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Der innere Sinn und das Erleben

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Alpines Erbe

Alpines Erbe

Mit dem Hochschullehrgang Erlebnispädagogik/ Erlebnistherapie bietet der Alpenverein seit 30 Jahren Interessierten die Möglichkeit, ein Werkzeug zur Förderung persönlicher Kompetenzen zu erlangen. Eine Annäherung.

von Karl Arthofer

Erlebnispädagogik und Erlebnistherapie haben ganz zentral mit innerer Offenheit und Lebendigkeit zu tun. Daher möchte ich nicht durch Definitionen, sondern durch Fragen den inneren Sinn für dieses Thema öffnen. Es heißt ja auch in der Wissenschaft –sogar in der Physik – schon seit über 100 Jahren sinngemäß „das Ergebnis hängt vom Beobachter ab“, also von der Art, wie man die Frage stellt.

Die ersten Fragen: Kann man Sinn, Glück und Erfüllung im Leben dadurch finden, dass man alles schneller, intensiver, perfekter macht? Indem man Funktionalität und Kontrolle immer mehr steigert? Kann man die eigentliche Substanz des Lebens objektiv fassen oder zieht sie sich immer zurück, wenn man sie be- bzw. ergreifen will?

Das Leben wird als echte innere Erfahrung nur erlebbar, wenn ich es nicht fassen will, sondern es erwarte. Wenn ich offen bin dafür, was es mir innerlich sagen will. Innerlich auf diese Weise angesprochen zu sein, bedeutet „Sinnerfahrung“, und der Wunsch nach einer positiven Entwicklung formt sich um zur Frage, inwieweit ich bereit bin, auf dieses Sinnerleben aktiv zu antworten. Symbolisch zusammengefasst: Wenn ich das Leben frage, ob ich an ihm teilhaben kann, dann fragt es mich innerlich nach meinem „Willen zum Sinn“, wie es der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor E. Frankl in seiner lebensbezogenen, prägnanten Sprache ausgedrückt hat.

Sprachweisheit

Im Zuge der letzten Jahrzehnte erlebten wir allerdings eine Dynamik der Beschleunigung, der Steigerung, die vor allem äußerlich stattfand, aber nicht zur angestrebten Erlebnissteigerung führte.

Je mehr sich der Mensch in dieser Einseitigkeit verliert, je mehr er sein Glück durch Quantität, durch Wirkung von außen, letztlich durch Informationsflut, sucht, desto mehr werden die inneren „Antennen des Spürenkönnens“ abgebaut.

Sie degenerieren bei Passivität. Wir sollten reagieren auf die Frage und den Hinweis des Lebens: „Was nützt dir diese gesteigerte Außenwirkung, wenn das Innere abstumpft und kaum mehr etwas aufnehmen kann? Das Innere wird nur dann lebendig, wenn du dich ihm achtsam zuwendest, wenn du den Sinn für die innere Stimme sensibilisierst.“

Wenn Menschen in Krisensituationen nicht über ihr mentales Potential verfügen können, dann sagt man oft: „Diese Person steht völlig neben sich.“ Wenn darüber hinaus die emotionale Dynamik zu heftig wird und zu Kontrollverlust führt, heißt es oft: „Der Mensch ist völlig außer sich.“ Die Sprachweisheit deutet damit auf Phänomene hin, welche gerade im pädagogisch-therapeutischen Arbeitsfeld von großer Bedeutung sind, für die es aber keine direkte Beschreibung gibt. Man sieht die Ergebnisse erst, wenn die Prozesse abgeschlossen sind.

Frankl verwendete für eine elementare, nicht direkt sichtbare Wirksamkeit die Formulierung „geistig Unbewusstes“ und beschrieb damit die Bewusstseinskraft, die quasi unsere Psyche zusammenhält. Bildhaft formuliert: Man sieht diese Kraft bei ihrer Tätigkeit nicht. Wenn sie aber Pause macht, dann sieht man die Folgen. Dazu gehören im psychiatrischen Arbeitsfeld der Formenkreis der Schizophrenie, die Persönlichkeitsstörungen, Trauma-Folgestörungen bzw. dissoziativen Störungen. All diesen Krankheitsformen gemeinsam ist ein Defizit an Selbstkontrolle. Neben dieser fehlenden Brücke zu sich selbst kann sich bei psychotischen Störungen (z. B. Schizophrenie) noch ein zweites Brückendilemma zeigen, nämlich die fehlende Brücke zur Realität.

