Amnesty Journal Juni/Juli 2014: "Stop Folter"

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Das MaGazIn FÜr DIe MenschenrechTe

4,80 eUro

aMnesTy JoUrnal

06/07

2014 JUnI/JUlI

sToP FolTer Über DIe allTäGlIchkeIT von FolTer – DreIssIG Jahre nach Ihrer ächTUnG

PolIzIsTen vor GerIchT Der Tod eines türkischen Demonstranten

MenschenFIscher Italiens seeleute retten Flüchtlinge im Mittelmeer

Falsche Töne Dirigent Iván Fischer über nationalismus in Ungarn


DIe aMnesTy JoUrnal aPP – JeTzT aUch FÜr anDroID! Mobil und multimedial, mit ausführlichen Bildstrecken und Videos, Podcasts und Online-Aktionen für alle Tablets. Die Amnesty Journal App ist kostenlos. Sie finden sie im App Store und ab sofort auch bei Google Play unter »Amnesty Mag«.

Zeichnung: Mareike Engelke

Weitere Informationen: www.amnesty.de/app


Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals

Foto: Mark Bollhorst / Amnesty

eDITorIal

In leTzTer sekUnDe koMMT Der helD … … und vereitelt den Anschlag auf den Präsidenten. Die entscheidenden Informationen hat er zuvor von einem Verdächtigen erhalten. Nicht freiwillig, sondern nachdem er ihn schwer misshandelt hat. Solche Szenarien sind wir mittlerweile aus unzähligen Fernsehserien und Computerspielen gewohnt. Doch so fiktiv, wie sie erscheinen mögen, sind sie nicht. Längst werden sie von der Realität übertroffen. In vielen Teilen der Welt werden Menschen in Haft oder in Gewahrsam gefoltert und misshandelt, obwohl bereits 155 Länder die UNO-Antifolterkonvention ratifiziert haben. Oftmals wird das absolute Folterverbot unter dem Vorwand missachtet, dass die nationale Sicherheit bedroht sei. Oder die Behörden wollen schnelle Erfolge vorweisen und erzwingen einfach die Geständnisse, die sie brauchen – wie im Falle der Mexikanerin Claudia Medina Tamariz (siehe Seite 33). Für Menschen wie Medina Tamariz und die vielen anderen Folteropfer startet Amnesty eine neue Kampagne »Stop Folter«, die wir auf den folgenden Seiten beschreiben. In den kommenden Ausgaben werden wir kontinuierlich über die Kampagne berichten und Aktionen vorstellen, an denen Sie sich beteiligen können. Bereits mehrfach haben wir in den vergangenen Monaten die Protestbewegung in der Türkei thematisiert. Viele Demonstranten, die im Sommer vergangenen Jahres auf die Straße gingen, wurden angeklagt und stehen derzeit vor Gericht. Amnesty hatte damals unter anderem die exzessive Polizeigewalt scharf kritisiert – viele Demonstranten wurden zum Teil schwer verletzt, mehrere getötet. Einer davon ist Ali Ismali Komarz. In einem Prozess müssen sich derzeit die Polizisten wegen seines Todes verantworten – eines der wenigen Verfahren, in dem sich Vertreter der Sicherheitskräfte rechtfertigen müssen. Unsere Reporterin begleitet den Prozess seit fast einem Jahr (siehe Seite 40). Diese und alle anderen Reportagen und Berichte können Sie auch auf unserer Journal-App lesen, die Sie im App-Store unter »amnesty mag« finden. Bislang war diese digitale Ausgabe nur mit einem iPad zugänglich. Mit dieser Ausgabe haben wir die Anwendung auf Android-Betriebssysteme erweitert. Ein Blick in die neue App lohnt sich auf jeden Fall. Gelohnt hat sich schon jetzt die Teilnahme an unserem Quiz in der FußballSonderbeilage, die viel Aufmerksamkeit erhielt. Die Gewinne wurden bereits unter den richtigen Einsendungen verlost, die Auflösung finden Sie auf Seite 83. Und falls Sie die WM verfolgen, wünschen wir Ihnen dabei viel Vergnügen.

eDITorIal

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InhalT

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Titelfoto: Optimarc / Shutterstock.com

TheMa 21 Absolut und ausnahmslos Von Barbara Hohl

22 Bittere Bilanz In vielen Teilen der Welt ist Folter alltäglich. Dagegen startet Amnesty International nun eine neuerliche Kampagne – dreißig Jahre nach dem Folterverbot durch die UNO. Von Uta von Schrenk

26 Für eine Welt frei von Folter

rUbrIken 06 Weltkarte 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Milena Buyum 15 Porträt: Jassmín Barrios Aguilar 17 Kolumne: Reinhard Marx 34 Briefe gegen das Vergessen 77 Rezensionen: Bücher 78 Rezensionen: Film & Musik

Folter ist eines der schlimmsten Verbrechen, das einem Menschen angetan werden kann. Seit mehr als fünf Jahrzehnten setzt sich Amnesty International für Folteropfer und ein weltweites Folterverbot ein. Von Daniel Kreuz

30 Mit allen Mitteln In Mexiko hat die systematische Folter durch Polizei und Armee drastisch zugenommen. Im Krieg gegen die Mafia kümmern sich die staatlichen Sicherheitskräfte wenig um Gesetze. Von Wolf-Dieter Vogel

33 Prügel und Elektroschocks Claudia Medina Tamariz wurde gefoltert, um ein Geständnis zu erzwingen. Nun kämpft sie darum, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Von Wolf-Dieter Vogel

34 Briefe gegen das Vergessen

80 Menschenrechtspreis 82 Aktiv für Amnesty 83 Selmin Çalışkan über Zwitschern

Fotos oben: Agencia Reforma | Niklas Grapatin | Carsten Stormer | Christian Gaul

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berIchTe

kUlTUr

40 »Wir alle sind Ali«

64 »Ich mag Nationalismus nicht«

Mehrere Demonstranten sind bei den Gezi-Protesten gegen die türkische Regierung im vergangenen Sommer getötet worden. Einer von ihnen war der Student Ali Ismail Korkmaz. Von Nicole Graaf

46 Für Hippokrates Weil sie sich um Oppositionelle kümmern, müssen Ärzte, Anwälte und Journalisten in der Türkei mit Haftstrafen rechnen. Von Sabine Küper-Büsch

48 Der dritte Weg In Ägypten stehen sich die Anhänger der Muslimbrüder und des Militärs unversöhnlich gegenüber. Von Carsten Stormer

52 Platz ist noch im kleinsten Boot Italiens Fischer ziehen Flüchtlinge aus dem Meer. Von Andreas Unger

56 »Ein Schutzschild für unsere Arbeit« Abel Barrera ist Leiter des Menschenrechtszentrums Tlachinollan in Tlapa im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero.

58 Frieden ohne Rache In Kolumbien zeichnet sich nach zähen Gesprächen eine Einigung zwischen der Regierung und der Guerrilla-Gruppe FARC ab. Von Mathias Schreiber

60 Anschlag auf die Erinnerung Auf eine Organisation, die in El Salvador nach verschwundenen Kindern sucht, wurde ein Brandanschlag verübt. Von Michael Krämer

InhalT

Iván Fischer, Leiter des Budapester Festivalorchesters, ist immer wieder Anfeindungen ungarischer Rechtsextremer ausgesetzt.

66 Eurasische Verhältnisse Der Essayband »Majdan! Ukraine, Europa« reflektiert die derzeitige politische Krise der Ukraine und die Haltung der EU. Von Tanja Dückers

68 Der Schmerz des Grenzübertritts Ville Tietäväinens Graphic Novel »Unsichtbare Hände« begleitet einen nordafrikanischen Flüchtling nach Europa. Von Maik Söhler

70 Auf den Steinen der Anderen In »Stein, Papier« erzählt Tomer Gardi die Geschichte seines Kibbuzes. Von Isabel Enzenbach

72 Die Geister des Bürgerkriegs Der deutsche Reggae-Sänger Patrice hat in Sierra Leone einen Kurzfilm mit ehemaligen Kindersoldaten gedreht. Von Daniel Bax

74 Kreativ gegen die Zensur Das Filmfestival in Fribourg hat dem Iran einen Schwerpunkt gewidmet. Von Jens Dehn

76 Nicht alles weggeboxt Die Autobiografie Ibraimo Albertos zeugt von 50 Jahren Rassismus in unterschiedlicher Form. Von Maik Söhler

79 Menschenrechtsballett Ein bewegender Film: In Richard Raymonds »Wüstentänzer« dreht sich alles um die Frage der persönlichen Freiheit. Von Jürgen Kiontke

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belarUs Nichts sollte die Feierlaune trüben: Als der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko am 9. Mai in Minsk die EishockeyWM eröffnete, waren Proteste unerwünscht. »Im Vorfeld der WM versuchten die belarussischen Behörden durch Festnahmen kritische Stimmen auszuschalten und Aktivisten einzuschüchtern«, sagt Jovanka Worner, BelarusExpertin von Amnesty International. »Die belarussische Regierung tritt die Meinungs- und Versammlungsfreiheit mit Füßen«, so Worner weiter. In den zwei Wochen vor dem Turnier waren 16 Regierungskritiker festgenommen worden. Sie bekamen fünf bis 25 Tage Verwaltungshaft. Belarus wird häufig als »letzte Diktatur Europas« bezeichnet. Seit zwei Jahrzehnten regiert Alexander Lukaschenko die osteuropäische Republik mit harter Hand.

PakIsTan Morddrohungen, Schikanen und nackte Gewalt: Journalisten leben in Pakistan gefährlich. Nicht nur bewaffnete Gruppen wie die Taliban versuchen, eine freie Berichterstattung zu unterbinden. Auch politische Parteien und der pakistanische Geheimdienst sind für Repressionen gegen Journalisten verantwortlich. Die pakistanischen Behörden unternehmen derweil kaum etwas, um Journalisten zu schützen oder Täter zur Verantwortung zu ziehen. Dies zeigt ein neuer Bericht von Amnesty International. Der Bericht dokumentiert das Schicksal von 34 Journalisten, die in den vergangenen sechs Jahren wegen ihrer Arbeit getötet wurden. Obwohl in Pakistan die Demokratie seit 2008 als »wiederhergestellt« gilt, wurde nur ein einziger Täter vor Gericht gestellt.

chIna Vor 25 Jahren schlug die chinesische Armee die Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewaltsam nieder. Nun haben die Behörden der Volksrepublik alles daran gesetzt, die Erinnerung an das Tian’anmen-Massaker vom 4. Juni 1989 im Keim zu ersticken. Im Vorfeld des Jahrestages wurden Dutzende Aktivisten festgenommen oder verhört, die im Verdacht standen, der Niederschlagung öffentlich gedenken zu wollen. Die Erinnerung an das Tian’anmenMassaker ist in China noch immer ein Tabu. Experten gehen davon aus, dass in der Nacht auf den 4. Juni 1989 Hunderte Menschen getötet wurden. Die Armee war mit Panzern und Handfeuerwaffen gegen die vornehmlich studentischen Demonstranten vorgegangen.

Ausgewählte Ereignisse vom 17. April bis 4. Juni 2014

TschaD Der Tschad macht seine Grenze für Flüchtlinge aus dem Nachbarland dicht: Die südliche Staatsgrenze zur Zentralafrikanischen Republik soll komplett geschlossen werden. Dies hat Tschads Präsident Idris Déby am 11. Mai verkündet. Mit diesem Schritt will sich der Tschad Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland vom Hals halten: In der Zentralafrikanischen Republik kämpfen christliche Milizen gegen muslimische Rebellen. Amnesty wirft beiden Konfliktparteien Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Tausende Menschen wurden bereits getötet, rund eine Million sind auf der Flucht. Mehr als 360.000 Flüchtlinge haben in den benachbarten Staaten Zuflucht gefunden.

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Iran Ein Aufschrei geht durchs Land: Im Iran hat die Misshandlung politischer Gefangener für Empörung gesorgt. Sicherheitskräfte hatten am 17. April den Trakt 350 des berüchtigten Evin-Gefängnisses in Teheran gestürmt. In dem Trakt sitzen oppositionelle Aktivisten und Regimekritiker ein. Die Sicherheitskräfte gingen auf Dutzende Häftlinge mit Schlagstöcken los, einige Gefangene wurden so stark verprügelt, dass sie anschließend ins Krankenhaus transportiert werden mussten. Manchen wurde allerdings eine angemessene medizinische Behandlung verwehrt. Mindestens 32 Häftlinge wurden nach den Misshandlungen in Isolationshaft verlegt. Die Häftlinge des Trakts 350 sollten offenbar bestraft werden, weil sie gegen Durchsuchungen ihrer Zellen protestiert hatten.

brUneI Peitschenhiebe, Amputation von Gliedmaßen und Tod durch Steinigung – wer in Brunei mit dem Gesetz in Konflikt kommt, dem drohen künftig archaische Strafen. In dem kleinen südostasiatischen Sultanat wird seit Anfang Mai für die muslimische Bevölkerungsmehrheit schrittweise die islamische Scharia als Strafrecht eingeführt. Schon wer den Koran beleidigt oder außerehelichen Geschlechtsverkehr hatte, muss in Zukunft fürchten, zu Tode gesteinigt zu werden. Experten vermuten, dass Bruneis Machthaber Haji Hassanal Bolkiah mit diesem Schritt islamistischen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen möchte. Amnesty nennt die Justizreform einen »Rückfall in dunkle Zeiten«.

aMnesTy JoUrnal | 06-07/2014


Foto: Imtiyaz Shaikh / Anadolu Agency / Getty Images

erFolGe

Historisches Urteil. Transgender im westindischen Mumbai feiern, dass sie sich zukünftig nicht mehr als Mann oder Frau registrieren lassen müssen.

Das DrITTe GeschlechT Weder Mann, noch Frau: In Indien gibt es nun offiziell ein drittes Geschlecht. Alle Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen, können dies künftig in amtlichen Dokumenten wie Ausweisen, Reisepässen oder Führerscheinen angeben. Dies hat Indiens Oberster Gerichtshof am 15. April entschieden. Das Urteil stärkt auch die Rechte anderer Transgender: Menschen, die mit einem männlichen oder weiblichen Körper geboren wurden, aber sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen, dürfen über ihre Geschlechtsidentität selbst entscheiden. Es entspreche dem »Geist der Verfassung, allen Bürgern die gleichen Chancen zu gewähren« und zwar »unabhängig von Kaste, Religion oder Geschlecht«, begründeten die Richter ihr Urteil. Die Anerkennung eines dritten Geschlechts sei »kein gesellschaftliches oder medizinisches Thema, sondern ein Menschenrechtsthema«, so die Richter weiter. Transgender werden

InDIen

chInesIsche akTIvIsTIn wIeDer In FreIheIT

Die chinesischen Umerziehungslager sind berüchtigt. Seit Jahrzehnten werden dort Hunderttausende missliebige Personen willkürlich festgehalten und gequält. Weil die Aktivistin Liu Hua in einem Dokumentarfilm Folter und Misshandlungen in den Lagern öffentlich gemacht hatte, wurde sie am 10. März festgenommen und 37 Tage lang in einer Strafanstalt im nordostchinesischen Shenyang festgehalten. Am 17. April ist sie aus der Haft entlassen worden. Menschen aus aller Welt hatten sich im Rahmen einer Eilaktion bei den chinesischen Behörden für ihre Freilassung eingesetzt. Liu Hua hat allen Aktivisten für ihr chIna

erFolGe

mit dem Richterspruch auch offiziell als Minderheit anerkannt und haben damit Anspruch auf staatliche Hilfen. So profitieren sie beispielsweise fortan vom indischen Quotensystem, das Minderheiten einen leichteren Zugang zu Arbeits- und Studienplätzen ermöglichen soll. Im erzkonservativen Indien ist der Richterspruch eine kleine Sensation. Erst im vergangenen Dezember hatte derselbe Gerichtshof ein Gesetz aus der britischen Kolonialzeit bestätigt, das Homosexualität zu einem Verbrechen erklärt. Gleichgeschlechtlicher Sex zwischen Erwachsenen kann in Indien seither wieder mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Im Jahr 2009 hatte eine niedrigere Instanz in Neu Delhi geurteilt, dass das Verbot homosexueller Handlungen diskriminierend sei und daher gegen die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte verstoße.

Engagement gedankt. Die Chinesin verbüßte zwischen 2006 und 2011 drei Haftstrafen in einem Umerziehungslager für Frauen. Der Grund: Sie wollte die Korruption in ihrem Heimatort Zhangliangbao öffentlich machen. Im vergangenen November gab die Volksrepublik China bekannt, alle Umerziehungslager schließen zu wollen. Doch die »Abschaffung« der Lager dürfte reine Kosmetik bleiben. In einigen Fällen wurden bisherige Umerziehungslager lediglich umbenannt. Einige Anstalten werden nun als »Drogenrehabilitationszentren« bezeichnet, obwohl sie nahezu identisch mit den alten Lagern sind.

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Foto: privat / Amnesty

Später Sieg. Hakamada (links) mit seiner Schwester Hideko bei einem Treffen der japanischen Anwaltskammer zwei Wochen nach seiner Freilassung.

lebenslänGlIch ToDessTraFe Fast ein halbes Jahrhundert saß er unschuldig in der Todeszelle: Als der japanische Boxer Iwao Hakamada wegen Mordverdachts verhaftet wurde, gingen die Beatles noch auf Welttournee und der deutsche Bundeskanzler hieß Ludwig Erhard. 45 Jahre musste Hakamada täglich mit seiner Hinrichtung rechnen, nun wurde der 78-Jährige auf freien Fuß gesetzt. Iwao Hakamada war einst ein aufstrebender Profiboxer. Im Japan der fünfziger Jahre sorgte der drahtige junge Mann im Federgewicht für Aufsehen. Heute findet sich sein Name im Guinness-Buch der Rekorde – doch nicht wegen seiner sportlichen Triumphe: Hakamada saß 45 Jahre in einer Todeszelle, ein trauriger Weltrekord. Er soll 1966 eine Familie ausgeraubt und ermordet haben. Dabei spricht alles dafür, dass der heute 78-Jährige unschuldig ist, neue DNA-Tests entlasten ihn eindeutig. Nun hat der Fall eine überraschende Wende erfahren: Das Bezirksgericht im zentraljapanischen Shizuoka entschied am 27. März, dass der Prozess neu aufgerollt werden müsse. Richter Hiroaki Murayama deutete in seiner Urteilsbegründung an, was Hakamadas Unterstützer schon seit jeher vermuten: Die Ermittler hatten im Jahr 1968 womöglich zentrale Beweisstücke gefälscht, um den Kriminalfall, der ganz Japan schockierte, schnell zum Abschluss zu bringen. Iwao Hakamada durfte seine Todeszelle noch am selben Tag verlassen. Schwer gezeichnet humpelte der Greis aus dem Tokioter Hochsicherheitsgefängnis, wo er in den vergangenen Jahrzehnten täglich damit rechnen musste, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben. Todeskandidaten erfahren in Japan nicht, wann man sie hinrichten wird. Amnesty spricht von »psychischer Folter«.

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Hakamadas Fall dürfte als einer der größten Justizskandale Japans in die Geschichtsbücher eingehen. Nachdem Iwao Hakamada seine Boxkarriere Anfang der sechziger Jahre beendet hatte, heuerte er in einer Fabrik an, die Sojapaste herstellte. Im Haus des Fabrikdirektors wohnte er zur Untermiete. Dann kam der Tag, der sein Leben für immer verändern sollte: Am 30. Juli 1966 brannte das Haus seines Chefs ab, am nächsten Morgen entdeckten die Polizisten in den Trümmern vier verkohlte Leichen – den Direktor, seine Frau und deren beiden Kinder. Alle vier waren erstochen worden. Weil auch Bargeld entwendet worden war, geriet der hochverschuldete Hakamada rasch ins Visier der Ermittler. Was folgte, wirft ein grelles Licht auf die Schattenseiten des japanischen Rechtssystems: In dem Inselstaat werden mehr als 99 Prozent aller Angeklagten verurteilt. Experten kritisieren, dass sich die Justiz dabei zu stark auf Geständnisse verlässt, die unter zweifelhaften Umständen zustande gekommen sind. So auch im Fall Hakamadas: Ermittler verhörten ihn 23 Tage lang, bis zu 16 Stunden täglich. Sie verweigerten ihm Schlaf, zudem soll er immer wieder geschlagen worden sein. Zum Schluss war der Druck zu groß: Hakamada unterschrieb ein vorformuliertes Geständnis. Er widerrief es schon am nächsten Tag, doch das schien die Richter nicht mehr zu interessieren: Hakamada wurde zum Tode durch den Strang verurteilt. Nun ist der 78-Jährige wieder in Freiheit, aber bangen muss er noch immer: Die Staatsanwaltschaft hat gegen seine Freilassung Rechtsmittel eingelegt. Sie sieht in ihm einen Mörder. Trotz aller Gegenbeweise. Text: Ramin M. Nowzad

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eInsaTz MIT erFolG Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

TwITTer-nUTzer wIeDer In FreIheIT

Weil er ein Foto auf Twitter gepostet hatte, wurde er von Sicherheitskräften verschleppt. Zwölf Tage wurde der Nigerianer Yusuf Siyaka Onimisi ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten. Seit dem 11. April ist der junge Mann wieder auf freiem Fuß. Der Grund für seine Inhaftierung: Onimisi hatte im Internet ein Foto veröffentlicht, das die Behörden lieber unter Verschluss gehalten hätten. Die Aufnahme zeigt vermutlich, wie Kämpfer der islamischen Terrorsekte Boko Haram in der Hauptstadt Abuja die Zentrale des Inlandsgeheimdienstes SSS attackieren, um Gefangene aus dem Gebäude zu befreien. Während Yusuf Siyaka Onimisi verschwunden war, solidarisierten sich Twitter-User aus aller Welt mit ihm. Unter dem Hashtag #FreeCiaxon forderten sie seine Haftentlassung.

Gebieten ihrer Ahnen vertrieben worden, nachdem die Regierung den Boden an den deutschen Viehzüchter und Großgrundbesitzer Heribert Rödel verkauft hatte. Bereits im Jahr 2006 hatte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die Regierung Paraguays das Land der Sawhoyamaxa zurückkaufen müsse. Doch das Vorhaben scheiterte damals am Widerstand einflussreicher Wirtschaftslobbyisten.

nIGerIa

hoFFnUnG aUF lanDrÜckGabe

UsbekIsTan Zwölf Tage mussten Vater und Sohn bangen, doch dann durften sie wieder in ihre niederländische Wahlheimat zurückkehren: Der Usbeke Kholzhigit Sanakulov und sein 31-jähriger Sohn Sherzod, die seit 2008 im niederländischen Exil leben, wollten im März an einer Hochzeit in Russland teilnehmen. Doch bei ihrer Einreise am 8. März wurden sie am Moskauer Flughafen festgenommen und kamen in Untersuchungshaft. Sie mussten fürchten, an ihr Geburtsland Usbekistan ausgeliefert zu werden, wo ihnen Folter und Misshandlung drohen. Am 20. März wurden sie aus der Haft entlassen, einen Tag später durften sie in die Niederlande zurückkehren, wo sie als anerkannte Flüchtlinge leben. Die beiden Männer hatten Usbekistan 2006 verlassen, nachdem sie erfahren hatten, dass die Behörden sie wegen Betrugs und Unterschlagung angeklagt hatten.

GewerkschaFTer wIeDer FreI

chIna Einmal im Jahr spielt die Volksrepublik China Demokratie: Der Nationale Volkskongress ist das größte Scheinparlament der Welt. Wenn die rund 3.000 Delegierten aus allen Landesteilen in Peking zusammentreten, sind Proteste besonders

sÜDkorea Der Arbeitskampf brachte ihn hinter Gitter, nun ist Kim Jungwoo wieder in Freiheit. Der Gewerkschaftsführer war im Juni 2013 festgenommen und später zu zehn Monaten Haft verurteilt worden, weil er versucht hatte, Polizisten daran zu hindern, einen Sitzstreik aufzulösen und einen Gedenkaltar abzubauen. Auf der Protestkundgebung war der Automobilkonzern SsangYong Motor aufgefordert worden, Arbeiter wiedereinzustellen, die im Juni 2009 entlassen worden waren. Außerdem hatten die Demonstranten den 24 Arbeitern und Familienangehörigen von Arbeitern des Konzerns gedacht, die sich seit dieser Zeit das Leben genommen hatten beziehungsweise an stressbedingten Erkrankungen gestorben waren. Zwar hat Kim Jungwoo seine zehnmonatige Gefängnisstrafe inzwischen abgesessen, allerdings hat die Staatsanwaltschaft seine Freilassung juristisch angefochten. Bis zur Entscheidung in diesem Verfahren wurde Kim Jungwoo am 1. April gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt.

Kampf ums Land. Sawhoyamaxa-Aktivisten.

Auf einer Demo abgeführt. Kim Jungwoo.

DreI bloGGer aUF FreIeM FUss

Fotos: privat, Amnesty, newscham

ParaGUay Vor 20 Jahren wurde sie von ihrem Land vertrieben, nun darf die indigene Gemeinschaft der Sawhoyamaxa auf Rückkehr hoffen. Der paraguayische Senat hat ein Gesetz verabschiedet, das den Indigenen ihr 14.404 Hektar großes Land zurückgibt. Der derzeitige Besitzer soll finanziell entschädigt werden. Bevor das Gesetz in Kraft tritt, muss es noch in der Abgeordnetenkammer eine Mehrheit finden. Die Sawhoyamaxa waren aus den

FolTerGeFahr abGewenDeT

unerwünscht. Drei jungen Bloggern wurde dies zum Verhängnis: Weil sie im Internet über eine Protestaktion auf dem Platz des Himmlischen Friedens berichtet hatten, landeten Wang Jing, Liu Xuehong und Xing Jian am 9. März hinter Gittern. Am 7. April durften sie das Gefängnis gegen Kaution wieder verlassen. Die drei jungen Blogger hatten vier Tage vor ihrer Festnahme auf dem Online-Portal »64 Tianwang« eine drastische Protestaktion dokumentiert: Während der Nationale Volkskongress tagte, verteilte eine Chinesin auf dem Platz des Himmlischen Friedens Flugblätter und versuchte anschließend, sich selbst anzuzünden. Sicherheitskräfte führten die Frau ab.

Haft wegen eines Fotos. Yusuf Siyaka Onimisi.

erFolGe

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PanoraMa

Foto: Jewel Samad / AFP / Getty Images

nIGerIa: behörDen IGnorIerTen TerrorwarnUnG von boko haraM

Das Verbrechen schockiert die ganze Welt: Im Nordosten Nigerias hat die islamistische Terrorsekte Boko Haram Mitte April eine Schule überfallen und fast 300 Mädchen entführt. Nur einem kleinen Teil gelang die Flucht, mehr als 200 Schülerinnen befinden sich noch immer in der Gewalt der Terroristen. In einem Video kündigte Sektenführer Abubakar Mohammed Shekau an, die minderjährigen Geiseln versklaven und zwangsverheiraten zu wollen. Amnesty International hat unterdessen schwere Vorwürfe gegen die nigerianischen Behörden erhoben: Es liegen Beweise dafür vor, dass die Sicherheitskräfte des Landes eine Warnung von Boko Haram in den Wind geschlagen haben. Das Militär hatte vier Stunden vor dem Überfall der Schule in der Stadt Chibok eine entsprechende Drohung der Terrorgruppe erhalten. Wie Amnesty aus Kreisen des Militärs erfuhr, sei es dem zuständigen Kommandeur aber nicht gelungen, genügend Soldaten für einen Einsatz zu rekrutieren. Die nigerianische Regierung habe gegen ihre »Pflicht, Zivilisten zu schützen, grob verstoßen«, sagte der Afrika-Experte von Amnesty, Netsanet Belay.

