Amnesty Journal November/Dezember 2021

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POLITIK & GESELLSCHAFT

Mein Weg zum Antirassismus ist unübersichtlich, voller verpasster Chancen, Bedauern und Entschuldigungen. Doch ich will ihn weitergehen. Von Alex Neve Ich weiß nicht, wo genau ich mich auf der Straße befinde, die zum Antirassismus führt. Ich weiß, dass ich mich auf den Weg gemacht habe, dass das Ende noch nicht in Sicht ist und dass ich unterwegs den Verkehrsschildern nicht immer die nötige Aufmerksamkeit gewidmet habe. Ich bin falsch abgebogen und habe auch Pausen eingelegt, für die keine Notwendigkeit bestand. Eine antirassistische Haltung ist mein Anspruch und meine Verantwortung, doch noch bin ich an diesem Ziel nicht angelangt. Dafür, und für vieles mehr, entschuldige ich mich. Ich bin fest entschlossen, es besser zu machen und ehrgeiziger zu sein. In jüngster Zeit haben besorgniserregende Vorfälle individueller Rassismuserfahrungen und Fälle von systemischem Rassismus innerhalb von Amnesty International viel öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Tatsächlich nimmt die Debatte über Rassismus und andere Fragen im Hinblick auf das Wohlergehen der Mitarbeiter_innen von Amnesty International innerhalb der globalen Bewegung bereits seit mehreren Jahren an Fahrt auf. Dies gilt auch im weiteren Sinne für die Menschenrechtsbewegung – was auch richtig und nötig ist. Zu lange war es den meisten Menschenrechtsorganisationen und vielen Menschenrechtsverteidiger_innen möglich, jedes Gefühl von Verschulden bzw. Verantwortlichkeit für Rassismus zu umgehen. Denn wir setzen uns doch gegen Rassismus ein! Wie kann es daher möglich sein, dass wir ihn aufrechterhalten oder verkörpern? Ich bin mir sicher, dass das in weiten Teilen auch mein eigenes Selbstbild war. Diese verleugnende Haltung müssen wir ablegen und uns auf einen Weg der Veränderung begeben. Das ist unumgänglich und ist auch der Grund, weshalb es nicht ausreicht, wenn ich schlicht um Entschuldigung bitte – Entschuldigung dafür, dass ich bisher zu langsam war beim Zu-

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hören, Lernen und Verändern meiner Einstellung. Worauf es ankommt, ist, dass ich die Ursachen verstehe. Warum war ich so langsam? Was stand dem Zuhören, Lernen und Verändern im Weg? Zuletzt haben Schwarze, Indigene und andere von Rassismus Betroffene durch die »Black Lives Matter«-Bewegung auf den Rassismus aufmerksam gemacht, der uns alle im täglichen Leben umgibt. Gemeint ist nicht nur der offensichtliche Rassismus seitens der Polizei, sondern der tief verwurzelte Rassismus, der überall und auch in uns selbst anzutreffen ist. Das ist bei mir angekommen. Sicherlich bedeutet das, dass ich schon vor langer Zeit hätte dazulernen und mich verändern sollen. Als jemand, der sich für die Menschenrechte einsetzt, nickte ich, stimmte zu und beklagte die Zustände. Und ich handelte. Mit Überzeugung und Entschlossenheit, in Partnerschaft und Solidarität mit Menschenrechtsverteidiger_innen, Familien und Gemeinschaften nahm ich mich zahlreicher Rassismusfälle an. Doch wie stand es mit den Lektionen und Veränderungen für mich? Habe ich mir ehrlich Gedanken gemacht über meine Rolle und meine Verantwortung? Es fängt langsam an, wenn auch viel zu spät. Und es gibt nur eine einzige Erklärung für diese Langsamkeit. Ich gestehe ein, dass es Rassismus selbst ist, der mich daran gehindert hat, meinen eigenen Rassismus anzugehen. Ich hatte fast 21 Jahre lang eine Führungsposition bei Amnesty International Kanada inne. Ich war also auch in Jahren bei Amnesty beschäftigt, als mehr Erfahrungsberichte und Kritik hinsichtlich Rassismus laut wurden. Ich möchte mich daher von vornherein vorbehaltlos für Fälle entschuldigen, in denen ich Rassismus nicht erkannt, nicht verstanden oder nicht in Angriff genommen habe. Ich entschuldige mich dafür, dass ich als Führungsperson, als Kollege und als Freund nicht genug getan habe. Es gibt keine Rechtfertigung. Meine Absicht ist es keinesfalls, mein Verhalten zu entschuldigen, umzudeuten oder zu erklären. Natürlich sind viele Kom-

AMNESTY JOURNAL | 06/2021

Foto: Alec Jacobson / Redux / laif

Für Menschenrechte, gegen Rassismus? Antirassismus verlangt mehr


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