Liebes Tagebuch — Eine Dokumentation über das deutsche Tagebucharchiv

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Liebes Tagebuch ...



Liebes Tagebuch ... Eine Dokumentation ßber das Deutsche Tagebucharchiv



Liebes Tagebuch... Es gibt sicher viele Tagebuchschreiber da draußen. Mit größerer Sicherheit hat man von den wenigsten etwas gelesen. Im Stillen und Verborgenen werden Sehnsüchte, Träume, Wünsche und inneren Gefühlen auf Papier gebannt und in Geheimverstecken verstaut. So bleibt doch so mancht spannendet Lebensgeschichte ungelesen und verstauben, ohne dass jemand sie jemals zu Gesicht bekommt. Wie schön ist es doch zu wissen, dass es durch eine Institution wie das Deutsche Tagebucharchiv möglich ist, an kostbaren Schätzen menschlicher Erinnerung teilzuhaben. Im tiefen Süden der Republik, in einem kleinen Ort namens Emmendingen, wird seit nunmehr fast 20 Jahren, alles gesammelt was in den letzten Jahrhunderten hinter verschlossenen Türen aufgeschrieben wurde. Einsame misanthropische Philosophen, ungewollt schwangere Hausfrauen oder nach Amerika ausgewanderte Pfälzer. Alle haben etwas zu erzählen und jedes Dokument birgt ein weiteres spannendes Schicksal. Dieses Buch über Deutschlands einziges Tagebucharchiv mit Sitz in Emmendingen gliedert sich in drei wesentliche Kapitel: Das erste Kapitel stellt die Geschichte, Funktion und Arbeitsweise des Archivs anhand eines Interviews mit dem stellvertretenden Vorsitzenden vor. Das zweite Kapitel beinhaltet exemplarische Tagebucheinträge von Studierenden aus den letzten hundert Jahren. Im dritten findet man wichtige Informationen und Links rund um die Institution. Ein Reise in die Geschichte.



Archiv Das Deutsche Tagebucharchiv stellt sich vor. 8

Ein Gespräch mit Friedrich Kupsch, dem stellver-

trenden Vorsitzenden des deutschen Tagebucharchiv.

Tagebücher Studententagebücher aus der Sammlung des Archivs. 24

_ 1: 1902, Felix H. Tagebuch No

_ 2: 1932 – 1933, Ernst-Theodor P. 48 Tagebuch No  95

_ 3: 1961 – 1963, Erwin B. Tagebuch No

122

_ 4: 1990, Anna N. Tagebuch No

Anhang Informationen rund um das Archiv 160

Links und Informationen zum

Deutschen Tagebucharchiv. 164

Impressum



Archiv Das Deutsche Tagebucharchiv stellt sich vor.

An einem sonnigen Frühlingstag stellte sich der langjährige Mitarbeiter und stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Tagebucharchivs, in einem Interview den Fragen rund um das Archiv. Wie sieht das tägliche Arbeiten mit Tagebüchern aus? Woher kommen die vielen Bücher? Und die wichtigste aller Fragen: »Wie alt ist denn das Älsteste?«


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Hallo. Vielleicht könnten Sie sich

Dokumente, aber das ist im Moment etwas weni-

erst einmal kurz vorstellen.

ger. Oder aber wenn neue Dokumente kommen,

Meine Name ist Friedrich Kupsch und ich bin,

wie letzten Freitag, da waren zwei Geschwister

glaube ich, seit 2006, Mitarbeiter im Tagebuch-

da, die haben die Briefe ihre Mutter gebracht

archiv. Ich habe in der Lesegruppe angefangen,

und mir das alles erläutert. Also auch solche

aber inzwischen bin ich Stellvertreter von

Betreuungsarbeiten, sag ich mal, mit denen, die

unserer ersten Vorsitzenden Frauke von Trosch-

uns Dokumente liefern, mit denen zu sprechen

ke. Beruflich war ich selbst Geologe und bin

und auch alles vertraglich so zu regeln und

hier ins Archiv ab Beginn meines Ruhestandes

Informationen einzuholen und zu erfahren: Was

gekommen. Ich lebe schon seit 30 Jahren hier

steckt jetzt hinter den Dokumenten? Über-

in Emmendingen , genau seit 1976, und kannte

haupt Gespräche zu führen, denn da merkt man

eben Frau von Troschke von früher her und

welches Interesse auch von den Überlassern an

die Arbeit hier hat mich interessiert, obwohl

der Aufbewahrung hier im Archiv vorhanden ist.

