Worte reichen oft nicht aus, um die Realität zu vermitteln. Ohne Bilder keine Zeugnisse, auch für die Aufarbeitung eines Krieges nach dessen Ende. Ja, ohne Bilder findet ein Krieg oft nicht einmal im Bewusstsein der Öffentlichkeit statt. Foley und Sotloff wollten das nicht hinnehmen – und haben für ihre Haltung mit dem Leben bezahlt. Carsten Stormer ist Auslandskorrespondent und lebt in Manila.
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amnesty joUrnal | 10-11/2014
Thema: My Body, My Rights
Die Hochzeit oder die Geburt eines Kindes ist für viele der schönste Tag im Leben, die Erfüllung eines Traums. Doch nicht alle Menschen können selbst entscheiden, wen sie heiraten oder wann sie schwanger werden. Das Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung hat einen schweren Stand.
»My Body, my Rights«. Amnesty-Aktion zum Auftakt der Kampagne in der Schweiz. Foto: Amnesty Schweiz
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Recht auf freie Entscheidung. Skater in Br端ssel.
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amnesty joUrnal | 10-11/2014
Foto: Amnesty Belgien (flämisch)
Mein Körper, meine Rechte
thema
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my boDy, my rights
Bei dem Wort Menschenrechte denken viele nur an bekannte Rechte wie Meinungsfreiheit, das Verbot von Diskriminierung oder die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Zu den eher unbekannten gehören die sexuellen und reproduktiven Rechte. Doch ihr Schutz ist nicht minder wichtig. Millionen Menschen weltweit können nicht frei entscheiden, mit wem sie Sex haben möchten, wann oder wen sie heiraten. Unzählige Frauen und Mädchen können nicht darüber bestimmen, ob und wann sie Kinder haben wollen. Der Zugang zu Aufklärung über Verhütung und Mitteln der Geburtenkontrolle ist in etlichen Ländern nicht gegeben. Homosexuelle werden verfolgt, in manchen Ländern drohen ihnen Gefängnis, ja sogar die Todesstrafe. Im Kern geht es bei den sexuellen und reproduktiven Rechten um das Recht auf Selbstbestimmung. Jeder Mensch hat das Recht, über Fragen, die seinen Körper, seine sexuelle Identität und seine Fortpflanzung betreffen, frei und unabhängig zu entscheiden. Was es bedeutet, wenn Menschen das verwehrt wird, machen folgende Zahlen deutlich: Weltweit bekommen pro Jahr mindestens 14 Millionen heranwachsende Mädchen ein Kind infolge von gewaltsam erzwungenem Sex. Pro Jahr gibt es weltweit 215.000 Fälle von Müttersterblichkeit, die sich durch Zugang zu Verhütungsmitteln vermeiden ließen. 24 europäische Länder verlangen von Transgender-Personen, sich sterilisieren zu lassen, damit ihre Geschlechtszugehörigkeit offiziell anerkannt wird. Hinter diesen Zahlen stecken dramatische und zum Teil grausame Einzelfälle und Geschichten. In El Salvador können Frauen bei einer Fehlgeburt wegen Mordes angeklagt werden und für Jahre im Gefängnis landen. Man unterstellt ihnen eine Abtreibung, die in dem mittelamerikanischen Land unter allen Umständen verboten ist. In Norwegen kämpft die Transgender-Frau John Jeanette Solstad Remø bisher vergeblich dafür, dass sie ihr Geschlecht offiziell ändern darf. Amnesty International setzt sich daher mit der globalen Kampagne »My Body, My Rights« für den Schutz der sexuellen und reproduktiven Rechte ein. Timm Christmann ist Kampagnen-Koordinator der deutschen Amnesty-Sektion.
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Auf Leben und Tod El Salvador hat eines der schärfsten Abtreibungsgesetze der Welt. Ein Schwangerschaftsabbruch ist unter allen Umständen verboten, selbst bei einer Vergewaltigung oder bei Gefahr für das Leben der Mutter. Derzeit sitzen 17 Frauen deshalb jahrzehntelange Haftstrafen ab. Weltweit setzen sich Menschen nun für ihre Begnadigung ein. Von Kathrin Zeiske (Text) und Øle Schmidt (Fotos)
»Bald werde ich mit meiner Tochter ans Meer fahren.« Mirna hinter einem vergitterten Fenster in ihrem Laden.
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ie Gefangenen hämmern von innen gegen das gusseiserne Tor des Sicherheitssektors 2 im Frauengefängnis Ilopango. Sie wurden aus einem der Zellenkomplexe hinter den mit Stacheldraht besetzten Zäunen herausgerufen, an denen Wäsche in der Sonne trocknet. Eine Wächterin in enger Uniform und hohen Stiefeln bewacht das Tor. »Señora!«, rufen die Frauen auf der anderen Seite, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ein paar vereinzelte Anwälte erwarten sie im Außenbereich des Gefängnisses. Dort, wo eine Arbeitskolonne von Häftlingen in gelben T-Shirts mit der Aufschrift »Ich ändere mich« Blechwannen mit Essensresten stapelt. Schließlich öffnet die Wächterin das Tor einen Spalt breit und winkt fünf der Wartenden heraus. Als die Frauen ihre Anwältin ausmachen, lächeln sie. Daniela Ramos gehört zum Anwaltsteam der »Bürgerschaftlichen Vereinigung für eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs«, die eine mittlerweile weltweit laufende Kampagne für ihre Begnadigung startete. »Die 17« sind wegen Mordes zu Haftstrafen von 30 bis 40 Jahren verurteilt. Angezeigt wurden sie ursprünglich wegen Abtreibung. Während die UNO-Konferenz in Kairo im Jahr 1994 in aller Welt liberalere Abtreibungsregelungen zugunsten der reproduktiven Rechte von Frauen anstieß, wurden die Gesetze in El Salvador verschärft. Schwangerschaftsabbruch ist in dem kleinen mittelamerikanischen Land seit 15 Jahren unter allen Umständen verboten; selbst wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, selbst wenn der Fötus nicht lebensfähig ist, selbst wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung hervorgeht – ein Thema, das in den von Jugendbanden beherrschten Armenvierteln El Salvadors große Relevanz besitzt. Kenia, Teodora, Carmen, Alma und Teresa, die jetzt in Ilo-
pango den Sicherheitsbereich A betreten, haben nicht abgetrieben. Sie haben eine Frühgeburt mit Todesfolgen für das Baby erlitten und kamen vom Krankenhaus direkt ins Gefängnis. Auch die übrigen »17« teilen dieses Schicksal. Ein von Vorurteilen und veralteten Rollenbildern geprägtes Gesundheits- und Rechtssystem wurde ihnen zum Verhängnis. Einer jungen Frau, die blutend in die Notaufnahme eines öffentlichen Krankenhauses gebracht wird und offensichtlich schwanger ist oder war, wird in El Salvador sofort unterstellt, sie habe abgetrieben. Weder Ärzte noch Polizei stellen Untersuchungen oder Nachforschungen an. Teodora, die sich mit ihren vier Leidensgenossinnen auf einem kleinen Mäuerchen niederlässt, erinnert sich. Wie ihre Wehen an einem regnerischen Abend so stark wurden, dass sie verzweifelt die Nummer der Polizei wählte. Wie sie das Haus im heruntergekommenen Zentrum von San Salvador verließ, weil sie vergeblich auf die Ambulanz wartete. Wie sie auf nasser Straße ausrutschte und ohnmächtig wurde. Als sie im Krankenhaus aus der Narkose aufwachte, stand ein Polizist neben ihrem Bett. Einen Tag, nachdem ihr Kind tot zur Welt kam, wurde sie in die düsteren Zellen der Untersuchungshaft gebracht, trotz starker Blutungen und noch ganz benommen von der Narkose. Acht Tage später findet sich Teodora im Gefängnis von Ilopango wieder; acht Monate später steht das Gerichtsurteil fest: 30 Jahre wegen Mordes. Seitdem sind acht Jahre vergangen. »Der schlimmste Moment war, ins Gefängnis eingeliefert zu werden«, sagt die junge Frau mit den ebenen Gesichtszügen: wie ein Tunnel ohne Licht. »Der schönste Moment wird sein, es wieder zu verlassen.« Auf ihrem weißen Shirt steht Love. Wenn du rauskommst, dann studieren wir gemeinsam, hat ihr erstgeborener Sohn gesagt. Seine Mutter hat nur die Grundschule besucht. Sie hat den Jungen seit einem Jahr nicht mehr gesehen.
»Diese Schmutzkampagne kann uns zum Verhängnis werden.« Sara García.
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Auch Alma teilt dieses Schicksal. »Meine beiden Mädchen nicht zu sehen, ist schrecklich«, sagt die kleine Frau mit den großen braunen Augen. Ihr drittes Kind erwürgte sich mit der Nabelschnur. Fernab jeder Klinik hatte Alma es zu Hause zur Welt gebracht. Ihre Familie aus Ahuachapán ist so arm, dass sie sich die Fahrt nach Ilopango nicht leisten kann, um sie zu besuchen – auch wenn El Salvador nicht größer ist als Hessen. Von ihren Töchtern kann Alma deshalb nur noch träumen, wenn sie nachts dicht an dicht mit 280 Frauen auf dem Boden eines zur Zelle umfunktionierten Saales liegt. Wie alle Gefängnisse des Landes ist auch das Frauengefängnis mehrfach überbelegt. Die Kampagne für »Die 17« gebe ihnen Kraft und Hoffnung. Manchmal seien sie richtig aufgeregt, erzählen sie. »Ach, ich dreh durch, wenn ich hier rauskomme!«, ruft Carmen impulsiv. Ihre Ohrringe klirren leise, als sie heftig den Kopf schüttelt. »Bei der Besuchszeit letzten Sonntag meinte eine Frau zu mir: Da schießen Leute Fotos mit Blumen für euch und stellen das auf Facebook.« Dass sich Menschen in aller Welt mit ihnen solidarisch zeigen und Briefe an die salvadorianischen Behörden senden, rührt die Frauen, die zwischen Mitte zwanzig und Anfang dreißig sind, sehr. Doch auch sie fühlen sich mit anderen solidarisch. »Das hört ja mit uns nicht auf«, erklärt Teresa, die in einer Fabrik arbeitete und nicht wusste, dass sie schwanger war, bis die Wehen einsetzten. »Hier werden immer wieder junge Frauen ankommen, denen das Gleiche passiert ist wie uns. Frauen, die so bitterarm sind wie wir; die sich keine Privatklinik und keinen Anwalt leisten können.« Ihren Strafverteidiger sah Teresa erstmals in der Gerichtsverhandlung; er kannte noch nicht mal ihren Namen. Kenias Fall unterscheidet sich nicht von den anderen, aber sie ist jünger. Mit neunzehn Jahren kam sie 2013 ins Gefängnis. Erst mit 49 Jahren soll sie es wieder verlassen. Kenia kann noch immer nicht begreifen, was ihr geschah; sie wirkt traumatisiert und abwesend. »Manchmal kommt es mir vor, als befände ich mich in einem Albtraum«, sagt sie leise und starrt auf das bunte Blumenmuster ihrer Flipflops. »Dann kämpfe ich gegen Angstzustände. Meine Eltern vermisse ich schrecklich.« Zu leiden haben die Frauen auch unter dem Stigma der »Kindsmörderinnen«. »Viele sagen: Hoffentlich verrecken sie in Ilopango«, berichtet Teodora. »Ihnen ist nicht klar, was wir erlebt haben.« Auch im Gefängnis werden sie bedroht. »Wenn wir uns draußen noch mal wiedersehen, dann bringen wir euch um«, sagten Mitgefangene. Eine ernstzunehmende Ansage, denn viele der Inhaftierten sind Bandenmitglieder und sitzen wegen Gewaltverbrechen im Gefängnis. »Eins dürft ihr nie vergessen«, sagt Daniela Ramos, die Anwältin der »17«, als sich die Besuchszeit dem Ende nähert und die Wärterin in der blauen Uniform streng herüberwinkt. »Ihr sitzt hier zu Unrecht. Und wir werden alles tun, damit ihr eure Freiheit wiedererlangt.« Bei diesen Worten schießen den fünf Frauen, die sich bisher zusammengerissen haben, die Tränen in die Augen. Und dann schließt sich das große gusseiserne Tor des Sektor B auch schon wieder hinter Teodora, Carmen, Teresa, Alma und Kenia. Daniela Ramos’ Tag ist noch nicht vorbei. Ein Taxi bringt sie durch den dichten Verkehr ins angrenzende San Salvador zurück. Dort holt die Anwältin Mirna ab, eine der »17«, die nach zwölf Jahren Haft schon im offenen Strafvollzug ist. Sie hatte das Glück, dass ihre Tochter die Frühgeburt in einer ärmlichen Latrine überlebte.
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»Rettet das Leben der Frauen.« Beatriz.