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brasIlIen: roTe karTe FÜr PolIzeIGewalT!

Fußballfans aus aller Welt freuen sich auf die Weltmeisterschaft in Brasilien. Doch Schlagstöcke und Tränengas könnten die Feierlaune kräftig trüben. Amnesty hat die brasilianische Regierung aufgefordert, während der FußballWM das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu respektieren. In den vergangenen zwölf Monaten gingen in dem südamerikanischen Land immer wieder Hunderttausende auf die Straße, um gegen Korruption und die hohen Kosten der WM sowie für ein besseres Gesundheits- und Bildungssystem zu demonstrieren. Mehrmals wurden die Proteste von der Polizei brutal niedergeschlagen: Sie ging mit Tränengasgranaten, Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen friedlich Demonstrierende vor. Viele Menschen wurden verletzt – und das nur, weil sie ihre Rechte wahrgenommen hatten. »Es ist kein Verbrechen, gegen Missstände zu protestieren, sondern ein Menschenrecht«, sagte Atila Roque, der Direktor von Amnesty International in Brasilien. »Die brasilianische Polizei sollte sich lieber um die Sicherheit der Menschen kümmern, statt mit Gewalt gegen Demonstrierende vorzugehen.« Foto: Silvia Izquierdo / AP / pa

PanoraMa

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Ausländische Hausangestellte werden in Katar gnadenlos ausgebeutet, leisten Zwangsarbeit und haben keine rechtlichen Möglichkeiten, um sich gegen körperliche und sexuelle Gewalt zu wehren. Das belegt ein neuer Bericht von Amnesty International. Mindestens 84.000 Migrantinnen, vor allem aus Süd- und Südostasien, arbeiten als Hausangestellte in dem kleinen, wohlhabenden Golfstaat. Mit falschen Versprechungen ins Land gelockt, finden sie sich in ausbeuterischen, unmenschlichen Arbeitsbedingungen wieder. »Manche Frauen arbeiten bis zu 100 Stunden pro Woche, ohne einen einzigen freien Tag. Wir haben mit Frauen gesprochen, die der Willkür ihrer Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber völlig ausgeliefert sind, das Haus nicht verlassen dürfen oder mit physischer Gewalt bedroht werden, wenn sie sagen, sie möchten gehen«, sagt Audrey Gaughran, Leiterin der Abteilung Globale Themen von Amnesty International. »Sie sind Opfer eines diskriminierenden Systems, das ihnen grundlegenden Schutz verweigert.« Frauen berichteten, dass sie geschlagen, an den Haaren gezogen, die Treppe hinuntergestoßen und vergewaltigt wurden. In keinem der Fälle wurden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Der Bericht dokumentiert unter anderem das Schicksal einer Frau aus Indonesien, die von ihrer Arbeitgeberin mit einem Bügeleisen misshandelt wurde. Als sie

kaTar

flüchtete, wurde sie von der Polizei aufgegriffen und in ein Abschiebezentrum gebracht. Frauen, die sexuelle Übergriffe anzeigen, riskieren zudem, wegen »unerlaubter Beziehungen« – sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe – angeklagt zu werden, was mit einem Jahr Haft und Abschiebung bestraft wird. Rund 70 Prozent der Frauen, die im März 2013 im Frauengefängnis von Doha saßen, waren Hausangestellte. Unter ihnen waren Schwangere sowie 13 Kleinkinder unter

»Mit falschen Versprechen ins Land gelockt.« Indonesische Wanderarbeiter.

GIFTIGer cockTaIl

Usa Es war eine grausame Hinrichtung, die selbst Befürworter

der Todesstrafe entsetzt hat. Clayton D. Lockett sollte Ende April im US-Bundesstaat Oklahoma hingerichtet werden, wo er wegen Mordes verurteilt worden war. Die Hinrichtung musste jedoch abgebrochen werden, weil die verabreichte Giftspritze nicht die erwartete Wirkung zeigte. Lockett starb trotzdem kurz danach an einer Herzattacke. »Die Verabreichung von Gift ist nicht weniger schmerzhaft oder grausam als andere Arten der Hinrichtung«, erklärte der USA-Experte der deutschen Amnesty-Sektion, Sumit Bhattacharyya. Der Vorfall zeige einmal mehr, dass es keine humane Exekution geben könne. Amnesty appellierte an die USA, sich dem weltweiten Trend zur Abschaffung der Todesstrafe nicht länger zu widersetzen. »Seit ihrer Wiedereinführung 1976 funktioniert die Todesstrafe in den USA nicht«, sagte Bhattacharyya. »Das zeigen nicht nur verpfuschte Hinrichtungen, sondern auch eine beunruhigend hohe Anzahl von Fehlurteilen, bei denen Häftlinge nach Jahrzehnten im Todestrakt wieder entlassen wurden.«

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zwei Jahren, die mit ihren Müttern inhaftiert waren. Für ausländische Hausangestellte gilt das Arbeitsgesetz in Katar nicht. Somit gibt es keine Arbeitszeitbeschränkungen, keinen Anspruch auf freie Tage und keine Möglichkeit, eine Beschwerde bei den Behörden einzureichen. Außerdem können sie das Land nicht einfach verlassen: Nach dem sogenannten Sponsorengesetz von 2009 benötigen ausländische Arbeitskräfte eine Genehmigung ihres Arbeitsgebers, wenn sie ausreisen möchten.

Foto: Beawiharta / Reuters

UnMenschlIche arbeITsbeDInGUnGen

TaUsenD PeITschenhIebe

saUDI-arabIen Wegen »Beleidigung des Islams« hat ein Gericht in Saudi-Arabien Anfang Mai den Menschenrechtsaktivisten Raif Badawi zu zehn Jahren Haft und tausend Peitschenhieben verurteilt. Der Gründer der Organisation »Liberales saudi-arabisches Netzwerk« muss zudem ein Bußgeld von umgerechnet knapp 194.000 Euro zahlen. Raif Badawi wurde unter anderem für schuldig befunden, in seinen Veröffentlichungen auf Twitter und Facebook religiöse Symbole beleidigt zu haben. Blasphemie ist in dem erzkonservativen Saudi-Arabien strafbar. Grund für das Urteil war auch die Kritik, die er an der saudi-arabischen »Kommission zur Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters« geübt hatte. Der Aktivist war im Juni 2012 festgenommen worden. In erster Instanz war er im Juli vergangenen Jahres zu sieben Jahren Gefängnis und 600 Peitschenhieben verurteilt worden. Amnesty International kritisierte das Urteil als »skandalös« und forderte, den Menschenrechtsaktivisten unverzüglich und bedingungslos freizulassen.

aMnesTy JoUrnal | 06-07/2014


kolUMne: reInharD Marx

Zeichnung: Oliver Grajewski

Das Bundeskabinett hat Ende April 2014 einen Gesetzentwurf verabschiedet, mit dem Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien zu »sicheren Herkunftsstaaten« bestimmt werden sollen. Albanien und Montenegro sollen folgen. Wird das Vorhaben Gesetz, können Asylsuchende aus diesen Ländern trotz Asylantrag im Schnellverfahren abgeschoben werden, weil sie dann angeblich aus einem »sicheren« Land kommen. Die Widerlegung dieser Vermutung ist theoretisch zwar möglich, aber an sehr hohe Voraussetzungen geknüpft und dürfte den meisten Flüchtlingen nicht gelingen. Bereits jetzt werden nahezu alle Asylanträge aus diesen Ländern im Schnellverfahren abgewickelt.

alles anDere als sIcher

Das Konzept der »sicheren Herkunftsländer« beruht auf dem Asylkompromiss von 1993, mit dem das Asylgrundrecht faktisch abgeschafft wurde. Lange Zeit spielte dieses Konzept keine große Rolle. Vor vier Jahren wurde die Visapflicht für einige westliche Balkanstaaten aufgehoben, was die Einreise aus diesen Ländern nach Deutschland vereinfacht hat. Nun wird das Konzept der sicheren Herkunftsländer wieder aufgegriffen. Im Ergebnis zielt es auf die Roma, die wegen zahlreicher Diskriminierungen im sozialen Bereich, aber auch wegen schwerwiegender rassistischer Übergriffe Schutz im Ausland suchen. Nach EU-Recht und auch nach der deutschen Rechtsprechung dürfen solche Diskriminierungen nicht vorschnell beiseite geschoben werden. Genau dies aber beabsichtigt der Gesetzgeber mit seinem Vorhaben und sanktioniert damit eine rechtswidrige Praxis. Die gesellschaftliche Stimmung ist gegen die Roma eingestellt und wird von konservativen Wahlkämpfern angeheizt: Missbrauch des Sozialsystems gegen Roma aus Bulgarien und Rumänien, Missbrauch des Asylsystems gegen Roma aus dem westlichen Balkan. Offen hetzen Politiker nicht gegen Roma, aber ihre Missbrauchsvorwürfe zielen auf sie. Den Gesetzgeber trifft eine besondere Sorgfaltspflicht, wenn er ehemals diktatorische oder totalitär regierte Staaten zu »sicheren Herkunftsstaaten« bestimmen will, wie dies bei allen Staaten des Westbalkans der Fall ist. Gerade die Behandlung von Minderheiten, insbesondere von Roma, aber auch von Schwulen, Lesben und Transsexuellen in diesen Staaten zeigt, wie fragil gesellschaftliche und staatliche Strukturen sind. Und wie langlebig Intoleranz und Hass fortwirken, ja sogar weitaus wirkmächtiger sind als in früheren diktatorischen Zeiten. Gerade in Übergangsprozessen entladen sich Ängste, die von einer allgemeinen Verunsicherung ausgelöst werden, in Hass und Gewalt gegen Minderheiten. Das Grundgesetz wie auch das Europarecht fordern, dass in einem Staat, der als »sicher« erklärt werden soll, eine gewisse Stabilität und hinreichende Kontinuität der Verhältnisse eingetreten sind und deshalb in der Rechtsanwendung aufgrund der allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Situation weder Verfolgungen noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung stattfinden. Ein derartiges Gesamturteil kann während eines nicht abgeschlossenen Übergangsprozesses kaum zuverlässig getroffen werden. Das Europarecht legt den Fokus darüber hinaus – anders als das Grundgesetz – auf den wirksamen Schutz vor Übergriffen in »sicheren Herkunftsstaaten«. Maßgebend ist nicht in erster Linie eine präzise Ermittlung von Verfolgungen und Übergriffen, sondern wie wirksam die Regierung gegen diese vorgeht. Ein hohes Maß an Korruption und die weitgehende Straflosigkeit in diesen Ländern stehen dagegen, sie zu »sicheren« Herkunftsstaaten zu erklären. Dr. Reinhard Marx ist Rechtsanwalt in Frankfurt. Er zählt zu den renommiertesten deutschen Ausländer- und Asylrechtsexperten.

nachrIchTen

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kolUMne

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aMnesTy JoUrnal | 06-07/2014


Thema: Stop Folter

Schläge, Tritte, Elektroschocks, Isolation, vorgetäuschte Exekutionen oder Schlafentzug: Dieser Albtraum ist Realität für unzählige Gefangene weltweit. Amnesty International startet deshalb eine globale Kampagne, um diese Unmenschlichkeit zu beenden. Die Weltgemeinschaft ist aufgefordert, das absolute Folterverbot einzuhalten und wirkungsvolle Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um Folter zu stoppen.

Zeichnung: Jef Thompson / Shutterstock.com

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Absolut und ausnahmslos Amnesty International hat in den vergangenen fünf Jahren Folter und Misshandlung in 141 Ländern dokumentiert. In einigen Staaten handelt es sich um Einzelfälle, in vielen aber ist Folter an der Tagesordnung. Oft ist die Misshandlung der Festgenommenen ein Mittel der Polizei, um Geständnisse zu erpressen und vermeintliche Ermittlungserfolge zu präsentieren. Oft geschehen Misshandlungen auch im Namen der Sicherheit. Die Rechtfertigung von Folter durch die USA im »Krieg gegen den Terror« war ein fatales Vorbild für die Weltgemeinschaft. Die Staaten verstecken sich hinter einer Doppelmoral. Sie bekennen sich zwar zum internationalen Folterverbot, unternehmen aber nichts gegen Folter oder ordnen sie sogar heimlich an. Viele Regierungen rechtfertigen sie unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit. Der stetige Fortschritt, der in den vergangenen 30 Jahren in diesem Bereich zu verzeichnen war, wird so wieder zunichte gemacht. Seit 1984 haben 155 Staaten die Antifolterkonvention der UNO ratifiziert. Das Folterverbot gilt absolut und ohne Ausnahme weltweit, weil es zum zwingenden Völkerrecht gehört. Es braucht öffentlichen Druck, damit die Regierungen ihren rechtlichen Pflichten nachkommen und das Folterverbot respektieren. Das Bekenntnis zum internationalen Folterverbot ist nichts wert, solange viele Staaten Misshandlungsvorwürfen nicht nachgehen, Gerichte erpresste Geständnisse verwerten und Folterer straffrei bleiben. Amnesty International fordert die Regierungen deshalb auf, endlich konkrete Maßnahmen zum Schutz gegen Folter zu ergreifen, die in internationalen Abkommen längst vereinbart sind. Die Stop Folter-Kampagne konzentriert sich auf die Umsetzung der Schutzmaßnahmen. Beispielhaft wird an den fünf Ländern Marokko, Mexiko, Nigeria, Usbekistan und den Philippinen demonstriert, welche Schritte hier jeweils nötig sind. In diesen Ländern gibt es zwar Gesetze gegen Folter, aber faktisch wird sie weiter praktiziert. Barbara Hohl leitet die Stop Folter-Kampagne in der deutschen Zentrale von Amnesty International

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Bittere Bilanz In vielen Teilen der Welt ist Folter alltäglich. Dagegen startet Amnesty International nun eine neuerliche Kampagne – dreißig Jahre nach dem Folterverbot durch die UNO. Von Uta von Schrenk

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r drückte sie gegen eine Wand. Er schlug sie in den Magen. Er schlug sie ins Gesicht. Er schlug sie mit einem Schlagstock. Er schlug ihren Kopf gegen die Wand. Er presste seine Finger in ihre Augen. Er ohrfeigte sie. Er zwang sie, einen Wischlappen zu essen. Dann kam ein anderer. Er stellte ihr eine Schnapsflasche auf den Kopf. Er zielte mit seiner Waffe darauf. Er sagte, dass er schießen werde. Er war nur etwa eineinhalb Meter entfernt. Am Ende hat er nicht geschossen. In den Tagen danach hatte sie so große Schmerzen, dass sie nichts essen konnte, Schwierigkeiten beim Atmen hatte und sich immer wieder übergeben musste. Was anmutet wie die finstere Szene eines dumpfen Gewaltvideos, ist bittere Realität in vielen Teilen der Welt. In diesem Fall heißt sie Alfreda Disbarro. Die junge Frau wurde im vergangenen Herbst, am 3. Oktober und in den Tagen danach, im Polizeihauptquartier von Parañaque auf den Philippinen gefoltert. Festgenommen wurde Alfreda Disbarro wegen angeblichen Drogenhandels. Sie ist derzeit in einem örtlichen Gefängnis inhaftiert und wartet auf ein Gerichtsverfahren. »Obwohl sie von einem Amtsarzt untersucht wurde, sind bisher keine Untersuchungen zu ihrer Misshandlung durch die Polizei eingeleitet worden«, heißt es in dem aktuellen Amnesty-Bericht zur Folter. »Ein Folterer will nicht nur Schmerzen zufügen, er will sein Opfer erniedrigen, seinen Willen brechen«, sagt Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty Deutschland. »Folter greift die Grundlage der Menschenrechte an: die Menschenwürde.« Folter kommt nicht nur in Staaten wie Syrien oder Nordkorea vor, sondern in allen Teilen der Welt. Das ist die erschütternde Bilanz des Amnesty-Berichts. Und meist trifft Folter die Schwächsten der Gesellschaft: Frauen, Kinder, Arme, politische, ethnische und sexuelle Minderheiten. 30 Jahre nachdem Amnesty mit seiner Anti-Folter-Kampagne die weltweite Ächtung von Folter durch die UNO auf den Weg gebracht hat, ist eine neuerliche »Stop Folter-Kampagne« notwendig. Bitter genug. Dabei ist die 1984 verabschiedete UNO-Konvention zur Ächtung der Folter durchaus eine »verlässliche internationale

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Rechtsgrundlage«, um Menschen, die andere gefoltert haben, über Landesgrenzen hinweg strafrechtlich zu verfolgen, Folter zu verhindern, die Täter zu bestrafen und Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer sicherzustellen. 155 Länder haben die UNO-Konvention bislang ratifiziert. Und aus 79 dieser Länder hat Amnesty schon 2014 Berichte über Folter gesammelt. In einigen Ländern wurde Folter gar routinemäßig und systematisch angewandt. »Viele der Regierungen, die sich der weltweiten Ächtung von Folter angeschlossen (...) haben, setzen Folter weiterhin ein oder erleichtern zumindest ihren Einsatz«, heißt es in dem Bericht. Folter bleibt im Zweifel ungesühnt – das macht das globale Folterverbot so zahnlos. Mit der neuen Kampagne will Amnesty erreichen, dass die weltweite Ächtung der Folter endlich Wirkung zeigt. Das Papier soll Zähne zeigen. Erkin Musaev, ein ehemaliger Beamter des usbekischen Verteidigungsministeriums, arbeitete für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen in Usbekistan, als er im Januar 2006 von Angehörigen des Nationalen Sicherheitsdienstes (SNB) inhaftiert wurde. Man klagte ihn wegen Spionage an und hielt ihn mehrere Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt fest. Berichten zufolge wurde er einen Monat lang tagsüber geschlagen und nachts verhört. Außerdem drohte man ihm, seinen Angehörigen etwas anzutun. Erkin Musaev unterschrieb schließlich ein Geständnis, unter der Bedingung, dass der SNB seine Familie in Ruhe lasse. In Ländern mit korrupter und nicht unabhängiger Strafjustiz ist Folter häufig ein Ersatz für Ermittlungsarbeit, hat der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter über Folter, Manfred Nowak, bei seinen weltweiten Recherchen festgestellt. Ohne eine geregelte Strafverfolgung kein Schutz vor Folter. Schwerpunkt der Amnesty-Kampagne ist daher Folter in staatlicher Haft oder in Gewahrsam – neben der normalen Strafjustiz also auch der Gewahrsam von Militär, Polizei, Spezialeinsatzkräften und Geheimdienst. Erkin Musaev wurde nach drei unfairen Prozessen in den Jahren 2006 und 2007 wegen Hochverrats und Amtsmiss-

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schaU nIchT weG: »sToP FolTer« Amnesty International hat in den vergangenen fünf Jahren Folter und Misshandlung in 141 Ländern dokumentiert. In vielen ist Folter an der Tagesordnung. Der Fortschritt, der in den vergangenen 30 Jahren seit Unterzeichnung der UNO-Antifolterkonvention 1984 erfolgte, wird zunichte gemacht. Das Folterverbot gilt absolut und ohne Ausnahme weltweit. Amnesty fordert die Regierungen auf, effektive Schutzmaßnahmen (»Safeguards«) gegen Folter zu ergreifen. Dafür braucht es öffentlichen Druck. Am 26. Juni 2014, zum Internationalen Tag zur Unterstützung der Folteropfer, ruft Amnesty zu einem globalen Aktionstag auf – auch in Deutschland. Stell dich zwischen Folterer und Folteropfer, sei »Safeguard«. Schau nicht weg: Stop Folter. Unterzeichne die Online-Petitionen auf: www.amnesty.de/stopfolter

brauchs zu insgesamt 20 Jahren Haft verurteilt. Alle drei Gerichte lehnten die formellen Beschwerden, die Erkin Musaev wegen seiner Folter in Haft eingereicht hatte, ohne angemessene Überprüfung ab. Im Mai 2012 entschied der UNO-Menschenrechtsausschuss, dass Usbekistan gemäß Artikel 7 (Folterverbot) des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte die Rechte von Erkin Musaev verletzt habe. Und Musaev ist nicht der Einzige, dem in usbekischen Gefängnissen oder Polizeistationen Unrecht geschieht. Folter und andere Misshandlungen sind in dem zentralasiatischen Land an der Tagesordnung. Amnesty International erhält von dort »regelmäßig glaubwürdige Berichte über routinemäßige und weit verbreitete Folter und andere Misshandlungen durch Sicherheitskräfte und Gefängnispersonal«. Dass Folter durch Polizei, Militär oder Geheimdienst ein strukturelles Problem ist, zeigen Berichte aus den verschiedensten Teilen der Welt. Ob entwürdigende Leibesvisitationen von Schwulen und »korrigierende Vergewaltigungen« von Lesben in Gefängnissen und Polizeistationen Afrikas oder die Tortur Hunderttausender nordkoreanischer Männer, Frauen und Kinder in Straflagern; ob Misshandlungen demonstrierender ukrainischer Bürger durch die Polizei oder die brutale Abschiebung von Asylsuchenden an den Außengrenzen der Europäischen Union – stets sind offizielle Vertreter der jeweiligen Staatsgewalt involviert. Prügel, Stromschläge, Peitschenhiebe, Scheinhinrichtungen, Sauerstoffentzug, Verbrennungen, Stichwunden, Vergewaltigung, Einflößen von verunreinigtem Wasser, Urin und Chemika-

Stromschläge

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Scheinhinrichtungen

lien, und, und, und. Die menschliche Phantasie scheint unerschöpflich, wenn es darum geht, Methoden zu erfinden, wie ein Mensch einen anderen malträtieren kann. Allein für das vergangene Jahr dokumentiert der Amnesty-Bericht 27 verschiedene Foltermethoden – von der Einzelmaßnahme bis zum Masseninstrument. Dabei sind die meisten Methoden seit zweitausend Jahren unverändert – schon das römische Recht wandte Folter als Strafe an. Neu sind Formen der sogenannten »weißen« Folter – »weiß«, weil sie keine sichtbaren Wunden hinterlässt. Auch Methoden wie das sogenannte Waterboarding, bei dem der Betroffene zu ertrinken glaubt, gehören dazu. Waterboarding ist eine der »erweiterten Verhörmethoden«, die die USRegierung im »Krieg gegen den Terror« dem Geheimdienst CIA erlaubte. In einem Gutachten des US-Justizministeriums für das Weiße Haus vom 1. August 2002 heißt es, Ermittler könnten starke Schmerzen zufügen, ohne die Grenze zur Folter zu überschreiten. Außerdem gebe es eine breite Palette an Maßnahmen, die zwar grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen könnten, jedoch nicht als Folter zu werten seien. Zu diesen Methoden, die dann auch im Gefangenenlager Guantánamo angewandt wurden, gehören das Verharren in schmerzhaften Positionen über längere Zeiträume, Schlafentzug, die Beschallung mit lauten Geräuschen, lange Isolierung und das Vermummen des Kopfes mit einem Sack. Hinzu kam der Einsatz von Hunden, erzwungene Nacktheit, Zwangsrasuren, sexuelle Erniedrigung durch weibliche Ermittlerinnen und der Entzug religiöser Gegenstände – hiermit sollten die überwiegend muslimischen Häftlinge besonders getroffen werden. Nach seinem Amtsantritt hat US-Präsident Obama die Folterpraxis in Guantánamo beenden lassen. Allerdings hat er ebenfalls angeordnet, dass es keine strafrechtliche Aufarbeitung der Folter und ihrer Anordnung geben solle, es müsse »nach wie vor geschaut werden«. Bis heute ist niemand dafür zur Verantwortung gezogen worden – ein skandalöses Versäumnis, das genau das falsche Signal gibt. Haben es CIA-Gefangene nicht anders verdient, haben sie sich nicht verdächtig gemacht, Tausende Menschenleben auf dem Gewissen zu haben? Ist Folter unter besonderen Umständen gerechtfertigt? Dieses Denken hat der »Krieg gegen den Terror« wieder salonfähig gemacht. Auch Fernsehserien wie »24« suggerieren, dass Folter gegen Terroranschläge helfen könne. Erfahrene Ermittler widersprechen: Erfolterte Aussagen sind meist wertlos. Wer gefoltert wird, der sagt alles Mögliche, damit die Folter aufhört – aber nicht unbedingt die Wahrheit. Wirksam ist Folter auf andere, fatale Weise: Sie führt zu einer Verrohung der Gesellschaft. Wer will sich da auf eine Diskussion über die Effektivität von Folter überhaupt einlassen? Das

Übergießen mit kochend heißem Wasser

Zwangsverabreichung von Drogen

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internationale Recht ist eindeutig: Folter ist in keinem Fall gerechtfertigt. Bei Amnesty heißt es dazu: »Die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten lassen absolut keinen Spielraum: Folter und andere Formen der Misshandlung sind unter allen Umständen, in jedem Land der Welt und an jedem Menschen verboten. Dieses Verbot gilt auch für Zeiten extremer Ausnahmezustände, wie Kriege, innere Unruhen sowie natürliche und menschengemachte Katastrophen. Und es schützt auch Personen, die eine extreme Bedrohung darstellen, wie feindliche SoldatInnen, SpionInnen, SchwerverbrecherInnen oder TerroristInnen.« Amnesty fordert, dass die sogenannten »Safeguards« der Antifolterkonvention, also die Schutzmechanismen, die verhindern sollen, dass Polizei, Militär oder Geheimdienst foltern, endlich konsequent umgesetzt werden. »Folter hält sich in vielen Ländern deshalb so hartnäckig, weil sie im Verborgenen stattfindet«, sagt Selmin Çalışkan. »Transparenz ist deshalb die beste Vorbeugung.« Transparenz herstellen sollen unter anderem das Recht, nach der Festnahme Angehörige informieren zu dürfen, das Verbot von geheimer Haft ohne Kontakt zur Außenwelt, das Recht auf einen unabhängigen Rechtsbeistand vor Gericht, die Video- oder Audioüberwachung aller Vernehmungen, das Recht auf ein unabhängiges medizinisches Gutachten, unangemeldete Kontrollen in den Hafteinrichtungen. In Ländern, in denen diese Schutzmaßnahmen von den Regierungen garantiert und umgesetzt werden, geht Folter zurück. Auch die konsequente Strafverfolgung der Folterer ist ein entscheidender Faktor, um Folter zu verhindern. Die Amnesty-Kampagne konzentriert sich auf fünf Länder: Mexiko, Marokko und Westsahara, Nigeria, die Philippinen und Usbekistan. Folter ist hier ein strukturelles Problem, häufig angewandt und nur selten geahndet. Und zugleich stehen diese fünf Länder beispielhaft für die mangelhafte Umsetzung der Antifolterkonvention. Denn dort funktionieren die Schutzmechanismen, die Folter verhindern, nicht. Und es gibt die Hoffnung, dass der politische Druck die Regierungen veranlasst, den Kampf gegen Folter ernsthaft zu führen. In Mexiko fehlt es bislang insbesondere an der medizinischen Untersuchung der Opfer und der Dokumentation von Folterfällen. Hier will Amnesty erreichen, dass das IstanbulProtokoll zum Standard für Untersuchungen mutmaßlicher Folterfälle wird. In Marokko mangelt es an der Strafverfolgung der Täter. Das Ziel: Folterhinweisen soll konsequent nachgegangen werden. Die für Folter Verantwortlichen müssen angeklagt werden, erzwungene Geständnisse dürfen in Strafprozessen nicht mehr zugelassen werden.

entzug

Gewaltsames Abrasieren der Bärte muslimischer Männer

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»Folter hält sich in vielen Ländern deshalb so hartnäckig, weil sie im Verborgenen stattfindet.« Nigeria ist ein Beispiel für die Abschirmung von Gefangenen von der Außenwelt. Gefangene müssen hier dringend Zugang zu Anwälten, Familienangehörigen und unabhängigen Beobachtern erhalten. Auf den Philippinen fehlt insbesondere eine effektive externe Polizeiaufsicht und eine interne Kontrolle. In Usbekistan werden erzwungene Geständnisse regelmäßig als Beweise vor Gericht verwendet. Das muss ein Ende haben. Als Dimitri Bulatov in einem Wald außerhalb von Kiew ausgesetzt wird, ist sein Gesicht zerschnitten, ein Stück von seinem Ohr fehlt. Der ukrainische Regierungskritiker, Mitglied des »Automaidan«, einer der aktivsten Gruppierungen gegen das Janukowitsch-Regime – war von Unbekannten am 22. Januar verschleppt und tagelang schwer misshandelt worden. Nach internationalem Druck konnte Dimitri Bulatov am 1. Februar ausreisen, um seine schweren Verletzungen im Ausland behandeln zu lassen. Eines zeigt die Rettung von Bulatov deutlich: Die Aufmerksamkeit der weltweiten Öffentlichkeit kann Leben retten – auch wenn sie in diesem Fall die Folter nicht verhindern konnte. Es ist nicht egal, ob eine Regierung gegen Folter protestiert oder nicht. Es ist nicht egal, ob eine Menschenrechtsorganisation Beobachter bei gewaltsamen Konflikten einsetzt. Es ist nicht egal, ob ein Wirtschaftsunternehmen eine neue Produktionsstätte von den Menschenrechtsbedingungen vor Ort abhängig macht oder nicht. Und es ist nicht egal, ob ich eine Petition gegen Folter unterzeichne oder nicht. Internationale Aufmerksamkeit ist Teil eines Schutzschildes für jene, die von Folter bedroht sind, und ein Ansporn für alle, die sich um das Thema sorgen. Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.