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1 Emmendingen ist eine Stadt im Südwesten BadenWürttembergs, etwa 14 km nördlich von Freiburg im Breisgau. Seit 1973 ist Emmendingen Große Kreisstadt und mit ca. 26.000 Einwohnern größte Stadt und »Mittelzentrum« des Landkreises Emmendingen.

ich selbst kein Tagebuchschreiber bin. Doch nachdem ich hier mal reingeschnuppert hatte,

Da muss man aber auch schon pas-

fand ich es eine sehr interessante Aufgabe.

sioniert bei der Arbeit sein, denn wie ich weiß arbeitet man auf ehrenamtli-

Es hat ja auch was Geologi-

cher Basis? Oder wie ist es bei Ihnen?

sches, in der Zeit zu wühlen...

Ich arbeite ehrenamtlich.

Ja im Entfernten kann man das schon sagen. Interpretieren von alten Aufzeichnungen. In

Da gehört auch viel Interesse dazu.

der Geologie sind es die alten Spuren, die die

Natürlich! Ich mach es nur weil es mir Spaß

Erdgeschichte hinterlassen hat. Es kommt

macht. Manchmal ist auch einiges mühselig, aber

dazu, dass ich dort wo ich gearbeitet habe, im

man hat auch Zeit, sich den Aufwand frei zu

Landesamt für Geologie, auch über viele Jahre

gestalten. So lange das ist, mach ich das auch.

das Archiv geleitet habe und ich mich auch in solchen fachlichen Dingen etwas auskannte.

Dann kann man sagen, dass Sie

Denn die Systematik, was man im Archiv zu

von Anfang an dabei sind?

machen hat, wie die Erschließung der Doku-

Nicht von Anfang an. Das Archiv besteht ja seit

mente, da kannte ich mich etwas aus, wie man

1998. Da war ich noch nicht dabei. Da war ich auch

Dinge in eine Datenbank unterbringt. Auch bei

noch beruflich tätig. Ende 2005 hatte ich hier schon

rechtlichen Fragen des Archivwesens. Damit

die ersten Kontakte und bin dann eingestiegen.

hatte ich mich schon früher beschäftigen müssen. Deswegen hab ich da Grundkenntnisse gehabt.

Auf welche Initiative wurde das hier denn entwickelt? Wie entstand das Ar-

Ihre generelle Arbeit hier befasst sich

chiv? Wie waren die Anfänge?

also eher mit der Archivierung?

Die Anfänge sind, dass es in Italien ein entspre-

Eigentlich mache ich relativ viel was mit rein

chendes Archiv schon gab und die Gründerin,

organisatorischen Arbeiten zusammenhängt.

Frau von Troschke, hatte persönliche Kontakte,

Allerdings war ich früher auch viel beschäftigt,

weil ihre Schwester dort arbeitete. So wuchs

geeignete Dokumente, wir hatten ja mal eine

langsam die Idee, oder zumindest die Frage, wa-

Wanderausstellung, mit rauszussuchen. Das

rum es so etwas nicht in Deutschland gibt. Kann

habe ich auch für unser Museum gemacht. Auch

man das nicht auch hier auf den Weg bringen?

bei Veranstaltungen, als Vortragender war ich

Dann gibt es auch in Frankreich ein Archiv

engagiert. Im Moment eher für alles was in dieser

älteren Datums, nicht so alt wie das italienische,

leitenden Funktion so zusammen kommt. Ab

die hatten untereinander schon Kontakt. Auf

und zu helfe ich auch bei der Erschließung der

jeden Fall ergab sich daraus die Idee, so etwas

2 Walter Kempowski war ein Schriftsteller und begann Anfang der 1980er Jahre, biografische Materialien von einfachen Menschen zu sammeln. Er erhielt Unmengen an Tagebüchern, Briefwechseln, Lebensaufzeichnungen und Fotografien von Menschen aus unterschiedlichen Kreisen und Zeiten. Diese Materialien verwendete er in seinem Hauptwerk Das Echolot. Das »Archiv für unpublizierte Autobiographien« befand sich an Kempowskis Wohnort im Haus Kreienhoop in Nartum.