»Nun wartet diese Tochter, die der Grund ist, warum ihre Mutter im Gefängnis sitzt, sehnsüchtig darauf, dass Mirna endlich freikommt«, erklärt die Anwältin seufzend, als sie vor einem Friseursalon mit Fruchtsaftausschank stoppt. Mirna erwartet sie an der Tür, eine zierliche Frau mit in Silber eingefassten Zähnen. »Bald werde ich mit meiner Tochter ans Meer fahren«, sagt sie zuversichtlich. Dann packt sie hastig ihre Sachen zusammen, denn gleich ist Einschluss im staatlichen Wohnheim in Santa Tecla, in das sie jeden Abend zurückkehrt. Ihre Chefin umarmt sie zum Abschied. Einst büßte Doña Alma ebenfalls eine Haftstrafe ab; heute ermöglicht sie Frauen im offenen Strafvollzug den beruflichen Wiedereinstieg. Eine Stunde später fährt die Anwältin Daniela Ramos endlich zum Büro der »Bürgerschaftlichen Vereinigung für eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs« zurück, das sich hinter bewachsenen Natursteinmauern und lila Wandgemälden befindet. Seitdem die Kampagne der »17« so erfolgreich voranschreitet, ist die Organisation ins Schussfeld der salvadoriani-
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schen Abtreibungsgegner geraten. Und diese sind eng verbunden mit den Sphären der Macht. Nach Recherchen der Wirtschaftsjournalistin und ehemaligen Direktorin des salvadorianischen Frauenentwicklungsinstitutes ISDEMU, Julia Martínez, existiert eine »Troika« zwischen Opus Dei, einer ultrarechten Gruppierung innerhalb der katholischen Kirche, der selbsternannten Lebensschutzorganisation »Sí a la Vida« und dem »Diario de Hoy«, einer der beiden größten Zeitungen des Landes. Personifiziert wird diese Troika durch die Kolumnistin Julia Regina de Cardenal, die einer der reichsten Familien des Landes angehört. Hinsichtlich des Begnadigungsgesuchs der »17« ist auch die Besetzung hoher Posten in der Gerichtsmedizin im Obersten Gerichtshof durch den Opus Dei problematisch. Dies sind die Institutionen, die das Gesuch überprüfen. »Diario de Hoy« veröffentlichte Mitte August einen Artikel, in dem der »Bürgerschaftlichen Vereinigung für eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs« unterstellt wird, große Summen für die »Bewerbung und Unterstützung von Abtreibungspraktiken« von US-amerikanischen Stiftungen zu erhalten. In El Salvador steht auch dies unter Strafe. »So etwas kann uns zum Verhängnis werden«, sagt Sara García, die für das Radioprogramm der Organisation »Aus dem Krankenhaus ins Gefängnis« verantwortlich ist. Und in einem der gewalttätigsten Länder der Welt ginge eine Rufschädigung zivilgesellschaftlicher Aktivisten nicht selten tätlichen Übergriffen voraus. Dass es der konservativen Elite tatsächlich um den »Schutz des ungeborenen Lebens« geht, glaubt Sara García nicht. »Es geht hier nicht um die Babys. Es geht um die gesellschaftliche Kontrolle über den Körper von Frauen. Sie sollen in ihrer traditionellen reproduktiven Rolle verbleiben.« Frauen werde das Recht auf eine eigene Entscheidung abgesprochen. Dies wurde im vergangenen Jahr deutlich, als der Fall von Beatriz in El Salvador eine landesweite Debatte um Abtreibung auslöste. Irgendwo am unteren Lempa-Fluss wohnt die heute 22-Jährige in einem lehmverputzen Haus mit Ziegeldach und hölzernen Fensterläden. Vor der Terrasse wachsen Blumen und Kräuter in alten Farbeimern. Ein schmales Rinnsal fließt aus der Dusche vor dem Haus über die festgetretene Erde. Seit ihrem 18. Lebensjahr leidet die junge Frau unter der Autoimmunschwächekrankheit Lupus, die in Regionen, in denen Pestizide in Monokulturen eingesetzt wurden, keine Seltenheit ist. Ihr erstes Baby brachte sie unter hohem Risiko auf die Welt. »Ich wollte dieses Kind unbedingt«, erzählt Beatriz und zieht ihren kleinen Sohn zu sich in die Hängematte. Sollte sie noch einmal schwanger werden, sei dies ihr Todesurteil, sagten ihr die Ärzte damals. Im März 2013 wurde bei ihren regelmäßigen Krankenhausbesuchen eine erneute Schwangerschaft festgestellt. Festgestellt wurde auch, dass der Fötus kein Gehirn und somit keine Lebenschance hatte. Doch der Oberste Gerichtshof lehnte eine Sonderfallregelung ab, selbst als der Interamerikanische Menschen-
»Wir werden alles tun, damit ihr eure Freiheit wiedererlangt.« 24
rechtsgerichtshof sich einschaltete. Ein Wettlauf gegen die Zeit begann. »Ich verbrachte zweieinhalb Monate in San Salvador im Krankenhaus«, erinnert sich Beatriz. »Jeder einzelne Tag war furchtbar.« Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends; ein Nierenversagen drohte. »Ich wollte leben. Ich wollte nicht, dass mein Sohn ein Waisenkind wird.« In der 27. Schwangerschaftswoche nahmen die Ärzte schließlich einen Kaiserschnitt vor. Das Baby überlebte nur wenige Stunden. Beatriz konnte sich gesundheitlich erholen. Doch kann sie keine anstrengenden Arbeiten verrichten und ist auf Medikamente angewiesen. Sie hat begonnen, bei ihren regelmäßigen Fahrten zum Krankenhaus in der Hauptstadt Kleidung einzukaufen und diese in ihrem Dorf nahe dem Lempa-Fluss weiterzuverkaufen. Während Anhänger des Opus Dei in San Salvador am »Denkmal des ungeborenen Lebens« demonstrierten und ihr zynisch Körbe mit Babykleidung schickten, hat Beatriz in ihrer Gemeinde viel Unterstützung erfahren. Von Freundinnen, Nachbarn und der katholischen Jugendorganisation. Als sie von ihren Zukunftsplänen erzählt, huscht erstmals ein Lächeln über ihr Gesicht. »Ich will jetzt nur noch nach vorne schauen.« Zwei Autostunden entfernt flattert die blauweiße Fahne El Salvadors über dem Parlament. Hier wurde das Begnadigungsgesuch für »Die 17« eingereicht. Die Debatte um den Schwangerschaftsabbruch ist in dem mittelamerikanischen Staat erneut entbrannt. Präsident Salvador Sánchez Cerén von der einstigen Guerilla-Organisation und heutigen Partei FMLN hat sich hinsichtlich eines Dialogs über mögliche Gesetzesreformen positiv geäußert. Die FMLN-Abgeordnete Audelia López kämpfte einst für die Rechte der Frauen in den Reihen der Guerilla. Zu einer öffentlichen Stellungnahme für eine Abtreibungslegalisierung mag sie sich – wie sämtliche Parteigenossen – dennoch nicht hinreißen lassen. Der potenzielle Stimmenverlust in dem katholisch geprägten Land ist für die FMLN, die erst vor zwei Regierungsperioden die ultrarechte Partei ARENA ablöste, nicht abzuschätzen. »Ich hoffe, dass der Oberste Gerichtshof im Fall der ›17‹ die mangelhafte Beweisführung, die offensichtlichen Verfahrensfehler und die diskriminierende und grausame Behandlung der Frauen in Betracht zieht«, windet sich die Abgeordnete eloquent heraus. Über ihrem Schreibtisch hängt ein Konterfei Oscar Romeros, des Bischofs von San Salvador, der wegen seines Engagements für die Verfolgten der Diktatur im Bürgerkrieg der achtziger Jahre ermordet wurde. Während sich im Regierungsviertel von San Salvador niemand so recht zu den Fällen von Teresa, Carmen, Alma, Teodora, Mirna und den anderen äußern will, stehen andere lautstark für sie ein. »Wir sind nicht alle – es fehlen ›Die 17‹!«, rufen die Angehörigen der Jugendorganisation CoIncidir, die sich für die sexuellen Rechte von Jugendlichen einsetzt. Während eine Schulkapelle mit Cheerleaderinnen in engen Korsetts zur offiziellen Veranstaltung anlässlich des »Tages der Jugend« zieht, kreischt eine Bande junger Mädchen mit großen Sonnenbrillen und regenbogenfarbenem T-Shirt-Aufdruck »Alarm!« und »Begnadigung!« und winkt voller Elan mit Schildern, auf denen die Namen der »17« stehen. Bis Ende des Jahres sollte die Entscheidung über ihre Begnadigung endlich gefällt sein. Die Autorin ist Mittelamerika-Korrespondentin. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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»Wir sind nicht alle.« Die Jugendorganisation CoIncidir fordert die Freilassung der inhaftierten Frauen. San Salvador, 22. August 2014.
Inhaftiert wegen Fehlgeburt In El Salvador erhielten 17 Frauen lange Haftstrafen, weil Komplikationen während der Schwangerschaft zu Fehlgeburten geführt hatten, die die Gerichte als Abtreibungen ansahen. Frauenrechtsgruppen fordern die Begnadigung der Frauen und eine Reform des Strafrechts. Von Christa Rahner-Göring
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eresa wurde zu 40 Jahren Haft verurteilt. Die 28-Jährige arbeitete in einer Maquila, in einer der zahllosen Fabriken in einer zollfreien Produktionszone, wo sie eine Fehlgeburt erlitt. Der Gesundheitsdienst zeigte sie dann bei der Staatsanwaltschaft an«, berichtet Sara García, Mitglied einer Vereinigung zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs (»Agrupación ciudadana por la despenalización del aborto«). Teresa ist eine von 17 Frauen, für die die Frauenrechtsgruppe beim Parlament einen Antrag auf Begnadigung eingereicht hat, über den bis heute noch nicht entschieden worden ist. Die Vereinigung setzt sich zusammen mit weiteren Frauenrechtsgruppen auf nationaler und internationaler Ebene mit der Kampagne »Eine Blume für die 17« für die Frauen ein. El Salvador gehört neben Nicaragua, Honduras, der Dominikanischen Republik und Chile zu den fünf Ländern Lateinamerikas, in denen Abtreibungen ausnahmslos verboten sind. Wer
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Kenntnis über einen Schwangerschaftsabbruch hat, muss diesen anzeigen – dies gilt auch für Ärzte und medizinisches Personal in Gesundheitsstationen. Nach Angaben der »Agrupación ciudadana« wurden zwischen 2000 und 2011 mindestens 129 Frauen wegen Abtreibungen angeklagt. In der Regel handelt es sich um Frauen aus armen Verhältnissen und mit geringer Bildung. Sie haben kaum Möglichkeiten, sich juristisch gegen ungerechtfertigte Anklagen zur Wehr zu setzen. Die »Agrupación ciudadana« hat in zahlreichen Fällen Verfahrensfehler und unzureichende Beweislagen aufgedeckt, die dennoch Verurteilungen und langjährige Haftstrafen nach sich zogen. Erst im Jahr 1998 führte eine Verfassungsänderung zu der derart rigiden Gesetzeslage, die einen Schwangerschaftsabbruch selbst dann untersagt, wenn das Leben der werdenden Mutter in Gefahr ist. Im Jahr 2013 machte der Fall von Beatriz Schlagzeilen: Sie litt unter einer unheilbaren schweren Erkrankung. Zudem
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hatten die Ärzte bereits im dritten Monat der Schwangerschaft erkannt, dass das Kind nicht lebensfähig sein würde, weil ihm ein Teil des Schädels und das Gehirn fehlten. Deswegen reichten die Ärzte einen Antrag auf Genehmigung des Schwangerschaftsabbruchs beim Obersten Gericht ein. Trotz internationaler Aufmerksamkeit und Protesten lehnte das Gericht den Antrag ab. Erst eine Entscheidung des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte führte dazu, dass die Gesundheitsministerin El Salvadors den Schwangerschaftsabbruch genehmigte. In einer stark von katholischen Moralvorstellungen geprägten Gesellschaft soll ein absolutes Abtreibungsverbot das werdende Leben schützen. Frauen haben nichts zu entscheiden – selbst wenn die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung entstanden ist oder ihr Leben oder ihre Gesundheit massiv gefährdet sind. Zwischen Abtreibungen und Fehlgeburten unterscheidet Artikel 133 des Strafgesetzbuches nicht. Medizinische oder soziale Indikationen sind nicht vorgesehen. Selbst wenn das Kind im Mutterleib stirbt, muss die Schwangerschaft bis zu
»Freiheit für Carmen. Freiheit für die 17.« Beatriz vor ihrem Haus.
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ihrem natürlichen Ende aufrechterhalten werden. Dies führt dazu, dass Frauen mit Schwangerschaftsbeschwerden oft nicht zum Arzt gehen – nicht nur aus Unkenntnis oder wegen fehlender finanzieller Mittel, sondern auch aus Angst, man könnte ihnen eine Abtreibung unterstellen. Weil eine frühzeitige medizinische Behandlung fehlt, entstehen vermeidbare, schwere gesundheitliche Folgen für Frauen und Babys, einschließlich einer höheren Sterblichkeit von Müttern und Kindern. Frauen, die sich nicht mit einer Schwangerschaft abfinden wollen, aus welchen Gründen auch immer, werden in die Illegalität getrieben – durch unprofessionelle Abtreibungen oder andere riskante Maßnahmen. Ziehen sie danach Mediziner zu Rate, riskieren sie, angezeigt zu werden und bis zu acht Jahre Haft zu erhalten. War die Schwangere bereits im fünften Monat oder später, folgen bei Abtreibungen Mordanklagen mit Strafen bis zu 40 Jahren Haft. Im Fall der 17 Frauen, für die die »Agrupación ciudadana« und elf weitere Frauenorganisationen in El Salvador jetzt eine Begnadigung fordern, gehen die Urteile fälschlicherweise davon aus, dass es sich um Abtreibungen handelte. In allen Fällen ging es um Fehlgeburten in unterschiedlichen Stadien, die nicht bewusst oder absichtlich herbeigeführt wurden. Die Frauen wurden verurteilt für eine Tat, die sie gar nicht begangen haben. Bei einem Forum von Menschenrechtsorganisationen am 15. Juli 2014 in San Salvador erklärte der Menschenrechtsbeauftragte David Morales, seine Behörde unterstütze die Begnadigung der 17 Frauen. Die Verfahren hätten deutliche Hinweise auf Diskriminierung aufgewiesen, denn die Beweisaufnahme durch die Richter sei nicht angemessen gewesen: »Die verurteilten Frauen litten unter struktureller, allgemeiner und häuslicher Gewalt. Sie erhielten keine Hilfe von Gesundheitsdiensten und hatten keinen Zugang zu Informationen über ihre Rechte. Dennoch wurden sie von den Richtern für schuldig befunden, selbst in Fällen, in denen die Schwangerschaft Folge häuslicher Gewalt war«, erklärte David Morales. Die Frauenorganisationen legen Wert auf die Feststellung, dass es ihnen nicht darum geht, Abtreibungen als Mittel der Geburtenkontrolle einzusetzen: »Wir setzen uns für die sexuelle und reproduktive Gesundheit von Frauen ein. Wenn es notwendig ist, wie im Fall von Beatriz, eine Abtreibung vorzunehmen, um das Leben einer Frau zu retten, oder wenn es um Gewalt geht, dann sollte eine Abtreibung erlaubt sein«, sagte Denis Muñoz, der Anwalt der »Agrupación ciudana«. Am 1. April 2014 legten die Frauenorganisationen dem Parlament die Begnadigungsgesuche vor und warten nun auf Antwort. Sollten die Abgeordneten eine Begnadigung befürworten, muss der Oberste Gerichtshof ebenfalls zustimmen. Anschließend muss die Regierung die Entscheidung ratifizieren. Die Frauenorganisationen üben mit vielen Aktionen Druck auf das Parlament aus; ihre Aktivitäten finden inzwischen auch international Aufmerksamkeit und Unterstützung. So haben sich zum Beispiel 17 deutsche Abgeordnete des Europaparlamentes mit einem Appellbrief für die Freilassung der Frauen eingesetzt. Langsam kommt nun Bewegung in die Verfahren: Das nationale Kriminologie-Beratungsgremium hat Berichten zufolge dem Parlament Empfehlungen zum weiteren Verfahren bei fünf der inhaftierten Frauen vorgelegt, allerdings nicht öffentlich. Das Parlament muss nun darüber entscheiden, ob es dem Präsidenten eine Begnadigung empfehlen wird. Die Autorin ist Sprecherin der El-Salvador-Kogruppe der deutschen Amnesty-Sektion.