Foto: Carolin Scharfenstein

Psychische Energie

Analog zur von Frankl beschriebenen Bewusstseins-Grundkraft sprach der französische Philosoph und Arzt Pierre Janet in seiner Dissertationsschrift „L’automatisme psychologique“ (Psychologischer Automatismus) von „nervöser psychischer Energie“, die alle mentalen Prozesse und Funktionen zusammenhalte und steuere. Bei einem Defizit dieser Energie habe der Mensch Schwierigkeiten, die Koordination seiner mentalen Funktionen (Erinnerungen, Wahrnehmungen, Willensakte etc.) bzw. die Ganzheit und Einheitlichkeit des psychischen Wesens aufrecht zu halten. Martin Buber bezog sich vor über 100 Jahren in seinem Buch „Ich und Du“ auf die hier geschilderte Bewusstseins-Grundkraft mit dem Doppelwort „Ich-Du“. Er beschrieb damit sinngemäß ein Verbunden-Sein an sich – im eigentlichen Sinne von Mensch zu Mensch, im erweiterten Sinne auch zur Natur, zur Welt, zum Leben überhaupt. Eine solche kann –primär durch die Erfahrung echter Hingabe – gefunden und im weiteren Verlauf gelebt werden: durch die eigene Antwort darauf, einer von sich aus vollzogenen, bewussten, echten Hingabe.

Damit ist auch beschrieben, was nötig ist, damit das Leben gut beginnen und entsprechend gut weitergeführt werden kann, nämlich die Bindungserfahrung und die im weiteren Verlauf gelebte empathische Haltung. Damit ist auch eine Verantwortungsfähigkeit gegeben und ein gewissenhafter Umgang mit der Sachebene (Ich-Es) im Lebensalltag. Wird die Außenorientierung einseitig und überbordend, dann kann es zur oben beschriebenen Verarmung des inneren Erlebens kommen. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig eine kulturelle Herausforderung, mit der wir aktuell konfrontiert sind und auf welche Buber damals hinwies, als er von einer Zunahme der Ich-Es-Orientierung sprach.

Was sind äußere Sicherheit, Reichtum und Karriere wert, wenn diese von Frankl, Janet und Buber beispielhaft beschriebene Integrationskraft nicht ausreichend verfügbar ist? Wenn man sich zu wenig spürt, sich innerlich leer fühlt, dann kann man solche Werte weder richtig erleben noch im Rahmen von sozialen Aktivitäten verwirklichen. Was bedeuten nun die geschilderten kulturellen und soziologischen Entwicklungsprozesse für die Erlebnispädagogik und Erlebnistherapie? Ergaben sich in den letzten Jahren neue institutionelle Verflechtungen, neue Akzente und Aufgaben in diesem Arbeitsfeld und wenn ja, haben sie Auswirkungen auf den Ausbildungsprozess und die Arbeitspraxis?

Eine sehr starke Ausprägung des oben geschilderten Problems bei der Selbstregulation und innerlichen Strukturierung besteht bei Persönlichkeits-, Trauma- und dissoziativen Störungen. Tendenzen in diese Richtung finden sich gegenwärtig bei immer mehr Jugendlichen und auch schon bei Kindern. Diese Menschen wünschen sich einerseits eine Verstärkung ihrer Erlebnisfähigkeit, sind aber zugleich oft bemüht, (extrem) belastende Erlebnisse in tiefere Schichten zu drängen, sie auf Distanz zu halten.

Sie würden sich also die Erlebenswirksamkeit und die Erneuerungskraft wünschen. Sie stehen aber zugleich vor der Frage, ob sie mit der bewirkten Offenheit umgehen können. Diese Menschen durch Erlebnistherapie zu unterstützen bedeutet, ihnen eine Hilfe auf zwei Ebenen anzubieten: Primär bei der Achtsamkeit und Gewährleistung der inneren Balance, damit neues Erleben in kleinen, gut kontrollierten Schritten möglich und ein Zuviel an Erleben abgewehrt werden kann.

Die alpine Natur wirkt von sich aus einladend zum aktiven Erleben von erbaulichen, gesundenden Inhalten. Sie spricht uns mit ihrer Schönheit innerlich an, trainiert unseren Sinn für Gleichgewicht beim Beschreiten von neuen äußeren und inneren Wegen. Bei einer derart wohlbalancierten Sensibilisierung für den aktiven Kontakt mit dem positiven Weltganzen kann sich der teilhabende Mensch sagen: „Gutes mit Menschen und der Natur fördert Gutes mit mir selbst.“

Kann man Sinn, Glück und Erfüllung im Leben dadurch finden, dass man alles schneller, intensiver, perfekter macht? Indem man Funktionalität und Kontrolle immer mehr steigert?

Autor: Dr. Karl Arthofer ist Facharzt für Psychiatrie/ psychotherapeutische Medizin, für Kinderund Jugendpsychiatrie in verschiedenen psychosozialen Versorgungseinrichtungen. Ausbildungstätigkeit im Bereich „Sinnzentrierte Säuglings-, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie“ sowie in Traumapädagogik (Verein Nordlicht) und Mitglied des Bundeslehrteams Erlebnispädagogik der Alpenverein-Akademie.

Info: Fachhochschullehrgang Erlebnispädagogik

Weitere Infos zur fundierten Ausbildung für erlebnispädagogische und erlebnistherapeutische Prozessbegleitung der FH OÖ und des Alpenvereins: www.erlebnispaedagogik.at

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