Das Deutsche Tagebucharchiv

Interview

auch in Emmendingen zu gründen. Natürlich

über das Internet zugänglich ist. So kann jeder

wurde erst mal geguckt, ob es was Vergleichbares

Wissenschaftler vorab eine Recherche machen.

schon in Deutschland gibt. Das einzige was las vergleichbar bezeichnen kann sind zum einen

Klingt sehr vernünftig. Ander Frage:

das Kempowski-Archiv , die der Schriftsteller

Wieso eigentlich in Emmendingen?

Kempowski seit mehreren Jahrzehnten betreibt,

Das hat den einfachen Grund, weil Frau von

um solche Dokumente zu sammeln, doch mehr

Troschke Emmendingerin ist und irgendwo

für seine schriftstellerische Zwecke, und dann

muss man anfangen, nicht? Dann haben sich ein

2

gibt es in Lüdenschscheid ein Institut deut-

paar Mutige zusammen gefunden und diesen

sches Gedächtnis, wo sie aber eher Interviews

Verein gegründet. Ohne den geht’s nicht. Der

mit Zeitzeugen gesammelt haben, ein richti-

ist Träger der Einrichtung und als damals die

ges Forschungsinstitut. Wenn man mal genau

Stadt, vertreten durch den Oberbürgermeister

hinguckt gibt es natürlich überall ein Institut

Niemann, Interesse und Unterstützung sig-

das sich mehr mit Zeitzeugen beschäftigt. Dann

nalisiert hat, konnte man das hier gründen.

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3 Seit 1919 versucht das Bundesarchiv in Koblenz das Archivgut des Bundes und seiner Vorgängerinstitutionen auf Dauer zu sichern, nutzbar zu machen und wissenschaftlich zu verwerten. 4 Die ZEIT ist eine überregionale deutsche Wochenzeitung, die erstmals am 21. Februar 1946 erschien. Die politische Haltung der Zeitung gilt als linksliberal. Bei kontroversen Themen werden zur unabhängigen Meinungsbildung des Lesers zuweilen auch unterschiedliche Positionen gegenübergestellt.

muss man davon ausgehen, dass es sehr viele lokale Archive gibt, sei es Stadtarchive oder auch

Es war wahrscheinlich nicht von Anfang

staatliche, die zum Teil auch solche Dokumen-

an geplant, dass es so groß wird?

te sammeln, aber nicht so systematisch, mehr

Was heißt geplant? Man konnte es sich nicht so

themenbezogen, wie zu Kriegsereignissen oder

vorstellen, wie sich das entwickelt. Es gab am

zu bestimmten zeitgeschichtlichen Ereignissen.

Anfang sicherlich eine Menge Bedenken, welche

Stehen Sie mit diesen dann in Kontakt?

sönlichen Dokumente, sehr häufig eben von den

darin bestehen, dass man meint dass solche perFindet da ein Austausch statt?

Verfassern oder von denen die es in ihrer Familie

Einen gewissen Austausch gibt es schon. Wir

besitzen, ungern einem öffentlich zugänglichen

haben zum Beispiel mit dem Militär-Archiv

Archiv gegeben werden. Diese Bedenken haben

in Freiburg einen Austausch, so dass wir

sich schnell zerstreut, denn kaum nach der

manchmal Dokumente, wie Feldpostbriefe,

Gründung kamen schon erste Einsendungen.

hier nicht mehr nehmen, sondern auf Freiburg verweisen. Das Bundesarchiv3 in Kob-

Sie mussten nicht wirklich Werbung machen?

lenz sortiert gelegentlich Materialien aus, bei

Man musste es zumindest öffentlich machen. Die

denen sie meinen, dass das nicht zu ihrem

Gründung wurde durch eine Pressemitteilung

Sammelgut gehört. So bieten sie uns das an

der Dpa öffentlich gemacht. Der größte Schub

und wir übernehmen es. Also solch einen

kam durch einen Artikel in der Zeit4. Im März

Austausch gibt es schon. Das Entscheidende

1998. Also ziemlich kurz nach der Gründung.

ist nicht unbedingt, dass man die Dokumente

Wenn so etwas in einer Zeitung steht, die ja

austauscht, sondern dass man inzwischen die

doch eine weite Verbreitung hat, dann kommen

Zugänglichkeit der Dokumente verbessert und

sehr schnell Zusendungen. So erleben wir es

zwar über das Internet. Und da sind wir ja

immer, wenn Berichte über uns in weitver-

dabei und haben schon einiges verwirklicht.

breiteten Zeitungen sind, dann bekommen wir auch immer so einen Schub an Zusendungen.