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Selbst entscheiden Wer bestimmt über meinen Körper? Amnesty startet die Kampagne »My Body, My Rights« über sexuelle und reproduktive Rechte. Von Gunda Opfer
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it wem will ich Sex haben – sogar mit einer Partnerin oder einem Partner des gleichen Geschlechts? Wen heirate ich? Will ich dies überhaupt? Möchte ich Kinder haben? Wie viele und wann? All dies selbst zu entscheiden, gehört zu den fundamentalen Rechten eines eigenverantwortlichen Lebens. Voraussetzung dafür sind entsprechende Gesetze, Sexualaufklärung, der Zugang zu Verhütungsmitteln sowie medizinische Betreuung rund um Schwangerschaft und Geburt. Diese »sexuellen und reproduktiven Rechte« (SRR) scheinen in unserer Gesellschaft fast selbstverständlich zu sein – nicht so in zahlreichen anderen Ländern, nicht so in Deutschland bis in die jüngere Vergangenheit hinein. Dabei hat die Verweigerung von Rechten gerade im Bereich der SRR so verheerende Auswirkungen auf das Leben von Menschen. Ein eindringliches Beispiel ist die Lage der Frauen im Jemen, einem der ärmsten Länder der Welt. Im »Gender Gap Index 2013« des Weltwirtschaftsforums, der die Gleichstellung der Geschlechter in 136 Ländern analysiert, belegt der Jemen den letzten Platz. In dem arabischen Land ist der Islam Staatsreligion. Das islamische Recht, die Scharia, prägt das Leben der Menschen und ist auch für das Familien- und Strafrecht maßgeblich. Demzufolge ist der Mann der Frau übergeordnet, die
in 52 länDern
Dürfen mäDChen
Unter 15 jahren mit einverstänDnis
Der eltern heiraten. Quelle: UNFPA
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Ehefrau ist zu Gehorsam verpflichtet und der Mann hat das Recht, sie zu züchtigen. Eine Frau darf nur mit der Erlaubnis des Ehemannes und in Begleitung männlicher Verwandter die Wohnung verlassen. Die Zwangsverheiratung von Mädchen ist – trotz Verbots – weit verbreitet, nicht selten schon im Alter von unter zehn Jahren. Die Mädchen müssen dann die Schule verlassen und dem Ehemann beziehungsweise dessen Familie dienen. Häusliche Gewalt und frühe Schwangerschaften sind an der Tagesordnung. Auch in Deutschland und anderen westlichen Ländern wurden Rechte, die all dies verhindern und neue Freiheiten schufen, erst mühsam erkämpft. So hatte in Bayern der Ehemann bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahre 1900 das verbriefte Recht, seine Frau zu züchtigen. Für ganz Deutschland wurde das Züchtigungsrecht erst 1928 explizit aufgehoben. Erst seit 1976 kann die Ehefrau frei entscheiden, ob sie berufstätig sein will. Sexuelle Aufklärung war in Deutschland bis in die fünfziger Jahre ein Tabuthema. Das änderte sich nur langsam. Seit Ende der sechziger Jahre ist Sexualkunde Unterrichtsfach, Verhütungsmittel sind heute allgemein verfügbar. Schwangerschaftsabbruch ist seit 1976 nicht mehr in jedem Fall strafbar (»modifizierte Indikationsregel«, § 218). Aber erst 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe zum Straftatbestand.
Der fraUen im gebärfähigen alter leben in länDern, in Denen abtreibUng verboten, besChränkt oDer niCht ZUgängliCh ist.
40%
Quelle: WHO 2003
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jeDe Dritte fraU aUf Der welt hat bereits sexUelle gewalt oDer missbraUCh erfahren.
47.000 sChwangere fraUen sterben jeDes jahr an komplikationen bei UnsiCheren abtreibUngen.
Quelle: UNFPA
Quelle: WHO 2003
Internationale Menschenrechtsabkommen garantieren die sexuellen und reproduktiven Rechte inzwischen in den meisten Ländern – bislang vielerorts jedoch nur auf dem Papier. Ausgangspunkt der weltweit einsetzenden positiven Entwicklungen ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948, der sich alle nunmehr 193 Mitgliedsstaaten verpflichtet haben. Verbindlich oder gar einklagbar sind ihre 30 Artikel zwar nicht, ihr »moralisches Gewicht« ist dennoch hoch. Die sexuellen und reproduktiven Rechte wurden erstmals im Rahmen der UNO-Weltbevölkerungskonferenz (»International Conference on Population and Development«, ICPD) 1994 in Kairo explizit formuliert. Die Delegierten hielten damals fest, dass die Stärkung von Frauen (»Empowering women«) der Schlüssel zu einer gedeihlichen Entwicklung jedes Landes ist. Sie erkannten zudem an, dass dieses »Empowering« engstens verknüpft ist mit der Bekämpfung sexueller Gewalt und der Gewährung sexueller und reproduktiver Rechte. Die Abschlussdeklaration der Konferenz enthielt denn auch einen Aktionsplan mit sehr fortschrittlichen Forderungen dazu. Die 179 Teilnehmerstaaten setzten sich also zum Ziel, diese Rechte
in ihren Ländern zu etablieren. Für Menschen in vielen Ländern ist dies jedoch bis heute nur eine Zukunftsvision. Die Amnesty-Kampagne »My Body, My Rights« soll einen neuen kraftvollen Anstoß geben, um die sexuellen und reproduktiven Rechte wieder vermehrt ins Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit zu rücken. Dabei stehen vor allem junge Menschen im Fokus. Den Anlass für die Kampagne bildete die UNOKonferenz »ICPD+20« im April 2014, auf der es galt, die Forderungen von 1994 hinsichtlich der sexuellen und reproduktiven Rechte mindestens festzuschreiben. Amnesty richtete daher eine entsprechende Petition an die Delegierten der Konferenz. Allein die deutsche Sektion sammelte rund 16.000 Unterschriften, weltweit waren es mehr als 282.000. »Junge Menschen aus aller Welt erwarten von ihren Regierungen, dass sie ihre Rechte fördern, schützen und umsetzen«, sagte Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty, als er die Petition an UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon übergab. »Sie haben das Recht, eigenständige Entscheidungen zu treffen in Dingen, die ihren Körper, ihre Sexualität, ihre Gesundheit und damit ihre Zukunft betreffen.«
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länDer weltweit stellen gleiChgesChleChtliChen sex Unter strafe. 36 Davon befinDen siCh in afrika. in maUretanien, saUDi-arabien, jemen, iran, sUDan, im norDen nigerias UnD im süDen somalias steht aUf homosexUalität sogar Die toDesstrafe. Quelle: ILGA 2013
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mehr als
14 millionen minDerjährige mäDChen werDen jeDes jahr mütter; meist als ergebnis von erZwUngenem sex oDer Ungewollter sChwangersChaft.
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eUropäisChe länDer erkennen transgenDer nUr Dann reChtliCh an, wenn sie siCh sterilisieren lassen. Quelle: Transgender Europe 2013
Quelle: International Center for Research on Women 2013
Die Konferenzergebnisse wertet Amnesty International als Erfolg: So wurde nicht nur die Bedeutung der sexuellen Gesundheit und der reproduktiven Rechte für die soziale Gerechtigkeit bestätigt, sondern auch die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt als Voraussetzung für Entwicklung. Enttäuschend war allerdings, dass auf Betreiben des Vatikans und einiger UNO-Mitgliedsstaaten wichtige Menschenrechte aus dem Schlussdokument gestrichen wurden, wie etwa der Schutz vor Gewalt und Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität. Die Amnesty-Kampagne »My Body, My Rights« unterstützt auch jene Menschen, denen die Schlusserklärung der Konferenz »ICPD+20« den dringend benötigten Schutz verweigerte, also Homosexuellen, Transgender, Bisexuellen und Intersexuellen. Deren Ausgrenzung im täglichen Leben ist auch in Europa keineswegs beendet. Gleichwohl ist es anderswo deutlich schlechter bestellt. Nach Angaben der »International Lesbian and Gay Association« sind gleichgeschlechtliche Beziehungen in 76 Ländern – darunter 36 afrikanischen Staaten – illegal, in einigen werden sie sogar mit der Todesstrafe geahndet. Amnesty International zeichnete in diesem Jahr die mutige Kameruner Anwältin Alice Nkom mit dem Menschenrechtspreis der deutschen Sektion aus, in Anerkennung und zur Unterstützung ihres selbstlosen Einsatzes für LGBTI in ihrem Heimatland (siehe Amnesty Journal, 02-03/2014). Im Rahmen der internationalen Kampagne widmet sich Amnesty zudem der Situation in einzelnen Ländern. Den Anfang bildete Nepal. Dort führen frühe und häufige Schwangerschaften, schlechte Ernährung und schwere körperliche Arbeit dazu, dass Frauen sehr häufig bereits in jungen Jahren einen gefährlichen Gebärmuttervorfall erleiden. Sie verschweigen dies jedoch aus Angst vor Gewalt und sozialer Ausgrenzung, mit oft gravierenden Folgen. Im Mai 2014 überreichte Amnesty International der nepalesischen Regierung 125.000 Unterschriften und forderte sie auf, das Problem als Folge andauernder Diskriminierung von Frauen zu begreifen und zu bekämpfen. Die Regierung hat positiv darauf reagiert. Ein aktueller Schwerpunkt für die deutsche Sektion ist die Lage in El Salvador. Dazu wird Amnesty International im Herbst 2014 einen Bericht veröffentlichen und eine Petition starten. Gewalttaten bis hin zu Mord lassen Frauen dort in ständiger
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Gefahr leben. Das Totalverbot von Schwangerschaftsabbrüchen bedeutet eine zusätzliche Bedrohung ihres Lebens und ihrer Gesundheit (siehe Seite 20). Daneben richten wir den Blick auf den Maghreb: MarokkoWest Sahara, Algerien und Tunesien. Dort bleiben Vergewaltiger ungestraft, wenn sie die vergewaltigte Frau heiraten. Eheliche Vergewaltigung ist nicht strafbar, wohl aber einvernehmlicher Sex unter Nicht-Verheirateten. Marokko hat nach dem Selbstmord einer vergewaltigten jungen Frau bereits erste Schritte gegen diese Missstände eingeleitet, nicht aber die anderen Maghreb-Staaten, und auch in Marokko sind die Probleme noch lange nicht gelöst. Der Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen in Irland und die Lage in Burkina Faso werden 2015 in den Fokus der internationalen Kampagne rücken. In Burkina Faso hindern kulturell bedingte Normen Frauen und Mädchen daran, ihre sexuellen Rechte wahrzunehmen. Verhütungsmittel erhalten sie nur mit Zustimmung ihrer Eltern oder ihres Ehemanns und nur gegen hohe Gebühren. Bisherige Erfolge ermutigen uns, nicht nachzulassen – auch im Kampf um die sexuellen und reproduktiven Rechte. Dass sich Beharrlichkeit lohnt, zeigt schon ein Blick auf Deutschland. Viele Freiheiten, mit denen junge Menschen heute bei uns aufwachsen, waren noch vor wenigen Jahrzehnten völlig undenkbar. Die Autorin ist Sprecherin der Themen-Koordinationsgruppe »Menschenrechtsverletzungen an Frauen« der deutschen Amnesty-Sektion. Weitere Informationen unter www.amnesty-frauen.de
Sexuelle und reproduktive Rechte bestehen vielerorts nur auf Papier. 29
Aufgetaucht Die Norwegerin John Jeanette Solstad Remø ist eine Frau, die ihr wahres Geschlecht lange verbergen musste. Doch heute setzt sie sich offen für die Rechte von Transgender ein. Von Daniel Kreuz
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ahrzehntelang hatte John Solstad Remø seiner Heimat Norwegen als Soldat in der Königlichen Marine treu gedient. Als Remø in den Ruhestand ging, konnte er auf eine beachtliche Karriere zurückblicken, in der er es bis zum Kommandanten eines U-Boots gebracht hatte. Abtauchen, sich unter der Oberfläche verstecken, im Verborgenen operieren – das gehörte zu seinem Alltag. Aber leider nicht nur im Beruf, sondern auch im Privatleben. Denn John Solstad Remø ist Transgender – und heißt mittlerweile John Jeanette. Ihre wahre Identität konnte die heute 65-Jährige aus Angst vor Ausgrenzung und Anfeindungen lange Zeit nicht ausleben. Stattdessen musste sie sich verstellen und konnte nur im Verborgenen so sein, wie sie wirklich ist: eine Frau geboren im Körper eines Mannes: »Als ich vier oder fünf Jahre alt war, erwischte mich meine Mutter, als ich Frauenkleider anprobierte. Sie sagte mir, dass so etwas streng verboten sei und eine Schande für die ganze Familie, wenn ich mich so anziehen würde.« Bei der Marine diente John Jeanette nicht als Kommandantin, sondern als Kommandant. Sie stammt aus einer Militärfamilie. Es stand außer Frage, dass auch sie diese Tradition fortführen und eine militärische Laufbahn einschlagen sollte. Um die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen, führte sie ein Doppelleben: Bei der Marine arbeitete sie als Seelotse und U-Boot-Kommandant, doch in ihrer Freizeit nutzte sie jede Gelegenheit, um sich als Frau zu kleiden. »Das war anstrengend für mich. Ich war voller Angst und als ich später damit begann, mehr und mehr als Frau gekleidet auszugehen, wurde die Angst immer schlimmer.« John Jeannette sagt, sie sei schon ihr »gesamtes Leben lang Transgender«. Doch sie musste es viele Jahre verstecken: »Es war sehr hart für mich, aufzuwachsen ohne jemanden zu haben, mit dem ich über alles reden konnte. Aber ich überlebte, indem ich in anderen Bereichen herausragende Leistungen erbracht und gleichzeitig meine Gefühle unterdrückt habe«. Im Jahr 1986 schloss sich John Jeanette der »Norwegian Association for Transgender people (FTP-N)« an, doch erst 2010 hatte sie ihr »Coming Out«. Sie engagiert sich als Aktivistin in verschiedenen Organisationen für die Rechte von Transgender: »Ich habe immer davon geträumt, dass ich eines Tages mit der Tatsache, dass ich selbst Transgender bin, dazu beitragen kann, dass sich etwas ändert. Es hat fast 61 Jahre gedauert, bis ich einfach nur ich sein konnte, aber nun kann ich meinen Traum endlich richtig ausleben.« In ihrem Pass steht nun als Name John Jeanette, doch ihre Freunde nennen sie einfach nur Jeanette. In der Öffentlichkeit benutzt sie aber auch den Namen John – aus Protest, um auf die diskriminierenden Gesetze aufmerksam zu machen. Denn es ist in Norwegen zwar relativ einfach, den Namen zu ändern, aber dies geht nicht einher mit einer Änderung der Anrede »Herr« oder »Frau«. Daher steht auch in John Jeanettes Pass nach wie vor als Geschlecht »männlich«, obwohl sie sich selbst als Frau fühlt.
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Um dies zu ändern, haben die Ämter große Hürden aufgebaut. Alle Einwohner Norwegens bekommen von der Steuerbehörde eine elfstellige Identifikationsnummer zugewiesen, die auch die Angabe über das Geschlecht enthält. Auf Grundlage dieser Nummer werden alle offiziellen Dokumente ausgestellt. Wenn Transgender die Nummer ändern wollen, damit sie mit dem von ihnen bevorzugten Geschlecht identifiziert werden, müssen sie eine komplette Geschlechtsumwandlung über sich ergehen lassen. Dazu gehören psychiatrische Begutachtungen und medizinische Behandlungen, einschließlich einer geschlechtsangleichenden Operation, bei der die Fortpflanzungsorgane chirurgisch entfernt werden, was eine unumkehrbare Sterilisation zur Folge hat. Damit diese Operation durchgeführt wird, müssen Psychiater zuvor diagnostizieren, dass ein Fall von Transsexualität vorliegt. Wie viele andere Transgender verweigert John Jeanette einen solch massiven Eingriff: »Das wäre nicht gut für meinen Körper. Das weiß ich genau, denn ich habe viele Menschen gesehen, die danach Probleme hatten. Außerdem möchte ich, dass meine Sexualität so bleibt, wie sie ist. Und um diese Operation zu bekommen, muss man gewissermaßen geisteskrank sein, und darüberhinaus würde ich kastriert werden – nur, damit die Regierung mich so anerkennt, wie ich möchte.« Patricia Kaatee von der norwegischen Amnesty-Sektion stellt klar: »Die einzige Voraussetzung, die nötig sein sollte, um sein Geschlecht zu ändern, ist die eigene Wahrnehmung der Geschlechtsidentität und keine Diagnose oder Sterilisation. Es ist ein grundlegendes Menschenrecht, seine eigene Identität auszudrücken. Das gilt auch auf offiziellen Papieren.« Doch in der Realität wird John Jeannettes Recht auf Privatsphäre und gesetzliche Anerkennung tagtäglich verletzt. »Wenn ich mit einem Rezept in die Apotheke gehe, wundern sich die Mitarbeiter sofort und stellen mir alle möglichen Fragen: ›Sind das wirklich Sie? Dieses Papier sagt, dass sie ein Mann sind, aber Sie sehen aus wie eine Frau.‹ Dasselbe passiert, wenn ich mir in der Bibliothek ein Buch ausleihen möchte, bei der Post ein Paket abholen möchte oder in Hotels einchecke. Solche beschämenden Momente passieren die ganze Zeit.« In den vergangenen Jahren haben verschiedene Organisationen mit Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit versucht, endlich eine Besserung herbeizuführen. Auch Amnesty hat sich für John Jeannette eingesetzt. Im Juni kündigte der norwegische Gesundheitsminister Bent Høie Verbesserungen an: »Ich bin mir im Klaren darüber, dass das gegenwärtige System nicht akzeptabel ist.« Es sei sehr schlecht konzipiert. John Jeannette hofft, dass der Minister Wort hält: »In meinem Pass steht, dass ich ein Mann bin. Überall werde ich als Frau wahrgenommen, bis sie meine Papiere sehen. Es würde die Regierung nicht viel kosten, dies zu ändern. Gebt mir einfach einen neuen Pass. Ich bezahle ihn auch gerne selbst.« Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin.
