Amnesty Journal November/Dezember 2021

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»Niemand fühlt sich mehr sicher« Interview: Oliver Schulz

Wie steht es derzeit um die Menschenrechtslage in Myanmar? Sie hat sich noch einmal verschlechtert. Vor dem Putsch war die Menschenrechtslage angespannt, aber im Moment fühlt sich niemand mehr sicher. Die Junta verstößt weiterhin gegen grundlegende Menschenrechtsprinzipien. Anstatt die Menschen zu schützen, geht das Militär mit eiserner Faust gegen sie vor. Bis Anfang Oktober sind 1.161 Menschen getötet worden, 8.835 wurden verhaftet, rund 7.000 waren vor einer Amnestie Ende Oktober noch in Gewahrsam. 279 Menschen wurden verurteilt, 65 von ihnen zum Tode. Sie beobachten vor allem die Situation in den Bundesstaaten Mon und Kayin sowie in der Region Tanintharyi, die allesamt im Süden des Landes liegen. Was geht dort vor sich? In den vergangenen Wochen hat die Junta die Militarisierung in der Nähe von Dörfern verstärkt und ethnische Widerstandsgruppen in einigen Bundesstaaten, darunter auch in Kayin und Mon, angegriffen. Dabei verstößt sie vorsätzlich gegen humanitäre Gesetze und Menschenrechte und zielt auf die Zivilbevölkerung. Was bedeutet das für die Bevölkerung? Es gibt viele direkte Bedrohungen. Zivilist_innen müssen zusehen, wie Bewaffnete ihre Häuser durchsuchen und willkürlich Angehörige festnehmen. Telefone, Geld, Motorräder und andere Gegenstände werden beschlagnahmt. Es gibt viele Kontrollpunkte an den Straßen, an denen die Polizei die Telefone der Menschen überprüft, um Beweise für eine Beteiligung an Protesten zu finden. Die Bevölkerung hat das Gefühl, jegliche Privatsphäre vollständig verloren zu haben. Wie legitimiert das Militär diese Maßnahmen? Im Moment steht der Bundesstaat Mon nicht unter Kriegsrecht, aber es gibt Bewegungseinschränkungen. Vor allem aber hat die Junta viele Gesetze geändert, um Demonstrant_innen und Zivilist_innen zu verfolgen, die angeblich Aktivitäten organisieren, die sich gegen militärische Interessen richten. So hat

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das Militär nach dem Putsch das Gesetz zum Schutz der Privatsphäre und Sicherheit in mehreren Abschnitten modifiziert. Dazu gehörte zum Beispiel die Aufhebung grundlegender Schutzmaßnahmen wie »das Recht auf Freiheit von willkürlicher Inhaftierung und das Recht auf Freiheit von anlassloser Überwachung und Durchsuchung und Beschlagnahme«. Woher bezieht das Militär seine Informationen? Informant_innen, »Dalan« genannt, sind sehr verbreitet in den südlichen Regionen. Von staatlichen Behörden unterstützt, können sie überall präsent sein, um etwa Aufenthaltsorte der vom Militär Gesuchten zu ermitteln. Viele von ihnen engagieren sich sogar in den örtlichen Gemeinden und sprechen sich zum Schein gegen das Regime aus. Es ist praktisch unmöglich geworden, jemandem zu vertrauen. Inwiefern wird die freie Meinungsäußerung eingeschränkt? Schon unter der demokratisch gewählten Regierung wurden Zivilist_innen strafrechtlich verfolgt, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausgeübt haben. Denn bereits Abschnitt 505(b) des Strafgesetzbuches machte jede Rede, die »Angst oder Alarm in der Öffentlichkeit« verursachte, zu einem Verbrechen. Das geänderte Strafgesetzbuch hat die Lage nun verschärft, zumal die entsprechenden Abschnitte vage formuliert sind. Es ermöglicht, jeden zu verfolgen, der das Militär oder die Regierung »sabotiert oder stört« oder »Fake News« verbreitet. Für Journalist_innen ist die Lage besonders schwierig. Viele wurden festgenommen und angeklagt. Im Gefängnis werden sie gefoltert und schikaniert. Viele Journalist_innen verstecken sich deswegen und berichten heimlich. Haben UN-Organisationen und internationale NGOs, die humanitäre Hilfe leisten wollen, Zugang zum Süden? Die Junta hat wichtige Routen blockiert, die für den Transport von Hilfsgütern benötigt werden. Deshalb stehen UN-Organisationen und lokale Organisationen beim sicheren Transport

»Die Bevölkerung hat das Gefühl, jegliche Privatsphäre verloren zu haben.« AMNESTY JOURNAL | 06/2021

Foto: Yan Naing Aung / Anadolu Agency / pa

Vor mehr als einem halben Jahr putschten die Generäle gegen die gewählte Regierung Myanmars. Danach kam es zu Protesten, die vom Militär gewaltsam niedergeschlagen wurden. Wie ist die Situation derzeit? Und wie ist die Lage in den ländlichen Gebieten, aus denen kaum Nachrichten nach außen dringen? Der Menschenrechtsaktivist Aue Mon weiß mehr.


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