Schieben von Nadeln unter die Fingernägel

Einflößen von verunreinigtem Wasser, Urin und Chemikalien

Peitschenhiebe

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Für eine Welt frei von Folter

Foto: Amnesty Schweiz

Folter ist eines der schlimmsten Verbrechen, das einem Menschen angetan werden kann. Seit mehr als fünf Jahrzehnten setzt sich Amnesty International für Folteropfer und ein weltweites Folterverbot ein. Von Daniel Kreuz

Enormer Rückschlag durch den »Krieg gegen den Terror«. Protestaktion gegen Folter in St. Gallen, 2002.

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Fotos: Amnesty

Weltweite Kampagne. Konferenz gegen Folter in Paris, 1973.

Druck auf die Regierungen. Amnesty-Aktivisten in Oslo, 1965.

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Vergewaltigungen und Scheinhinrichtungen. Für die Mitglieder von Amnesty stand außer Frage, dass sie sich nicht nur die Freilassung von politischen Gefangenen, sondern auch für den Schutz vor Folter und anderen Misshandlungen einsetzen würden. 1968 erklärte der damalige Generalsekretär von Amnesty International, Martin Ennals: »Wir bekommen täglich von überall aus der Welt Berichte über Menschen, die gefoltert werden.« Diese Berichte kamen jedoch nicht nur aus entfernten Ländern Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas, sondern auch aus Diktaturen vor der Haustür, so zum Beispiel aus dem von Salazar beherrschten Portugal oder aus dem Spanien Francos, die beide erbarmungslos gegen Regimekritiker vorgingen. In Griechenland hatte sich am 21. April 1967 eine Armee-Junta an die Macht geputscht. Allein am ersten Tag wurden 10.000 Menschen festgenommen. In den folgenden Jahren wurden Tausende inhaftiert, gefoltert und ermordet. Schon kleinste Verstöße konnten Konsequenzen haben: Für Männer waren lange Haare verboten, für Frauen kurze Röcke. Amnesty veröffentlichte nach dem Putsch in Griechenland einen Bericht, der auf die weit verbreitete Folter hinwies. Er brachte unter anderem die Existenz eines großen Verhörzentrums in Athen ans Licht, das von der Armee eingerichtet worden war, »um ganz Griechenland erzittern zu lassen«. Der US-amerikanische Rechtsanwalt James Becket, der im Auftrag von Amnesty nach Griechenland gereist war, berichtete: »Nach vorsichtiger Schätzung sind nicht weniger als 2.000 Personen Folterungen ausgesetzt gewesen.« Anfang der siebziger Jahre gab es auf internationaler Ebene nur wenige Regelungen zum Folterverbot und vor allem zu seiner Durchsetzung. Im Dezember 1972 startete Amnesty daher die erste weltweite »Kampagne zur Abschaffung der Folter« und erzielte damit einen großen internationalen Erfolg. Die Organisation schlug der Generalversammlung der Vereinten Nationen vor, eine Konvention gegen Folter und zur Behandlung von Gefangenen zu verabschieden und bat die UNO-Mitgliedstaaten um Unterstützung. Weltweit wurden eine Million Unterschriften gesammelt – allein 110.000 Polizisten aus Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Norwegen und Schweden unterstützten die Amnesty-Initiative mit ihrer Unterschrift. Amnesty-Generalsekretär Martin Ennals sprach mit Vertretern mehrerer Mitgliedsstaaten. Acht von ihnen reichten schließlich eine entsprechende Resolution in die UNO-General-

ushra Hussein ist seit vielen Jahren ein engagierter Kämpfer für die Menschenrechte. In seiner Heimat Sudan genügt das bereits, um ins Visier der Behörden zu geraten. Unzählige Male wurde er wegen seines Engagements festgenommen. Doch nie erlebte er ein solches Martyrium wie im Juni 2011, als er an einen unbekannten Ort gebracht und die ganze Nacht über gefoltert wurde. Er wurde mit Fäusten geschlagen, mit Gewehrkolben, mit Plastikrohren. Am darauffolgenden Tag hatte das Foltern ein Ende. Verschiedene Organisationen, darunter Amnesty International, hatten innerhalb kürzester Zeit mit Kampagnen und Eilaktionen auf die Situation des sudanesischen Menschenrechtsaktivisten aufmerksam gemacht. »Ich merkte sofort, dass die internationale Gemeinschaft begonnen hatte, Druck auszuüben«, erzählte Bushra Hussein später. Es dauerte allerdings noch ein Jahr, bis er endlich freigelassen wurde. Da er sich im Sudan nicht sicher fühlte, floh der Menschenrechtler zunächst nach Uganda. Von dort aus reiste er nach Deutschland, um sich medizinisch behandeln zu lassen und von den Spuren der Folter zu erholen. Bushra Husseins Reise und seine Behandlung in Hannover von Mai bis September 2013 wurden von Amnesty International organisiert und finanziert. Er ist eines von Tausenden Folteropfern, für die sich Amnesty in den vergangenen Jahrzehnten eingesetzt hat. Eine Welt frei von Folter ist eines der Hauptanliegen der weltweit größten Menschenrechtsorganisation seit ihrer Gründung durch Peter Benenson vor mehr als fünfzig Jahren. Der britische Rechtsanwalt hatte am 28. Mai 1961 in der Zeitung »The Observer« einen Artikel mit dem Titel »Die vergessenen Gefangenen« veröffentlicht. Er begann mit den Worten: »Schlagen Sie Ihre Zeitung an irgendeinem beliebigen Tag auf, und Sie werden eine Meldung aus irgendeinem Teil der Welt lesen: Ein Mensch ist eingekerkert, gefoltert, hingerichtet worden, weil seine Ansichten oder religiösen Überzeugungen nicht mit denen der Regierung übereinstimmen.« Benenson forderte die Leserinnen und Leser auf, mit Appellen Druck auf die Regierungen auszuüben und sich für die Freilassung politischer Gefangener einzusetzen. Dieser »Appeal for Amnesty« war der Beginn von Amnesty International. Doch schnell war klar, dass den Gefangenen nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihre Gesundheit und ihre Würde genommen wurden – durch Tritte und Schläge, durch Elektroschocks,

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Fotos: Amnesty

Weltweite Empörung. Amnesty-Plakate gegen Folter.

versammlung ein, die am 2. November 1973 einstimmig angenommen wurde. Entscheidend hierfür war nicht zuletzt der durch die Amnesty-Kampagne entstandene Druck. Außerdem standen die Delegierten unter dem Eindruck der Ereignisse in Chile, wo nach dem Pinochet-Putsch im September 1973 Tausende Menschen in Fußballstadien zusammengepfercht und gefoltert worden waren. Im Dezember 1973 veröffentlichte Amnesty zum ersten Mal eine Dokumentation über Folter und Misshandlungen weltweit. Der 260 Seiten starke »Bericht über die Folter« wurde in neun Sprachen übersetzt und später regelmäßig aktualisiert. Welche Brisanz das Thema hatte und auf welchen politischen Widerstand Amnesty damals stieß, wird deutlich an einem Streit mit der Unesco, zu dem es kurz nach der Veröffentlichung des Berichts kam. Amnesty hatte geplant, in den Räumen der UNOKulturorganisation in Paris eine Konferenz zur Abschaffung der Folter zu veranstalten. Entgegen der ursprünglichen Absprache verweigerte die Unesco jedoch die Nutzung der Räumlichkeiten. Amnesty hatte sich zuvor verpflichtet, Mitgliedsstaaten der Unesco in deren Räumlichkeiten weder mündlich noch in Konferenzdokumenten zu kritisieren. Die Unesco bewertete den eine Woche zuvor veröffentlichten »Bericht über die Folter« jedoch als Konferenzdokument und warf Amnesty Vertragsbruch vor. Nach Erkenntnissen von Amnesty wurde die Unesco von einigen Regierungen unter Druck gesetzt, deren Folterpraktiken in dem Bericht dokumentiert worden waren. Amnesty verlegte die Konferenz schließlich kurzerhand an einen anderen Ort in Paris. 250 Delegierte aus 40 Ländern beteiligten sich an dem Treffen am 10. und 11. Dezember 1973, darunter neben Vertretern von Regierungen und internationalen Organisationen auch Künstler und Intellektuelle. Der bekannte

Psychiater Erich Fromm sagte damals: »Folter ist eine Unsitte, die mit keiner anderen vergleichbar ist. Wenn man einen Menschen tötet, zerstört man seinen Körper. Wenn man ihn foltert, zerstört man seine Menschlichkeit. Es ist die absolute Entwürdigung des Menschen. Wenn sich die Welt nicht mehr über diese ultimative Schamlosigkeit empört, sind wir verloren.« Ebenfalls 1973 entwickelte Amnesty ein Instrument, das bis heute eingesetzt wird, um Menschen in Gefahr schnellstmöglich zu helfen: die sogenannte »Urgent Action«. Wenn Amnesty von willkürlichen Festnahmen, Folterungen oder bevorstehenden Hinrichtungen erfährt, startet die Organisation eine Eilaktion. Binnen weniger Stunden wird ein weltweites Netzwerk, dem Tausende Menschen angehören, aktiv und fordert die Einhaltung der Menschenrechte ein. Die zuständigen Behörden erhalten Tausende von Appellschreiben aus aller Welt. Es ist dieser rasche und massive Protest, der immer wieder Menschenleben rettet. So wie bei der ersten Urgent Action, die für den Brasilianer Luiz Rossi gestartet wurde. Der Universitätsprofessor war Mitglied der Kommunistischen Partei Brasiliens und wurde am 15. Februar 1973 von Handlangern der Militärdiktatur inhaftiert und mit Elektroschocks gefoltert (siehe Amnesty Journal 0405/2014). Nachdem Amnesty davon erfahren hatte, gingen Hunderte Appellschreiben bei der Geheimpolizei ein. Rossis Haftbedingungen verbesserten sich, im Oktober 1973 wurde er freigelassen. Auch im eingangs beschriebenen Fall des Sudanesen Bushra Hussein war das Urgent-Action-Netzwerk erfolgreich. Ziel der Arbeit von Amnesty ist es, Folter und Misshandlungen zu beenden und Zeichen zu setzen: Die Opfer sollen wissen, dass sie nicht allein und vergessen sind, und die Täter sollen wissen, dass sie beobachtet werden und für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.

chronIk – aMnesTys kaMPF GeGen FolTer 1960 1961 Amnesty beginnt mit dem Engagement für gewaltlose politische Gefangene. Schnell wird deutlich: Regierungen weltweit setzen auf Folter.

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1970 1973 Die UNO-Generalversammlung gibt dem öffentlichen Druck nach und stimmt der allerersten Resolution zur Verurteilung von Folter zu.

1980 1975 Am 9. Dezember übernimmt die UNO die Erklärung gegen Folter. Amnesty veröffentlicht den zweiten globalen Folterbericht.

1984 Nach jahrelanger Kampagnenarbeit von Amnesty: Die UNO-Generalversammlung verabschiedet die Konvention gegen Folter.

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Fotos: Amnesty

Verschleppte Gefangnene und geheime Lager. Amnesty-Aktion in Dänemark (oben) und in Großbritannien (links).

1984 startete Amnesty eine zweite weltweite Kampagne gegen Folter. Im Dezember desselben Jahres verabschiedete die Generalversammlung der UNO das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Darauf hatte Amnesty jahrelang hingearbeitet. Darin wurde verankert, welche Pflichten aus dem Folterverbot entstehen: Das absolute Verwertungsverbot für erfolterte Beweise vor Gericht, das Verbot der Abschiebung von Menschen, wenn ihnen im Zielland Folter droht und vieles mehr. Es war nicht abzusehen, dass es keine 20 Jahre später einen enormen Rückschlag geben würde. Auslöser dafür waren die islamistischen Terroranschläge auf das World-Trade-Center in New York und auf das Pentagon in Washington am 11. September 2001, bei denen mehr als 3.000 Menschen getötet wurden. Hatte man systematische Folter bis dahin vor allem mit Diktaturen und autoritären Regimen in Verbindung gebracht, so begannen im Zuge des von den USA ausgerufenen »Kriegs gegen den Terror« auch immer mehr Rechtsstaaten das absolute Folterverbot aufzuweichen. Das Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba wurde zum Symbol für die menschenrechtswidrige Terrorbekämpfung der USA und ihrer Verbündeten. Unbefristete und geheime Inhaftierungen, rechtswidrige Überstellungen von Ge-

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1987 Die UNOKonvention gegen Folter tritt am 26. Juni in Kraft.

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1998 Der chilenische Ex-Diktator Augusto Pinochet wird festgenommen, nachdem Amnesty alle europäischen Regierungen zur Einhaltung der UNO-Konvention gegen Folter aufgefordert hatte.

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fangenen, Folter und andere Formen grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe waren Bestandteil des »Kriegs gegen den Terror«. Weltweites Entsetzen riefen die Bilder aus dem Gefängnis von Abu Ghraib im Irak und Berichte über die CIA-Geheimlager in Ländern wie Polen oder Rumänien hervor, in die Terrorverdächtige zur Folter verschleppt wurden. Angesichts dieser Verbrechen klang es wie blanker Hohn, als US-Präsident George W. Bush im Juni 2003 verkündete: »Die Vereinigten Staaten sind der weltweiten Abschaffung der Folter verpflichtet, und wir gehen in diesem Kampf mit gutem Beispiel voran.« Dass Folter falsch ist, wissen selbst die Folterer. Denn sie würden sich niemals als solche bezeichnen. Stattdessen sprechen sie beschönigend von »verschärften Verhörmethoden« und meinen damit doch grausame Folter, wie etwa Unterkühlung, Schlafentzug, Isolationshaft und simuliertes Ertrinken (»Waterboarding«). Amnesty hat terroristische Anschläge, Entführungen und Geiselnahmen stets scharf verurteilt, aber auch immer dagegen protestiert, im Namen der Terrorismusbekämpfung den Schutz der Menschenrechte auszuhöhlen. Eine Haltung, die nicht überall Unterstützer fand, wie die Äußerung eines ranghohen US-Regierungsbeamten gegenüber einer Amnesty-Delegation wenige Monate nach den Anschlägen 2001 verdeutlichte: »Mit dem Einsturz der Zwillingstürme in New York hat sich Ihre Rolle erledigt.« Angesichts der Rückschritte ist der Einsatz für die Menschenrechte und gegen Folter heute wichtiger denn je. Amnesty wird sich daher auch in Zukunft für Folteropfer und für ein Verbot von Folter engagieren, egal, in welchem Land sie stattfindet, wer sie anordnet und wer sie ausführt. Die aktuelle Kampagne unterscheidet sich damit nicht von der ersten im Jahr 1972, die sich zum Ziel gesetzt hatte, »dass die Existenz von Folter irgendwann genauso undenkbar ist wie die Existenz von Sklaverei«. Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

2010 2008 Der UNO-Ausschuss gegen Folter übernimmt, in Anlehnung an Amnesty, eine erweiterte Begriffsdefinition von Folter. Demnach können auch Straftaten wie Vergewaltigung und Frauenhandel als Formen von Folter gelten.

2014 Bis heute haben bereits 155 Staaten die UNO-Konvention gegen Folter ratifiziert. Dennoch wird weiterhin weltweit gefoltert. Für Amnesty bedeutet dies: Unser Kampf ist noch lange nicht vorbei.

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Mit allen Mitteln In Mexiko hat die systematische Folter durch Polizei und Armee drastisch zugenommen. Im Krieg gegen die Mafia k체mmern sich die staatlichen Sicherheitskr채fte wenig um Gesetze. Die Verantwortlichen kommen zumeist straflos davon. Von Wolf-Dieter Vogel

Alles andere als ein Einzelfall. Silhouette von Miriam L처pez.

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Foto: Agencia Reforma

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r will atmen, doch das Plastik vor seinem Mund schneidet ihm die Luft ab. Verzweifelt beißt Germán Heredia Rebollar in die Plastiktüte, die ihm über den Kopf gestülpt wurde. Dann hört er die Beamten sagen: »Vergiss es, wir haben noch genug Tüten.« Auch Miriam López Vargas droht zu ersticken, als ihre Peiniger sie verhören. Eine Woche lang wird die 27-Jährige auf einer Militärbasis festgehalten – eine Woche, in der Soldaten sie mit Elektroschocks foltern und drei Mal vergewaltigen. Heredia Rebollar soll an einer Entführung beteiligt gewesen sein, López Vargas hat angeblich mit Drogen gehandelt. Das werfen zumindest Mexikos Strafverfolger den beiden vor. Als Beweise dienen vor allem »Geständnisse«, die unter Anwendung brutaler Gewalt erpresst werden. Beide Beschuldigte leiden bis heute an den Folgen der Folter. Handelt es sich um Einzelfälle? Die mexikanische Regierung widerspricht Berichten, wonach solche Verhörmethoden weit verbreitet sind. Sie verweist darauf, dass das Land zahlreiche internationale Abkommen unterzeichnet hat, die solche Menschenrechtsverletzungen bekämpfen sollen: die Antifolterkonvention der UNO, das ergänzende Fakultativprotokoll sowie die Interamerikanische Konvention zur Verhinderung und Bestrafung von Folter. Seit 1991 wird Folter in Mexiko strafrechtlich verfolgt, seit 2003 hat die Generalstaatsanwaltschaft medizinische Verfahren zur Feststellung solcher Gewalttaten übernommen, wie sie im Istanbul-Protokoll festgeschrieben sind. Dennoch bestätigen aktuelle Untersuchungen, dass die Angriffe gegen Heredía Rebollar und López Vargas keine Ausnahmen sind. Anfang Mai sprach der UNO-Sonderberichterstatter über Folter, Juan Méndez, von systematischen Folterungen in Mexiko. Bereits 2012 hatte der UNO-Ausschuss gegen Folter festgestellt, es gebe »eine alarmierende Zunahme von Berichten über Folter während der Vernehmung von Personen, die willkürlich von Angehörigen der Armee oder staatlichen Sicherheitskräften festgenommen wurden«. Bei der Nationalen Menschenrechtskommission Mexikos gingen von 2000 bis 2013 mehr als 7.000 Anzeigen diesbezüglich ein. Im Zeitraum zwischen 2005 bis 2012 stieg die Zahl der Fälle um 500 Prozent – also in den Jahren, in denen Präsident Felipe Calderón der Mafia den Krieg erklärte und Tausende Soldaten gegen die Kriminellen mobilisierte. Auch der UNO-Menschenrechtsrat übte 2013 im Zuge der Universellen Allgemeinen Überprüfung des Landes Kritik. Im Kampf gegen die Folter müsse die Umsetzung des Rechts »absolute Priorität« haben, empfahl etwa die portugiesische Delegation. Mexikanische Soldaten, Polizisten und Staatsanwälte kümmern sich wenig um das Folterverbot, wenn es gilt, Erfolge vorzuweisen. Oft können Festgenommene bei Vernehmungen keine unabhängigen Anwälte hinzuziehen und vom Staat gestellte Verteidiger handeln häufig nicht im Interesse der Beschuldigten. Zahlreiche Verhaftungen finden ohne Haftbefehl statt, oft aufgrund von anonymen Hinweisen oder Aussagen anderer gefolterter Personen. Auf diese Weise entsteht ein Freiraum für

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Schläge, Vergewaltigungen oder Elektroschocks. Vermeintliche Beweise, erzwungene Aussagen und fragwürdige Zeugen sind die Folgen. Miriam López berichtet, Soldaten hätten ihr bei den Vernehmungen Fotos ihres Partners und ihrer Kinder gezeigt. Wenn sie nicht kooperiere, so drohten sie, werde man ihrer Familie etwas antun. Im Fall von Germán Heredía Rebollar nahmen die Strafverfolger auch dessen Mutter fest und erzählten ihm, sie werde so behandelt wie er. »Ich denke nicht, dass ihre Mutter das überlebt«, habe einer seiner Peiniger gesagt, erinnert sich Heredia Rebollar. Erst nach sechs Tagen wurde seine Mutter wieder freigelassen, obwohl nie ein Haftbefehl gegen sie vorlag. Zuvor hatten die Beamten sie gezwungen, falsche Aussagen zu machen, die später wiederum als Beweise gegen ihren Sohn dienten. Zwar gibt es mittlerweile Gesetze, die eine Nutzung solcher Aussagen verhindern sollen, erklärt Stephanie Erin Brewer von der mexikanischen Menschenrechtsorganisation »Centro Prodh«. »Es fehlen jedoch strafrechtliche Vorgaben für ein Prozedere, das tatsächlich garantiert, dass erzwungene oder durch Menschenrechtsverletzung erhaltene Beweise nicht hingenommen werden«, kritisiert die Aktivistin. Die geltende Rechtslage begünstigt Folter. Aufgrund spezieller Haftanordnungen, sogenannter »Arraigos«, war es bislang möglich, Personen ohne Anklageerhebung bis zu 80 Tage festzuhalten. In den Jahren 2008 bis 2013 wurden 8.595 Personen auf dieser Grundlage inhaftiert, nur 3,2 Prozent der Betroffenen wurden später verurteilt. Nun hat das Parlament die Frist auf 35 Tage begrenzt. Allerdings sollen Verdächtige dafür künftig länger verhört werden können, bevor man sie einem Richter vorführt. Das steigert die Gefahr, dass sie Opfer von Folter und Misshandlungen werden. Amnesty fordert deshalb, die »Arraigos« abzuschaffen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren zudem das mangelnde Interesse der Behörden, Folter und andere Misshandlungen strafrechtlich zu verfolgen. Die Straflosigkeit beginnt oft bereits mit der Weigerung, die Opfer adäquat zu untersuchen. Manchmal finden Arztbesuche unter fragwürdigen Bedingungen statt. So wurde Germán Heredia Rebollar bei der medizinischen Untersuchung von einem Polizisten begleitet, der ihn gefoltert

Als Beweise dienen Geständnisse, die unter Anwendung brutaler Gewalt erpresst werden. 31


Foto: Liliana Zaragoza Cano / Imagen Centro Prodh

»Folter bleibt komplett straflos.« Solidaritätsaktion für Folteropfer. Mexiko, 2011.

hatte. Der Beamte habe gesagt, er solle angeben, gefallen zu sein, berichtet der 27-Jährige. Der Arzt stellte zwar Verletzungen fest, hielt diese aber für unwesentlich. Heredia Rebollars Schwester, die ihren Bruder kurz besuchen konnte, sah hingegen Schwellungen in seinem Gesicht, einen Bluterguss am Auge und Blut an seinem Arm und erstattete Anzeige bei der Menschenrechtskommission von Mexiko-Stadt. Mediziner der Kommission stellten daraufhin 29 Blutergüsse und Schürfwunden fest – allerdings ohne Konsequenzen. Noch immer kümmern sich die Strafverfolger wenig um die Opfer dieser Gewalttaten. Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln. Brewer erläutert, die Generalstaatsanwaltschaft habe auf Anfrage ihrer Organisation von zwei Verurteilungen auf gesamtstaatlicher Ebene zwischen 1994 und 2012 gesprochen. Auf der Ebene der mexikanischen Bundesstaaten ermittelte der UNO-Ausschuss gegen Folter vier Urteile zwischen 2005 und 2008. »Das heißt, Folter bleibt praktisch komplett straflos«, resümiert die Mitarbeiterin von »Centro Prodh«. Ähnlich lautet die Einschätzung des Menschenrechtszentrums »Tlachinollan« im Bundesstaat Guerrero, das 2011 den Menschenrechtspreis der deutschen Amnesty-Sektion erhalten hatte. Obwohl sich Mexiko mit dem Istanbul-Protokoll dazu verpflichtet habe, eine medizinische und psychologische Untersuchung zu garantieren, würden viele Folteropfer nicht zum Arzt gebracht, heißt es dort. Seit 2003 habe die Generalstaatsanwaltschaft nur in 302 Fällen ermittelt, in 128 Fällen seien entsprechende Verletzungen festgestellt worden. Doch die Aktivisten von »Tlachinollan« bezweifeln, dass die Betroffenen vernünftig untersucht wurden. Zugleich verweisen sie auf fehlende Konse-

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quenzen: »Obwohl man feststellte, dass in 128 Fällen gefoltert wurde, gab es keine einzige Verurteilung.« Die Institutionen, die ab 2003 im Zuge der Vereinbarungen zum Istanbul-Protokoll geschaffen wurden, seien de facto nicht existent. Zudem erinnert »Tlachinollan« daran, dass auch die Militärgerichtsbarkeit eine strafrechtliche Verfolgung von Folter verhindere. Seit zwölf Jahren kämpfen die Aktivisten dafür, dass Soldaten zur Verantwortung gezogen werden, die zwei indigene Frauen vergewaltigt haben. Bis vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof sind sie gezogen. Die Richter gaben ihnen 2010 Recht und forderten den mexikanischen Staat auf, alle von Militärs begangenen Menschenrechtsverletzungen vor Zivilgerichten zu verhandeln. Damit sollte gewährleistet werden, dass Soldaten, die gefoltert haben, strafrechtlich verfolgt werden. Doch ist bislang kein einziger Soldat verurteilt worden – weder vor militärischen noch vor zivilen Gerichten. Auch die Folterer von Germán Heredia Rebollar und Miriam López Vargas werden wohl nicht zur Rechenschaft gezogen. López Vargas kam ein halbes Jahr nach ihrer Festnahme frei, weil keine Beweise gegen sie vorlagen. 13 Monate später wurde sie ärztlich untersucht und erfuhr ein halbes Jahr später, dass nach Ansicht der Mediziner keine Hinweise auf Folter vorlägen. Heredia Rebollar wurde wegen Beteiligung an einer Entführung zu 80 Jahren Gefängnishaft verurteilt – dabei berücksichtigten die Richter weder die von der Menschenrechtskommission von Mexiko-Stadt festgestellten Folterspuren noch die erpressten Aussagen seiner Mutter. Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

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Prügel und Elektroschocks Claudia Medina Tamariz wurde gefoltert, um ein Geständnis zu erzwingen. Nun kämpft sie darum, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Von Wolf-Dieter Vogel

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Foto: Amnesty

m 7. August 2012 dringen Soldaten mitten in der Nacht in das Haus von Claudia Medina Tamariz in der mexikanischen Hafenstadt Veracruz ein. Sie fesseln die Frau und verbinden ihr die Augen. Noch bevor die Mutter dreier Kinder versteht, was passiert, wird sie zur Vernehmung auf einen nahe gelegenen Marinestützpunkt gebracht. Man wirft ihr vor, einer Bande anzugehören, die fünf Journalisten getötet hat, mit Drogen handelt und für weitere kriminelle Delikte verantwortlich ist. Die Strafverfolger stehen unter Druck, denn die Ermordung der Journalisten hatte international für Schlagzeilen gesorgt. Weitere Verdächtige werden festgenommen und am nächsten Tag den Medien zur Schau gestellt. Zeitungen und Fernsehsender zeigen daraufhin Bilder von Claudia Medina Tamariz und sechs Männern. Vor ihnen liegen Gewehre, Granaten sowie eini-

Suche nach den Tätern. Claudia Medina Tamariz.