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Foto: Amnesty Norwegen
»In meinem Pass steht, dass ich ein Mann bin.« John Jeanette Solstad Remø.
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Berichte
36 Irak: Christen und Jesiden fürchten um ihr Leben 39 Bulgarien: Human Rights Camp 40 Türkei: Flüchtlinge in Istanbul 42 Thailand: Majestätsbeleidigung als Straftat 44 Usbekistan: Kampagne »Stop Folter« 46 Usbekistan: Der Fall Dilorom Abdukadirova 49 Aserbaidschan: Oppositionelle hinter Gittern
Der letzte sichere Ort. Christliche Familie im nordirakischen Erbil, August 2014. Foto: Stephen Dock / VU / laif
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Nur noch eine Frage von Stunden. Jesidische Flüchtlinge im Sindschar-Gebirge, 18. August 2014.
Wer nicht folgt, muss sterben Hunderttausende flüchten im nördlichen Irak und in Syrien vor der Terrorherrschaft des »Islamischen Staates«. Vor allem Christen und Jesiden müssen um ihr Leben fürchten. Von Çig˘dem Akyol (Text) und Stephen Dock / VU / laif (Fotos) Sie kamen frühmorgens. Die islamistischen Terroristen marschierten durch die Straßen und forderten mit Lautsprechern alle Christen auf, die Stadt zu verlassen oder zum Islam zu konvertieren. Wer sich weigere, werde umgebracht. Karakosch, die einst größte christliche Stadt im Irak, wurde Anfang August von Kämpfern der extremistischen Gruppe »Islamischer Staat« (IS) eingenommen. Mit ihren schwarzen Flaggen, meist vermummt und bewaffnet, gingen die Dschihadisten gegen die rund 40.000 Christen vor. An die Häuser der Einwohner schmierten sie mit roter Farbe den Buchstaben »N« für »Nasrani«, Christ. Da beschloss Karam Amer, mit seiner Familie zu fliehen. »Es war nur noch eine Frage von Stunden, bis die Islamisten uns ermor-
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det hätten«, sagt er und macht eine Handbewegung, mit der er das Durchschneiden seiner Kehle andeutet. Der 31-jährige Geograf sitzt unter einer Plastikplane im Garten der St.-Joseph-Kirche in Ainkawa, dem christlichen Viertel der Stadt Erbil in der autonomen Kurdenregion des Nordirak. Seine Ehefrau und die zwei gemeinsamen Söhne liegen in einer Ecke, sie sprechen nicht, spielen nicht, lachen nicht, schauen einfach vor sich hin. Der Schrecken hat sie stumpf gemacht. Die Familienmitglieder besitzen nur noch das, was sie am Körper tragen – ihr Hab und Gut wurde ihnen auf der Flucht an den Checkpoints der Dschihadisten geraubt. »Sogar mein goldenes Kreuz haben mir die Islamisten weggenommen«, erzählt Karam. Er muss seine Tränen unterdrücken. Seitdem die IS-Dschihadisten das Land mit Terror überziehen, ist die St.-Joseph-Kirche zu einem Zufluchtsort für etwa 700 Christen geworden. Dass Thermometer zeigt mehr als 40 Grad an, vor dem chaldäisch-katholischen Gotteshaus schieben Peschmerga Wache. Die kurdischen Kämpfer inspizieren jeden,
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»Warum hat uns niemand geholfen?« Christen nahe der St.-Joseph-Kirche in Erbil.
der auf das Gelände will. Die Luft riecht nach Staub, überall sitzen oder liegen Menschen unter Planen oder in Zelten, überall ist ein Gewirr aus Stimmen zu hören. Es mangelt an allem: Der Strom fällt regelmäßig aus, Wasser, Essen und Medikamente sind knapp, es gibt nur zwei Toiletten und eine provisorische Dusche. Trotzdem ist es auffällig sauber hier. Wegen der Hitze und der Krankheitsgefahr wird besonders auf Hygiene geachtet. In ganz Ainkawa sollen etwa 20.000 Flüchtlinge leben, manche sagen, es seien 70.000 – so genau weiß das niemand, denn einen Überblick hat hier schon lange keiner mehr. Jeden Tag stolpern Hunderte Flüchtlinge über die Stadtgrenzen. Manche schaffen es mit wunden Füßen, manche kommen mit dem Auto, alle sind traumatisiert. Diejenigen, die es bis nach Ainkawa geschafft haben, leben meist auf den Kirchengeländen. Auf den Straßen schreien Kinder, sitzen apathische Männer und Frauen. Völlig überladene Pick-ups fahren durch Ainkawa auf der Suche nach ein paar Quadratmetern, auf denen sich ein neues Leben beginnen lässt. Die Menschen sind hierher geflohen, weil die Kurden sie als Einzige in diesem Bürgerkrieg beschützen. Und das ist bitter nötig, denn IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi verkündete vor Kurzem, dass Nichtmuslime, die sich nicht zum Islam bekennen oder eine Sondersteuer bezahlen, ermordet werden. Der selbsternannte Kalif hat sich im Juli erstmals in einem online verbreiteten Video öffentlich gezeigt. In schwarzem Gewand und mit schwarzem Turban forderte Baghdadi alle Muslime zum »Gehorsam« und »Heiligen Krieg« auf. Er befahl seinen Anhängern: »Gehorcht mir so, wie ihr in eurem Inneren Gott gehorcht.« Etwa 1,2 Millionen Iraker sind vor den sunnitischen Milizen auf der Flucht – die meisten gehören den Minder-
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heiten der Christen, der Jesiden oder der Turkmenen an, aber auch Schiiten fürchten um ihre Leben. In der St.-Joseph-Kirche findet die Mittagsmesse statt. Ventilatoren machen die Hitze erträglicher. Es riecht nach Weihrauch. Die Gemeinde singt und betet für den Frieden. Draußen scheint die Sonne unbarmherzig auf den Platz, im Innenhof stehen die Menschen in der Gluthitze für Wasser und Nahrungsmittel an. Karam bleibt unter der Plane sitzen, er hat keine Kraft mehr, um aufzustehen. »Sieht Gott all das Leid nicht?«, fragt er. »Warum hat uns niemand geholfen? Seit Jahren leben wir Christen in Angst, die ganze Welt wusste davon.« Dann macht er wieder die Handbewegung, mit der er das Durchschneiden seiner Kehle nachahmt. Eine Rückkehr nach Karakosch kann er sich nicht mehr vorstellen. »Nie wieder möchte ich mit Arabern Tür an Tür wohnen.« Vor zwei Jahrtausenden wurden die ersten christlichen Gemeinden im damaligen Mesopotamien gegründet. Im Irak liegen mit die tiefsten Wurzeln des Christentums. Jetzt werden diese Wurzeln wohl endgültig ausgerissen. Auch wenn es unglaublich klingt, aber unter Saddam Hussein lebten Christen weitgehend unbehelligt, weil sich das Regime ihre Unterstützung sichern wollte. Erst nach der US-Invasion 2003 änderte sich die Sicherheitslage. Seitdem praktizierten Christen ihren Glauben im permanenten Ausnahmezustand und immer hinter dicken Mauern. Wer genügend Geld hatte, verließ das Zweistromland. Vor zehn Jahren sollen rund 1,3 Millionen Christen im Irak gelebt haben. Mittlerweile sind es Schätzungen zufolge nur noch 400.000. Aus Angst vor den Islamisten flohen die meisten jetzt in den Norden des gespaltenen Landes.
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Der IS ist nicht nur im Irak aktiv, sondern hat seinen Vormarsch in Syrien begonnen, wo seit dreieinhalb Jahren ein Bürgerkrieg tobt. In Syrien bediente sich der IS in den Waffenlagern der Armee und anderer Rebellen. Die Radikalisierung und Ausweitung galt als absehbar. Dabei ist die Not der Menschen in Syrien noch größer als im Irak. Warum aber handeln die EU-Staaten und auch die USA jetzt im Irak, aber nicht im Nachbarstaat? »Im Irak haben wir eine einfache Einteilung in Schwarz und Weiß – auf der einen Seite stehen die bedrohten Minderheiten und die kurdischen Kämpfer und auf der anderen Seite die Terroristen«, sagt Paul Freiherr von Maltzahn, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Zudem hätten westliche Regierungen befürchtet, dass man mit Aktionen gegen den IS in Syrien indirekt das Regime des »Bösewichts« Präsident Baschar al-Assad gestützt hätte, auf dessen Untergang viele Politiker zu früh gewettet hätten, sagt von Maltzahn, der früher Diplomat an der deutschen Botschaft in Syrien war und ein Jahr lang die Vertretung im Irak leitete. Hinzu komme, dass eine Unterstützung der Kurden im Irak völkerrechtlich betrachtet leichter zu gewähren sei, da die irakische Regierung den Westen um Hilfe gebeten habe. In Syrien dagegen verbitte sich Assad jede »ausländische Einmischung«. »Außerdem gibt es im Irak keinen Konflikt mit Russland und Iran, die sich im Syrien-Konflikt hinter das Assad-Regime gestellt haben«, sagt von Maltzahn, der sich sicher ist, dass der ISTerror bald wieder nach Syrien schwappen wird. »Die Dschihadisten haben nicht mit dem massiven Widerstand der Kurden gerechnet.« In Fishkhabour an der syrisch-irakischen Grenze ziehen die aus Syrien Vertriebenen jetzt in einem nicht enden wollenden Tross zurück in ihre Heimat, um von dort in den sichereren Nordirak zu gelangen. Wer das Glück hatte, eine Wasserflasche zu fangen, hält diese ganz fest. Denn nicht immer kam die Hilfe der US-Amerikaner bei den Menschen im Sindschar-Gebirge an. Die Plastikflaschen, die aus der Luft abgeworfen wurden, zerschellten oft an den scharfen Steinen. Es herrschten Temperaturen von bis zu 45 Grad Celsius, ohne Schatten. »Neben mir ist das Wasser ausgelaufen, ich konnte nichts machen«, erzählt der 45-jährige Hozam Saleh.
»historisChes aUsmass« Der »Islamische Staat« (IS) macht nach Angaben von Amnesty International im Nordirak systematisch Jagd auf Andersgläubige und Minderheiten. »Die Massaker und die Entführungen durch den ›Islamischen Staat‹ liefern erschütternde neue Beweise dafür, dass eine Welle der ethnischen Säuberung gegen Minderheiten über den Norden des Irak rollt«, sagte Amnesty-Expertin Donatella Rovera. Augenzeugen berichteten von Massenerschießungen, Menschenraub und weiteren Grausamkeiten. Mehr als 830.000 Menschen seien vor den IS-Kämpfern geflohen. Die Verfolgung richte sich gegen Jesiden, Turkmenen, Christen und weitere Gruppen. Die Miliz versuche, alle Spuren nicht arabischer und nicht sunnitischer Gruppen auszulöschen, sagte Rovera. Die Verbrechen der Terrorgruppe sind nach Einschätzung von Amnesty »ethnische Säuberungen von historischem Ausmaß«.
Auf ihrer Flucht aus der Gebirgsregion haben viele Vertriebene Blätter und Baumrinde gegessen, um zu überleben. Väter und Mütter mussten mit ansehen, wie ihre Söhne und Töchter verdursteten, verhungerten oder vor Schwäche tot umkippten. »Meine drei Kinder sind auf der Flucht gestorben«, sagt Saleh, der es mit seiner Frau aus dem Sindschar-Gebirge herausgeschafft hat. »Ihre Leichen mussten wir zurücklassen.« Er zeigt keinerlei Regung, während er von dieser Tragödie spricht. Die meisten der Flüchtlinge gehören der religiösen Minderheit der Jesiden an, die bis vor Kurzem noch rund um den Höhenzug lebten. Erst die Flüchtlingstragödie hat die Religionsgemeinschaft der Jesiden ins Licht der Weltöffentlichkeit gerückt. In Europa wissen die wenigsten Genaueres über sie. Karl-MayLeser kennen den Namen vielleicht aus seinem Buch »Durchs wilde Kurdistan«, weil sie darin als Teufelsanbeter verfolgt werden. Jahrhundertealte Vorwürfe, die dieser Minderheit bis heute gemacht und weswegen sie von radikalen Muslimen unterdrückt und ermordet werden. Kaum eine andere religiöse Minderheit wurde in der Vergangenheit im Irak so sehr gejagt wie die Jesiden. Aber die Gewalt des IS gegen die Jesiden übertrifft alles in ihrer Brutalität. Wie viele Menschen noch in den Sindschar-Bergen eingeschlossen sind, ist unklar. Den Vereinten Nationen zufolge wurde ein Teil der Flüchtlinge gerettet, der Großteil konnte selbst entkommen. Die UNO geht von rund 1.000 Flüchtlingen aus, die noch in dem öden Gebirge ausharren. Vor allem die Verletzlichsten – Alte, Behinderte und Kinder – sind immer noch in Lebensgefahr. Aber auch wer die Tage im Gebirge überlebt hat und in den Norden wandert, ist nicht sicher. Denn fast täglich gibt es neue Horrormeldungen aus der Region. Erst kürzlich töteten die Dschihadisten in einem Dorf im Nordirak mehr als achtzig Jesiden, weil sie nicht zum Islam übertreten wollten. Trotzdem bewegt sich der endlose Flüchtlingstreck in Fishkhabour Richtung Kurdistan – denn die Menschen wissen nicht, wohin sie sonst gehen sollen. Die Autorin ist freie Journalistin und arbeitet derzeit in Erbil.
Endloser Treck. Flüchtlingscamp nahe der syrisch-irakischen Grenze.
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Foto: Amnesty
S.O.S. Europa. Amnesty-Aktion in Sofia, 18. Juli 2014.
