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In der Vertikalen
from Bergauf #2
im Wilden Kaiser und die frühe Kletterfotografie Aus der Sammlung des Alpenverein-Museums, Teil 50
Felsabenteuer
Kodak-Objektiv, Blende 8
Doch halt! Ganz so schwindelerregend kann die Szene nicht sein, denn ganz in der Nähe musste wohl auch der Fotograf im steilen Gelände ein sicheres Plätzchen gefunden haben, von dem aus er den Apparat auf den Kletterer schräg über ihm richten konnte. Er hat die Aufnahme sorgfältig komponiert. Die Hälfte des Bildes nehmen die Wand und der Alpinist ein. Die andere Hälfte eröffnet den Blick in die Ferne, auf Bergrücken, die weit unterhalb des eigenen Standorts zu sein scheinen. Beim Fotografen dieser Szene handelt es sich um Dr. Erwin Hoferer, einen Arzt aus München, der als Autor und Bergfotograf bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein tätig war. Seine Bilder publizierte er in diversen Alpinzeitschriften. Die Umstände der Aufnahme sind überaus detailreich überliefert: „Am 3. Turm des Totenkirchl-SO-Grates. Kreitz“, so ist das Negativ des Laternbildes im Archiv des Alpenvereins betitelt. Der Kletterer am Bild ist also Heinrich Kreitz und, wie aus der Beschriftung eines weiteren Bildes hervorgeht, befindet er sich sich beim Einstieg zur Ostlertraverse. Vermerkt ist auch, dass das Foto am 1. Juni 1913 um 11 Uhr vormittags aufgenommen wurde, und zwar mit einem Kodak-Objektiv, Blende 8, auf Rollfilm. Derart detaillierte Hinweise gaben in der Regel fototechnisch ambitionierte Amateure.
Paradeberg des Kletterns
Die Klettertour führte Hoferer mit seinen Kameraden also in das Massiv des Wilden Kaisers, das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und endgültig kurz vor dem Ersten Weltkrieg zum Klettereldorado für Alpinbegeisterte, insbesondere aus München und dem süddeutschen Raum, geworden war. Viele der frühen Kletterpioniere waren hier unterwegs: der Begründer des „Freikletterns“ Paul Preuß natürlich, Josef Enzensberger, Hans Fiechtl, Wilhelm von Redwitz, Hans Dülfer, Werner Saarschmidt, Willy von Bernuth, Adolf Schulze oder Georg Leuchs. Als besondere Herausforderung im Kaisergebirge galt um 1900 das Totenkirchl, das mit 2.190 Me- tern zwar nicht sonderlich hoch ist, aber dafür klettertechnisch anspruchsvoll. 1881 war der Gipfel zum ersten Mal bezwungen worden, in den Jahren danach wurden immer neue und immer schwierigere Routen erkundet.
Eine neue Trendsportart
Die Geschichte des Kletterns ist aufs Engste mit der Geschichte der Kletterfotografie verbunden. Zahlreiche Pioniere ließen sich um 1900 in dramatisch erscheinenden Augenblicken ablichten. Warum das so war? Weil das Klettern sehr rasch zur Trendsportart wurde, die massenmedial verbreitet und propagiert wurde. Die Fotografien der kühnen Unternehmungen in der Vertikalen dienten häufig der Vermarktung und Popularisierung des eigenen Image. Zu den Pionieren, die sich um die Jahrhundertwende der Kletterfotografie zuwandten, gehören George und Ashley Abraham, die um 1890 im englischen Lake District in den USA fotografierten. In den Ostalpen fotografierten um und nach 1900 Wilhelm Paulcke aus Freiburg, W. Thiel aus Dresden, Josef March aus Brixen, der als einer der Ersten Kletterszenen in den Dolomiten aufnahm, ebenso Emil Terschak in Cortina sowie die Italiener Ettore Santi aus Turin und Adolfo Hess, der vor dem Ersten Weltkrieg unter anderem im MontblancGebiet unterwegs war. Einer der bekanntesten österreichischen Vertreter der frühen Kletterfotografie war Fritz Benesch.
Kletterszenen auf Postkarten
Nach 1900 bot sich ein neues Massenmedium an, um die dramatischen Kletterbilder in hohen Auflagen zu verbreiten: die fotografisch illustrierte Bildpostkarte. Sie zeigte in der Regel hochgradig inszenierte Szenen, die, oft mit flotten Sprüchen auf der Bildseite versehen, das Klettern als lustige Herausforderung darstellten. Auch im Kaisergebirge waren nach 1900 zahlreiche Fotografen unterwegs, um die Nachfrage nach dem neuen Genre zu bedienen: Der aus Kufstein stammende Anton Karg, der bereits 1877 in Kufstein eine Alpenvereinssektion gegründet hatte, galt als lokaler Pionier bei der touristischen Erschließung des Kaisergebirges. Neben Porträts und Landschaftsaufnahmen wandte er sich nach 1900 auch der Kletterfotografie zu. Zahlreiche seiner Aufnahmen ließ er als Ansichtskarten drucken. Auch Paul Relly, Walter Schmidkunz und Fried Henning, allesamt Kletterfreunde von Paul Preuß (der selbst auch immer wieder zur Kamera griff), fotografierten am Wilden Kaiser. Weitere Aufnahmen stammen von Adolf Schulze, L. L. Kleintjes, J. M. Peters sowie dem Nürnberger Postkartenverleger B. Lehrburger, um nur einige wenige Lichtbildner zu nennen.
Am Seil
Kommen wir aber noch einmal auf unser Bild zurück. Bei genauerem Hinse-
Wasserfilter

hen erweist sich dieses auch als spannendes Dokument der frühen Klettertechnik. Karabiner wurden im frühen 20. Jahrhundert noch kaum eingesetzt. Und der heute allgegenwärtige Hüft-Sitzgurt wurde erst viel später entwickelt, als serienreife Lösung erst ab den 1970er-Jahren. Einer der Alpinisten, die viel im Kaisergebirge kletterten, war der junge Hans Dülfer, der 1911 zum Medizinstudium nach München gekommen war und unzählige Male im Kaisermassiv unterwegs war. Auf sein Konto gehen zahlreiche Erstbesteigungen, auch am Totenkirchl kundschaftete er neue, immer schwierigere Routen aus. Nach ihm ist etwa der bis heute bekannte „Dülfer-Kamin“ benannt. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte er zum Abseilen den sogenannten „Dülfersitz“, bei dem das Seil um einen Oberschenkel und die Schulter läuft, eine Technik, die noch jahrzehntelang Verwendung finden sollte. Der Erfinder selbst sollte sie freilich nicht lange einsetzen, denn schon wenige Jahre nach seinem fulminanten Aufbruch musste der Star der Münchner Kletterszene in den Krieg ziehen. Er starb im Juni 1915 an der französischen Frontlinie – mit gerade 23 Jahren.
Dr. Anton Holzer ist Fotohistoriker, Ausstellungskurator und Herausgeber der Zeitschrift „Fotogeschichte“, er lebt in Wien. www.anton-holzer.at