Amnesty Journal: Ausgabe August/ September 2015

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Foto: Luis Acosta / AFP / Getty Images

Eifersucht, Ablehnung, machistische Eitelkeit. Gina Potes

Zwar ist seit Mitte 2013 die Übernahme der Behandlungskosten für Säureopfern gesetzlich geregelt, aber in der Praxis wird dieses Gesetz immer wieder unterlaufen. »Viele Patienten kommen aus einfachen Verhältnissen. Da fehlt es manchmal am Geld für den Bus, um zur Klinik zu kommen«, sagt Dr. Gaviria. Für spezielle Cremes, die Patienten selbst bezahlen müssen, oder den Anwalt, der die Rechte auf die notwendigen Operationen einklagt, ganz zu schweigen. Bei Natalia Ponce de León, das erste Opfer aus Bogotás gut situiertem Norden, ist das nicht der Fall. Auch wegen der medialen Präsenz hat die Krankenversicherung alle Kosten anstandslos übernommen. Bei vielen Opfern aus dem armen Süden der kolumbianischen Hauptstadt ist das anders, bestätigen die Ärzte der Klinik Simón Bolívar. »Sie müssen für ihre Behandlung kämpfen und eine staatliche Rente für Opfer von Säureanschlägen gibt es nicht«, kritisieren Dr. Gaviria und sein Vorgesetzter Dr. Rafael Jimenez Osorio unisono. Das bemängelt auch die Stiftung Natalia Ponce de León, die Ende April 2015 gegründet wurde und ein Anlaufpunkt für Opfer werden soll. »Mein Ziel ist es, eine Herberge für Opfer in der Nähe der Klinik Simón Bolívar zu eröffnen. Dort sollen sie Rechtshilfe und psychologische Betreuung erhalten«, erklärt die Gründerin. Sie hat das Projekt Mitte April vorgestellt und ein Buch veröffentlicht, das von ihrem eigenen Leid und ihrem Kampf für ein Leben nach dem Säureattentat handelt. Ein Schritt, der vom städtischen Gesundheitsamt Bogotás begrüßt und unterstützt wird. »Diese Angriffe sind eine lebenslange Folter für die Opfer, ihr Leben wird zerstört – doch sie müssen es weiter leben. Scharfe Gesetze und umfassende Hilfe sind nötig«,

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mahnt Mauricio Bustamente García, der Leiter des Amts. García gehört zur linken Stadtverwaltung von Bogotá und verweist auf die hohe Dunkelziffer der Fälle und auf die Tatsache, dass bisher erst eine Handvoll Täter verurteilt wurden. Neben der Kultur der Gewalt nach sechzig Jahren Bürgerkrieg ist die Straflosigkeit ein weiterer Faktor. Gerichtsmedizinerin Delgado zufolge könnten die kolumbianischen Zahlen in Relation zur Bevölkerungszahl sogar über denen liegen, die aus Bangladesch und Indien bekannt sind. »Genau lässt sich das nicht sagen, denn bei der Gerichtsmedizin gehen nur die Fälle ein, die ein juristisches Nachspiel haben«, erklärt Delgado. Das ist längst nicht immer der Fall, denn bisher fallen Säureattentate in die Kategorie der »persönlichen Angriffe«. Sie haben damit den gleichen Stellenwert wie Schläge, gelten nicht als Attentat auf das Leben und werden mit Haftstrafen von nur wenigen Jahren geahndet – wenn es denn überhaupt zum Prozess kommt. Das soll sich nun ändern. Anfang Mai passierte ein Gesetzesentwurf in erster Lesung das Parlament, der für Säureattentäter Haftstrafen nicht unter zwölf Jahren vorsieht. Ist das Gesicht betroffen, ein Auge oder die Nase zerstört, sind Haftstrafen von bis zu 45 Jahren möglich. Opfer wie Natalia Ponce de León begrüßen die Gesetzesvorlage. Doch die 35-jährige Frau mit der rauen Stimme weiß genau, dass es damit nicht getan ist. »Wir müssen endlich der Kultur der Gewalt entgegentreten, diesem Verlust von Werten, der Ignoranz und Ungleichheit«, fordert sie. Dafür will sie sich mit ihrer Stiftung engagieren. Der Autor ist Lateinamerika-Korrespondent.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2015


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