Gemeinsam handeln Junge Aktivisten aus aller Welt kamen im bulgarischen Sofia zusammen, um sich für einen besseren Flüchtlingsschutz an den EU-Außengrenzen einzusetzen. Das von Amnesty organisierte »Human Rights Camp« fand in diesem Jahr zum dritten Mal statt. Von Deborah Jungbluth 80 Aktivisten aus 30 Ländern reisten Mitte Juli in die bulgarische Hauptstadt Sofia, um an einem einwöchigen »Human Rights Camp« teilzunehmen, das Amnesty International in diesem Jahr zum 3. Mal veranstaltete. Vorbereitet wurde das Treffen von Mitarbeitern der Amnesty-Büros in Brüssel und London, der bulgarischen Menschenrechtsorganisation »Bulgarian Helsinki Committee« (BHC) sowie Freiwilligen aus Sofia. Inhaltlich drehte sich das Treffen – in Fortsetzung der Camps auf Lampedusa und Lesbos 2012 und 2013 – um die Amnesty-Kampagne »S.O.S Europa«, die Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen und Migranten an Europas Außengrenzen thematisiert. Am ersten Tag wurden die Arbeit von Amnesty sowie die »S.O.S. Europa«-Kampagne vorgestellt. Beim anschließenden Quiz konnten auch langjährige Mitglieder noch einiges über Amnesty lernen. Lokale Experten und eine Amnesty-Mitarbeiterin erläuterten die bulgarische Geschichte und Politik, die aktuelle Situation von Flüchtlingen in dem südosteuropäischen Land und die Arbeit des BHC. Dass es jenseits von Zahlen und Fakten vor allem um individuelle Schicksale geht, wurde bei der anschließenden Veranstaltung im Kulturzentrum »Rotes Haus« in Sofia deutlich: Fotos der bulgarischen Künstlerin Vesselina Nikolaeva, die syrische Flüchtlinge in deren Unterkünften dokumentiert hat, und ein Kurzfilm des griechischen Fotojournalis-
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ten Giorgos Mutafis, der Flüchtlinge bei der Überquerung der EU-Außengrenzen begleitete, riefen bei den Besuchern Wut und Betroffenheit hervor und bestärkten sie in dem Wunsch, aktiv zu werden und ihre Stimmen gegen eine europäische Politik zu erheben, die dieses Leid maßgeblich mitverschuldet. Am zweiten Tag standen die Themen »Kommunikation & Soziale Medien« und »Aktionen« im Mittelpunkt. Bulgarische Aktivisten stellten erfolgreiche Aktionen und vielfältige Formen des Engagements zugunsten von Flüchtlingen vor. Auch gab es im »Weltcafé« die Möglichkeit, sich über die Situation von Flüchtlingen in den Herkunftsländern der anderen Teilnehmer auszutauschen. Die letzten Tage des Camps standen im Zeichen der öffentlichen Aktion, die die Teilnehmer im Blitztempo auf die Beine gestellt hatten: Mit einem Schweigemarsch zogen sie durch die Haupteinkaufsstraße der bulgarischen Hauptstadt. Auch Flüchtlinge und weitere Sympathisanten schlossen sich dem Marsch an. Derweil hatten am anderen Ende der Einkaufsstraße Amnesty-Mitglieder einen Grenzzaun aufgebaut und sich mit Anzügen und Masken als »EU-Politiker« verkleidet. Als der Schweigemarsch schließlich den Zaun erreichte, behängten ihn die Kundgebungsteilnehmer mit politischen Plakaten und persönlichen Habseligkeiten von Flüchtlingen. Es war ein bewegendes Bild, das von allen wichtigen Fernseh- und Radiosendern sowie Zeitungen Bulgariens verbreitet wurde. Es gilt auch in Zukunft, die Stimme gegen die weitere Aufrüstung der »Festung Europa« zu erheben und die EU an ihre Verantwortung zu erinnern, die Menschenrechte zu schützen. Damit das Sterben an den EU-Außengrenzen ein Ende hat.
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Geschlagen, isoliert und vernachl채ssigt
Alle Parteien unterst체tzen den Staatspr채sidenten. Wahlplakat von Islam Karimow.
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Foto: Shamil Zhumatov / Reuters
In Usbekistan ist Folter weit verbreitet. Der zentralasiatische Staat ist daher eines von fünf Ländern, auf die sich die weltweite Amnesty-Kampagne »Stop Folter« besonders konzentriert. Von Daniel Kreuz Der 13. Mai 2005 ist ein trauriges Datum in der Geschichte Usbekistans: Hunderte Menschen verloren an diesem Tag in der Stadt Andischan ihr Leben, als Militär- und Polizeieinheiten ohne Vorwarnung das Feuer auf eine Demonstration eröffneten. Die Machthaber würden die Erinnerung an die vielen unschuldigen Toten nur allzu gern löschen – und dafür ist ihnen jedes Mittel recht. Noch heute drohen denjenigen, die an der Demonstration beteiligt waren oder die sich zum Massaker von Andischan kritisch äußern, Verfolgung, Folter und langjährige Haftstrafen. Schon in den Jahren zuvor ging die Regierung rigoros gegen Andersdenkende vor. Doch nach dem Massaker verschärfte sich die Repression weiter. Amnesty International erhält aus Usbekistan anhaltend glaubwürdige Hinweise auf routinemäßige Folter und Misshandlungen durch Sicherheitskräfte und Gefängnispersonal. Und eine Besserung ist nicht in Sicht. Seit 1991 wird Usbekistan von Staatspräsident Islam Karimow autoritär regiert. Es existieren keine registrierten Oppositionsparteien und alle offiziellen Parteien unterstützen den Präsidenten. Während eine kleine Elite um die Präsidentenfamilie die bedeutenden Gold-, Uran- und Kupfervorkommen des Landes und die lukrative Baumwollindustrie kontrolliert, kämpft die große Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere in den ländlichen Gegenden, gegen die Armut. Im Mai 2005 hatten sich in Andischan Zehntausende überwiegend friedlich Demonstrierende versammelt, um bessere Lebensbedingungen, mehr Demokratie und den Rücktritt des Präsidenten zu fordern, bis Sicherheitskräfte wahllos in die Menge schossen. Viele Verwundete, die nicht mehr weglaufen konnten, wurden von Soldaten erschossen oder von gepanzerten Fahrzeugen überfahren. Die Behörden sprachen von 187 Toten, die allesamt bewaffnete Aufständische gewesen seien. Doch unabhängige Menschenrechtsorganisationen meldeten bis zu 500 Tote. Hunderte Menschen wurden festgenommen und gefoltert, um von ihnen falsche Geständnisse zu erpressen. Viele von ihnen sitzen nach wie vor in usbekischen Gefängnissen, in denen ebenso wie auf den Polizeiwachen unmenschliche Zustände herrschen: Folter und andere grausame und erniedrigende Misshandlungen sind weit verbreitet. Den Gefangenen werden Nadeln unter die Finger- und Fußnägel geschoben, sie werden mit Eiswasser übergossen oder mit Schlagstöcken, Eisenstangen und mit Wasser gefüllten Flaschen geschlagen, während sie an Heizkörper gekettet sind oder an Haken von der Decke hängen. Auch vor Elektroschocks und der Vergewaltigung von Frauen und Männern schrecken die Peiniger nicht zurück. Eine der berüchtigtsten Folterstätten ist das Gefängnislager Jaslik in der Region Nordkarakalpakstan. Es befindet sich in einer ehemaligen sowjetischen Kaserne in einer abgelegenen Wüstengegend südwestlich des Aralsees. Vor einigen Jahren beschrieb ein Häftling in einem aus dem Gefängnis geschmuggelten Brief die Misshandlungen: Einige Gefangene mussten nackt über den Boden kriechen, während sie mit Schlagstöcken und Stahlrohren geschlagen wurden, andere wurden getreten und geschlagen, weil sie nicht die Nationalhymne singen wollten. Immer wieder wurden Gefangene in kleine, kalte und feuchte
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Usbekistan
»Die Haftbedingungen von Oppositionellen können in Usbekistan besonders grausam sein.« Zellen gesperrt, wo sie mehrere Tage lang nackt und ohne Wasser und Toilette zurückgelassen wurden. Amnesty erhält nach wie vor Berichte über Folter und andere Misshandlungen in dieser Einrichtung. Die Haftbedingungen von Oppositionellen, Menschenrechtsverteidigern und Mitgliedern islamistischer Parteien oder islamischer Bewegungen können in Usbekistan besonders grausam sein. Häufig droht ihnen Einzelhaft. Sie werden geschlagen, isoliert und vernachlässigt. Ehemalige Inhaftierte beschrieben ihre Zellen, in die sie zur Bestrafung gebracht wurden, als kleine, oft fensterlose Räume aus Beton ohne Heizung oder Ventilation. Für ein Bett gab es keinen Platz. Sie bekamen weder medizinische Versorgung noch angemessene Kleidung und Verpflegung, mussten aber dennoch harte körperliche Arbeit verrichten. Von der Justiz können die Opfer keine Hilfe erwarten. Vielmehr verlassen sich die Gerichte in hohem Maße auf »Geständnisse«, die unter Folter zustande gekommen sind. Foltervorwürfe werden systematisch ignoriert und die Täter daher auch nicht ermittelt. Im Gegenteil: Gefangene, die sich über Folter beschweren, werden häufig erneut gefoltert, bis sie ihre Beschwerde zurückziehen. Auch Angehörige der Gefangenen können Opfer von Vergeltungsmaßnahmen werden. Angesichts dieser schweren Menschenrechtsverletzungen hat Amnesty Usbekistan neben Mexiko, Marokko, Nigeria und den Philippinen als ein Schwerpunktland der weltweiten Kampagne »Stop Folter« gewählt. Die Organisation fordert, den Einsatz von Folter und anderen Misshandlungen zu stoppen und der Kultur der Straflosigkeit ein Ende zu bereiten. Außerdem darf sich Usbekistan nicht länger der internationalen Kontrolle entziehen, indem es internationalen Anti-Folter-Experten die Einreise verweigert. Amnesty ist beunruhigt darüber, dass die Verantwortlichen Foltervorwürfe gegen die Sicherheitskräfte nach wie vor als unbegründet betrachten. Erst im vergangenen Jahr wies die usbekische Delegation bei der UNO alle Vorwürfe über den regelmäßigen Einsatz von Folter und anderen Misshandlungen zurück. Als die Ereignisse in Andischan und die mangelnde strafrechtliche Aufarbeitung zur Sprache kamen, stellte die Delegation fest: »Das Thema Andischan ist für uns abgeschlossen.« Dies mag für die Machthaber gelten – aber nicht für die Bevölkerung, die bis heute unter den Nachwirkungen und den Folgen des Massakers zu leiden hat. Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin. Weitere Informationen zur Kampagne »Stop Folter« finden Sie auf www.amnesty.de/stopfolter-kampagne
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Kultur
52 Literatur I: Josef Haslinger über verfolgte Schriftsteller 54 Literatur II: Der georgische ExilSchriftsteller Zaza Burchuladze 56 Literatur III: Buchempehlungen zu Argentinien, Simbabwe, Russland und Ägypten 58 Literatur IV: »Iman« – ein drastischer Roman über westafrikanische Straßenkinder 60 Bücher: Von »Lynchjustiz« bis »Gezi« 62 Film & Musik: Von »Praia do Futuro« bis »African Woman«
Josef Haslinger. Der Schriftsteller und Präsident des deutschen PEN im Gespräch. Foto: Herrgott Ricardo / picture alliance
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»Sie nehmen sich zu viel Freiheit heraus« Das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ist Finnland. Doch nicht überall auf der Welt sind Schriftsteller so frei in ihrem Tun wie dort. Ein Gespräch mit Josef Haslinger, selbst Autor und Präsident des PEN-Zentrums Deutschland, über verfolgte Kollegen. Im vergangenen Jahr hat der PEN 900 Fälle verfolgter, inhaftierter oder ermordeter Schriftsteller weltweit dokumentiert. Was sind das für Fälle? Das vermeintliche Vergehen der verfolgten Literaten ist immer dasselbe: Sie nehmen sich in ihren veröffentlichten Gedanken zu viel Freiheit heraus. Sie nehmen zu wenig Rücksicht auf die herrschenden Verhältnisse. Sie verbreiten die Idee, dass es auch anders sein könnte, als es ist. Oder aber sie legen sich tatsächlich konkret mit den Machthabern oder einer herrschenden Clique an, die daraufhin beschließt, sie zum Schweigen zu bringen. Und dann bleibt, wenn die Autorin oder der Autor Glück hat, nur noch die Flucht. Welcher Fall hat Sie im vergangenen Jahr besonders berührt? Wir haben im vergangenen Jahr mehrere Veranstaltungen mit der mexikanischen Autorin und Investigativjournalistin Ana Lilia Pérez organisiert. Dabei habe ich sie persönlich gut kennengelernt. Und im Gegensatz zu anderen Autoren, die auch im Exil noch Angst haben, dass der lange Arm der Machthaber ihres Heimatlandes sie doch noch ergreifen könnte, hat Ana Lilia Pérez ganz offen darüber gesprochen, wie sie in den letzten Jahren in Mexiko auf Grund mehrerer Morddrohungen nur noch mit kugelsicherer Weste auf die Straße gehen konnte. Als sie dann Ende 2011 das Buch »El Cártel Negro« (Das Schwarze Kartell) über die Machenschaften zwischen der Regierung, dem Staatsunternehmen Petróleos Mexicanos und der Drogenmafia veröffentlichte, wurde es so gefährlich, dass sie flüchten musste. Sehr berührt hat mich auch der Fall eines syrischen Flüchtlings, eines Autors und Filmemachers, über den ich aber lieber nichts Näheres sage. Warum? Weil er seinen Kampf für Freiheit auch im Exil fortsetzt. Bekanntlich haben Bürgerkriege oft auch eine internationale Dimension und auch eine entsprechende Gefährdungslage. In welchen Regionen sind Schriftsteller akut gefährdet? Da sind an erster Stelle China, an zweiter Stelle Vietnam und an dritter Stelle immer noch der Iran zu nennen. Was China be-
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trifft, hat der internationale PEN schon verschiedene Strategien versucht: Konfrontation, Mobilisierung der Öffentlichkeit durch detailgenaue Berichte über die Verfolgungslage, diplomatische Interventionen etc. Im Moment wird wieder das Gespräch gesucht. Aber mein Eindruck ist mittlerweile, es wird nicht gefunden. Der Arabische Frühling hatte große Hoffnungen geweckt, dass es Schriftsteller und Journalisten im nördlichen Afrika einmal leichter haben würden. Sehen Sie Fortschritte oder überwiegt das Rollback in der Region? Im Augenblick überwiegt das Rollback. Aber der äußere Schein kann auch trügen. Denn wenn das Pflänzchen Freiheit einmal zu blühen begonnen hat, dann blüht es in den Köpfen weiter, auch wenn es noch keine funktionierende Demokratie gibt. Der Prozess der Befreiung kann nicht einfach rückgängig gemacht werden, weder in Libyen noch in Ägypten. Aber die Gegner haben sich neu formiert. Doch selbst in einer formalen Demokratie wie der Türkei werden Schriftsteller massiv verfolgt … In der Türkei ist die Lage zuletzt ziemlich unübersichtlich geworden. Einerseits gibt es zwei gleichsam alte Stränge gerichtlicher Verfolgung. Der eine richtet sich gegen die KCK, eine kurdische Nachfolgeorganisation der verbotenen PKK, der andere betrifft die sogenannte Ergenekon-Untersuchung, die eine angebliche ultranationalistische Verschwörung zum Sturz der Regierung aufdecken will. Im Zuge dieser Untersuchung wurden immer wieder investigative Journalisten, Autoren, Universitätsleute und Anwälte getötet, verhaftet oder attackiert, wobei die behaupteten Zusammenhänge oft höchst dubios sind. Im Zuge der Gezi-Park-Bewegung gerieten aber auch viele andere kritische Personen ins Visier der Staatsmacht – Autoren, Reporter, Verleger, Intellektuelle. Auch die in Frankreich lebende Soziologin und Schriftstellerin Pınar Selek geriet erneut unter Anklage. Selek, die zunächst ohne Rechtsbeistand zwei Jahre in Untersuchungshaft saß und schwer gefoltert wurde, wurde bereits dreimal freigesprochen und von zahlreichen Gutachtern entlastet. Das sich mittlerweile über 16 Jahre hinziehende Gerichtsverfahren gegen sie weist zahlreiche Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien auf. Das deutsche PEN-Zentrum ist in diesem Fall als Prozessbeobachter vor Ort. Eine andere Autorin, Meltem Arıkan, die der Gezi-Park-Bewegung nahestand, wurde mehr oder weniger von Erdoğan persönlich in einer Rede bei einer Parteiversammlung aus dem Land gejagt. Sie wurde daraufhin massiv bedroht und lebt nun in Großbritannien. Wir haben sie zur Frankfurter Buchmesse eingeladen, um ihren Fall darzustellen.