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ge Kilogramm Marihuana und Kokain – Material, das angeblich bei der Festnahme der Verdächtigen beschlagnahmt wurde. Staatsanwalt Amadeo Flores Espinoza erklärt, die Beschuldigten hätten zugegeben, dem Kartell »Jalisco Nueva Generación« anzugehören und die Morde verübt zu haben. Wie aber kamen die Geständnisse zustande? Auf dem Marinestützpunkt angelangt, sei sie getreten, verprügelt und mit Elektroschocks gefoltert worden, berichtet Medina Tamariz. Ihre Peiniger hätten ihr gedroht, sie mit einer Eisenstange zu vergewaltigen, und ihr mit einer Spritze Chilisoße in die Nase gedrückt. Anschließend habe man sie auf einen Stuhl gefesselt und in die sengende Sonne gesetzt. Einer der Soldaten habe ihr Fotos von Personen gezeigt, die sie nie gesehen habe, und gedroht: »Wenn du dort ankommst, wo wir dich hinbringen, wirst du sagen, dass du diese Leute kennst.« Sollte sie etwas anderes behaupten, »werden wir dir noch einmal dasselbe antun«. Mit verbundenen Augen wurde Claudia Medina dann zur Generalstaatsanwaltschaft gebracht. Als man ihr die Augenbinde abnahm, stellte sie fest, dass auch ihr Schwager und ihr Mann festgenommen worden waren. Alle drei wurden in der Behörde verhört. Dann zwangen Marinesoldaten Medina, eine Erklärung zu unterschreiben, die sie nicht durchlesen durfte. »Wenn sie mich nicht gefoltert hätten, hätte ich das Geständnis nie unterschrieben«, sagte sie später Amnesty. Bei einem Gerichtstermin in der folgenden Woche zog sie ihr vermeintliches Geständnis zurück und berichtete von den Folterungen. Der Richter ließ daraufhin bis auf illegalen Waffenbesitz alle Vorwürfe fallen. Claudia Medina kam gegen Zahlung einer Kaution frei, ihre Angehörigen blieben jedoch im Gefängnis, obwohl auch sie erklärten, gefoltert worden zu sein. Als Medina im September 2012 wegen illegalen Waffenbesitzes vor Gericht stand, schilderte sie erneut die Misshandlungen. Daraufhin ordnete der Richter eine Untersuchung der Vorwürfe durch die Generalstaatsanwaltschaft an. Doch bis heute hat die Behörde nicht einmal veranlasst, dass das Opfer medizinisch und psychologisch untersucht wird. Auch die Nationale Menschenrechtskommission hat keine Empfehlung abgegeben, obwohl Claudia Medina dort Beschwerde eingereicht hat. Dennoch kämpft sie weiter: Die Behörden müssen die Täter finden und sie zur Verantwortung ziehen, fordert Medina.

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Berichte

40 Türkei: Tod eines Demonstranten 46 Türkei: Prozesse wegen Gezi-Park-Protesten 48 Ägypten: Der dritte Weg 52 Italien: Die Fischer von Lampedusa 56 Interview: Abel Barrera 58 Kolumbien: Friedensgespräche 60 El Salvador: Anschlag auf die Erinnerung

Niemand hat hier eine Eskalation erwartet. Gedenkveranstaltung in Eskişehir. Foto: Niklas Grapatin

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»Ali Ismail Straße.« Graffito in Antakya.

»Wir alle sind Ali« Mehrere Demonstranten sind bei den Gezi-Protesten gegen die türkische Regierung im vergangenen Sommer getötet worden. Einer von ihnen war der Student Ali Ismail Korkmaz. Der Druck der Öffentlichkeit hat die Täter vor Gericht gebracht. Von Nicole Graaf (Text) und Niklas Grapatin (Fotos) Sie traten auf ihn ein, nochmal und nochmal, gegen die Rippen, in den Bauch, gegen den Kopf. Als er sich aufrappelte, um zu fliehen, schlugen sie ihn erneut nieder. Vor dem 2. Juni 2013 war Ali Ismail Korkmaz nur ein 19-jähriger Lehramtsstudent. Einen Monat später ist sein Bild auf Plakaten zu sehen und im Frühjahr 2014 stehen acht Männer wegen seines Todes vor Gericht, drei von ihnen Polizisten. Es begann mit den Protesten am Istanbuler Taksim-Platz, wo sich Regierungsgegner gegen die Zerstörung des Gezi-Parks und

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den autoritären Führungsstil von Premierminister Erdoğan auflehnten. Als die Proteste im Sommer 2013 auch die Universitätsstadt Eskişehir erfassen, wo Ali studiert, schließt er sich an. Er ist einer wie die anderen jungen Menschen, die neben ihm durch die Straßen ziehen, ein schmächtiger Teenager mit viel Idealismus im Kopf, kein Randalierer, wie der türkische Ministerpräsident die Protestler bezeichnet. Die Demonstranten klatschen in die Hände, Ali stimmt in ihre Rufe ein: »Überall ist Taksim, überall ist Widerstand.« Anwohner hämmern von Fenstern und Balkonen auf Töpfe und feuern sie an. Zwei Millionen Menschen im ganzen Land demonstrieren, bunt und überwiegend friedlich. In Eskişehir erwartet niemand, dass die Situation eskalieren könnte. Unzählige kleine Parks und eine Flusspromenade voller Cafés prägen das idyllische Stadtbild. Mehr als zehn Prozent der rund 600.000 Einwohner sind Studenten. Die Demonstranten

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Öffentliche Person. Alis Bruder Gürkan.

ziehen zur Zentrale der Regierungspartei AKP, die in einer Geschäftsstraße in einem konservativ geprägten Stadtteil liegt. Vor dem Gebäude haben sich Polizisten postiert. Ob sie zuerst angegriffen haben oder ob Demonstranten mit Steinen warfen, kann später niemand mehr genau sagen. Die Polizisten treiben die Menge mit Wasserwerfern auseinander und jagen Flüchtenden hinterher. Selbst drei Blocks entfernt müssen Anwohner ihre Fenster schließen, so viel Tränengas liegt in der Luft. Ali wird verfolgt. Er rennt in eine Seitengasse, links ein Hotel, rechts ein paar Läden, am Kopfende eine Bäckerei. Dort stellen sich ihm sechs Männer in den Weg. Sie reißen ihn zu Boden und prügeln mit Stöcken auf ihn ein. Er krümmt sich schon auf dem Gehsteig, da tritt einer noch einmal zu. Als er sich aufrappelt, schlagen sie ihn erneut. Er versucht zu fliehen, wird aber sogleich von weiteren Schlägern attackiert. Überwachungskameras an den umliegenden Geschäften filmen das Geschehen. Als Ali wieder zu sich kommt, dröhnt sein Kopf, er kann seinen rechten Arm nicht bewegen. Er ist kaum bei Sinnen, als seine Freunde ihn wiederfinden und in ein Krankenhaus schaffen. Der behandelnde Arzt erkennt jedoch nicht, dass Ali ein Schädeltrauma erlitten hat. Er schickt ihn zur Polizei, damit er dort eine Aussage macht. 24 Stunden später wird er mit einer Gehirnblutung ins Krankenhaus eingeliefert und fällt ins Koma. Als er einen Monat später stirbt, verbreitet sich die Nachricht blitzschnell über die sozialen Netzwerke der Protestbewegung. Rund 3.000 Menschen versammeln sich vor dem Krankenhaus. Den Trauerzug in seiner Heimatstadt Antakya begleiten fast doppelt so viele. Trotz der langen Fahrt sind zahlreiche Studenten aus Eskişehir mitgereist. Die meisten haben ihn nicht gekannt. »Weine nicht, Mama, deine Kinder sind hier«, rufen sie Alis Mutter zu. Seit Alis Tod wechselt ihre Stimmung zwischen Apathie, Verzweiflung und Wut. Sie sitzt auf der großen Terrasse ihres Hauses auf Alis Lieblingssofa, hat die Hände in den Schoß gelegt

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und starrt vor sich hin. Er war das jüngste ihrer vier Kinder, ein Nachzügler. Fünf Jahre zuvor wurde Ali am Herzen operiert. Seitdem hatte sie sich stets besonders um ihn gesorgt. »Gott hat ihn leben lassen«, sagt sie. »Aber dem Hass dieser Menschen hatte er nichts entgegenzusetzen.« Alis älterer Bruder Gürkan kämpft nun dafür, die Täter zu finden. Ein Überwachungsvideo vom Tatort blieb zunächst verschwunden, bei einem anderen wurden Szenen gelöscht. Gürkan ist Anwalt und bisher der einzige in der Familie, der ein Studium abgeschlossen hat. Für Ali war er Vaterersatz und Vorbild, denn sein leiblicher Vater war früher fast nie zu Hause. Bis zu

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Wut und Verzweiflung. Alis Mutter.

seiner Rente vor zwei Jahren arbeitete er in Saudi-Arabien auf dem Bau.

»Ali war anders« Gürkan hat sich das Porträt seines Bruders auf den Oberarm stechen lassen. Eigentlich ist er nicht der Typ für ein Tattoo. Mit seiner schmal umrandeten Brille, dem schwarz-weiß karierten Hemd und der leicht untersetzten Statur wirkt er ein wenig bieder und viel älter als 26 Jahre. Ali fragte stets ihn um Rat, doch als Brüder standen sie sich kaum nah: »Was soll ein junger Mann mit einem Kind anfangen«, sagt Gürkan. Erst kurz bevor

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Ali zum Studieren fortzog, entdeckten sie gemeinsame Interessen: Fotografie und Sprachen, die gleichen Filme und Musikbands. Gürkan riet Ali nach Eskişehir zu gehen, wo auch er studiert hatte. Er geht Briefe durch, die auf dem Küchentisch liegen: aus Istanbul, Ankara, Eskişehir, Izmir, Antalya, sogar einer aus New York – alles Kondolenzschreiben. Täglich kommen fünf bis sechs neue hinzu. Dann sitzt die Familie auf der Terrasse zusammen und die Briefe wandern durch die Hände. Im Hof unter einem Dach aus Weinreben sitzen den ganzen Tag über Tanten, Onkel, Cousins, Nachbarn – und auch Fremde, die kommen, um ihr Beileid zu bekunden. Seit Alis Tod ist das Haus ständig voller Gäste. Die Familie wohnt in einem Vorort von Antakya, einer der ältesten Städte der Welt nahe der Grenze zu Syrien. Menschen mit unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Religionszugehörigkeit leben dort zusammen. Antakya hat zwar nur rund 200.000 Einwohner, zählt jedoch zu den Hochburgen der Proteste. Nachdem im vergangenen Sommer auch dort ein Demonstrant getötet wurde, kam es fast jeden Abend zu Zusammenstößen mit der Polizei. In Antakya protestieren die Menschen noch aus anderen Gründen als in Istanbul. In der Region leben viele Aleviten. Auch Alis Familie bekennt sich zu dieser mystischen Strömung des Islam. Im osmanischen Reich wurden die Aleviten lange unterdrückt; und noch heute werden sie von konservativen Sunniten angefeindet, die sie als Häretiker bezeichnen. Viele hier missbilligen die Haltung der türkischen Regierung zum Krieg im benachbarten Syrien: Sie werfen ihr vor, zu dulden, dass Al Qaida-Kämpfer die Flüchtlingslager auf türkischer Seite als Rückzugsraum nutzen. Ali meinte, die Menschen missbrauchen Religion nur für politische Zwecke. Er wandte sich sogar gegen das Kopftuchverbot, das bis vor kurzem an den Universitäten galt, obwohl es ein Erbe seines Idols, des Staatsgründers Atatürk war; und obwohl Ali sich selbst als Atheisten bezeichnete. Doch er fand, jeder solle so leben, wie er will. »Ali war anders«, sagt Gürkan. Jeder, der von

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Ali erzählt, erwähnt das als erstes. Auf Facebook schrieb er: »Mein Land ist die Welt. Alle Menschen sind meine Brüder. Meine Religion ist Gutes tun.« Er engagierte sich für soziale Dinge, sammelte Bücher für arme Dorfschulen, setzte sich zu Alten in Seniorenheime, um ihnen vorzulesen. Ständig kam er mit neuen Ideen nach Hause. Manchmal nervte er mit seinem überbordenden Idealismus: Wenn er seine Eltern kritisierte, sobald sie etwas kauften, das ihm unnütz erschien; wenn er sich zum Opferfest weigerte, sich an der rituellen Schlachtung eines Schafs zu beteiligen, so wie es die Söhne tun sollten: »Ich kann kein Tier töten«, sagte er dann. Wenn sein Vater sich ein Bier öffnete, aber ihm keines anbot, war er beleidigt. Er mochte nicht wie ein Kind behandelt werden und auch nicht wie ein rohes Ei. Seit der Herzoperation mahnte seine Mutter ihn ständig zur Vorsicht, verbot ihm Schwimmen zu gehen oder Fußball zu spielen. Er tat es trotzdem. Ali wollte ernst genommen werden, vielleicht war es ihm deshalb so wichtig, sich bei den Protesten zu engagieren. Nach seinem Tod rufen die Menschen in Eskişehir und Antakya nicht mehr »Widerstand für den Gezi-Park«, sondern »Widerstand für Ali«. Insgesamt 15 Menschen starben infolge von Protesten, die mit der Gezi-Bewegung in Zusammenhang stehen, etwa die Hälfte direkt durch Polizeigewalt. Drei wurden von Tränengaskartuschen getroffen und starben an schweren Kopfverletzungen. Zwei wurden gar von Ordnungshütern erschossen. Ihr Tod hat etwas verändert im Land. Er hat die Menschen tief getroffen. Es scheint für einen Moment, als könnten sich die alten Gräben schließen, welche die Türkei seit Republikgründung durchziehen. Plötzlich solidarisieren sich Kemalisten, die stets die Einheit der Nation hochhalten, mit Kurden, denen sie vormals Separatismus vorgeworfen hätten. Alte gewähren Jugendlichen, die vor dem Tränengas der Polizei fliehen, Unterschlupf in ihren Häusern. Gläubige feiern auf der Konsum-

»Mein Land ist die Welt. Alle Menschen sind meine Brüder. Meine Religion ist Gutes tun.«

Haus voller Gäste. Alis Zimmer (unten), Terrasse in Antakya. Hier hat Ali gerne Zeit mit seinen Freunden verbracht.

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»Taksim ist überall.« Solidaritätsdemonstration vor dem Haus der Familie Korkmaz.

meile beim Istanbuler Taksim-Platz gemeinsam mit Säkularen das Fastenbrechen im Ramadan. Und Wildfremde besuchen Alis Familie, um ihre Solidarität zu zeigen.

Druck der Straße Drei Studenten sind aus Istanbul gekommen, um ein Video über Ali zu drehen. Unzählige kursieren bereits im Internet. Sie sollen über die Hintergründe der Todesfälle aufklären, und Zeugen dazu bewegen, sich zu melden. Die Studenten stellen ein Stativ mit einer Handkamera in Alis Zimmer auf. Es sieht aus wie ein Museum. An einem Kleiderständer hängt sein marineblauer Bademantel mit dem Emblem von Fenerbahçe Istanbul – so als hätte er ihn am Morgen erst dort aufgehängt. Unzählige Fotos auf der Kommode zeigen Aufnahmen aus Alis Kindheit. Gürkan sitzt auf dem Bett seines Bruders und spricht in die Kamera: davon wie gern Ali anderen half, wie sehr er Gewalt verabscheute und wie er starb. Er wirkt routiniert, denn er hat die Geschichte schon oft erzählt. Als er zwei Stunden später im Auto nach Eskişehir sitzt, um sich dort mit Anwaltskollegen zu beraten, wirkt er müde und fahrig: »Es macht mich fertig, nochmal und nochmal zu erzählen, was passiert ist«, sagt er. Doch alles dreht sich für Gürkan nur noch um Ali, als habe er das Gefühl, seinen Bruder zu verraten, sobald er innehält. Gürkan ist längst ebenfalls zur öffentlichen Person geworden. Über 70.000 Menschen folgen ihm auf Twitter. Ständig klingelt sein Handy, er fährt nach Eskişehir, Ankara oder Istanbul, um bei Solidaritätsaktionen zu sprechen; hier wird ein Baum gepflanzt, dort eine Gedenktafel aufgestellt. Plakate zeigen die Porträts der Getöteten als Scherenschnitt, wie man es von Che Guevara kennt. Mit jedem neuen Opfer kommt ein Bild hinzu. Gürkan spult immer und immer wieder die gleichen Sätze ab, tröstet sogar die, die eigentlich gekommen sind, um ihm ihr Beileid zu bekunden. An der Macht der Regierung hat die Gezi-Bewegung kaum gekratzt. Das haben die Kommunalwahlen im März gezeigt; trotz der Proteste und massiver Korruptionsvorwürfe gegen die AKP wählten 45 Prozent der Türken deren Kandidaten. Nach dem politischen Chaos der sechziger und siebziger Jahre und

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mehreren Militärputschen halten sich viele von Politik fern. Andere befürworten einen starken Mann, der für Ordnung sorgt und das Land wirtschaftlich stärkt. Aber eines haben die Ereignisse des vergangenen Sommers dennoch bewirkt: Jene, die nicht mit der Regierung übereinstimmen, haben keine Angst mehr, offen ihre Meinung zu vertreten. In Alis Fall hat der Druck der Straße zu Ergebnissen geführt. Mehrere Augenzeugen haben sich gemeldet und auch das verschwundene Überwachungsvideo ist wieder aufgetaucht: Es zeigt, wie mehrere Männer auf Ali einprügeln. Einer von ihnen wurde als Polizist in Zivil, drei weitere als Angestellte der Bäckerei am Tatort identifiziert und festgenommen. Gegen drei weitere Polizisten ermittelt ebenfalls der Generalstaatsanwalt. Noch Monate nach Alis Tod finden in Eskişehir und andernorts immer wieder Solidaritätsaktionen statt. Die Demonstranten wollen den Druck aufrechterhalten, damit die Tatverdächtigen auch tatsächlich vor Gericht gestellt werden. Es passiert in der Türkei nicht selten, dass Verfahren gegen Ordnungshüter verschleppt werden. Doch der Fall »Ali Ismail Korkmaz« ist anders – weil Ali keiner politischen Gruppe angehörte und weil

»Weine nicht, deine Kinder sind hier.« Gürkan Korkmaz und Freunde am Grab von Ali (links). Hinterhof, in dem Ali geschlagen wurde.

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jeder im Internet auf den Überwachungsvideos sehen konnte, mit welcher Brutalität die Täter auf ihn eintraten. Selbst Konservative, welche die Gezi-Bewegung kritisieren, bekunden ihr Mitleid und fordern, dass die Täter bestraft werden.

Prominenter Fall Am 4. Februar beginnt schließlich der Prozess in der zentralanatolischen Stadt Kayseri. Der Gouverneur von Eskişehir hat diese Verlegung »aus Sicherheitsgründen« erreicht. Kayseri gilt als Hochburg der Konservativen. Dennoch sind Dutzende Busse mit Unterstützern angereist. Bereits an der Stadtgrenze werden sie angehalten und durchsucht. Zwar verfolgt das ganze Land den Prozess über die Medien, die inzwischen intensiv über den prominenten Fall berichten. Aber vielen, die noch im Sommer mitdemonstrierten, ist der Glaube an Veränderung abhanden gekommen. So sieht man unter den Unterstützern in Kayseri hauptsächlich die Fahnen linker Gruppen, die schon immer gegen den Staat protestiert haben. Der Geist des vergangenen Sommers, als bei Bürgerforen Menschen mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen miteinander diskutierten, ist verpufft. Die alten Risse zwischen Kemalisten, radikalen Linken, Kurden und anderen Gruppen sind wieder aufgebrochen. Die Atmosphäre in Kayseri ist angespannt. 2.000 Polizisten sind im Einsatz; sie haben das Gerichtsgebäude mit Absperrgittern und Schleusen gesichert. Drei Wasserwerfer stehen bereit, ein Hubschrauber kreist über der Stadt. Der Gerichtssaal ist viel zu klein für all die Verwandten, Unterstützer und Journalisten. 300 Anwälte begleiten Ali Ismails Familie, um Eindruck auf die Richter zu machen. Beim Prozess um einen erschossenen Demonstranten in Ankara sollen Richter und Staatsanwalt eingeschlafen sein. Beobachter attestieren in Alis Fall zumindest, dass man sich um ein korrektes Verfahren bemüht. Andere kritisieren jedoch, dass jene, die für den harten Polizeieinsatz verantwortlich waren, nicht vor Gericht stehen.

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»Das ist mein Sohn, wie konnten Sie ihn einfach töten ohne Mitgefühl.« Die Nerven der Angehörigen liegen blank. Auf dem Weg zum Gerichtssaal brüllt Alis älteste Schwester mit sich überschlagender Stimme in die Fernsehkameras. Neben ihr die Mutter, ihr Haaransatz ist weiß geworden, ihre Gesichtszüge hart und fahl. Sie hält ein gerahmtes Bild ihres Sohnes fest umklammert. In dem kleinen Gerichtssaal muss die Familie nur wenige Meter entfernt von den Angeklagten Platz nehmen. Als Haupttäter wird der Polizist Mevlüt Saldoğan beschuldigt. Auf dem Überwachungsvideo ist zu sehen, wie er Ali mit Fußtritten traktiert. Als er seine Aussage macht, streckt Alis Mutter ihm das Bild entgegen. »Das ist mein Sohn, wie konnten Sie ihn einfach töten ohne Mitgefühl«, ruft sie dazwischen. Der Angeklagte streitet alle Vorwürfe ab: »Ich kann ihn gar nicht so fest getreten haben, denn ich hatte mich an dem Tag am Fuß verletzt«, sagt er. Doch er wagt es nicht, Alis Familie anzusehen. Stattdessen setzt er auf Mitleid. Weil er im Gefängnis sitze, könne er sich nicht um seinen kranken Sohn kümmern. »Ich habe zwei Kinder«, gibt er zu Protokoll. »Gott möge ihre Kinder segnen«, sagt Alis Mutter leise. Die Autorin ist Auslandskorrespondentin. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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Für Hippokrates Weil sie sich um Oppositionelle kümmern, müssen Ärzte, Anwälte und Journalisten in der Türkei mit Haftstrafen rechnen. Von Sabine Küper-Büsch

Foto: Daniel Etter / Redux / laif

Es war ein ungewohntes Bild: Vor der Bezm-i Alem Valide Sultan-Moschee am Bosporus demonstrierten im April Menschen in weißen Kitteln. »Für Hippokrates widersetzen wir uns«, stand auf ihren Transparenten. Anlass des Protests war ein Gerichtsverfahren gegen zwei Ärzte, denen vorgeworfen wird, ein Gotteshaus entwürdigt, religiöse Mitbürger provoziert und Ruhestörung verursacht zu haben. Dr. Sercan Yüksel und Dr. Erenç Yasemin Dokudan drohen bis zu sechs Jahre Haft, weil sie zu Beginn der Gezi-Proteste Anfang Juni 2013 zwei Nächte lang Verletzte in der kleinen Moschee in der Nähe des DolmabahçePalasts behandelt haben. Der Imam der Moschee hatte Demonstrierenden, die vor Übergriffen der Polizei geflüchtet waren, ausdrücklich den Zutritt zur Moschee erlaubt. Viele litten unter den Folgen des exzessiven Tränengaseinsatzes oder wiesen schwere Kopfverletzungen durch Gaskartuschen auf. Der türkische Gesundheitsminister hatte Ärzten ausdrücklich untersagt, Demonstranten außerhalb der staatlichen Krankenhäuser zu behandeln – dort wurden sie jedoch zumeist direkt von der Polizei registriert. »Ein solches Verbot bedeutet, in Notfällen den hippokratischen Eid zu brechen«, sagte der Generalsekretär der Istanbuler Ärztekammer, Ali Çerkezoğlu, bei der Ärzte-Demonstration vor der Moschee. »Daran darf sich kein Mediziner gebunden fühlen.« Die türkische Justiz sieht das ganz anders. 86 Mediziner und Sanitäter müssen sich derzeit vor Gericht verantworten, weil sie ihren Beruf ausgeübt haben. Den Rekord hält der Präsident der Ärztekammer von Kırklareli, Dr. Halil Muhacir: Gegen ihn wur-

den 15 Verfahren eingeleitet. Auch die internationale Ärztevereinigung »Physicians for Human Rights« hat die juristische Einschüchterung ihrer türkischen Kollegen scharf verurteilt. Doch nicht nur Ärzte sind betroffen. Die Gezi-Park-Proteste im Sommer 2013 haben zu einer wahren Prozessflut geführt. Nach Angaben der Türkischen Stiftung für Menschenrechte wurden im Rahmen der Proteste insgesamt 4.467 Menschen festgenommen, gegen 4.744 Aktivisten wurden Verfahren eingeleitet. Zu den Berufsgruppen, die besonderen Risiken ausgesetzt sind, zählen auch Journalisten: So wurden 153 Medienmitarbeiter verletzt, als sie über die Proteste berichteten, 39 wurden festgenommen, 15 beleidigt oder bedroht, 14 wurden infolge der Proteste entlassen. Besonders schnell urteilen die türkischen Gerichte, wenn sich Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan beleidigt fühlt. Drei Journalisten und drei weitere Personen wurden deswegen zu insgesamt elf Monaten und 20 Tagen Haft sowie zu umgerechnet 15.000 Euro Geldstrafe verurteilt. Das Urteil gegen drei weitere Journalisten steht noch aus. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat die Türkei 2013 in 29 Fällen Journalisten und Medienunternehmen mit Gerichtsverfahren eingeschüchtert und die Meinungsfreiheit beschnitten. Die Straßburger Richter kritisierten außerdem, dass die Beweisführung in den Verfahren unzureichend und die Dauer der Untersuchungshaft zu lang sei. Die Türkei musste fast 200.000 Euro Kompensation an die Betroffenen zahlen. Der türkische Staat wird die Strafe verschmerzen, denn er erzielt mit der Medienkontrolle beträchtliche Einnahmen: So sprach die Aufsichtsbehörde der Rundfunk- und Fernsehanstalten im vergangenen Jahr 448 Warnungen aus und erließ 1.300 teils drastische Geldstrafen. Auch Rechtsanwälte bleiben nicht ungeschoren: Neun Juristen befinden sich derzeit in Haft, weil sie Mandanten betreuen, denen vorgeworfen wird, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein. Den Anwälten drohen nun Urteile nach den Anti-Terror-Gesetzen, einem Relikt des Putsches von 1980. Ähnlich wie Ärzte und Journalisten stehen die Rechtsanwälte nur deshalb vor Gericht, weil sie ihren Beruf ausgeübt haben. Zwar landen viele diese Anklagen letztlich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der die Urteile häufig aufhebt und den Beschuldigten finanzielle Entschädigung zuspricht. Das schützt die Ärzte, Journalisten und Anwälte jedoch nicht vor langer Untersuchungshaft und Berufsverbot.