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Foto: Mehmet Kacmaz / Nar Photos / laif
Für die Freiheit des Wortes. Demonstration für die in Haft gefolterte Autorin Pınar Selek vor dem Gerichtsgebäude in Çağlayan, Istanbul, Türkei.
900 verfolgte Schriftsteller innerhalb eines Jahres, das ist bedrückend. Gibt es auch Erfolge? Ja, es gibt auch Erfolge. Und sie werden vom internationalen PEN genauso registriert und bekannt gegeben wie die Misserfolge. Wenn der Druck auf die Staaten nur groß genug ist, werden immer wieder auch Autoren vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Selbst in China ist das mitunter der Fall. Wie überprüft der PEN, dass Fälle echter Verfolgung vorliegen? Gibt es eigene Recherchen vor Ort? Der internationale PEN in London unterhält ein eigenes »Writers-in-Prison-Committee«, das eine Vielzahl von Quellen nutzt und für jede Information die Bestätigung durch mindestens eine zweite Quelle sucht. Dazu gehören Presseberichte, Berichte von Personen in der Region, von Betroffenen, von anderen Menschenrechtsgruppen wie zum Beispiel Amnesty International, von PEN-Mitgliedern, von Botschaftsmitarbeitern, Familien von Gefangenen, deren Rechtsanwälten und Freunden. Das Komitee arbeitet auch mit internationalen NGOs wie »Article 19« und »Index on Censorship« zusammen. Im vergangenen Jahr hat das deutsche PEN-Zentrum »Index on Censorship« den Hermann-Kesten-Preis für besondere Verdienste um verfolgte Autoren verliehen. Was tut der PEN, um verfolgten Schriftstellern zu helfen? Abgesehen von der Beteiligung an den Kampagnen der weltweit koordinierten »Writers-in-Prison«-Arbeit besteht die Haupttätigkeit des deutschen PEN-Zentrums, in mehreren Städten Deutschlands acht Wohnungen zu unterhalten, in denen verfolgte Autoren mit Unterstützung der Bundesregierung für ein bis
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josef haslinger
drei Jahre einen sicheren und auch finanziell abgesicherten Aufenthalt haben. Manche können danach in ihre Heimat zurückkehren, zum Beispiel weil ein Regierungswechsel stattgefunden hat, manche bleiben in Deutschland und wir sind ihnen behilflich, politisches Asyl zu erhalten. Manche ziehen weiter in andere Länder. Jeder unserer Exilautoren wird nach seinen individuellen Bedürfnissen behandelt. Es wurde noch nie jemand nach Ablauf seines Stipendiums einfach in den Verfolgerstaat zurückgeschickt. Unser »Writers-in-Exile«-Programm ist führend in der internationalen PEN-Gemeinde, wie uns neulich vom internationalen PEN-Präsidenten John Ralston Saul bescheinigt wurde. Fragen: Uta von Schrenk
interview josef haslinger Haslinger wurde 1955 in Zwettl/Niederösterreich geboren, er lebt in Leipzig und Wien. Der studierte Philosoph, Theaterwissenschaftler und Germanist war Mitherausgeber der Literaturzeitschrift »Wespennest« und Generalsekretär der Grazer Autorenversammlung. Haslinger ist Mitbegründer der antirassistischen Plattform »SOS Mitmensch«. Seit 1996 ist er Professor für Literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig und seit 2013 Präsident des deutschen PEN-Zentrums. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Essays und Romane, sein bekanntestes Werk ist »Opernball«.
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Foto: Sarah Eick
Georgische Moral
Von der georgischen Kirche ge채chtet. Zaza Burchuladze.
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Vor zwei Jahren wurde der georgische Schriftsteller Zaza Burchuladze wegen seiner gesellschaftskritischen Texte krankenhausreif geschlagen. Seither lebt er im deutschen Exil. Ein Porträt von Georg Kasch
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iflis, Hauptstadt von Georgien, 17. Mai 2013: Etwa 30 Menschen demonstrieren am Internationalen Tag gegen Homophobie für ihre Rechte. Ein Polizeikordon schützt sie vor mehr als 5.000 Gegendemonstranten, die nationalistische Lieder singen und den Schwulen, Lesben und Transgender mit dem Tod drohen. Plötzlich durchbricht die aufgebrachte Menge die doppelte Schutzkette, beginnt, die Demonstrierenden zu jagen. So mancher in dem Mob ist mit Stühlen bewaffnet, alte Frauen schwenken Brennnesselbüschel. Dabei werden einige der Polizisten so stark verletzt, dass sie ins Krankenhaus müssen. Wie auch etliche Passanten, die angegriffen wurden, weil sie »schwul aussehen«. Angefeuert wird die Menge von orthodoxen Geistlichen, die den »Angriff auf die georgische Moral« verurteilen. Der Gewaltexzess hat ihren Segen. Szenen wie diese sind auf Youtube dokumentiert. Der Schriftsteller Zaza Burchuladze zeigt sie, um die Macht der Kirche in Georgien und die Folgen ihrer restriktiven Moralvorstellungen zu demonstrieren. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer in Berlin, später kommt seine Frau Salomé Jashi dazu, eine Filmemacherin, die mal Details ergänzt, mal ihrem Mann mit einer englischen Vokabel hilft. An den Wänden hängen Plakate von Sonic Youth und John Coltrane, im Regal fällt Jonathan Franzens Roman »Freiheit« auf. Der Titel passt, seit Januar lebt Burchuladze als Stipendiat des »Writers-in-Exile«-Programms in Berlin, das die deutsche Sektion des PEN ins Leben rief, damit verfolgte Autoren auch im Ausland in ihrem Beruf arbeiten können. Dass Burchuladze und seine Frau im November 2012 Georgien verlassen haben, hat vor allem mit dem Einfluss der Georgischen Orthodoxen Apostelkirche zu tun. »75 Prozent der Georgier sind Anhänger der unglaublich mächtigen orthodoxen Kirche«, sagt Burchuladze. In Georgien genießt sie Verfassungsrang – so steht der Patriarch am Unabhängigkeitstag mit der Regierung auf dem Podium und segnet das Parlament zu Beginn der Legislaturperiode. Die Kirche muss keine Steuern zahlen und bestimmt den Alltag und die Moral eines Großteils der Bevölkerung. Viele Georgier sind gewillt, die Ziele der Kirche mit Gewalt zu verteidigen. Wer sie sich zum Feind macht, hat ein Problem. Burchuladze erfuhr das am eigenen Leib. Nachdem er in seinem Erzählungsband »Löslicher Kafka« gegen den georgischen Patriarchen anschrieb, wurde er »zum Sündenbock für alles« erklärt, wie er sagt. Zumal auch seine übrigen Bücher, darunter sieben Romane und mehrere Essaybände, eine Gesellschaft zeichnen, die wenig mit dem gemein hat, wie sich die Mehrheit der georgischen Bevölkerung selbst sieht. Mit kritischen und provokativen Texten schockierte er anfangs seine Leser und schaffte es in die wichtigen Medien, die mit Vorliebe jenes Foto abdruckten, auf dem er nackt dasteht – nur sein Schambereich ist mit einem Buch verdeckt. Mit seinen großen Romanen entwickelte er sich aber bald zu den führenden Intellektuellen des Landes: 2011 zeichnete eine Jury aus Hochschulprofessoren »Aufblasbarer Engel« als besten georgischen Roman des Jahres aus. Seine Popularität nutzte er, um sich für ein offenes, menschliches Georgien einzusetzen, für Presse- und Meinungsfreiheit – in seinem Blog beim Radio
porträt
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ZaZa bUrChUlaDZe
»Freies Europa«, als Universitätsdozent, aber auch bei Protesten und Bürgerinitiativen. Die Antwort der orthodoxen Kirche ließ nicht lange auf sich warten. So wurde ihm unterstellt, Anführer einer satanischen Sekte zu sein. Was man – bei aller Vorsicht – durchaus mit jener Fatwa vergleichen kann, die der iranische Ayatollah Khomeini gegen Salman Rushdie aussprach. Zwei Mal wurden in der Folge seine Bücher öffentlich verbrannt, mehrfach bedrohten ihn fremde Menschen mit Waffen oder mit ihren Autos – wie etwa jener Mann in einem Jeep, der vergeblich versuchte, Burchuladze zu überfahren und ihm hinterherrief: »Du wirst sterben!« Lange waren die Anschläge und spontanen Gewaltausbrüche gegen Burchuladze glimpflich ausgegangen. »Ich dachte immer: Das ist Teil des Theaters, die machen nie ernst.« Bis er im Oktober 2012 nach einer Ausstellungseröffnung auf die Straße trat und zwei Männer auf ihn zukamen. »Als ich in ihre Augen sah, wusste ich, dass sie bereit waren, mich zu töten.« Sie versuchten, ihn in eine kleine Nebenstraße zu schleppen und schlugen ihn krankenhausreif – zwei Wochen lag er mit Gehirnerschütterung im Bett. Schlimmer waren die psychologischen Folgen. Der Polizei vertraute er nicht: Schon in anderen Fällen hatte er die Erfahrung gemacht, dass in Georgien einige Menschen über dem Gesetz stehen. Für sich als von der orthodoxen Kirche Geächteten sah er kaum Chancen, dass der Angriff aufgeklärt würde: »Bei der Polizei hängen überall Ikonen herum. Sie sind Teil der religiös geprägten Gesellschaft, die mich ablehnt.« »Ich wollte nie das Land verlassen«, erzählt Burchuladze. Nach dem Anschlag aber hatte er nur einen Gedanken: »Ich muss hier raus.« In dieser Zeit besuchte Jürgen Jakob Becker vom Literarischen Colloquium Berlin (LCB) Tiflis. Er kannte Burchuladze, der bereits Stipendiat des LCB war – und lud ihn kurzerhand ein zweites Mal nach Berlin ein. Das verstößt zwar gegen die LCB-Regeln, war aber der schnellste Weg, Burchuladze aus Georgien herauszuholen. Danach lebte der Autor ein Jahr lang als Stipendiat im Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich, wo er sich sehr wohl und aufgenommen fühlte vom »kleinen, wunderbaren Team«. Freunde kümmerten sich darum, dass der PEN von seiner Lage erfuhr, der seit Januar für die Berliner Wohnung und eine monatliche finanzielle Unterstützung sorgt. Inzwischen arbeitet Burchuladze auch wieder – an einem Roman, der Parallelgeschichten aus Georgien und Berlin erzählt. Im September 2015 wird aber erst einmal sein Roman »Adibas« auf Deutsch erscheinen. Das bereits in mehrere Sprachen übersetzte Buch eignet sich gut als Einstieg in Burchuladzes Werk: In kurzen, lose miteinander verwobenen Episoden hält der Autor der jungen, konsumorientierten Generation seines Landes den Spiegel vor. Ein cooles, zuweilen schmerzhaftes Stück Popliteratur, dass sich problemlos auch auf Westeuropa beziehen lässt. Ebenfalls übersetzt, aber in Deutschland noch ohne Veröffentlichungsdatum ist »Aufblasbarer Engel«, ein ironiesatter Kommentar auf das georgische Kleinbürgertum und seine scheinheilige Religiosität. In Berlin fühlt sich Burchuladze wohl, er liebt das multikulturelle Miteinander. Deutschland sei jetzt seine Heimat, sagt er. Auch seine kleine Tochter ist hier geboren. Für Georgien hingegen sieht er kaum noch eine Perspektive: »Die Hauptwaffe gegen die Bigotterie der Kirche ist Wissen. Solange aber die Regierung nicht das Bildungssystem reformiert, wird es in Georgien keine Veränderung geben.« Der Autor ist freier Kulturjournalist in Berlin.
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Verkauft, verraten, verloren Armut und Gewalt, aber auch Solidarität und Freundschaft, und in der Ferne lockt Europa: Ryad Assani-Razaki hat einen drastischen Roman über westafrikanische Straßenkinder geschrieben. Von Maik Söhler
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ine Kindheit, die damit beginnt, dass die eigenen Eltern einen an Kinderhändler verkaufen, kann kaum Kindheit genannt werden. Und so können wir Toumani fortan das Kind ohne Kindheit nennen, denn viel besser wird es für ihn auch nach dem aus finanzieller Not getätigten Handel nicht werden. Im Gegenteil: Der Mann, an den ihn die Kinderhändler weiterverkaufen, wird ihn wochenlang schikanieren und schließlich so misshandeln, dass ihm ein Bein amputiert werden muss. Von seinem Peiniger wie Müll in einen Kanalschacht geworfen, wird Toumani den Tod vor Augen haben. Ryad Assani-Razaki, im westafrikanischen Benin geboren und heute in Kanada lebend, hat mit »Iman« einen Roman geschrieben, vor dem zu warnen ist. Wer in diesem Buch über Straßenkinder ein Happy End sucht, wird ebenso wenig fündig wie all jene Leser, die von Elend und Gewalt zwar abstrakt wissen, es aber im Detail gar nicht so genau nachlesen möchten. Um die Wahrheit zu sagen: »Iman« ist ein harter, brutaler, schonungsloser Roman, der an den wenigen Stellen, an denen Hoffnung aufkommen könnte, sich noch einmal eine Umdrehung weiter ins Fiese und Niederträchtige schraubt. So fies und niederträchtig, wie die Realität für viele Straßenkinder in Westafrika nun einmal aussieht. Toumani bringt es auf den Punkt: »Als Monsieur Bia mich halb tot in den Kanalschacht warf, hatte er genau das begriffen. Er konnte mich nicht richtig töten, weil ich gar nicht richtig geboren worden war. Bei den Unmengen Kindern, die Tag für Tag in die Stadt verkauft wurden, wer be-
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Auf der Straße. Bettelnder Junge in Dakar, Senegal.
merkte da schon, wenn eins fehlte? Wir waren schließlich nur Kinder. Davon gab es so viele!« Toumani wird von Iman aus dem Kanalschacht gerettet, einem Straßenjungen, der zusammen mit anderen Straßenkindern ums tägliche Überleben kämpft. Der ein paar Jahre ältere Iman wird Toumani in der Folge Vorbild, Freund und Unterstützer zugleich sein. Doch es gibt etwas, was beide unterscheidet. Während Toumani sich seinem Schicksal fügt und als Einbeiniger ohne Schulbildung und verwandtschaftliche Unterstützung jeden noch so schlechten Job annehmen muss, will Iman nur eines: Afrika verlassen, auf nach Europa! So fern dieses Europa auch ist, so nah kommt ihm Iman in seinen Fantasien und Träumen. Europa erscheint ihm als bessere Welt, in der auch junge Afrikaner ohne Bildung und berufliche Qualifikationen alles erreichen können, wenn sie den Weg gen Norden nur beherzt hinter sich bringen. Auch die Liebe zu einer jungen Portugiesin, die ihm ein Ticket nach Portugal verspricht und ihn dann doch zurücklässt, kann diese Träume nicht beenden; sie werden nur umso mächtiger. Assani-Razakis Roman ist an diesen Stellen brillant. Dem Phantasma Europa mit seinen angeblich unendlichen Möglichkeiten, über die Iman nichts weiß, stellt er den vielschichtigen Alltag in einer namenlosen Metropole in einem namenlosen afrikanischen Land entgegen. Anschaulich geschildert auf mehr als 300 Seiten werden das Leben im Slum einer Großstadt, die Arbeit in wechselnden und schlecht bezahlten Jobs, der Hunger,
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Foto: Ben Curtis / AP / pa
wenn mal wieder zu wenig Geld vorhanden ist, Korruption, Abzockerei, Gewalt von Jugendgangs, Prostitution, Wut und Hoffnungslosigkeit. Doch der Autor weigert sich konsequent, Stadt und Land zu benennen, in denen diese Zustände herrschen. Zum einen rückt so in den Blick, dass es sich von Sierra Leone bis Kamerun um jeden Staat und von Abidjan bis Libreville um jede Stadt Westafrikas handeln könnte – der elende Alltag von Straßenkindern erscheint aus dieser Perspektive grenzenlos und an keinen speziellen Ort gebunden. Als Leser erfahren wir nur, dass die Stadt am Meer liegt, dass der Islam eine Rolle spielt, wenn auch keine bedeutende, und dass das Land schon seit Jahren als Transitweg für die Flucht nach Europa dient. Zum anderen wird deutlich, dass Toumani, Iman und auch Alissa, ein weiteres von ihren Eltern verkauftes Kind, dessen biografische Linien sich mehrfach mit denen der beiden männlichen Protagonisten kreuzen, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Stadt oder einem konkreten Land fremd ist und bleiben wird. Für Straßenkinder ist Überleben schlicht wichtiger. In einer Welt, wo »alles käuflich ist«, werden aus den drei Straßenkindern junge Erwachsene. Dabei lernen sie, dass ihre Hoffnung, wenigstens die Freundschaft »habe keinen Preis«, nicht in jedem Fall berechtigt ist. Iman lässt sich nicht davon abhalten, alles auf sich zu nehmen, um nach Europa zu gelangen. Nicht einmal die Worte eines Bekannten, der in Europa gelebt hat und von den kalten Wintern, behördlicher Schikane und fehlender medizinischer Versorgung erzählt, dringen zu
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»iman«
ihm durch. Seine Freunde Toumani und Alissa wenden sich schließlich gegen ihn, als er den Auftrag einer kriminellen Bande annimmt: Wenn er sich an einem bewaffneten Überfall beteilige, werde er im Gegenzug einen der begehrten Plätze in einem Boot zur nordafrikanischen Küste erhalten. Und von dort ist es, wie Iman stets betont, nach Europa nicht mehr weit. Hier entfaltet Assani-Razaki eine klassische Romankonstellation um drei verzweifelte Menschen samt Freundschaft, Liebe, Verrat und Hoffnung vor dem Hintergrund einer desaströsen Situation irgendwo in Westafrika. Es sind diese besonderen Bedingungen, die aus »Iman« einen besonderen Roman machen. Einen Roman, der eindringlich daran erinnert, wie groß der von uns nur selten beachtete Wohlstand in Westeuropa sein muss, wenn er zum Traum von Tausenden Afrikanern wird, die daran teilhaben wollen und alles daransetzen, um ihn zu realisieren. Iman ist und bleibt eine Romanfigur. Sie entfaltet jedoch weit über die Literatur hinaus ihre Wirkung. Jedes Flüchtlingsboot im Mittelmeer und jeder Medienbericht über den Andrang von Flüchtlingen auf die in Nordafrika gelegenen spanischen Exklaven Ceuta und Melilla erzählt Ryad Assani-Razakis Roman mit anderen Protagonisten und an anderen Orten fort. Ryad Assani-Razaki: Iman. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Wagenbach, Berlin, 2014. 320 Seiten, 22,90 Euro.
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Foto: akg-images / picture alliance
Nicht nur der Ku-Klux-Klan lynchte
Amerikanische Lynchjustiz. In den Vereinigten Staaten um 1880.
Manfred Bergs Studie über mehr als 200 Jahre Lynchjustiz in den USA befasst sich mit Selbstjustiz und rassistischen Morden. Von Maik Söhler
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opular justice« nannte der US-Soziologe James Cutler die fast 200 Jahre währende Praxis des Lynchens. Manfred Berg, Historiker in Heidelberg, pflichtet ihm bei, denn in den USA gehe es zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert um kollektive Selbstjustiz und Vigilantismus, »also die Übernahme von Polizei- und Strafgewalt durch private ›Bürgerwehren‹«. Typisch amerikanisch sei die »Lynchjustiz als Instrument rassistischer Unterdrückung«. Die Ursprünge des Lynchens sind nicht genau geklärt; wahrscheinlich geht der Begriff auf Colonel Charles Lynch zurück, der während der amerikanischen Revolution im späten 18. Jahrhundert in Virginia lebte. Lynchen sei zuerst nur ein Synonym für körperliche Züchtigung oder öffentliche Demütigung gewesen; viele Forscher sähen die Ursache in Nordamerikas Frontier-Gesellschaft, den sich ständig verschiebenden Grenzen im Westen – ohne funktionierende Staatsgewalt und öffentliche Strafjustiz. Berg widerspricht der Frontier-These jedoch: »Das Problem war weniger, dass es keine Justiz gab, sondern dass die Menschen ihr zutiefst misstrauten.« Das große Lynchen ging auch dann weiter, als es keine Frontier mehr gab. »Die meisten Amerikaner lehnten Mobgewalt als unzivilisiert (…) ab, aber sie stimmten der These zu, dass Lynchen vor allem eine Reaktion auf Verbrechen und die Schwäche der Justiz war.« Speziell dem Süden der USA wendet sich der Autor zu und damit auch der im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Sklaverei.
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Die Todesstrafe an Sklaven sei oft in besonders grausamer Weise vollstreckt worden, Folter galt als legal und üblich, die Gewalt des Volksmobs brach sich oft Bahn. Nach dem Bürgerkrieg (1861 bis 1865) hätten sich besonders viele Vigilantengruppen ausgebreitet. Auch die Entstehung des Ku-Klux-Klans fällt in diese Zeit. Für die Kriegsverlierer des Südens sei Rassismus ein mentales Band gewesen, »das die Mehrheit der weißen Südstaatler unabhängig von ihrem sozialen Status einte«. Drei von vier Gelynchten zwischen 1880 und dem Zweiten Weltkrieg waren Afroamerikaner, unter den restlichen 25 Prozent befanden sich viele Mexikaner, Asiaten und Indianer. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wächst dann der Widerstand gegen die Lynchjustiz deutlich an – genauso wie nun öfter die Todesstrafe verhängt wird. »Die Folge war, dass der Unterschied zwischen legalen Exekutionen und Lynchjustiz zeitweilig verwischt«, schreibt der Historiker. Die Ära des Lynchens wird abgelöst durch das staatliche Gewaltmonopol mit zwei entscheidenden Faktoren: mehr Todesstrafe und ein entschlosseneres Vorgehen der Ordnungskräfte. Der US-Senat entschuldigte sich erst im Jahr 2005 bei den Opfern der Lynchjustiz. Noch heute speisten sich die Todesstrafe und der Waffenbesitz in den USA »aus dem Mythos der Frontier und den Traditionen des Vigilantismus«, meint Berg. »Lynchjustiz in den USA« ist ein beeindruckendes Buch. Es besticht sowohl durch Detailkenntnisse als auch durch eine profunde gesellschaftliche Einordnung. Und: Es ist leserfreundlich. Website zum Gedenken an die Opfer des Lynchens in den USA: http://withoutsanctuary.org Manfred Berg: Lynchjustiz in den USA. Hamburger Edition, Hamburg 2014. 274 Seiten, 32 Euro.
amnesty joUrnal | 10-11/2014
Europa könnte doch
Europas Mitschuld in Afrika
Die Neuauflage eines kleinen Buches kommt zur rechten Zeit, hat sie doch das Potenzial, die verworrene und widersprüchliche europäische Asylpolitik zu ordnen. Das Buch kann Auswege weisen, die jenseits der nationalstaatlichen Konflikte, behördlichen Starre und grenzpolizeilichen Maßnahmen zu einem Europa führen, das Flüchtlingen aus aller Welt anders als bisher gegenübersteht. Denn Tillmann Löhr, der seit Jahren zu Flucht und Migration arbeitet, sortiert politische, gesellschaftliche, rechtliche und humanitäre Aspekte, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ergeben und die nach und nach im europäischen Rahmen wie in diversen Nationalstaaten bestätigt, ignoriert oder bewusst missachtet wurden. Löhr, ehemaliger Mitarbeiter im Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen, stellt und beantwortet viele Fragen: Wie sieht die Debatte um die Flüchtlingskonvention nach mehr als 60 Jahren aus? Was hat sie mit der europäischen Menschenrechtskonvention zu tun? Was genau sind Binnen- und Klimaflüchtlinge? Welche Vor- und Nachteile bietet die europäische Flüchtlingspolitik gegenüber nationalen Gesetzen? Welche Rolle spielen Frontex, die Drittstaatenregelung, die Dublin-II-Verordnung und das sogenannte Resettlement? Was sollte Entwicklungszusammenarbeit leisten und was nicht? Welche Bedeutung haben parteipolitische Diskurse bei Gesetzesverschärfungen? Dieses Buch sollte Pflichtlektüre für alle sein, die sich mit der europäischen Asylpolitik beschäftigen.
Es ist ein seltsames Buch, das die deutsche Regisseurin Miriam Faßbender veröffentlicht hat. »2.850 Kilometer« handelt von den Fluchtwegen subsaharischer Migranten nach Europa. Doch anders als Autoren, die in ihren Reportagen weitgehend unsichtbar blieben, macht sich Faßbender selbst zum Subjekt ihrer Erzählung. Sie beruft sich dabei auf den Diskurs um »Critical Whiteness«, einer Haltung in antirassistischer Theorie und Praxis, in der eigene Privilegien stets reflektiert werden sollen. Das hat im Buch zur Folge, dass der Leser ebensoviel über die Autorin, ihre Wünsche und Ängste erfährt wie über die afrikanischen Protagonisten: Mohamed aus Mali, Jerry aus Kamerun und viele andere. Das nervt; teilweise treten der Kampf ums Überleben sowie die Repression und Brutalität, der Migranten auf der Flucht in Mali, Algerien und Marokko ausgesetzt sind, hinter die emotionale Innenschau der Autorin zurück. Das ist unangemessen und bietet gleichzeitig einen Vorteil, der aus »2.850 Kilometer« am Ende ein lesenswertes Buch macht. Denn Faßbender verbindet ihr Denken über Afrika so sehr mit den Flüchtlingen, dass nicht nur die Ursachen der Migration sichtbar werden, sondern auch die europäische Mitschuld an der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, an ökonomischer und politischer Patronage, Umweltschäden und anderen Missständen, die jedes Jahr Tausende Menschen auf den Weg nach Europa zwingen. Miriam Faßbender: 2.850 Kilometer. Mohamed, Jerry und ich unterwegs in Afrika. Westend Verlag, Frankfurt/M.
Tillmann Löhr: Schutz statt Abwehr. Für ein Europa des
2014. 320 Seiten, 16,99 Euro.
Asyls. Wagenbach, Berlin 2014. 96 Seiten, 9,90 Euro.
Verse des türkischen Widerstands So vielfältig der Protest im Frühsommer 2013 im Gezi-Park in Istanbul auch war, bei denen, die nicht dabei sein konnten, kam die Vielfalt der Hunderttausenden von Stimmen kaum an. Medien versuchten sich an Analysen, die die Differenz doch nur vereinheitlichten, ähnlich war es bei den wenigen Büchern, die bisher zum Thema erschienen. »Gezi. Eine literarische Anthologie« wiederholt diese einschränkende Erzählweise nicht. 21 Beiträge von 19 Autoren sind in diesem Band versammelt – vom Gedicht über die Kurzgeschichte bis zum Minikrimi. Sie alle verbindet, dass sie die Ereignisse im Gezi-Park zum Inhalt haben und den Demonstranten mit Sympathie begegnen. Ansonsten geht es drunter und drüber. Kurze Beiträge beschreiben die Emotionen im kurzen Sommer des Protests, andere wenden sich den Bäumen zu und lassen sie ihr Eigenleben führen, weitere Texte befassen sich mit den Toten und Verletzten, die den Angriffen der Polizei zum Opfer fielen. Manch ein Artikel ist von peinlicher Schlichtheit, manch anderer zeugt von hoher politischer wie literarischer Qualität. So ist ein kurzweiliges Buch entstanden, das die Stimmen des türkischen Widerstandes in ihrer Vielfalt ästhetisch dokumentiert und der Istanbuler Jugend ein poetisches Denkmal setzt.
World Wide Order Macht, Gewalt und Ordnung sind die Themen, mit denen sich der Fotograf Julian Röder von der Berliner Agentur Ostkreuz beschäftigt. Sein kürzlich erschienener Fotoband »World Wide Order« enthält Aufnahmen von Protesten gegen diverse G8-Gipfel, die der Fotograf über mehrere Jahre hinweg dokumentierte. Zunächst stehen sich Demonstranten und Polizei wie in einer antiken Schlacht gegenüber. 2001 in Genua, als ein Demonstrant von der Polizei erschossen wurde, dominieren bürgerkriegsähnliche Szenen. Dann verschwindet die antagonistische Anordnung zusehends. Auf den Bildern des Gipfels in Japan 2008 steht ein Grüppchen von Aktivisten im wahrsten Sinne des Wortes verloren im Regen. Julian Röder gelingt das Kunststück, professionelle Distanz zu den Ereignissen einzunehmen und sich gleichzeitig zu positionieren. Bei seinem Versuch, Machtverhältnisse festzuhalten, kommen keine Zweifel auf, wem seine Sympathien gehören. Das zeigen auch Serien wie »Mission and Task« über die EU-Außengrenzen oder Bilder über eine Waffenmesse in Dubai, die den Zusammenhang zwischen Macht und Ökonomie besonders sichtbar werden lassen. Die Akteure fügen sich nahtlos in die fast aseptische Umgebung ein, in der das Kriegsgerät präsentiert wird. Die ästhetisierenden Fotos über die Waffenshow zeigen, dass im globalisierten Markt selbst der Tod nicht viel mehr als ein Geschäft ist. Sehenswert.
Gezi. Eine literarische Anthologie. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe und Monika Demirel.
Julian Röder: World Wide Order. Hatje Cantz Verlag, Ostfil-
Binooki, Berlin 2014. 130 Seiten, 19,90 Euro.
dern 2014. 132 Seiten, 74 Abbildungen, 35 Euro.