Kopfverletzungen durch Gaskartuschen. Verletzte Demonstranten in der Dolmabahçe-Moschee, Juni 2013.

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Die Autorin ist Journalistin und lebt in Istanbul.

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MENSCHENRECHTE BRAUCHEN AUSDAUER Sie möchten Ihre sportlichen Aktivitäten mit einem guten Zweck verbinden? Dann bitten Sie doch Verwandte und Bekannte bei Ihrem nächsten Wettkampf um eine Spende zugunsten von Amnesty International. www.amnesty-in-bewegung.de


Über tausend Seminare. Yousry el-Komy bei einer Vorlesung.

Der dritte Weg In Ägypten stehen sich die Anhänger der Muslimbrüder und des Militärs unversöhnlich gegenüber. Menschen, die Ausgleich und Dialog suchen, gibt es nur wenige. Einer von ihnen ist Yousry el-Komy. Unermüdlich bereist er das Land und versucht, das Denken der Menschen zu verändern. Seine Zuhörer nennen ihn einfach »Doktor«. Von Carsten Stormer (Text und Fotos) Doktor Yousry el-Komy lehnt an der Außenmauer eines schäbigen Hotels in Beni Suef, einer Stadt in Oberägypten. Er blickt etwas widerwillig auf das Display seines Mobiltelefons. 37 neue Nachrichten, er scrollt durch die Absender, seufzt. »Später«, sagt er wie zu sich selbst, schaltet das Telefon aus und wischt sich Schweißperlen von der Stirn. Er schreibt selten zurück, lieber redet er mit den Menschen. Komy ist erschöpft. Eine lange Reise liegt hinter ihm. Er blickt auf seine Armbanduhr, es ist kurz vor Mitternacht. Am Nachmittag hat er ein Seminar mit 150 jungen Anhängern von General Sisi in der Stadt Benha beendet, 160 Kilometer von Beni Suef entfernt. Anschließend hat er sich sieben Stunden lang durch den ägyptischen Verkehr gequält und vier Mal das Transportmittel gewechselt: Taxi, Minibus, wieder ein

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Taxi, die Kairoer U-Bahn. Er hat mit Fahrern um den Fahrpreis gefeilscht, stand vier Stunden in einer Blechkolonne, die sich nur millimeterweise vorwärtsbewegte. Yousry el-Komy, 42 Jahre alt, Bauchansatz, Augenringe, die er hinter einer Brille versteckt, ein Doktortitel, zwei Masterabschlüsse, ist einer jener Männer, die rar geworden sind in Ägypten, weil sie Versöhnung predigen und religiöse wie politische Dogmen ablehnen. Seit Wochen reist er durch Ägypten, vermittelt zwischen verfeindeten Gruppen, hält Seminare und Schulungen ab, in denen er erklärt, wie Demokratie funktioniert. Tausende junge Menschen schart er um sich, die ihm zuhören wie Jünger ihrem Propheten. Als ob sie sich in diesen verworrenen Zeiten an etwas festklammern wollten, das ihnen Halt gibt. Gestern in Benha, heute in Beni Suef, drei Tage später Kairo, dann Alexandria, Minya, zwischendurch, wenn es die Zeit zulässt, ein Abstecher zur Familie. Pausen kennt sein Terminkalender nicht. Gerade jetzt ist er ein gefragter Mann, weil sich Muslimbrüder und Armee unversöhnlich gegenüberstehen und Menschen sterben. »Die Jugend ist Ägyptens Zukunft. Ich will ihre Köpfe mit Inhalten füllen. Ihnen eigenständiges Denken beibringen.«

aMnesTy JoUrnal | 06-07/2014


Dr. Yousry el-Komy hat in seinem Leben mehr als tausend Seminare gegeben. Aber nie war seine Arbeit so wichtig wie in diesen Tagen, in denen das zarte Gebilde der ägyptischen Revolution wie ein Kartenhaus zusammenbricht. »Wir Ägypter wollen die Demokratie«, sagt er. »Leider hat uns niemand beigebracht, dass man in einer Demokratie alle Seiten respektieren und Kompromisse schließen muss.« Noch acht Stunden bis zu seinem nächsten Seminar. Kaum Zeit, um sich vorzubereiten, etwas zu essen, E-Mails und Anrufe zu beantworten und ein wenig Schlaf zu finden – ein, zwei Stündchen vielleicht. Am nächsten Morgen soll er vor siebzig Anhängern der Muslimbruderschaft einen Vortrag über Demokratie und politische Willensbildung halten. Das gleiche Programm wie für den politischen Gegner am Tag zuvor. Sie werden es nicht merken. Es sind die kleinen Siege des Yousry el-Komy. Ein tiefer Riss geht durch Ägypten, seit der demokratisch gewählte Präsident Mohammed Mursi im Juli vergangenen Jahres von General Abdel Fattah El-Sisi aus dem Amt geputscht wurde. Neun Monate und mehr als tausend Tote später stehen sich beide Seiten unversöhnlicher denn je gegenüber. Komys Mission lautet, diesen Riss zu kitten. Sie ist zu seiner Lebensaufgabe geworden. Am nächsten Morgen kreist ein Aufklärungshubschrauber der Polizei über Beni Suef, weil hier immer noch Menschen gegen die Militärregierung und für den abgesetzten Präsidenten Mursi demonstrieren. Die Stadt ist eine Hochburg der Muslimbruderschaft: religiös, konservativ, arm; Humus für religiösen Fundamentalismus der zu kurz Gekommenen. Am nächsten Morgen. In ein paar Minuten beginnt das Seminar im Frauenkulturzentrum von Beni Suef, nur ein paar Schritte vom Hotel entfernt. Komy sitzt in der Lobby und lauscht den Fernsehnachrichten. Es scheint, als hätte es die Revolution nie gegeben: Ein Richter verurteilt in einem Schnellverfahren 529 Muslimbrüder zum Tode. Die Presse wird geknebelt. Journalisten, die mit Anhängern der Muslimbrüder sprechen, werden verhaftet. Auf dem Sinai bekämpfen sich Militär und Islamisten. Und General Sisi kandidiert für das Präsidentenamt, entgegen seinen Beteuerungen. Komy nimmt seine Brille ab und drückt Daumen und Zeigefinger gegen seine Lider. Die Nachrichten kommentieren will er nicht, er hat kaum geschlafen in der vergangenen Nacht. Der Kopf schmerzt, der Magen auch. Und der Blutdruck spielt verrückt. Da klingelt das Telefon: »Ja… hm… ach ja… nein, ich kann leider nicht.« Dann legt er auf. Seine Frau hat gefragt, ob er heute nach Hause komme, seine Kinder würden ihn vermissen. »Außerdem habe ich heute Geburtstag. Das habe ich ganz vergessen.« Kürzlich vergaß er die Einschulung seines jüngsten Sohnes. Seit dem Sturz des Muslimbruders Mursi lässt sich das Militär von den Massen feiern. Überall hängen Plakate mit dem Bild von General Sisi. Die Muslimbrüder haben zu Demonstrationen aufgerufen. Die Polizei hat Straßensperren in den Hochburgen der Muslimbrüder errichtet, ganze Viertel abgeriegelt. Draußen sind Gewehrschüsse zu hören. »Wie soll man an solch einem Tag Geburtstag feiern?«, fragt Komy. Keine Zeit für jemand, der auf dem »dritten Weg« dahineilt, wie Komy den Mittelweg zwischen den Extremen nennt, der derzeit in Ägypten nicht populär ist. »Unser Schulsystem ist miserabel. Die Medien bejubeln denjenigen, der gerade an der Macht ist. Die Jugend wird für unmündig erklärt oder für die jeweiligen Interessen missbraucht. Dann noch die hohe Arbeitslosigkeit. Wie soll da ein Wandel möglich sein? Ich will die Köpfe

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»Die Jugend ist Ägyptens Zukunft. Ich will ihre Köpfe mit Inhalten füllen. Ihnen eigenständiges Denken beibringen.« erreichen, das Denken verändern.« Nur so sei ein Wandel möglich. »Wir Ägypter haben die seltsame Eigenschaft, dass jeder Anführer sein möchte, aber niemand Assistent. Zu viele Häuptlinge können sich nicht einigen.« Siebzig junge Ägypter warten schon auf ihn, als er in das Frauenkulturzentrum von Beni Suef kommt. Den Frauen schüttelt er die Hände, die Männer umarmt er. Dann legt er los: Demokratie, Verfassung, »checks and balances«, Mut zu Kompromissen, Respekt gegenüber Andersdenkenden. Große Worte, wie ein Schutzschild gegen politische Hetze und religiösen Wahn. In Rollenspielen üben sie, gemeinsam Lösungen zu finden, ohne sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Gemischte Gruppen, Männer und Frauen, Andersdenkende und Gleichgesinnte. Es klingt so einleuchtend, so einfach. Nicht alle zeigen sich überzeugt. »Haben wir kein Recht auf Selbstverteidigung?«, fragt ein junger Mann. »Jede Woche demonstriere ich in Kairo für die Muslimbrüder und riskiere mein Leben dafür.« Komy rät: »Dann gehe nicht hin. Wir haben gerade Krieg. Und Krieg löst unsere Probleme nicht.« Der schmale Brillenträger braust auf. »Soll so das neue Ägypten aussehen? Ein Land, in dem Menschen nicht ihre Meinung kundtun dürfen, sondern wieder unterdrückt und eingeschüchtert werden?« Komy

»Wir haben Krieg.« Demonstration in Beni Suef.

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MassenProzesse GeGen MUslIMbrÜDer In zwei Massenprozessen innerhalb weniger Wochen wurden in Ägypten Hunderte Menschen zum Tode verurteilt. Ende April hat ein Gericht in El Minya entsprechende Urteile gegen 37 Menschen bekräftigt und in 491 Fällen lebenslange Haft verhängt. Die 528 Angeklagten werden beschuldigt, ein Attentat auf eine Polizeistation im August 2013 begangen zu haben und Mitglieder der verbotenen Muslimbruderschaft zu sein. Die Urteile erfolgten nach einem hochgradig ungerechten Gerichtsprozess, in dem der Richter weder Beweismaterial prüfte noch ein Kreuzverhör von Zeugen durch die Verteidigung zuließ. Das Gericht leitete zudem ein Verfahren ein, um weitere 683 Todesstrafen-Fälle zu bestätigen. Unter ihnen ist auch Mohamed Badie, der oberste Führer der Muslimbruderschaft. Auch dieser Gerichtsprozess war in höchstem Maße ungerecht, wie der Amnesty-Delegierte berichtete, der im Gerichtssaal anwesend war.

rudert mit den Armen, als wolle er ihn einfangen: »Du hast Freunde verloren. Aber bringt es einen von ihnen zurück, wenn du immer radikaler wirst? Wohin wollen wir jetzt?« Dabei geht auch Komy regelmäßig demonstrieren: »Für die Demokratie, für politische Lösungen, für Verhandlungen, nicht für Personen oder eine Weltanschauung. Für Ägypten.« Denn Komy glaubt fest daran, dass sich Ägyptens Probleme nur demokratisch lösen lassen, in freien Wahlen, in politischen Kompromissen. Ein Deckenventilator verquirlt die stickige Luft. Vollverschleierte junge Frauen machen sich auf ihren Smartphones Notizen. Junge Männer mit Gel in den Haaren und in engen Jeans ringen um Aufmerksamkeit, debattieren. Die Saat scheint

langsam aufzugehen. Verwirrt seien sie, sagen die Teilnehmer. Viele sind weder für Mursi noch für Sisi. Komy ist Lehrer, Pädagoge, Politiker, Netzwerker, Schlichter, unabhängiger Denker, Rebell in einer Person. Ein beliebter Gast in Diskussionsrunden im Fernsehen. Politiker wollen ihn für ihre Zwecke einspannen. Er gibt Interviews. Alles im Dienste der Revolution und Demokratie. Wie aber kam es dazu, dass ein Mann mit seinen Qualifikationen für einen Hungerlohn neun Monate im Jahr durchs Land hetzt? Woher kommt dieser Wille, etwas zu verändern? Schon in seiner Kindheit hat er gelernt, dass etwas faul ist am Nil. Als er zwölf war, wählten ihn Lehrer und Mitschüler zum Schulsprecher, weil er schneller im Kopf war als die anderen, aber trotzdem beliebt. »Ich wollte etwas verändern. Dem Schulleiter aber ging es nur darum, dass ich meine Mitschüler bespitzele und verpetze. Da habe ich verstanden, dass etwas mit Ägypten nicht stimmt.« Später studierte er Wirtschaft, Politik und Geschichte, absolvierte zwei Auslandssemester in den USA. »Dort habe ich viel über gesellschaftliche und politische Freiheitsbewegungen gelernt. Und auch freies Denken.« Dieses Wissen wollte er dann weitergeben. Hochmotiviert kehrte er nach Ägypten zurück. Komy hat ein Diplom der Universität Helsinki in Entwicklungspolitik, einen Master in politischer Bildung der British Academy und einen Doktortitel für politische Soziologie. Einen Job fand er trotzdem nicht, wie so viele Ägypter. Stattdessen fand er eine schlecht bezahlte Stelle als Buchhalter in der kleinen Hilfsorganisation »Organisation for the Advancement of Education«. Heute ist er deren Vorsitzender. Ein Amt ohne Gehalt. Finanziert werden die Workshops durch Spenden und internationale Geldgeber. Komy selbst hat ein Stipendium für politische Toleranz der Ashoka-Stiftung erhalten, eine Non-Profit Organisation, die Leute fördert, die sich langfristig für gesellschaftlichen Wandel in ihrer Heimat einsetzen. Ashoka zahlt ihm die nächsten drei Jahre ein bescheidenes Gehalt, für die Familie reicht es zum Überleben. Wie es danach weitergeht? Keine Ahnung. Irgendwie. Dabei fing alles so gut an, als im Januar 2011 Millionen Ägypter vereint auf die Straße gingen und innerhalb weniger Wochen den ägyptischen Diktator Husni Mubarak aus dem Amt jagten. Yousry el-Komy war einer von ihnen. »Wir hatten die Hoffnung, dass Ägypten nun ein Land wird, in dem alle Menschen die gleichen Rechte und Chancen haben.« Kurz darauf: freie Wahlen, ein Novum in Ägypten. Alles schien möglich. Also kandidierte Komy selbst für das Präsidentenamt. Weit sei er allerdings nicht gekommen, sagt er und grinst. Noch immer erinnern zerfledderte Wahl-

Religion als Zuflucht für Enttäuschte. Teilnehmerinnen eines Workshops.

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»Es geht um die Zukunft aller Ägypter.« Yousry el-Komy.

plakate in seiner Heimatstadt Tanta an den Versuch, an die Schalthebel der Macht zu gelangen. Also stimmte Komy, aus Mangel an Alternativen, für den Kandidaten der Muslimbrüder. »Wir hatten die Wahl zwischen den Vertretern des alten Regimes und den Muslimbrüdern. Ich habe gehofft, dass sie es besser machen. Deshalb habe ich für Mursi gestimmt.« Diese Hoffnung wurde innerhalb nur eines Jahres enttäuscht. Der neue Präsident bevorzugte die eigenen Leute. Für die Massen änderte sich nichts. Die Lebensmittelpreise stiegen, an den Tankstellen wurde das Benzin knapp, dazu kamen hohe Arbeitslosigkeit, eine Jugend ohne Perspektive, Vetternwirtschaft. Im Juni des vergangenen Jahres ging Komy erneut mit Millionen von enttäuschten Ägyptern auf die Straße, um Mursis Rücktritt und Neuwahlen zu fordern. Tage später und von den Massen umjubelt interventierte das Militär, weil Mursi sich an die Macht klammerte, die ihm das Volk nehmen wollte. Revolution, Gegenrevolution, ein Militärintervention, Ausschluss der Muslimbrüder aus dem Parlament, schließlich werden sie zur Terrororganisation erklärt. Dialog? Lösungsvorschläge? Fehlanzeige. »Die Putschisten haben die Revolution verraten. Ich bin weder für die Muslimbrüder noch für General Sisi. Beide haben bewiesen, dass sie undemokratisch sind«, meint Komy. Die junge Demokratie ist verunsichert, die Menschen ziehen sich zurück, die alten Kader übernehmen. Die Religion wird eine Zuflucht für Enttäuschte, die Muslimbruderschaft driftet in den Untergrund. Das hinterlässt Lücken in der Gesellschaft. Menschen wie Komy machen sich daran, diese Lücken zu füllen. Die Nacht bricht herein über Beni Suef. Es ist kurz nach 19 Uhr, gleich wird das Abendgebet enden. Eine Gruppe verschleierter Frauen steht vor der Moschee. Sie halten Transparente mit Bildern getöteter Demonstranten hoch und machen ein Zeichen, dass Muslimbrüder oft benutzen: Vier ausgestreckte Finger der rechten Hand. Damit erinnern sie an die Opfer des Massakers auf dem Raaba’a al-’Adawiyyah-Platz im August vergangenen Jahres, bei dem Hunderte Anhänger der Muslimbrüder und Gegner der Militärintervention getötet wurden – denn raaba’a bedeutet vier auf Arabisch. Teenager und junge Erwachsene tanzen wild im Kreis und singen »General Sisi ist ein Mörder«. Frauen trommeln auf Darbukas. Männer reichen Mobiltelefone von Hand zu Hand, darauf die Bilder von toten Menschen. Sie nennen sie Märtyrer, verehren sie wie Schutzheilige. Vernunft hat es hier schwer. Von überall strömen Menschen herbei. Frauen mit Kinderwagen, Kinder mit Stirnbändern. Der Zug der Demonstranten setzt sich in Bewegung. Vorn laufen die Angehörigen der Märty-

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rer: Die Schwester der getöteten Apothekerin, ein Bruder, ihre Eltern, Trauer und Wut in den Augen. Der junge Mann, der heute Vormittag Komy beim Vortrag Paroli geboten hat, ist mittendrin. Nein, Angst habe er nicht. »Allah hat einen Plan. Wenn es sein Wille ist, dass ich sterbe, dann bin ich bereit. Wir müssen die Mörder bekämpfen. Allah steht uns bei.« Er schreit, singt, skandiert. Tod oder Sieg. Schwarz oder weiß. Dazwischen scheint es nichts zu geben. »Nein, wir sind keine Terroristen. Wir wollen Demokratie für Ägypten. Keinen neuen Mubarak. Nur Mursi kann Ägypten die Demokratie bringen.« Drei Stunden lang ziehen die Menschen durch die Straßen und Gassen von Beni Suef. Alles verläuft friedlich, keine Polizei, kein Tränengas, kein Blut. Komy hat derweil andere Sorgen. Vor einigen Wochen erhielt er eine Anfrage vom Ministerium für Jugend. Man bot ihm den Ministerposten an. Komy lehnte ab mit dem Argument, er könne nur für eine gewählte Regierung arbeiten. Das hat den neuen Machthabern nicht gefallen. Jetzt starrt Komy ungläubig auf das Display seines Telefons. Eine neue Kurznachricht. Die Lizenz seiner Organisation werde nicht erneuert, steht dort. Seine Schulungen wären dann verboten. Handelt es sich um Rache, um Einschüchterung? Komy löscht die SMS, steckt das Handy in die Tasche, zuckt mit den Schultern. Kurz darauf erfährt er, dass seinen Bildungsprojekten die Finanzierung verwehrt wird, seinem Versöhnungsprogramm ist die Basis entzogen, seine Arbeit faktisch unmöglich. Aufgeben? Unter keinen Umständen. Dies sei nur ein weiteres Hindernis auf dem holprigen Weg in ein neues Ägypten, sagt Komy. »Natürlich werde ich weitermachen. Es geht um die Zukunft meiner Kinder und die Zukunft aller Ägypter.« Der Autor ist freier Journalist und lebt in Manila. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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Platz ist noch im kleinsten Boot Italiens Fischer ziehen Flüchtlinge aus dem Meer, geben ihnen Wasser, Hemden und Hosen. Dann kommen die Flüchtlinge in überfüllte Lager und werden abgeschoben. Außerdem wird der Grenzschutz verstärkt. Was für eine Schande, sagen die Fischer. Von Andreas Unger (Text und Fotos)

Windstärke fünf. Küste von Lampedusa.

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»Schreib: Es ist eine Schande!« Pasquale Palmisano.

»Ihr bekommt ein Zuhause.« Vincenzo Billeci.

Einheimische und Militärs in Tarnanzügen flanieren über die Via Roma, die Hauptstraße von Lampedusa. Die Fensterläden der meisten Souvenirgeschäfte und Restaurants sind jetzt, vor der Urlaubssaison, zugeklappt. Die Rathausuhr ist stehen geblieben, der Ein-Euro-Shop hat noch Kalender von 2011 im Angebot. In einem Café sind kleine Gemälde ausgestellt: Sonnenuntergang am Hafen, schöne Frau am Strand, Palmen vor blauem Himmel. Und ein mit Flüchtlingen überfülltes Boot bei Sonnenschein. Über den Bootssteg kommt Pasquale Palmisano heran, er ist auf dem Weg ins »Café del Porto« und macht kurz Halt. »Schreib: Es ist eine Schande! Seit 20 Jahren schenken wir Lampedusaner den Flüchtlingen unser Herz. Wir Fischer helfen von jeher Leuten, wenn sie in Not sind. Wie sie dann im Auffanglager behandelt werden – das würde ein Lampedusaner niemals tun. Das denken sich die in Palermo und Rom aus. Die gehören ins Gefängnis! Wir sind erschüttert darüber, wie die Welt uns sieht. Wir sind doch keine Rassisten! Eine schöne Werbung ist das, bald kommt kein einziger Tourist mehr.« Neben dem Hafen befindet sich der Schiffsfriedhof: alte Boote mit arabischen Namenszügen, zersplittertes Holz, rostige Nägel, verfilzte Decken, Wasserkanister, Kinderschuhe, zusammengefallene Schlauchboote. Dahinter steht Fischer Vincenzo Billeci auf seinem Kutter und flickt seine Netze. »2011 kamen so viele Flüchtlinge hier an, dass sie sogar im Hafen übernachten mussten. Als ich abends eingelaufen bin, bat mich ein Junge um zwei Fische für sich und seinen Freund. Sie waren um die 16 Jahre alt, wie meine Söhne. Sie hatten seit drei Tagen nichts gegessen. Ich habe ihnen gesagt: ›Ihr bekommt keinen Fisch, ihr bekommt ein Zuhause.‹ Meine Frau hat für sie gekocht. Iheb und Sabri wollten danach nochmal runter zum Hafen, um auch ihren Freunden was vom Essen abzugeben. Sie schliefen im Zimmer meiner Söhne. Sie nannten uns ›Mama‹ und ›Papa‹. Eine Woche sind sie geblieben. Nicht die Not hat Iheb hierher getrieben, er stammte aus einer reichen Familie. Er hat mir Fotos von der Villa seines Vaters gezeigt. Seine Eltern

waren geschieden, er wollte zu seiner Mutter, die in Nizza lebt. Er hatte sie seit drei Jahren nicht gesehen, als Minderjähriger durfte er nicht auf eigene Faust ausreisen, also nutzte er das Chaos des Arabischen Frühlings und hat sich schleusen lassen. Der Junge hat sein Leben riskiert, um hierher zu kommen. Dafür verdient er meinen Respekt. Ob auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Armut, aus Leichtsinn oder weil er seine Mutter vermisst? Mir ist das egal. Niemand läuft von zu Hause weg, wenn es ihm gut geht. Dann landete Berlusconi, ›der Retter des Vaterlandes‹, im Frühjahr 2011 auf Lampedusa und tönte: ›In 48 bis 60 Stunden wird Lampedusa nur mehr von Lampedusanern bewohnt sein.‹ Iheb hat zum Abschied gesagt: ›Alles was ich trage, ist von euch, mein Hemd, meine Hosen und Unterhosen. Das einzige, was von mir ist, ist mein Koran.‹ Er hat ihn uns geschenkt. Seit der Katastrophe vom 3. Oktober 2013, als 366 Flüchtlinge ertranken, fliegen immer mehr Flugzeuge und Hubschrauber der Europäischen Agentur Frontex die Küste entlang, auch mehr Schiffe des Grenzschutzes sind unterwegs. Sie wollen die Flüchtlinge jetzt früher abfangen. Aber draußen auf dem Meer sind es noch immer wir Fischer, die sie zuerst entdecken. Wenn wir ein Flüchtlingsschiff in den Hafen begleiten, geht uns ein Arbeitstag verloren. Eine Entschädigung bekommen wir nicht, meistens bezahlen sie uns noch nicht einmal das Benzin fürs Abschleppen. Aber man rechnet nicht aus, was es kostet, ein Leben zu retten.« Fischer Filippo Solina ist in den Hafen eingelaufen, hat seinen Fang in großen schwarzen Kübeln an Land gebracht und raucht eine Zigarette. Nicht die Flüchtlinge sind das Problem, sondern die Schlepper, sagt er. Draußen auf dem Meer, in internationalen Gewässern, lassen sie sie nachts von ihrem großen Schiff die kleinen Schlauchboote ins Wasser, alle paar Meilen eins, und drehen dann ab, um nicht entdeckt zu werden. Ein Riesengeschäft ist das. Während Filippo Solina erzählt, hat sich ein Kollege dazu gesellt. Er nimmt uns zur Seite: »Die Küstenwache muss nicht erfahren, wer folgende Geschichte erzählt hat. Denn

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»Das Problem sind die Schlepper.« Filippo Solina.