Bücher: Maik Söhler, Anton Landgraf kUltUr
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. amnesty international veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de
amnesty international Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
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Foto: Ihar Tsikchanyuk
briefe gegen Das vergessen
belarUs ihar tsikhanyUk Ihar Tsikhanyuk lag am 6. Februar 2013 zur Behandlung eines Magengeschwürs in Hrodna in West-Belarus im Krankenhaus, als zwei Polizisten in Zivil die Station betraten und ihn aufforderten, sie zu begleiten. Auf der Polizeistation befragten sie ihn nach der Marke seines Handys, seines Autos und seiner Schuhe. Als sich Ihar Tsikhanyuk bückte, um unter seinen Schuhen nachzusehen, schlugen ihn die Polizisten auf den Brustkorb, sodass er zu Boden fiel. Sie befahlen ihm, aufzustehen und schlugen ihn erneut. Dann verließen sie den Raum und drei andere Polizeibeamte kamen herein. Sie machten sich über Ihar Tsikhanyuk, der schwul ist und sich für die Rechte von LGBTI (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle) einsetzt, lustig und drohten ihm weitere Gewalt an. Nachdem die Polizei ihn zurück ins Krankenhaus gebracht hatte, bat Ihar Tsikhanyuk das medizinische Personal, seine Verletzungen zu dokumentieren, was jedoch abgelehnt wurde mit der Begründung, dass dies nicht ihre Aufgabe sei. Dieser Vorfall ereignete sich kurz nachdem Ihar Tsikhanyuk und weitere Aktivisten versucht hatten, die Organisation »Human Rights Centre Lambda«, die sich aktiv für die Rechte von LGBTI in Belarus einsetzt, registrieren zu lassen. Als Ihar Tsikhanyuk wegen des Vorgehens der Polizei Anzeige erstattete, teilte ihm die Staatsanwaltschaft unverzüglich mit, dass es nicht genügend Beweise gebe, um eine Untersuchung einzuleiten. Seine gegen diesen Beschluss eingelegten Rechtsmittel wurden abgelehnt. Die verantwortlichen Polizisten sind bisher nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den belarussischen Generalstaatsanwalt und fordern Sie ihn auf, die Misshandlungen und Drohungen, denen Ihar Tsikhanyuk durch die Polizei in Hrodna ausgesetzt war, zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Schreiben Sie in gutem Belarussisch, Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: Generalstaatsanwalt Alyaksander Koniuk Generalnaya Prokuratura ul. Internatsionalnaya 22 220030 Minsk, BELARUS (Anrede: Dear General Prosecutor / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Belarus S. E. Herrn Andrei Giro Am Treptower Park 32, 12435 Berlin Fax: 030 - 53 63 59 23 E-Mail: berlin@belembassy.org
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Iwao Hakamada wurde mit dem Tod einer vierköpfigen Familie in Verbindung gebracht und 1966 festgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war er Mitte dreißig und arbeitete in einer Fabrik. Gerade hatte er seine Karriere als professioneller Boxer beendet. Nach einem unfairen Gerichtsverfahren wurde Iwao Hakamada schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Er verbrachte 46 Jahre in der Todeszelle. Im März 2014 ordnete das Bezirksgericht Shizuoka seine Freilassung an, setzte seine Hinrichtung aus und gewährte eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft legte Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein. Das Hohe Gericht in Tokio muss nun entscheiden, ob das Verfahren tatsächlich wiederaufgenommen wird. Iwao Hakamada »gestand« den Mord an seinem Vorgesetzten, dessen Ehefrau und ihren beiden Kindern, nachdem er von der Polizei 20 Tage lang verhört worden war, ohne dass ein Rechtsbeistand anwesend sein durfte. Später zog Iwao Hakamada sein Geständnis zurück und gab an, man habe ihn zur Erzwingung des Geständnisses geschlagen, bedroht und täglich zwölf Stunden lang verhört. Sein Geständnis diente dennoch als Grundlage für die Verurteilung. Iwao Hakamada ist heute 78 Jahre alt. Er ist aufgrund der langen Zeit im Gefängnis, die er größtenteils in Einzelhaft verbracht hat, in einer schlechten seelischen und körperlichen Verfassung. Einer der Richter des ursprünglichen Gerichtsverfahrens erklärte 2007 öffentlich, dass er Iwao Hakamada für unschuldig halte. Er sagte, dass er während des Verfahrens versucht habe, die anderen beiden Richter von der Unschuld des Angeklagten zu überzeugen, letztendlich jedoch überstimmt worden sei. Alle früheren Rechtsmittel und Anträge auf ein Wiederaufnahmeverfahren wurden abgelehnt – bis zum März 2014. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den zuständigen Staatsanwalt und fordern Sie ihn auf, keine Rechtsmittel gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens einzulegen. Bitten Sie ihn außerdem, sicherzustellen, dass Iwao Hakamada ein faires Urteil erhält. Schreiben Sie in gutem Japanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Staatsanwalt Kotaro ONO Tokyo Public Prosecutors Office 1-1-1 Kasumigaseki Chiyoda-ku Tokyo-to 100-8904, JAPAN (Anrede: Dear Prosecutor / Sehr geehrter Herr Staatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft von Japan S. E. Herrn Takeshi Nakane Hiroshimastraße 6, 10785 Berlin Fax: 030 - 21 09 42 22 E-Mail: info@bo.mofa.go.jp
briefe gegen Das vergessen
Foto: privat
Foto: Amnesty
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türkei hakan yaman Am 3. Juni 2013 kam Hakan Yaman, ein Busfahrer aus Istanbul, auf dem Heimweg von der Arbeit zufällig an einer Demonstration gegen Polizeigewalt vorbei. Kurz darauf griffen Polizeibeamte ihn brutal an. »Zuerst wurde ein Wasserwerfer auf mich gerichtet. Dann schlugen sie mir einen Tränengaskanister in den Bauch, sodass ich zusammenbrach. Dann kamen ungefähr fünf Polizeibeamte auf mich zu und schlugen mir mehrfach auf den Kopf. Einer von ihnen drückte mir einen harten Gegenstand ins Gesicht und quetschte mir damit ein Auge aus. Ich lag am Boden und konnte mich nicht bewegen. Jemand rief: ›Der ist fertig, wir sollten ihn endgültig erledigen.‹ Dann schleiften sie mich zehn oder zwanzig Meter über den Boden und warfen mich in ein Feuer. Danach gingen sie, und ich konnte mich aus den Flammen befreien.« Laut eines medizinischen Gutachtens erlitt Hakan Yaman schwere Verletzungen am Kopf und im Gesicht. Seine Nasen-, Wangen-, Stirn- und Kinnknochen waren gebrochen. Er hat ein Auge verloren und auf dem anderen Auge nur noch ein Sehvermögen von 20 Prozent. Er erlitt einen Schädelbruch, der vom Kopf bis zum Kiefer reichte. Zudem wies er auf dem Rücken Verbrennungen zweiten Grades auf. Hakan Yaman hat Anzeige erstattet wegen versuchten Mordes. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den zuständigen Staatsanwalt und fordern Sie ihn auf, die Strafverfahren gegen die verantwortlichen Polizeibeamten nicht weiter zu verzögern. Fragen Sie ihn auch, wann die Untersuchung abgeschlossen sein wird und die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Schreiben Sie in gutem Türkisch, Englisch oder auf Deutsch an: Staatsanwalt Cengiz Turan Cumhuriyet Savcısı, Memur Suçları Savcılığı Istanbul Anadolu Adliyesi, Esentepe Mahallesi E-5 Yanyol Kartal İstanbul, TÜRKEI (Anrede: Dear Prosecutor / Sehr geehrter Herr Staatsanwalt) Fax: 00 90 - 21 - 63 03 35 99 (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Türkei S. E. Herrn Hüseyin Avni Karslioğlu Tiergartenstraße 19–21, 10785 Berlin Fax: 030 - 27 59 09 15 E-Mail: botschaft.berlin@mfa.gov.tr
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Foto: Amnesty
aktiv für amnesty
Nicht die Augen verschließen! Die drei Siegerfotos des Wettbewerbs aus Indien (links), Russland (oben) und den Philippinen (unten).
hinsChaUen! Folter ist vielleicht der größte Schrecken, den sich der Mensch für den Menschen ausgedacht hat. »Schau nicht weg!« – unter diesem Motto startete Amnesty in diesem Jahr eine weltweite Kampagne, um der grausamen Praktik ein Ende zu bereiten. Die Fotoplattform »EyeEm« unterstützte Amnesty dabei mit einem Wettbewerb: Jeder, der am Fotografieren Freude hat, war dazu aufgerufen, unter dem Motto »Open Your Eyes for Amnesty« ein kreatives Zeichen gegen Folter zu setzen und sich selbst, seine Familie oder seine Freunde mit weit geöffneten
mitmaChen!
Amnesty International lebt vom Engagement seiner Mitglieder: Seit mehr als fünfzig Jahren schreiben Amnesty-Aktivisten Briefe an politisch Verantwortliche aus aller Welt, um gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren und Menschen in Gefahr zu schützen. Mit Erfolg: In einem Drittel aller Fälle bewirken diese Schreiben, dass sich die Situation für die Betroffenen verbessert. Dies ist aber nicht die einzige Möglichkeit, sich mit Amnesty für den Schutz der Menschenrechte einzusetzen: Wie Sie vielleicht wissen, arbeiten in der deutschen Amnesty-Sektion eine Reihe ehrenamtlicher Gruppen, die sich auf ein bestimmtes Thema spezialisiert haben, wie zum Beispiel die Arbeit gegen Menschenrechtsverletzungen an Frauen oder die Arbeit gegen die Todesstrafe. Diese Gruppen bieten an, Interessenten regelmäßig Aktionsvorschläge zu aktuellen Fällen oder Anliegen zuzusenden. Wenn Ihnen ein Thema besonders am Herzen liegt, wenden Sie sich einfach an die jeweilige Email-Adresse. Sie er-
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Augen abzulichten. Mehr als 4.000 Hobbyfotografen aus aller Welt beteiligten sich an der Aktion. Den Mitarbeitern von »EyeEm« und Amnesty, die in der Jury saßen, fiel es nicht leicht, aus den Einsendungen die drei besten Fotos auszuwählen. Doch dann stand fest: Die Siegerfotos kommen aus Indien, Russland und den Philippinen. Die drei Fotografen mit den Usernamen @Eshitasran, @j0eel und @galoshinka können sich nicht nur über die Veröffentlichung ihrer Fotos freuen, sondern auch über ein Geschenkpaket, das ihnen Amnesty geschnürt hat.
halten dann Vorschläge zu Aktionen, wie zum Beispiel fertige Appellbriefe, die Sie direkt abschicken können. Selbstverständlich können Sie sich jederzeit wieder abmelden, wenn Sie keine Aktionsvorschläge mehr erhalten möchten. netzwerk-gegen-folter@amnesty.de netzwerk-frauen@amnesty.de netzwerk-heilberufe@amnesty.de netzwerk-kinderrechte@amnesty.de netzwerk-meinungsfreiheit@amnesty.de netzwerk-indigene@amnesty.de netzwerk-queer@amnesty.de netzwerk-gegen-todesstrafe@amnesty.de netzwerke-menschenrechtsverteidiger@amnesty.de Weitere Informationen zu den Netzwerken, z.B. zur durchschnittlichen Zahl der versandten Aktionsvorschläge, finden Sie unter: www.amnesty.de/netzwerke-fuer-die-menschenrechte
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Ein Mensch verschwindet. Mitten aus der Gesellschaft, in der er lebt. Dies ist kein Einzelfall, sondern geschieht täglich in vielen Ländern weltweit. Staatliche Stellen lassen Menschen von einer Minute auf die andere von der Bildfläche verschwinden und entziehen sie so jedem gesetzlichen Schutz. Meist ist dies der erste Schritt zu Folter oder Mord. Zum »Internationalen Tag der Opfer des Verschwindenlassens« am 30. August 2014 forderte Amnesty International von der Bundesregierung, dieses Verbrechen als eigenen Straftatbestand einzuführen. Bei einer Kunstaktion auf dem Litfaß-Platz in Berlin-Mitte konnten Passanten mit eigenen Augen sehen, wie Menschen auf offener Straße verschwinden: Der amerikanische Künstler Nicholas Kashian malte Porträts verschwundener Personen auf das Pflaster. Bereits nach einigen Minuten verblassten die Gesichter, bis sie letztendlich komplett verschwanden.
aktiv für amnesty
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
impressUm Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Çiğdem Akyol, Birgit Albrecht, Daniel Bax, Selmin Çalışkan, Timm Christmann, Somchai Fauzi, Deborah Jungbluth, Georg Kasch, Jürgen Kiontke, Daniel Kreuz, Sabine Küper-Büsch, Geoffrey Mock, Gunda Opfer, Christa Rahner-Göring, Wera Reusch, Janna Sauerteig, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Sophia Stark, Janine Uhlmannsiek, Kathrin Zeiske Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom GmbH, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 2199-4587
aktiv für amnesty
selmin Çalişkan über
krieg
Foto: Amnesty
»versChwinDenlassen« Unter strafe stellen!
Kann Krieg Leben retten? Vielleicht eine unsinnige Frage. Doch sie bringt die Problematik von militärischen Interventionen im Namen der Menschenrechte auf den Punkt. Nicht zuletzt die Gräueltaten der Terrorgruppe »Islamischer Staat« haben zu heftigen Diskussionen geführt, ob man auf Gewalt mit Gegenwalt reagieren sollte. Ich stehe solchen Interventionen sehr zwiespältig gegenüber. Denn manchmal dienen die humanitären Gründe nur als Alibi, um die wahren Motive zu verbergen: geopolitische Machtinteressen und die Rohstoffsicherung für Deutschland. Deshalb bin ich 1990 wie viele Hunderttausende andere Menschen auf die Straße gegangen, um mit der Parole »Kein Blut für Öl!« gegen den Feldzug der von den USA geführten alliierten Truppen gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein zu protestieren. Wir waren überzeugt, dass dieser Krieg nicht aus humanitären Gründen geführt wurde. Damals war ich in Bonn im Frauenbündnis aktiv. Um unserer Forderung nach einer politischen Lösung Nachdruck zu verleihen, besetzten wir vier Wochen lang das DGB-Gewerkschaftshaus. Damals sang meine dreijährige Tochter auf dem Weg in den Kindergarten in der U-Bahn immer die Internationale, die sie auf den Demos gelernt hatte. Es gibt Fälle, in denen eine Intervention als letztes Mittel unvermeidlich ist, zum Beispiel um einen Völkermord zu verhindern. Doch muss in jeder Situation abgewogen werden, ob wirklich alles versucht wurde, um eine friedliche Lösung zu finden. Denn eines ist klar: Wenn zum Schutz von Menschenleben und Menschenrechten Waffen eingesetzt werden, dann ist das nichts anderes als ein Eingeständnis politischen Versagens. Viele Konflikte könnten auf politischer Ebene verhindert werden. Doch statt auf Prävention setzen viele Staaten auf militärisches Eingreifen – wenn es für politische Lösungen bereits zu spät ist. Frieden entsteht durch die Wahrung der Menschenrechte aller – das ist Präventionsarbeit pur. Würden mehr politischer Wille, Ressourcen und Geld in die Konflikttransformation gesteckt anstatt in die Entwicklung und den Verkauf von Waffensystemen, würde sich die Frage nach der »Ultima Ratio« gar nicht erst stellen. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
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es gibt mensChen, Die sterben f端r b端Cher. In vielen L辰ndern werden Schriftsteller verfolgt, gefoltert oder mit dem Tode bedroht. Jetzt mit 5 Euro die Menschenrechte unterst端tzen! SMS mit Kennwort Amnesty an 81190* senden. * von den 5 Euro gehen 4,83 Euro direkt an Amnesty, Kosten zzgl. einer Standard-SMS.