»Dreißig saßen in dem Holzboot.« Matteo Giaca.

sie macht darin keine gute Figur. Vor ein paar Jahren entdeckten wir ein Boot mit Flüchtlingen, etwa 16 Meilen südlich von Lampedusa. Als die Küstenwache kam, brachten sie die Menschen mit ihrem eigenen Motorschiff zum Hafen. Das Flüchtlingsboot ließen sie im Meer zurück. Ich wollte es abschleppen, raus aufs offene Meer bringen und dort versenken. Das machen wir immer so: Wir markieren dann die Stelle per GPS, warten ein paar Jahre, bis sich viele Fische im Wrack tummeln, und wenn wir wieder hinkommen, machen wir einen guten Fang. Ich steige also auf das Boot, um ein Loch hineinzuschlagen, da rumpelt etwas im Inneren. Ich bin total erschrocken. Aus der Luke ganz vorn, wo Seile, Bojen und Anker verstaut sind, krabbelten zwei Flüchtlinge, völlig entkräftet. Sie waren wohl dort eingeschlafen. Die Küstenwache hat sich nicht die Mühe gemacht, nachzusehen. Hätte ich sie nicht entdeckt, wären sie auf dem Meer zurückgeblieben.« 240 Kilometer nördlich von Lampedusa liegt die sizilianische Stadt Mazara del Vallo, Sitz des größten Fischereihafens Siziliens. Die Fischer, die hier leben, sind mit großen Fischfangschiffen bis zu 40 Tage lang auf See. Maschinist Matteo Giaca steht im Maschinenraum seines Schiffs. Er kann gerade aufrecht

stehen. Neonlicht. Ein Metallsteg führt um den blauen Motor in der Mitte herum. Ventile, Druckmesser, Ladestandsanzeiger, Schläuche. An der Wand hängen Schraubenzieher und Ohrenschützer. In einer Ecke stehen Arbeitsstiefel, daneben Schlappen. Es riecht nach Metall und Diesel, aber es ist blitzsauber. »Hier ist mein Zuhause. Ich sorge dafür, dass der Motor läuft. Wenn viel zu tun ist und es laut ist im Maschinenraum, geht’s mir gut. Auch nachts in der Kombüse, wenn die Wellen ans Boot klatschen. Aber auf dem Festland fängt es wieder an, nachts, vor allem, wenn es regnet. Ich schrecke hoch, meine Frau fragt, was los sei. Ich erzähle ihr nichts. Ich sage ihr bloß: Es ist meine Macke. Dass ich immer wieder daran denken muss. Es war 2011, ein Uhr nachts, scheußliches Wetter, Windstärke fünf, die Wellen zwei, drei Meter hoch. Wir holten gerade die Netze ein, damit sie nicht reißen. Die Flüchtlinge kamen in völliger Dunkelheit heran, aus dem Nichts. Man weiß nicht, ob es Piraten sind, ob sie Messer haben, Pistolen? Dreißig saßen in dem Holzboot. Sie waren total entkräftet, fühlten sich an wie Kartoffelsäcke. Einer hat sich den Kopf gestoßen, er muss ohnmächtig geworden sein. Ich konnte ihm nicht helfen, ich musste die anderen heraufziehen. Er wurde zerquetscht, als die beiden Boote aneinander stießen. Ich weiß, wie das klang. Hierher kommen so viele Journalisten. Sie fragen nach den Toten, nach den Lebenden, nach dem Flüchtlingslager. Wie es uns Fischern geht, fragen sie nicht. Und untereinander sprechen wir nicht darüber. Auch ich versuche, das alleine wieder hinzubekommen. Das ist etwas, das ich fühle, verstehen Sie, das ist nichts zum Besprechen. Ich fühle, was diese Leute fühlen. Meine Macke hat sich eh schon wieder etwas gelegt, ich kann schon wieder besser einschlafen. So, jetzt muss ich heim. Wenn meine Frau erfährt, dass ich mich selbst jetzt auf dem Schiff herumtreibe, während ich auf dem Festland bin, lässt sie sich scheiden (lacht). Aber ich zeige euch noch schnell den Mannschaftsraum. Hier um den Tisch herum saßen sie, 27 Leute. Wir gaben ihnen Wasser, dann Milch. Bloß nichts zu essen! Ihr Magen war verschlossen, er konnte erst

»Es sind Menschen, die Hilfe brauchen, basta. Und wenn sie bleiben wollen, sollen sie.« 54

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»Jeder würde sich so verhalten.« Pino Russo.

»Ich habe nicht geweint, aber fast.« Nicola Amzaldi.

mal keine Nahrung aufnehmen. Einer war bewusstlos, ich legte ihn auf eine Matratze auf dem Boden, zog ihm die nasse Kleidung aus und föhnte ihn. Die anderen Flüchtlinge sahen zu. Irgendwann ist er aufgewacht. Als er alle um sich herum versammelt sah, hat er gelacht. Da haben sie alle geklatscht. Daran denke ich gern. Ich bin bestimmt kein Heiliger, jeder andere hätte in meiner Situation genauso gehandelt. Es sind Menschen, die Hilfe brauchen, basta. Und wenn sie bleiben wollen, sollen sie. Ist doch genug Platz da, mir nehmen sie bestimmt nichts weg. Ich habe meine Hose verschenkt, mein Hemd und meine Schuhe. Und als wir zurück im Hafen waren, bin ich in Schlappen heimgegangen.« Pino Russo ist 42 Jahre lang zur See gefahren, davon 38 Jahre als Kapitän. Jetzt arbeitet er als Koch im Restaurant seines Sohnes. »Wir holten gerade die Netze ein, als das Schlauchboot mit den Flüchtlingen näher kam. Auf die kleinen Fische, die aus dem Netz rutschten, lauerten Delphine, die um unser Schiff herum schwammen. Sie sprangen in die Luft, direkt neben dem Schlauchboot. Die Flüchtlinge gerieten in Panik, lehnten sich alle auf die andere Seite, das Boot kippte. Ein einjähriges Mädchen und eine Frau sind ertrunken, wir konnten 21 Menschen aus dem Wasser ziehen. Einen Monat später wollte mir die Hafenkommandantur irgendeine Bronzemedaille verleihen, aber ich bin nicht hingegangen. Jeder würde sich so verhalten. Wissen Sie, Leute aus Sizilien und Lampedusa wandern seit 200 Jahren aus, in die Vereinigten Staaten, nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland. Sie suchen Arbeit, ein Zuhause, eine Zukunft. Das kann man niemandem vorwerfen.« Nicola Amzaldi sitzt am Hafenpier und schaut aufs Wasser. Wenn er wie jetzt im Winter wegen der Stürme nicht zum Fischen auf dem Meer ist, geht er eben angeln. »Gegen zehn Uhr abends sind sie aufgetaucht aus der Nacht. ›Haltet Abstand‹, schreien wir ihnen zu, wir haben Angst, dass ihr Schlauchboot kentert, wenn es zu schnell auf uns zufährt. Sind ja keine Seeleute drauf. Ich stehe an der Reling, schaue runter, sehe eine junge

Frau, sie hat was in der Hand, plötzlich hebt eine Welle das kleine Boot unserem viel höheren Schiff entgegen, die Frau muss diesen Moment genutzt haben, jedenfalls wirft sie in dem Augenblick etwas nach oben, ich sehe es nicht, ich greife hinunter ins Dunkle, bekomme es mit beiden Händen zu fassen, es ist nicht schwer, es ist ein Baby. Ich halte es im Arm, ich bringe es nach unten in meine Kajüte, gebe ihm Milch zu trinken, nach einer halben Stunde bringen sie die Mutter. Ich weiß nicht, wie die beiden hießen, und ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich habe nicht geweint, aber fast.«

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Der Autor ist freier Journalist und lebt in München. Dolmetscherin: Sabine Wimmer

Suche nach einem Zuhause. Schiffsfriedhof auf Lampedusa.

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Straferlass für die Täter. Eine Angehörige zeigt ein Bild ihres von Paramilitärs getöteten Vaters.

Frieden ohne Rache Kolumbien steht vor einem historischen Moment: Seit mehr als 60 Jahren bekämpfen sich paramilitärische Verbände, Guerilleros, Polizei und Militär. Nun zeichnet sich nach zähen Friedensgesprächen eine Einigung zwischen der Regierung und der größten Guerrilla-Gruppe FARC ab. Von Mathias Schreiber Juan Manuel Santos Calderón war wütend. Der kolumbianische Präsident hatte gerade grünes Licht vom Verfassungsgericht für ein Gesetz erhalten, das dem Parlament erlaubt, Gefängnisstrafen für Menschenrechtsverbrecher nach einem Friedensschluss mit den FARC komplett auszusetzen. Nun wurde bekannt, dass die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, Fatou Bensouda, in einem Brief an die obersten Verfassungshüter just diese Klausel als Verstoß gegen internationales Recht kritisierte. Im Radio polterte Calderón, dass er sich eine Einmischung aus dem Ausland in den nationalen Friedensprozess verbitte. Das war im September 2013. Mittlerweile hat sich die Aufregung um den Brief wieder gelegt. An Aktualität hat er nichts

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eingebüßt. Sollten die FARC und die kolumbianische Regierung demnächst tatsächlich Frieden schließen, drängen sich grundsätzliche Fragen auf: Wie umfassend klären die Konfliktparteien die von ihnen begangenen Verbrechen auf? Werden die Täter in den Reihen der Guerrilla sowie bei Polizei, Militär und Paramilitärs zur Rechenschaft gezogen? Schützt der Staat die Bevölkerung künftig vor Gewalt? Die Skepsis der Chefanklägerin, dass die Beteiligten den Anspruch der Opfer auf Wahrheit und Gerechtigkeit nicht allzu ernst nehmen, ist berechtigt. Seit der »Demobilisierung« 2003 legten rund 32.000 Paramilitärs die Waffen nieder – so stellt es zumindest die Regierung dar. Ein vom damaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez und seinem Verteidigungsminister Santos 2005 auf den Weg gebrachtes Gesetz 975 sah bei Geständnissen Sondergerichtsverfahren und Haftstrafen von höchstens acht Jahren vor, selbst bei schwersten Menschenrechtsverletzungen. Bis heute wurden erst 22 Paramilitärs verurteilt, nur 1.700 haben sich überhaupt zu Straftaten bekannt. Nachfolgeorganisationen, geführt von früheren Kommandeuren meist mittleren Ranges, operieren seit 2007 im ganzen Land. Von ihren Vorläu-

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Foto: Ilenia Piccioni / Invision / laif

fern unterscheiden sie sich allenfalls dem Namen nach. Sie verfügen über Tausende Mitglieder, sind militärisch bewaffnet und haben klare Kommandostrukturen. Ihre Interessen verfolgen sie mit altbekannter Brutalität. Für die Regierung Calderón sind diese »kriminellen Banden«, so die offizielle Sprachregelung, kein Teil des Konflikts. Sie werden dem »gewöhnlichen« organisierten Verbrechen zugeordnet. Doch verlängerte die Regierung das Amnestie-Gesetz 975 für die angeblich bereits längst demobilisierten Paramilitärs bis Mitte 2012. Noch zurückhaltender verhalten sich die Behörden, wenn es darum geht, Verbrechen von Polizei und Militär aufzuklären: Rund 4.800 Fälle außergerichtlicher Hinrichtungen von Zivilisten, verübt zumeist von Soldaten zwischen 2004 und 2008, liegen derzeit bei der Generalstaatsanwaltschaft. Urteile wurden bisher in weniger als 300 Fällen gesprochen. Gleichzeitig gab sich die Regierung alle Mühe, die Zuständigkeit von Militärgerichten, die eigentlich nur geringfügige Dienstvergehen von Soldaten sanktionieren sollen, per Gesetz auf Fälle von Menschenrechtsverstößen auszudehnen. Nur das Verfassungsgericht verhinderte im Oktober 2013 eine entsprechende gesetzliche Regelung, weil es Verfahrensfehler bei der Verabschiedung im Parlament feststellte. Auch der Armee ist kaum an Aufklärung gelegen: Mitte Februar entließ Präsident Calderón den Generalkommandeur der Streitkräfte. Er hatte in einem abgehörten Telefonat zu einem Komplott gegen Staatsanwälte aufgerufen, die wegen zweifachen Mordes gegen einen Oberstleutnant ermittelten. Zuvor hatte die Zeitschrift »Semana« aufgedeckt, dass Abhörspezialisten der Armee Regierungsvertreter, NGOs und Journalisten während der Friedensgespräche mit Vertretern der Guerrilla auf Kuba bespitzelten. Das Programm startete 2012, kaum ein Jahr, nachdem der Inlandsgeheimdienst wegen zahlloser illegaler Überwachungsaktionen komplett aufgelöst worden war. Immerhin, seit dem Amtsantritt von Präsident Calderón 2010 leugnet die Regierung nicht mehr, dass es einen bewaffneten Konflikt im Land gibt. Ein Forschungszentrum soll ihn nun historisch aufarbeiten. Die Regierung hat zudem mit dem seit 2012 gültigen »Opfer- und Landrückgabe-Gesetz« konkrete Maßnahmen zur Entschädigung der Opfer ergriffen. Die Zivilbevölkerung besser schützen konnte sie nicht: Jedes Jahr werden mehr als 15.000 Menschen ermordet und etwa 250.000 vertrieben. Jene, die ihr geraubtes Land zurückfordern, werden seit Beginn der staatlichen Restitutionsinitiative zunehmend bedroht: Kürzlich räumte die Regierung ein, dass trotz mehr als 900 gerichtlich verfügten Rückgaben nur wenige Familien zurückgekehrt sind. Gleichzeitig sind bei den Behörden mehr als tausend Anträge auf Schutz von Menschen eingegangen, die sich für eine Landrückgabe einsetzen. Die NGO »Forjando Futuros« dokumentierte in solchen Fällen 64 Morde seit 2008, während die Justiz die Tötung von mehr als 7.000 Vertriebenen untersucht. Ob ein Friedensschluss zwischen den FARC und der Regierung diese Menschenrechtskrise beendet? Bisher haben sich die Parteien in zwei von sechs Punkten geeinigt. Was genau die Vereinbarungen über eine »umfassende Landreform« und die »politische Teilhabe« ehemaliger Guerrilleros vorsehen, bleibt bis zum Abschluss der Verhandlungen geheim. Die strittigsten Fragen wurden bisher vertagt, etwa, wie Menschenrechtsverbrecher der Guerrilla bestraft werden sollen. Ein Frieden mit den FARC oder der kleineren Guerrilla-Gruppe ELN, mit der die Regierung ebenfalls Gespräche führen will, zerschlägt allerdings nicht die paramilitärischen Verbände im

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Gerichtssaal und Gefängnis sind nur bedingt als Ort des Aufklärens und Strafens geeignet. Land. Er entschärft auch nicht den grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt, der seit jeher alle bewaffneten Gruppen nährt: Die extreme soziale Ungleichheit, verursacht von den feudalen Herrschaftsverhältnissen und dem Klientelgeflecht aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft in einzelnen Regionen Kolumbiens. Landbewohner, Behörden sowie nationale und internationale Konzerne streiten sich über die Nutzung besonders rohstoffreicher, fruchtbarer oder zentral gelegener Flächen. Ob das Land Frieden findet, hängt vor allem davon ab, ob diese Konflikte gelöst werden können. Dafür wäre eine umfassende Untersuchung aller Menschenrechtsverbrechen wichtig. Ende September 2013 erläuterte Präsident Calderón der UNO-Vollversammlung seine Vorstellungen einer Lösung: »Wir können nicht das Ziel haben, jedes einzelne Vergehen, das während eines halben Jahrhunderts der Gewalt begangen wurde, zu untersuchen. Und wir können nicht jeden einzelnen Verantwortlichen belangen.« Die internationale Gemeinschaft und ihre Institutionen sollten respektieren, wie Kolumbien seinen Friedensprozess gestalte. Angesichts von hunderttausendfachem Mord, Vertreibung, Folter, Vergewaltigung und Verschwindenlassen in mehr als 60 Jahren sind Gerichtssaal und Gefängnis schon aus praktischen Gründen nur bedingt als Ort und Instrument des Aufklärens und Strafens geeignet. Gerichtliche Strafverfolgung auszusetzen, auch Straferlasse für Täter zu gewähren, darf deshalb im Einzelfall kein Tabu sein. Das bedeutet aber auch, dass die Bevölkerung nicht länger Zuschauer im Friedensprozess sein darf, sondern in die Entscheidungen mit einbezogen werden muss. Den Unterhändlern per Internetforen, Konferenzen oder durch runde Tische Vorschläge für ein Abkommen zu machen, über ausgewählte Vertreter auf Kuba Forderungen an sie heranzutragen oder an der Wahlurne über einen Friedensvertrag abstimmen zu dürfen, ist nicht genug. Für einen Frieden ohne Rache müssen die begangenen Verbrechen aufgeklärt werden. Mit Kolumbien stellt sich erstmals ein Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofes einem Friedensprozess. Wie es diesen rechtlich ausgestaltet, wird Präzedenzcharakter für kommende Fälle haben. Deshalb steht das Land unter besonderer Beobachtung aus Den Haag. Wie es den Konflikt gesamtgesellschaftlich aufarbeitet, damit kann Kolumbien jenseits dieser juristischen Dimension ebenfalls Maßstäbe setzen. Der Autor ist Sprecher der Kolumbien-Ländergruppe der deutschen Amnesty-Sektion.

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Kultur

64 Ungarn: Dirigent Iván Fischer im Interview 66 Ukraine: Essays über den Majdan 68 Europa: Eine Graphic Novel über Flüchtlinge 70 Israel: Die grausame Geschichte des Kibbuzes 72 Sierra Leone: Patrice und die Kindersoldaten 74 Iran: Die Unfreiheit des Kinos 76 Bücher: Von »Ich wollte leben wie die Götter« bis »Flüchtige Seelen« 78 Film & Musik: Von »Wüstentänzer« bis »Tales from a Forgotten City«

National bis ins Detail. Schlüsselbänder der rechtsradikalen ungarischen Partei Jobbik. Foto: Peter Rigaud / laif

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Iván Fischer, Gründer und Leiter des berühmten Budapester Festivalorchesters, ist ein entschiedener Gegner des ungarischen Nationalismus und damit immer wieder Anfeindungen ungarischer Rechtsextremer ausgesetzt. Ein Gespräch über großungarische Rhetorik, die europäische Idee und eine gefährliche Bildungspolitik.

Herr Fischer, spüren Sie in sich ein genetisches Gefühl des Nationalismus? Nein. György Fekete, der Präsident der Ungarischen Kunstakademie meint, keinem wirklich ungarischen Künstler dürfe das »genetische Gefühl des Nationalismus« fehlen. Demnach wären Sie kein wirklich ungarischer Künstler. Ich ignoriere solche Aussagen. Ich mag Nationalismus nicht. Er treibt die Menschen in ein völlig verengtes Denken. Ich bin ein großer Anhänger der europäischen Integration. Europa ist ein wunderbarer Gedanke. In den reichen EU-Ländern wie Deutschland müsste man noch viel mehr für eine vertiefte EUIntegration tun, dann könnten Länder wie Griechenland, Italien oder Ungarn noch viel besser einbezogen werden. In Ungarn ist dieses europäische Denken zurzeit leider nur sehr schwach ausgeprägt, Nationalismus ist das Hauptproblem in Ungarn. An was denken Sie konkret? Zum Beispiel an die großungarische Rhetorik. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor Ungarn zwei Drittel seines Staatsgebietes. So wie sich Deutschland damit abfindet, dass Schlesien oder das Elsass nicht mehr zu ihm gehören, so sollte sich auch Ungarn damit abfinden, dass Siebenbürgen zu Rumänien gehört und Oberungarn zur Slowakei. Als erwachsener Mensch sollte man das akzeptieren und in einer gemeinsamen europäischen Familie friedlich miteinander leben. Wer in Ungarn heutzutage solche Kritik übt, riskiert, finanzielle Unterstützung oder sogar seinen Arbeitsplatz zu verlieren, nicht nur im Kulturbereich. Wie ist das bei Ihnen? Schützt es

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Sie, dass Sie ein berühmter Dirigent und der Gründer und Leiter des Budapester Festivalorchesters sind, eines WeltklasseOrchesters? Ich muss ganz ehrlich sagen, dass das Festivalorchester augenblicklich sehr gut dasteht. Die ungarische Regierung unterstützt uns derzeit wirklich anständig. Wir konnten noch nie so ruhig arbeiten wie jetzt, dafür bin ich der Regierung dankbar, und ich möchte, dass sie das weiß. Aber das heißt nicht, dass ich unkritisch wäre. Ich stimme mit dem nationalistischen Geist, den die Regierung verbreitet, nicht überein. Nach dem Machtantritt der Orbán-Regierung im Frühjahr 2010 kam in Ungarn bald das Wort vom »Kulturkampf« auf. Dabei mag der Regierung Musik unproblematischer erscheinen als Literatur, Theater oder Bildende Kunst. Es stimmt, es gibt vor allem um das Theater und um kulturpolitische Zeitschriften große Debatten. Mit den Orchestern gehen sie gut um. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass das größte Problem in Ungarn die Kulturpolitik wäre. Ein viel größeres Problem ist die Politik im Bildungswesen, dort finden die wirklich schlimmen Dinge statt. Also zum Beispiel, dass im »Nationalen Grundlehrplan« für Schulen antisemitische Schriftsteller der Zwischenkriegszeit als Lektüre empfohlen werden? Ja, ich kann das nur missbilligen. Die Kinder müssten in einem europäischen Sinne erzogen werden, Sprachen lernen und wissen, dass Deutsche, Österreicher, Rumänen und Slowaken genauso viel wert sind wie die Ungarn und dass es keine Unterschiede zwischen Menschen gibt. Sie sollten nicht dazu erzogen werden, sich von nationalistischen Illusionen ergreifen zu lassen. Mit nationalistischer Hysterie befassen Sie sich in einer Oper, die Sie komponiert haben und die im Herbst in Budapest uraufgeführt wurde. Sie heißt »Die rote Färse« und es geht darin um einen angeblichen jüdischen Ritualmord im Jahre 1882, der damals in Ungarn riesiges Aufsehen erregte und zu einer Welle des Antisemitismus führte. Warum haben Sie ausgerechnet diese Geschichte für Ihre Oper gewählt? Damals wurden Juden in dem ostungarischen Dorf Tiszaeszlár beschuldigt, sie hätten ein 14-jähriges Mädchen umgebracht. Das war natürlich völlig verrückt und nicht wahr, und im Prozess

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»Ich mag Nationalismus nicht« Foto: Murdo Macleod / Polaris / laif

wurden ja auch alle Angeklagten freigesprochen. In der Oper geht es um das Schicksal eines 14-jährigen jüdischen Jungen, der Kronzeuge der Anklage war, Móricz Scharf. Man brachte ihn mit Manipulationen, Versprechungen und auch Folter dazu, auszusagen, er habe seinen Vater und dessen Freunde dabei beobachtet, wie sie das Mädchen Eszter Solymosi ermordet hätten. Mich hat diese entsetzliche, hysterische Sündenbocksuche und diese Wut interessiert, wenn sich eine Masse plötzlich verhält wie FußballHooligans. Damals, Ende des 19. Jahrhunderts, gab es eine sehr starke Welle des Antisemitismus in Ungarn. Ich denke, eine ähnliche Stimmung herrscht jetzt auch wieder in Ungarn.

Die Voraussetzungen für eine Änderung der ungarischen Zustände sind nicht gut. Anfang April waren in Ungarn Parlamentswahlen. Das Wahlgesetz hat der Regierungspartei Fidesz Vorteile verschafft; eine deutliche relative Mehrheit hat für Orbán und seine Partei gestimmt und die Rechtsextremen kamen auf das Rekordergebnis von 21 Prozent. Ungarn bewegt sich momentan in die schlechtmöglichste Richtung. Die Regierung betont sehr stark den altmodischen Gedanken der nationalen Souveränität. Das sind Schritte rückwärts. Ungarn entfernt sich vom Gedanken der europäischen Integration, es entfernt sich von der Demokratie.

Es gab 2008 in Ungarn einen verblüffend ähnlichen Fall. Ein 14-jähriges Mädchen, Nóra Horák, wurde in der Kleinstadt Kiskunlacháza ermordet. Der Bürgermeister machte sofort Roma verantwortlich, in der Stadt herrschte Pogromstimmung und den ungarischen Rechtsextremen gelang es, im Zuge dieses Mordfalles den Begriff der »Zigeunerkriminalität« in der Öffentlichkeit zu etablieren. Sieben Monate später wurde ein ungarischer Nachbar des Mädchens als Täter gefasst und später verurteilt, eine DNA-Analyse identifizierte ihn zweifelsfrei. Geblieben ist der Begriff »Zigeunerkriminalität« und der Glaube vieler Menschen, Nóra Horák sei von Roma ermordet worden. Ja, es gibt Parallelen, die die Oper höchst aktuell machen. Eigentlich hatte ich die Idee zu dieser Oper mit ihrer Geschichte aus dem 19. Jahrhundert schon vor sehr, sehr langer Zeit, aber wenn jemand heute wissen möchte, in welchem tiefenpsychologischen Zustand sich das gegenwärtige Ungarn befindet, dann sollte er sich diese Oper ansehen. Jedenfalls stelle ich in ihr meine Sicht dieses Zustandes dar.

In den vergangenen Jahren haben 460.000 Bürger das Land verlassen, fast fünf Prozent der Bevölkerung. Viele auch, weil sie das öffentliche Klima unter Orbán nicht mehr aushalten. Werden Sie in Ungarn bleiben? Natürlich. Ich werde und will bleiben. Ungarn ist noch nicht verloren. Es gibt viele Menschen hier, die sich eine europäische Demokratie für ihr Land wünschen. Vor allem für sie mache ich Musik.

Ende Juni hat die Oper im Konzerthaus Berlin DeutschlandPremiere. Wie wurde die Oper in Budapest aufgenommen? Glauben Sie, Sie können mit so einer Oper dazu beitragen, dass der Zustand Ungarns, wie Sie ihn beschreiben, sich ändert? Nach der Uraufführung wurde mir von rechts vorgeworfen, dass die Oper eine Provokation sei. Warum eine Provokation? Es geht um das Schicksal eines unglücklichen jüdischen Jungen. Das kann nur Neonazis und ähnlich schreckliche Gestalten provozieren. Was das Ändern der Gesellschaft angeht, das ist nicht die Aufgabe eines Künstlers, ich möchte der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Wenn es mir gelungen ist, jemanden zu erschüttern, dann ist das sehr gut.

InTervIew

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Iván FIscher

Fragen: Keno Verseck

InTervIew Iván FIscher Iván Fischer wurde 1951 als Sohn einer Musikerfamilie in Budapest geboren und zählt heute zu den bekanntesten Dirigenten weltweit. Schon als Kind spielte er Klavier und Violine, später Cello. Er studierte Komposition in Budapest und machte an der Universität für Musik in Wien sein Diplom als Dirigent. Mitte der siebziger Jahre begann er in Großbritannien seine Weltkarriere, kehrte jedoch 1983 nach Ungarn zurück, wo er zusammen mit dem Pianisten Zoltán Kocsis das »Budapest Festival Orchestra« gründete, dessen musikalischer Direktor er bis heute ist. 2012 wurde Fischer Musikdirektor des Berliner Konzerthauses und Chefdirigent des Konzerthausorchesters Berlin. Regelmäßig äußert sich Fischer zur Politik in seiner Heimat, besonders zum Nationalismus und Rechtsextremismus. Von Rechtsextremen wird er deshalb verunglimpft.

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Eurasische Verhältnisse Der Essayband »Majdan! Ukraine, Europa« reflektiert die derzeitige politische Krise der Ukraine und die Haltung der Europäischen Union. Von Tanja Dückers

Majdan. Kiew, Ende Februar 2014.

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Foto: Tatiana Grigorenko / Redux / laif

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elten ist ein Buch so schnell geschrieben und übersetzt worden wie »Majdan! Ukraine, Europa«. Die Mehrzahl der Essays und Erfahrungsberichte entstand zwischen Ende November 2013 – also nach der Ablehnung des EUAssoziierungsabkommens durch den damaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch – und Februar 2014. Alle Texte kreisen um die Frage: Wie ist die gegenwärtige Lage in Kiew, in der Ukraine zu beurteilen? Dabei ergänzen sich sehr subjektiv gehaltene Beiträge und politische Analysen über die Machtverteilung im eurasischen Raum. Die Auswahl der Autoren überzeugt: Neben bekannten ukrainischen Publizisten wie Maria Matios, Serhij Zhadan oder Jury Andruchowytsch finden sich prominente Stimmen aus Polen (Adam Michnik), Deutschland (Rebecca Harms), Österreich (Martin Pollack), Großbritannien (Timothy Garton Ash) und den USA (Timothy Snyder). Im Vorwort machen die Herausgeber Claudia Dathe und Andreas Rostek ihre Haltung deutlich: Der Majdan ist nicht mit dem Wenzelsplatz in Prag oder dem Karl-Marx-Platz in Leipzig zu vergleichen. Er war nicht Schauplatz einer friedlichen Revolution, sondern hier wurden Menschen umgebracht. Russland spielt eine sehr unrühmliche Rolle als Schutzmacht eines kriminellen Clans, der die Ukraine regierte. Die Herausgeber beklagen, dass Europa erst nach Dutzenden von Toten aktiv geworden ist. Schon der Titel »Majdan! Ukraine, Europa« macht deutlich, wie sehr den Westen das, was in Kiew stattfindet, angeht. Den Auftakt des Bandes bilden Meldungen, die den Leser unmittelbar an den Ereignissen teilhaben lassen. So gibt Andrij Vovk aus Kiew zu Protokoll: »Ein Finger. Von einer Hand abgerissen. Er liegt direkt vor meinen Füßen. Gellende Schreie und leises Wimmern. Anhaltendes Donnern von Blendgranaten. Ukrainische Polizisten erschießen ukrainische Bürger. Nur fünfzehn Meter von mir entfernt hat eine Granate einem Majdanler die Hand abgerissen. Auf einer Trage wird er fortgebracht. Beißender Rauch, Ruß, Molotow-Cocktails, zwei betende ältere Frauen, die ein großes Marienbild als Schutzschild vor sich halten. Ihre Gebete: eine kleine Tonspur in der gewaltigen Geräuschkulisse.« Swatoslaw Wakatschuk, Sänger der Band »Okean Elzy« aus Kiew, ärgert sich über das von den Russen geschürte und von westlichen Medien gern wiederholte Vorurteil, die Majdan-Bewegung werde von Rechtsextremisten dominiert: »Auf dem Majdan stehen jetzt Tausende Menschen – alte Männer und Frauen, Studenten, kultivierte Frauen in teuren Mänteln, Geistliche, Menschen verschiedenen Glaubens und verschiedener Nationalität. Und sie alle sollen Extremisten sein?« Switlana Oleschko, Theaterregisseurin aus Charkiw, berichtet über staatlich angeheuerte Schläger: »Die Polizisten und die illegalen Schlägertrupps arbeiten offen zusammen, ihre gemeinsame Arbeit zielt auf Ermordung der Demonstranten, sie werfen Molotow-Cocktails, die sie mit Nägeln umwickelt haben. Sie werfen auf Frauen und Kinder.« Während in deutschen Medien davon die Rede ist, dass die westliche Politik sich aus der Ukraine heraushalten soll, wenden sich viele Autoren gerade an den Westen. So schreibt Halyna Kruk aus Lwiw (Lemberg): »Ich (...) hab getan, was ich konnte: Schnee geschippt, Suppe gekocht, mit den Leuten geredet. Ich möchte von den Europäern nicht falsch verstanden werden, denn wir werden von den Bürgern Europas stark unterstützt und sind dafür dankbar, aber das politische Europa zeigt nichts als tiefe Beunruhigung und erteilt Mahnrufe zur Versöhnung.« Der Schriftsteller Olexandr Sukola aus Charkiw, Ende der achtzi-

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»MaJDan! UkraIne, eUroPa«

ger Jahre geboren, ist von Europa enttäuscht, räumt aber ein, dass die Situation in der Ukraine kompliziert ist. »europa versteht uns also nicht«, so sein in dem Band veröffentlichter Facebook-Eintrag, »das kapiert doch keiner, was hier abgeht, und wer’s kapiert hat, vergisst’s auch gleich wieder. keine revolution, sondern feuer und schwert. kosakenaufstand im 21. jahrhundert. nur mit internet.« Über die politischen Strukturen in der Ukraine, über Korruption und Misswirtschaft, erfährt man Unglaubliches: Resigniert schreibt die Schriftstellerin und Übersetzerin Halyna Kruk: »Die ganz mit ihrem physischen Überleben befassten Menschen haben mitunter nicht die leiseste Ahnung, dass Einschüchterung und erzwungene Wahlbeteiligung, das Verbot unabhängiger Medien, der Kauf von Stimmen gegen Lebensmittelpakete und andere Spielchen der Oberen eine Verletzung ihrer bürgerlichen Rechte und Freiheiten darstellen.« Der Schriftsteller und Essayist Andrij Ljubka berichtet anschaulich über die allgemeine Stagnation: »In den nun mehr als zwanzig Jahren Unabhängigkeit hat sich auch nichts an der kommunalen Infrastruktur verändert. Rohre, Heizwerke, Wasserpumpstationen, Krankenhäuser, Schulen, Polizeistationen, alles ist geblieben, wie es war. Selten wird mal was instand gesetzt. Alles bröselt, zerbricht und verfällt. Im Winter wirkt jeder Ort in der Ukraine wie ein Thermalheilbad. Aus geplatzten Wasserrohren steigt heißer Dampf auf, während es in den Wohnungen kalt bleibt. Nur 10–20 Prozent der Fernwärme kommen überhaupt in den Heizkörpern an. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass man dennoch 100 Prozent bezahlt. Diese sinnlose, ukraineweite Verschwendung von Ressourcen macht das Land zum Vasallen russischer Gaslieferungen. Das ist Russland nur recht (…).« Man erfährt auch Absurdes über die Sicht auf den Westen: »Im Vorfeld des EU-Gipfels in Vilnius wurden abartige Behauptungen verbreitet: Käme es zu einem Assoziierungsabkommen mit der EU wären die Leute binnen kurzem ohne Arbeit und ihre Kinder würden zur Homoehe gezwungen werden.« In diesem vielstimmigen Band lesen sich viele Beiträge wie Fragen und Antworten aufeinander. Orlando Figes, Professor für russische Geschichte in London, antwortet indirekt auf einige Beiträge, in denen große Hoffnungen auf Europa zum Ausdruck kommen. »Brüssel wird sich kaum zu einer grandioseren Vision verpflichten, wie sie manche Ukrainer hegen. Es wird kein visafreies Reisen für Ukrainer geben, geschweige denn eine EU-Mitgliedschaft für die Ukraine. Die Ukraine ist zu groß und zu arm, um von der Europäischen Union integriert zu werden.« Er empfiehlt, sich ein Vorbild an der Tschechoslowakei zu nehmen, die sich nach einem Referendum im Jahr 1993 – ohne Einmischung von außen – friedlich in die tschechische und slowakische Republik teilte. Beide Länder unterhalten heute nach der sogenannten »samtenen Scheidung« äußerst freundliche bilaterale Beziehungen. Den grundlegenden außenpolitischen Kurs – EU-Assoziierungsabkommen oder Partizipation an der Eurasischen Union – sollten nach Meinung von Figes die Bürger in der Ukraine per Referendum selbst festlegen. Was in dem Band nicht zu finden ist, sind prorussische Stimmen. Anhänger von Putin kommen hier nicht zu Wort. Das war aber auch erklärtermaßen nicht die Absicht dieser höchst lesenswerten Anthologie. Claudia Dathe und Andreas Rostek (Hg.): Majdan! Ukraine, Europa. Übersetzt von translit e.V. u.a., edition.foto TAPETA, Berlin 2014. 160 Seiten, 9,90 Euro.

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Der Schmerz des Grenzübertritts Ville Tietäväinens Graphic Novel »Unsichtbare Hände« begleitet einen nordafrikanischen Flüchtling nach Europa. Ein fiktiver Einzelfall zeigt, wie grausam das europäische Grenzregime ist. Von Maik Söhler

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er europäischen Flüchtlingspolitik sind in den vergangenen Jahren Tausende Menschen zum Opfer gefallen. Charakteristisch für diese Politik ist ein System, das befestigte Anlagen, eine hochgerüstete Grenzschutzagentur Frontex und verschiedene politische und juristische Maßnahmen umfasst. Ziel ist es, genügend Flüchtlinge in die EU zu lassen, um stets ausreichend Niedriglohnarbeiter in Branchen zu haben, in denen Europäer nicht arbeiten wollen. Alle anderen werden hingegen abgewiesen. Indes braucht es die große Erzählung vom tödlichen europäischen Grenzsystem nicht, um von denselben Ergebnissen zu berichten. Ein genauer Blick auf einige der Einzelfälle kann das auch. Ville Tietäväinen, finnischer Autor und Illustrator, zeigt, wie es geht: Seine neue Graphic Novel »Unsichtbare Hände« nimmt sich auf mehr als 200 Seiten einen solchen Einzelfall vor und breitet eine Geschichte voller Hoffnung und Tragik vor uns aus. Es ist die Geschichte von Rashid, einem marokkanischen Tagelöhner, dessen Einkünfte aus der Schneiderei, gelegentlichem Fischfang und ein wenig Landwirtschaft schon lange nicht mehr reichen, um das tägliche Leben von Frau, Kind und seinen gebrechlichen Eltern zu sichern. Aufgrund von Familientraditionen, religiösen Bräuchen und der schwierigen ökonomischen Situation Marokkos sieht Rashid kaum Chancen, seine Situation zu verbessern. Europa lockt. Da sind die Reden jener Nachbarn und Freunde, die aus Belgien, Frankreich oder Spanien zurückgekehrt sind und die dort zeitweise ihr Auskommen gefunden haben. Dabei werden die schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migranten in Europa nicht verschwiegen: harte Arbeit im Bergbau, Gesundheitsprobleme durch Pestizide in der Obst- und Gemüseindustrie, ein Alltag in Migrantenghettos am Rande der Großstädte, Polizeiwillkür, Diskriminierung, Rassismus. Wie groß muss das Elend sein, wenn trotz alledem Europa als Paradies erscheint? Rashid nimmt Kontakt mit Schleppern auf, lässt alles zurück und macht sich auf den Weg nach Spanien. Der Sozialanthropologe Marko Juntunen schreibt im Vorwort des Buches: »Das Phänomen, das man in Europa illegale Einwanderung nennt, heißt in Marokko harraga. Mit dem Wort ist der Übergang oder die Grenzüberquerung gemeint, es bezieht sich aber auch auf das Verbrennen von Dokumenten und

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den Schmerz in der Brust eines Mannes, von dem erwartet wird, der Ernährer zu sein.« Harraga also. Bei der Überfahrt in einem überfüllten Boot kommt Rashid fast zu Tode. Seine nächste Station auf den großen Gemüseplantagen im Süden Spaniens ist gekennzeichnet von schlecht bezahlter Arbeit, einem kargen Leben im Müll am Rande der Plantagen und den Debatten, die er mit seinen arabischen Freunden führt: Warum verweigert der Staat migrantischen Arbeitern einen legalen Status? Wie kann ein gläubiger Muslim in einer solchen Situation seinen religiösen Geboten nachkommen? Warum reicht das Einkommen nicht, um die Familie in Marokko nennenswert zu unterstützen? War es in Marokko nicht doch besser? In Tietäväinens Zeichnungen überwiegen in jenem Kapitel die Farben Ocker, Braun und Grau. Erst im weiteren Verlauf des Buches wird der Leser feststellen, dass hier – aller Not, Plackerei und Schikanen von Vorarbeitern auf den Gemüsefeldern zum Trotz – die hellsten Zeichnungen des Buches zu finden sind. Es ist ein beschwerliches Leben, das Rashid führt, doch es gibt ihm ein wenig von der Sicherheit zurück, die seit der Abreise aus Marokko verlorengegangen ist. Das gute Leben in Europa ist zwar anderswo, der Traum davon bleibt ihm jedoch vorerst erhalten. Doch die Erntesaison endet, Rashid macht sich ohne Papiere auf den Weg in den Norden Spaniens und landet in Barcelona. Er verkauft Ramsch an Touristen, versucht sich als Kleindealer, bettelt und lebt auf der Straße, sein Verfall beschleunigt sich von Pinselstrich zu Pinselstrich, von Bild zu Bild, von Seite zu Seite. Ein alter Bekannter bringt Hoffnung und eine Perspektive auf ein anderes Leben. Hilfe naht. Doch es ist zu spät. »Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist frei erfunden, aber es gibt tausende Variationen davon, die wahr sind«, heißt es im Vorspann. Ein Leben im Dunkeln. Szenen

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nungen und Sprache übersetzt. Und weil es die Komplexität von Armutsmigration zu fassen versucht und damit dem Einzelnen im brutalen, politisch und wirtschaftlich gewollten Grenzsystem jenen Raum gibt, den ihm Europa verweigert. Die Illustrationen erfassen Rashid jenseits aller ökonomischen Zurichtungen und rassistischen Zuschreibungen von Grenzbeamten, Polizisten, Vorarbeitern und Nachbarn; aber auch jenseits von romantisierenden antirassistischen Projektionen; er ist ein Mensch, der Fehler macht, und das nicht zu knapp. Ville Tietäväinen: Unsichtbare Hände. Aus dem Finnischen von Alexandra Stang. Lettering: Tinet Elmgren. Avant-Verlag, Berlin 2014. 216 Seiten, vierfarbig, 34,95 Euro. Von jedem verkauften Buch gehen zwei Euro an Pro Asyl. Weitere Auszüge aus dem Buch finden Sie in unserer Tablet-App. Mehr Infos: www.amnesty.de/app

Zeichnungen: Ville Tietäväinen / Avant-Verlag

Ville Tietäväinens fiktiver Einzelfall eines Flüchtlings, der in Europa sein Glück sucht und scheitert, versammelt alles, was man über die Wechselwirkungen von Migration und Politik, Ökonomie und Moral sowie das europäische Grenzregime und seine Auswirkungen auf Menschen inner- und außerhalb der EU wissen sollte. Teile der europäischen Wirtschaft bauen auf der Arbeit von Flüchtlingen auf, die aber im Alltag unsichtbar bleiben müssen, weil ihr Dasein angeblich illegal ist. Die »Festung Europa« ist aus ökonomischen Gründen durchlässig, so entstehen Träume, die nur für die wenigsten in Erfüllung gehen. Kapitalismus, Rassismus und die Abwesenheit von Moral auf der einen Seite gehören zusammen mit Vereinzelung, Entrechtung und materieller wie psychischer Not auf der anderen. Tietäväinen hat für diesen Zusammenhang das richtige Medium, die richtige Sprache und die richtigen Bilder gefunden. »Unsichtbare Hände« ist ein Meisterwerk, weil es eine widersprüchliche Politik und vielfältige Emotionen in Zeich-

aus »Unsichtbare Hände«.

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»UnsIchTbare hänDe«

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Auf den Steinen der In »Stein, Papier« erzählt Tomer Gardi die Geschichte seines Kibbuzes, für dessen Bau Steine eines zerstörten palästinensischen Dorfes verwendet wurden. Von Isabel Enzenbach

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Jugendfreunde und Eltern mit Fragen, geht in Archive und sucht Kontakt zu den vertriebenen palästinensischen Familien. Ausgangspunkt seiner Recherche ist das Kibbuzarchiv, einst das Kinderhaus, in dem Gardi aufgewachsen ist. Dort findet er Dokumente und Schilderungen der Pioniere jüdischer Siedlungen im Norden Israels. Gardi ist Enkel eines Sklavenarbeiters in den Steinbrüchen des Konzentrationslagers Mauthausen. Selbstverständlich bekommt er den Schlüssel zum Archiv und alle Freiheit, die er zur Erschütterung der Geschichtserzählung seines Kollektivs nutzt. Das Kibbuz-Museum jedoch birgt keinen Hinweis auf seine Entstehung und auf den ersten arabisch-israelischen Krieg 1948. Der Autor erzählt mit Furor die Geschichte der Zerstörung des palästinensischen Dorfs und dekonstruiert die Sichtweise, wie sie in dem Museum – gebaut aus den Steinen der Häuser von Hounin – mit seiner Hinwendung zur Natur und

Foto: Zoltan Kluger / GPO / Getty Images

ls hätte ich ein lebendiges Pferd verschluckt, das mit mir auf seinem Rücken losgaloppiert«, so beschreibt Tomer Gardi seinen Zustand, als er beiläufig erfährt, wie das Museum im Kibbuz Dan entstanden ist: Es wurde mit Steinen eines zerstörten arabischen Dorfes erbaut. Das offene, aber unausgesprochene Geheimnis lässt ihn nicht mehr in Ruhe. Gardi galoppiert mit seinen Lesern in einem sehr persönlichen Buch durch die Geschichte des Kibbuzes, in dem er geboren und aufgewachsen ist. Er erzählt die verschwiegene Geschichte des 1948 zerstörten palästinensischen Dorfes Hounin, das Schicksal seiner Bewohner, der von israelischen Soldaten vergewaltigten palästinensischen Frauen und den Weg der Steine, die benutzt wurden, um an anderer Stelle die jüdische Kollektivsiedlung zu errichten. Dabei geht es Gardi in »Stein, Papier« um ein grundsätzliches Infragestellen: Er nervt seine

Neuland. Ein zionistisches Mitglied des Kibbuz Dan während des britischen Mandats, Juni 1946.

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Tomer Gardi: Stein, Papier. Eine Spurensuche in Galiläa. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Rotpunktverlag, Zürich 2013. 296 Seiten, 27,50 Euro.

Foto: Oded Balilty / AP / pa

Geschichte der Region angeboten wird. Die Pläne zur Trockenlegung der nahegelegenen Sümpfe, die zeitweise verfolgt wurden, verbindet Gardi mit Mythen und Fantasien über Sümpfe und unterzieht diese ebenfalls einer Fundamentalkritik. Bei seinen Archivrecherchen stößt er unter anderem auf Spuren der ersten israelischen Wehrdienstverweigerer. Er beschreibt eindrücklich ihre Verfolgung durch die Armee und die persönlichen Dramen und Familiengeschichten dieser als Drückeberger stigmatisierten Jungen in den Anfangsjahren des israelischen Staates. Wo er hinkommt, beginnt er zu graben, in Wunden zu bohren. Gardi sucht auch Kontakt zu ehemaligen Bewohnern Hounins. Er findet Nachfahren der ehemaligen Dorfbewohner in Berlin und im Libanon. Doch das Misstrauen, das ihm entgegenschlägt, ist unüberwindbar. Sprachlich und formal ist »Stein, Papier« subjektiv, sprung-

haft, radikal. Die Lust am Widerspruch ist das Grundprinzip des assoziativen Textes, voller literarischer Anspielungen: So bezieht sich Gardi unter anderem auf Dantes Göttliche Komödie, das Nibelungenlied, Joseph Conrads »Herz der Finsternis« und Gedichte Else Lasker-Schülers, um das Geschehen einzubetten. Es ist kein leicht und flüssig zu lesendes Buch, sondern ein Ritt in verschiedenen Gangarten, der eine subjektive und kritische Auseinandersetzung mit israelischen Geschichtsmythen erlaubt. Überraschend endet die Spurensuche mit der versöhnlichen Utopie einer multiethnischen Gesellschaft. Im Kibbuz Dan schlagen, während er das Buch schreibt, aus dem Libanon abgefeuerte Katjuscha-Raketen ein, so erzählt es Gardis Vater dem Sohn am Telefon: »Wir hätten um ein Haar deine Steine nach Hounin zurückbringen können.« Ein Glossar im Anhang klärt den nicht-israelischen Leser über einige der zahllosen Anspielungen auf, die für die meisten deutschen Leser vermutlich rätselhaft sind. So öffnet das Buch die Tür zu innerisraelischen Auseinandersetzungen über die »Nakba«, die Vertreibung der Palästinenser aus dem damaligen britischen Mandatsgebiet. Darüber hinaus bietet »Stein, Papier« eine Auseinandersetzung mit Geschichtserzählungen in politischen Konflikten, die sich verallgemeinern lässt.

Krieg und Leben. Ein aufgebrachter syrischer Panzer aus dem Sechs-Tage-Krieg, Badeszene am Fluss Banias, Kibbuz Dan, Gegenwart.

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Reggae und Kindersoldaten. Patrice Bart-Williams.

Die Geister des Bürgerkriegs Der deutsche Reggae-Sänger Patrice hat in Sierra Leone, dem Geburtsland seines Vaters, einen Kurzfilm mit ehemaligen Kindersoldaten gedreht. Von Daniel Bax

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acht liegt über dem Hafen von Freetown, nur eine kleine Barke schaukelt im Wind. Später sieht man eine Gruppe junger Männer in einem verwahrlosten Gebäude, die Schießübungen machen. So beginnt der Kurzfilm, den der Reggae-Sänger Patrice zu seinem neuen Album »The Rising of the Son« in Sierra Leone gedreht hat. Es ist das Regie-Debüt des 34-Jährigen, das bisher nur vor ausgewählten Zuschauern in Berlin und New York gezeigt wurde. Der gebürtige Kölner Patrice Bart-Williams ist der erfolgreichste Reggae-Star Deutschlands. Auch in Sierra Leone wird Patrice inzwischen als Musiker gefeiert. Ein ausdrücklich politischer Künstler ist er, trotz seines bedeutungsschweren Vornamens, aber nicht – seine Eltern benannten ihn nach Patrice Lumumba, dem ersten Ministerpräsidenten des unabhängigen Kongo, der 1961 vermutlich unter Mitwirkung der CIA ermordet und dadurch zu einer Ikone des afrikanischen Anti-Kolonialismus wurde. Mit seinem ersten Film tritt Patrice nun in die Fußstapfen seines Vaters, der ein bekannter Schriftsteller und Regisseur war. Gaston Bart-Williams kam, als Patrice elf Jahre alt war, 1990 bei einem Bootsunglück in Westafrika ums Leben. Pa-

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trice leugnet nicht, dass sein Vater ihn inspiriert habe, lehnt aber jeden direkten Vergleich ab: »Er hat an der Filmhochschule in Berlin studiert, ich bin Autodidakt«, rückt er die Dinge im Gespräch zurecht. Sein Film handelt von einem jungen Mann, der versucht, einer gefährlichen Gang zu entkommen. Im Subtext geht es Patrice um den Umgang mit Ängsten und der Suche nach sich selbst. Der Titel, »The Rising of the Son«, ist ein Wortspiel, das so klingt, als wolle Patrice aus dem Schatten seines Vaters heraustreten. Doch so ist es nicht gemeint, betont er: »Dahinter steht die Idee einer Art Wiedergeburt: mit den Erfahrungen der Vergangenheit, aber mit der Unschuld eines Neugeborenen«. Für Patrice ist das ein Lebensthema, denn an dem Tag, an dem er geboren wurde, starb sein Großvater. »Für meinen Vater war das ein Symbol für den Kreislauf des Lebens, dass das Leben immer weitergeht«, sagt Patrice. In seinen Liedern transportiert Patrice ein Lebensgefühl, das weit über jene simple Happy-Go-Lucky-Botschaft hinausgeht, auf die Reggae manchmal reduziert wird. Sein Roots-Ansatz und seine eingängigen, aber raffinierten Kompositionen sind eigen, lassen indes Bezüge zu Vorbildern wie Bob Marley erkennen. Seinen Film hat Patrice bewusst im Land seines Vaters gedreht. Ein bis zwei Monate im Jahr verbringt er in Sierra Leone. »Ich hatte schon immer eine große Sehnsucht, diesen Teil meiner Familie kennenzulernen, mich da öfter aufzuhalten und das Land zu verstehen.« Die Dreharbeiten hätten »in einem der schlimmsten Slums von Freetown« stattgefunden, berichtet Patrice. Seine Schwester betreibt in Freetown ein Projekt, das Stof-

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Kickstart, es herrschte eine euphorische Stimmung«, sagt er. Doch mittlerweile herrsche Stagnation. »Die Leute stehen ja nicht unbedingt Schlange, um in Sierra Leone zu investieren.« Rassismus sei in dem einstigen Bürgerkriegsland jedoch Schnee von gestern. »Es ist heute sehr liberal in Sierra Leone, es gibt dort viele Mischehen«, sagt er. Der aktuelle Präsident sei Christ, der davor Muslim gewesen. »Religion wird da nicht so benutzt, um die Leute gegeneinander aufzuhetzen.« Selbst im Bürgerkrieg hätten deshalb eher »Voodoo-Geschichten« eine Rolle gespielt: So sei Kindersoldaten etwa erzählt worden, sie könnten gegen Kugeln immun sein, wenn sie sich mit einer bestimmten Salbe einrieben. Und »Rassismus«, sagt Patrice, »wird immer lächerlicher, weil – irgendwann werden wir alle einfach braun sein«. Der Autor ist freier Musikkritiker des Amnesty Journals und lebt in Berlin.

Fotos: Christian Gaul

fe für namhafte Modelabels in den USA und Europa herstellt. Die Jungs, die für sie arbeiten, verdienen sich so ihr Schulgeld und ihre Ausbildung. Durch sie kam Patrice an seine Darsteller, die zum Teil ehemalige Mitglieder einer Straßengang und frühere Kindersoldaten waren. »Sierra Leone ist ein sehr besonderes Land: sehr gemischt, sehr karibisch«, findet Patrice. Es wurde, wie Liberia, von befreiten Sklaven aus England, den USA und Jamaika gegründet. Auch Patrice kann seine Vorfahren auf sie zurückführen. »Zum Teil waren sie Sklaven, die über Kanada zurückgekommen sind. Und ein Urgroßvater von mir stammte aus Malaysia. Meine Familie hat also auch einen asiatischen Zweig«, sagt er. Besonders beeindruckt hat ihn in Freetown die St.-Johns-Church, die von befreiten Sklaven aus Jamaika errichtet wurde – die Decke besteht aus den Planken des Schiffs, auf dem sie einst gekommen waren. Reggae steht in Sierra Leone hoch im Kurs. »Es gibt einen offiziellen Bob-Marley-Day, eine 12-Tribes-Rastafari-Gemeinde wie auf Jamaika und die Sprache ist auch sehr nah am Patois«, berichtet Patrice. Ist das ein Grund, warum er sich selbst dem Reggae verschrieben hat? »Ich weiß nicht so genau, warum«, zögert er. »Aber je mehr ich die Geschichte kenne, desto mehr verstehe ich, warum das vielleicht in meinem Code so drin ist.« Sierra Leone ist eines der ärmsten Länder der Welt. Dass es reich an Diamanten ist, erwies sich als Fluch, denn damit wurde der Bürgerkrieg finanziert, der dort von 1991 bis 2002 tobte, mehr als 120.000 Menschen das Leben kostete und das Land bis heute zeichnet. Dennoch gilt der Wiederaufbau bisher als gelungen. Aber lassen sich die Wunden und Traumata so schnell lindern? Patrice ist da skeptisch: »Die Rebellen waren regelrechte Kampfmaschinen und haben Kindersoldaten rekrutiert. Es ist schwer, sie wieder in die Gesellschaft einzugliedern«, sagt er. Hinzu komme, dass man während des Bürgerkriegs nie so genau gewusst habe, wer Feind und wer Freund war. Die Rebellen hätten sich wie Zivilisten gekleidet und die Soldaten seien deshalb so paranoid gewesen, dass sie auf alles feuerten, was sich bewegte. »Da herrschte viel Angst und Anspannung, und dieses Misstrauen sitzt immer noch sehr tief«, sagt Patrice. Die Geister des Bürgerkriegs seien immer noch präsent. Auch den Wiederaufbau sieht er in Gefahr: »Am Anfang gab es einen krassen

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Kreativ gegen die Zensur lität. Im April 2014 ist von dieser Hoffnung nicht allzu viel übrig. Die Zensur ist weiterhin allgegenwärtig. Zensur spielt im Iran schon seit den fünfziger Jahren eine Rolle. Unter Schah Mohammad Reza Pahlavi orientierte man sich zunächst am Vorbild der Türkei: Da Staatsführer Atatürk sein Land modernisieren wollte, war es in der Türkei verboten, religiöse Themen aufzugreifen – der Islam durfte in keiner Form gezeigt werden. Die iranischen Zensoren variierten dies: Bei ihnen durfte lediglich kein negatives Bild des Islam gezeichnet werden. Was sich nach der Revolution im Jahre 1979 drastisch änderte, war das Ausmaß der Zensur: Die Vorschriften und Reglementierungen wurden strikter, der Druck auf die Regisseure nahm zu. Nacktheit ist verboten, Frauen dürfen nur mit Kopftuch gezeigt werden. Doch von solch klaren Regeln abgesehen, gibt es auch viele weiche Faktoren. Ein Film darf nicht der »islamischen Moral« widersprechen, doch der Begriff ist nicht exakt definiert und lässt Platz für individuelle Interpretationen. In der Praxis bedeutet das, dass ein Filmemacher schon eine Genehmigung braucht, wenn er nur plant, ein Drehbuch zu schreiben. Selbst nachdem alle Hürden genommen sind und der fertige Film ins Kino kommt, gibt es Risiken. Denn wenn er einer Autorität in einer Provinz des Iran nicht gefällt, kann diese

Das Filmfestival in der Schweizer Stadt Fribourg hat dem Iran einen Schwerpunkt gewidmet. Zu sehen gab es Filme aus einem Land, in dem Zensur Tradition hat. Und in dem Filmemacher geübt darin sind, diese Beschränkungen subversiv zu umgehen. Von Jens Dehn

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Fotos: Trigon Film, Xenix Film

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anchmal machen sie auch einfach dumme Sachen. Wenn sie wirklich gewusst hätten, welche Wellen der Panahi-Fall schlägt, wie groß das Ganze wird, dann hätten sie es nicht getan. Das Regime hat dafür einen hohen Preis zahlen müssen.« Aus Ehsan Khoshbakhts Worten klingt fast schon ein wenig Mitleid. Der im Exil lebende Filmkritiker und Blogger bezieht sich auf den Prozess im Jahr 2010 gegen den iranischen Regisseur Javar Panahi, der zunächst zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, die man später in Hausarrest und ein Berufsverbot umwandelte. Panahis »Vergehen« bestand darin, dass er einen Film drehen wollte über die Proteste gegen die Wiederwahl Mahmud Ahmadinedschads und deren gewaltsame Niederschlagung durch staatliche Milizen. »Gefährdung der nationalen Sicherheit«, hieß das dann offiziell. Die Empörung in der westlichen Filmwelt war und ist groß. Gemeinsam mit Panahi verhaftet wurde seinerzeit Mohammad Rasulof. Dessen jüngster Film »Manuscripts don’t burn« war Anfang April im Wettbewerb des Internationalen Filmfestivals Fribourg (FIFF) zu sehen. Er handelt von zwei staatlichen Auftragsmördern, die auf der Suche sind nach Kopien eines autobiografischen Manuskripts, die ein Schriftsteller versteckt hat. Darin offenbart er einen missglückten Anschlag auf mehrere Autoren und Journalisten, der vom Regime in Auftrag gegeben wurde. Festivaldirektor Thierry Jobin, der mit Rasulof befreundet ist, widmete dem Regisseur die Eröffnungsveranstaltung des FIFF. Persönlich teilnehmen konnte Rasulof nicht, sein Pass wurde ihm im vergangenen Jahr abgenommen. Das sind die Folgen, mit denen man als Filmemacher rechnen muss, wenn man das Regime angreift. »Das Problem ist, dass es keine Regeln gibt«, sagt Jobin. »Man kommt an den Flughafen, und wenn man Glück hat und an den Richtigen gerät, wird man durchgewunken. Wenn nicht, muss man bleiben.« Rasulof hatte in der Vergangenheit häufig Glück. Doch seine Erwartungen an die neue Regierung wurden ihm zum Verhängnis. Als Hassan Rohani im Juni 2013 als Sieger aus der Präsidentschaftswahl hervorging, haben sich die Menschen im Iran viel von ihm versprochen. Sein Vorgänger Ahmadinedschad hatte das Land immer tiefer in die Isolation getrieben. Der neue Mann stand für die Hoffnung auf mehr Libera-

Skurril. Ein modernes iranisches Epos – der Film »Fish & Cat« .

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dafür sorgen, dass der Film landesweit wieder aus den Kinos verschwindet. Ehsan Khoshbakht sieht einen Grund für die Willkür des iranischen Zensursystems in dem Apparat dahinter: »Innerhalb der Zensur wollen die Leute kreativ sein, also sagt einer: ›Lass uns Panahi verhaften.‹ Manchmal fängt alles mit einer kleinen bürokratischen Sache an. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass das Regime einige seiner Fehler bereut. Panahis Fall ist extrem – 20 Jahre Gefängnis für die Idee, einen Film zu machen. Nicht einmal Stalin hat das geschafft.« Mohammad Rasulof verzichtet bei »Manuscripts don’t burn« darauf, Mitarbeiter und Schauspieler namentlich im Abspann zu nennen – um sie auf diese Weise zu schützen. Es ist nicht der einzige Film aus jüngster Zeit, der die Mitarbeiter der Produktion anonymisiert. Man denke an Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm »The Act of Killing«, der den Namen des CoRegisseurs zu dessen Schutz verheimlicht. »Es ist aber auch ein Code«, erklärt Ehsan Khoshbakht. »Ich glaube nicht, dass die Regierung den zweiten Tontechniker verhaften würde, weil er an dem Film mitgewirkt hat. Aber auf die Credits zu verzichten, ist auch eine Geste, ein symbolischer Akt.« Beim Filmfestival Fribourg stand der Iran in diesem Jahr besonders im Fokus. Mit »Manuscripts don’t burn« und »Fish & Cat« von Shahram Mokri waren gleich zwei Filme im Wettbewerb vertreten. Zudem initiierte Festivalleiter Thierry Jobin eine Retrospektive zum iranischen Kino, die auf den Festivals in Edinburgh und Toronto fortgeführt wird. »Seit Jahren sehen wir all diese großartigen iranischen Filme, doch unser Wissen über diese nationale Filmgeschichte ist dennoch bruchstückhaft. Das hat mich frustriert«, so Jobin. Das iranische Kino ist eines der ältesten der Welt und auch eines der produktivsten. Kino bedeutet für viele Iraner Freiheit, Gemeinschaft, Kommunikation, Wissen und Information. Und durch die Zensur haben die Menschen gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. »Nader und Simin – Eine Trennung« etwa war

»20 Jahre Gefängnis für die Idee, einen Film zu machen. Nicht einmal Stalin hat das geschafft.« im Iran gleichermaßen erfolgreich wie im Westen. Der Film gewann viele bedeutende Preise – vom Goldenen Bären der Berlinale bis zum Oscar. Während westliche Zuschauer darin vor allem ein Beziehungsdrama sehen, ist es für die Iraner ein sehr politischer Film. Er erzählt von einer modernen Frau, die raucht, sich die Haare färbt und das Land verlassen will, weil sich nichts bewegt. Zudem zeigt der Film eine gespaltene Gesellschaft, einen Klassenkampf zwischen einer weltlich orientierten, akademischen Schicht und religiös orientierten, einfachen Arbeitern. »Nader und Simin« war in der Retrospektive des FIFF ebenso zu sehen wie einige Werke von Abbas Kiarostami, des im Westen bekanntesten iranischen Regisseurs. Mit den offiziellen Stellen im Iran habe es bei der Zusammenstellung der Filme überhaupt keine Probleme gegeben, sagt Thierry Jobin, denn in erster Linie ging es darum, die iranische Kultur besser zu verstehen. »Der Iran hat eine so große filmische Tradition. Die staatlichen Behörden sollten mehr Vertrauen darin haben, dass auch kritische Filme ein Land und eine Kultur stärken können.« Der Autor arbeitet als freier Filmjournalist.

Regimekritisch. Für den Film »Manuscripts don’t burn« wurde über den Regisseur ein Ausreiseverbot verhängt.

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Das charIsMa Der alIce nkoM Strenge Abendgarderobe, höfliche Dankesfloskeln, matter Applaus: Preisverleihungen sind meist eine öde Angelegenheit. Im Berliner Maxim-Gorki-Theater hat Amnesty am 18. März die kamerunische Juristin Alice Nkom mit dem 7. Menschenrechtspreis ausgezeichnet. Die meisten Gäste hatten sich wohl auf einen zähen Abend eingestellt – doch dann betrat die Preisträgerin die Bühne. Von Ramin M. Nowzad

Heimat auf besonders heikle Fälle spezialisiert: Sie verteidigt Homosexuelle, die in Kamerun wegen »Unzucht« vor Gericht stehen. In dem zentralafrikanischen Land können Schwule und Lesben für bis zu fünf Jahre hinter Gittern landen, nur weil sie einen anderen Menschen lieben – für Alice Nkom ein Skandal. »Auch Schwule und Lesben sind Geschöpfe Gottes«, sagt sie. »Wer Homosexuelle ablehnt, stellt Gottes Schöpfung in Frage.« Auch außerhalb des Gerichtssaals hat die Juristin den Kampf gegen Homophobie aufgenommen: Im Jahr 2003 gründete sie ADEFHO, die erste Nichtregierungsorganisation, die sich in Kamerun für sexuelle Minderheiten einsetzt. Die Organisation bietet unter anderem psychologische Beratung, sexuelle Aufklärung und Sicherheitstrainings an. Mit ihrem Einsatz für Homosexuelle hat sich Alice Nkom in Kamerun nicht nur Freunde gemacht. Sie erhält regelmäßig Morddrohungen – per Mail, per SMS, am Telefon und selbst im Fernsehen. Im größten Privatsender des Landes hat ein Anwaltskollege mit der Bibel in der Hand ihren Tod gefordert. »Ich werde in meiner Heimat beschimpft, bedroht und diffamiert«, sagte Alice Nkom. »Dass ich nun für meinen Einsatz erstmals mit einem Preis geehrt werde, bestätigt mich enorm.« Mit dem Menschenrechtspreis ehrt die deutsche Sektion von Amnesty International alle zwei Jahre Persönlichkeiten und Organisationen, die sich unter schwierigen Bedingungen für die Menschenrechte einsetzen. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert, die von der »Stiftung Menschenrechte« bereitgestellt werden. Alice Nkom versteht die Auszeichnung als Ansporn: »Der Preis ist für mich wie das Gelbe Trikot der Tour de France. Es ist ein großer und wichtiger Etappensieg. Aber eines ist klar: Meine Arbeit geht weiter.« Ihre Dankesrede versuchte sie übrigens so kurz wie möglich zu halten. Denn eines machte die lebenslustige Juristin bereits auf der Bühne klar: Es sollte noch genug Zeit bleiben, um im Theaterfoyer in die Nacht zu tanzen.

Fotos: Christian Ditsch / Amnesty, Henning Schacht / Amnesty

Preisverleihungen sind häufig wie schlecht gebratene Rindersteaks: zäh und ungenießbar. Schließlich weiß man bei solchen Zeremonien meist schon im Voraus, was auf der Bühne passieren wird: Ein Moderator begrüßt das Publikum, ein Laudator lobt den Preisträger, der Geehrte bedankt sich artig – und zwischendurch gibt es etwas Musik. Als am 18. März im Berliner Maxim-Gorki-Theater der 7. Menschenrechtspreis von Amnesty International verliehen wurde, hätte eigentlich alles nach diesem Schema ablaufen können: Die ZDF-Moderatorin Katty Salié führte souverän durch den Abend, für die Laudatio war Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty aus London angereist, und das handzahme Pop-Quartett MIA begleitete die Zeremonie musikalisch. Und doch kam alles ganz anders: Zum Schluss sprangen die rund 400 geladenen Gäste euphorisiert von ihren Sitzen wie juvenile Fans auf einem Rockkonzert. Etwas hatte den Saal erfasst, mit dem keiner gerechnet hatte: das Charisma der Preisträgerin. Alice Nkom besitzt eine Ausstrahlung, die so selten ist wie ein Goldstück im Rinnstein. Wenn die 69-Jährige zu sprechen beginnt, schlägt sie mühelos einen ganzen Theatersaal in ihren Bann. »Dieser Preis gehört nicht mir, sondern er gehört allen, die sich auf dieser Welt für die Menschenrechte einsetzen«, sagte sie, als sie auf der Bühne die Auszeichnung entgegennahm. Ihre Aura und Eloquenz kommen ihr in ihrem Beruf zupass: Alice Nkom arbeitet als Rechtsanwältin und hat sich in ihrer

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»Meine Arbeit geht weiter.« Alice Nkom bei der Preisübergabe im Maxim-Gorki-Theater und mit Klaus Wowereit im Berliner Rathaus.

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Foto: Henning Schacht / Amnesty

Lebenslustige Juristin. Alice Nkom tanzt mit Selmin Çalışkan, der deutschen Amnesty-Generalsekretärin, nach der Preisverleihung in die Nacht.

sTarke worTe Nachdem Alice Nkom in Berlin den Amnesty-Menschenrechtspreis entgegengenommen hatte, reiste die kamerunische Rechtsanwältin durch Deutschland. In fünf Städten berichtete sie von ihrem Kampf für die Rechte sexueller Minderheiten in Kamerun. Zu den Veranstaltungen hatten lokale AmnestyGruppen eingeladen. Von Jana Pittelkow »Es ist schon immer mein Traum gewesen, einmal nach Deutschland zu reisen«, sagte Alice Nkom. Doch blieb der 69Jährigen neben den zahlreichen politischen Terminen und Interviews kaum eine freie Minute, um Deutschland touristisch zu erkunden. Denn nachdem sie den Amnesty-Menschenrechtspreis in Berlin entgegengenommen hatte, brach sie auch schon zu einer Vortragsreise nach Hamburg, Köln, Leipzig, Frankfurt am Main und Mannheim auf. Der Andrang bei den Veranstaltungen war teilweise so groß, dass Besucher stehen oder auf dem Boden Platz nehmen mussten oder – wie in Köln – aus Sicherheitsgründen nicht mehr in den überfüllten Saal hineingelassen werden konnten. Nkom, die stets in traditioneller kamerunischer Robe auftritt, berichtete über ihren unermüdlichen Kampf für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen in Kamerun. Sie erläuterte die Entwicklung der Rechtsgrundlagen in ihrem Land, die Bedeutung der Kirchen, den Einfluss der Massenmedien und die Rolle des langjährigen Präsidenten Paul Biya. Sie schilderte auch konkrete Schicksale ihrer Mandanten, die deutlich machten, dass die den Menschenrechten widersprechenden Gesetze in der Praxis sogar noch schärfer gehandhabt werden als im Gesetzestext vorgesehen.

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In einigen Städten wurde zusätzlich der Film »Born This Way« gezeigt. Die Dokumentation von Shaun Kadlec und Deb Tullmann entstand ohne offizielle Genehmigung und veranschaulicht auf dramatische Weise, wie sexuelle Minderheiten in Kamerun diskriminiert und verfolgt werden. Mit ihrer herzlichen Art und ihren starken Worten fesselte Alice Nkom allerorts das Publikum. Gudula Dinkelbach, Amnesty-Bezirkssprecherin Rhein-Neckar, brachte es auf den Punkt: »Sie kennenzulernen, war ein Erlebnis!« Nkom selbst war überrascht von den zahlreichen Besuchern und dem großen Interesse an der kamerunischen Situation, das sich auch in den Diskussionen widerspiegelte. Sie sei bewegt von der familiären Herzlichkeit, mit der sie in Deutschland aufgenommen worden sei, sagte die Rechtsanwältin, und versicherte, dadurch einen starken Rückhalt für ihre Arbeit erhalten zu haben. Sie äußerte den Wunsch, eine Befreiungsbewegung in Gang setzen zu können, wie dies einst Rosa Parks in den USA mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gelungen sei. Alice Nkom appellierte an die Menschen in Europa und anderen westlichen Ländern, sich für die Menschenrechte und insbesondere für die Rechte Homosexueller einzusetzen, denn in Afrika sei eine Vernetzung der Aktivisten derzeit sehr schwierig. Alice Nkom und ihre Arbeit sind faszinierend. Die außergewöhnliche Frau scheut keine Anstrengung, um die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen zu verteidigen. Nach ihrem ereignisreichen Deutschlandaufenthalt führte sie ihre Reise weiter nach Österreich, um dort bei weiteren Amnesty-Veranstaltungen von ihrem Kampf für die Menschenrechte zu berichten.

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Foto: Amnesty

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Bei Gefahr Knopfdruck. Mit dem »Panic Button« sollen gefährdete Personen schnell und sicher einen Hilferuf abschicken können.

sos-aPP FÜr MenschenrechTsakTIvIsTen Amnesty International hat die erste Version des »Panic Button« veröffentlicht, eine Smartphone-App für Menschenrechtsaktivisten. Falls unmittelbare Gefahr droht, zum Beispiel durch eine Festnahme oder eine Entführung, können Betroffene mithilfe der App einen Hilferuf absetzen. Die Nachricht wird als SMS verschickt, eine Internetverbindung ist nicht notwendig. Tanya O’Carroll ist Expertin für den Bereich Technologie und Menschenrechte bei Amnesty und für die Entwicklung der SOSApp verantwortlich: »Die Verteidigung von Menschenrechten ist in vielen Ländern der Welt gefährlich. Aktivisten sind unterschiedlichen Bedrohungen ausgesetzt, die von Inhaftierung bis hin zu Folter reichen.« Mithilfe des »Panic Button« haben Menschenrechtsverteidiger nun ein Hilfsmittel zur Hand, um ihr Unterstützernetzwerk schnell und sicher zu kontaktieren. Die Benutzeroberfläche ist übersichtlich gestaltet: Drei Kontakte können hinterlegt werden. Damit die App nicht als solche erkannt wird, verschleiert ein Tarnbildschirm ihre eigentliche Funktion. Mithilfe der GPS-Funktion des Mobiltelefons lassen

sich zudem Standortdaten mitteilen. In der derzeitigen Testversion steht der »Panic Button« ausschließlich für Smartphones mit Android-System zur Verfügung. Zukünftig soll jedoch auch eine Version für iOS-Mobiltelefone veröffentlicht werden. Bei der Entwicklung spielt Teamarbeit eine wichtige Rolle: »Im Moment arbeiten wir mit Menschenrechtsverteidigern aus 16 Ländern zusammen«, sagt Tanya O’Carroll. Hunderte Aktivisten aus El Salvador, den Philippinen und Kenia haben den »Panic Button« in den vergangenen Monaten in Bezug auf Sicherheitsaspekte und Handhabung getestet. Der »Panic Button« ist das Resultat zahlreicher internationaler Workshops und Kooperationen mit Organisationen wie »Frontline Defenders«, die sich für Menschenrechtsverteidiger einsetzt. Das Internetunternehmen Google förderte die Entwicklung mit rund 120.000 Euro. Interessierte können sich ab sofort an der Testphase beteiligen. Auf der offiziellen Webseite https://panicbutton.io wird die App nach einer kurzen Anmeldung zum Download bereitgestellt.

syMPosIUM zUM »FlÜchTlInGsschUTz In DeUTschlanD UnD eUroPa«

Weltweit sind Millionen von Menschen auf der Flucht. Welche Verantwortung müssen Deutschland und Europa für sie übernehmen? Diese Frage stellt das 14. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz, das am 30. Juni und 1. Juli in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt stattfindet. Das Ringen um die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland und Europa hat grundsätzliche Fragen des internationalen

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Flüchtlingsschutzes aufgeworfen. Das Symposium spannt den Bogen von den Krisenerscheinungen der europäischen Flüchtlingspolitik bis hin zu Anforderungen an eine gelungene Integration in Deutschland. Die Tagung wird jährlich von der Evangelischen Akademie in Berlin – unter anderem in Kooperation mit Amnesty – organisiert. Anmeldungen können per Mail an die Evangelische Akademie gerichtet werden: andrae@eaberlin.de

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Das nächste Spiel ist immer das schwerste, lautet eine alte Fußball-Weisheit. Mit unserem Fußball-Rätsel »Zehn Fragen zum Schluss« haben wir es unseren Lesern auch nicht gerade leicht gemacht. Wer unser Quiz im Sonderheft »Menschenrechte und Fußball« lösen wollte, musste einigen Sachverstand mitbringen – oder seine Recherchekünste im Internet unter Beweis stellen. Umso mehr hat uns überrascht, wie viele richtige Einsendungen uns erreicht haben. Die Antworten lauten: 1b) Berti Vogts, 2a) Kaiser Franz, 3c) … den beliebtesten Freundschaftsbändchen, 4c) Schweiz, 5b) Asger Jorn (Künstler), 6b) Das WM-Qualifikationsspiel zwischen El Salvador und Honduras 1969, 7b) Kim Jong-hun (Nordkorea), 8a) Andrés Escobar (Kolumbien), 9b) Johannes Rau, 10c) 1:0 für Griechenland durch ein Tor von Sokrates in der letzten Spielminute. Die Gewinner wurden schriftlich benachrichtigt. Wir danken allen fürs Mitmachen!

akTIv FÜr aMnesTy

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

IMPressUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Selmin Çalışkan, Jens Dehn, Tanja Dückers, Isabel Enzenbach, Nicole Graaf, Knut Henkel, Barbara Hohl, Jürgen Kiontke, Michael Krämer, Daniel Kreuz, Sabine KüperBüsch, Reinhard Marx, Jana Pittelkow, Vanya Püschel, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Mathias Schreiber, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Carsten Stormer, Andreas Unger, Keno Verseck, Wolf-Dieter Vogel, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom GmbH, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 1433-4356

akTIv FÜr aMnesTy

selMIn ÇalIşkan Über

zwITschern Foto: Amnesty

FUssball-QUIz: DIe aUFlösUnG

Durch meine Teilnahme an den Gezi-Park-Protesten wurde ich zum Twitterfan. Ich wollte schnell Nachrichten und Fotos von meinen Erfahrungen aus Istanbul nach Deutschland schicken. Und natürlich gut informiert sein, durch welche Straßen ich gehen kann und wo mich Polizei und Tränengas erwarten. Ein echter Schutz! Ich twittere meistens auf Deutsch und Englisch, aber oft auch auf Türkisch, Spanisch oder Französisch. Es macht mir Spaß, zu schauen, was andere twittern, und wie ich Amnesty-Nachrichten unter die Leute bringen und natürlich an die Politik richten kann. Manchmal ist es aber gar nicht so einfach, in 140 Zeichen auf das Wesentliche zu kommen, ohne allzu kryptisch zu werden. Inzwischen ist das Twittern für mich zur Gewohnheit geworden. Und ich fühle mich dabei wie eine kleine mobile Nachrichtenagentur. Mit solch einer Organisation im Rücken, kein Wunder. Ich mag den kleinen blauen Vogel, denn er fliegt über alle Grenzen hinweg und zwitschert in allen Sprachen. Begrenzungen sind ihm genauso fremd wie mir, denn Gedanken kann man nicht in den Käfig stecken. Twitter ist gerade in der Türkei ein wichtiges Kommunikationsmittel geworden, da die Medien nicht über die Gewalt des Staates auf den Straßen berichteten und die Menschen sich angesichts der Polizeigewalt sehr kurzfristig organisieren mussten. An dem Tag, als Twitter in der Türkei gesperrt wurde, rief ich bei der türkischen Sektion an. Murat, der Sektionschef berichtete mir, dass viele die Sperre mit einfachen technischen Tricks umgehen und Anzeige gegen den Staat erstattet haben. Wenigstens hat das Verfassungsgericht die Sperre inzwischen als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit verurteilt. Erdoğan schäumte und tut es vermutlich immer noch. Knapp ein Jahr, nachdem die Proteste begannen, wird über Twitter weiterhin der Widerstand gegen die türkische Regierung organisiert. In neun Städten wird über Twitter konkreter Rechtsbeistand unter Angabe von Telefonhotlines und Treffpunkten angeboten. PS: Das Verfassungsgericht hat sich als Reaktion auf Erdoğans scharfe Kritik eine eigene Twitter-Adresse zugelegt. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.

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In Kamerun werden Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle offen diskriminiert, angegriffen und häufig willkürlich verhaftet. Sexuelle Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen können mit fünf Jahren Haft bestraft werden. Oftmals droht bereits bei einem Kuss, der falschen Kleidung oder einer bloßen Anschuldigung die Festnahme.

lIebe IsT keIn verbrechen Setzen Sie sich mit uns für die Menschenrechte in Kamerun ein. Jetzt: www.amnesty.de/kamerun

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