Das gibt es seit Neuestem auf Ihrer Internetseite. Man kann da nach Dokumenten suchen?

Alles auf freiwilliger Basis?

Ja, da sind sozusagen die Zugangsdaten, die

Ja, das ist klar! Wir kaufen ja nichts. Sondern die

Metadaten, beschreibende Daten für unsere

Leute, die etwas bringen, müssen bereit sein, uns

Dokumente, sodass die nicht nur hier intern

die Dokumente zu übergeben und wichtig ist:

zugänglich sind, sondern dass eben das, was aus

Bereit sein, dass diese nicht irgendwie geheim

Datenschutzgründen freigegeben werden kann,

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Das ist Friedrich Kupsch. Fotos von sich findet er nicht so toll.




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gehalten wird und dass es von anderen gelesen

es 7500 Euro. Das gilt im Grunde immer als

wird. Wobei die Anderen nicht wir selbst sind,

Projektmittel. Die müssen wir jedes Mal neu

sondern dass es auch öffentlich gemacht wird für

beantragen und begründen, warum wir sie brau-

Wissenschaftler, Nutzer, die mit ihrer Themen-

chen. Das ist nicht irgendwie ein fixer Betrag den

stellung an solchen Dokumenten interessiert sind.

wir regelmäßig einkalkulieren können. Staatliche Mittel gibt es nur für Projekte, wie unsere

Wie viele Mitarbeiter arbeiten hier?

Datenbank im Internet. Die wurde vom Bund

Die Zahl steht nie so genau fest. Es sind 80 bis 90,

finanziert. Aber das sind Mittel, mit denen wir

die mehr oder weniger regelmäßig mitarbeiten.

unsere Arbeit bezahlen müssen. Die Mitarbeiter

Es ist vor allen Dingen so, dass die inhaltliche

die hier bezahlte Arbeit leisten oder Informa-

Erschließung über die Leser gemacht wird, die

tiker, dafür gibt es bei einem Projekt Geld.

die Dokumente lesen. Das sind sowohl Menschen die hier leben, aber auch von weiter entfernt,

Die müssen also auch bezahlt werden.

die bekommen die Dokumente zugeschickt.

Ja. Der große Anteil, also ein Drittel, sind öffentliche Gelder, der Rest ist nun wirklich

Werden die Mitarbeiter nach Kriterien

privat finanziert, durch die Mitgliedsbeiträ-

ausgewählt? Wer zum Beispiel Sütterlin-

ge und Spenden. Die Spenden müssen aber

Schrift lesen kann?

auch immer mühselig angeworben werden,

Wir freuen uns natürlich, wenn jemand diese

dafür machen wir auch recht umfangreiche

alten Schriften noch lesen kann und wir haben

Öffentlichkeitsarbeit, um dafür zu sor-

auch einige, die das können und dann transkri-

gen, dass wir wahrgenommen werden.

bieren, so dass sie gut gelesen werden können. Ansonsten ist für einen Leser wichtig, dass er

Da hilft sicher auch mal ein Zeit-Artikel.

Interesse hat an einer solchen Art von Literatur.

Natürlich. Die Darstellung über uns in solchen

Natürlich macht es auch Mühe, so ein Doku-

Presseorganen sind natürlich ungemein wich-

ment zu lesen. Es kann manchmal eine anstren-

tig. Nicht nur, dass überhaupt Zusendungen

gende Sache sein und es ist manchmal viel. Die

kommen, sondern dass man uns auch öffentlich

Herausforderung ist ja, wichtige Merkmale aus

wahrnimmt als Institution. Unsere Hoffnung

diesen Dokumenten in einen Erfassungsbogen

ist natürlich immer damit verbunden, dass

zu übertragen, so dass auch die Erschließung

wir irgendwann mal eine angemessene För-

über eine Datenbank überhaupt möglich ist.

derung durch Bund und Land bekommen.

Wie wird das alles finanziert? Gibt es

Zu welchen Zwecken kommen Menschen

staatliche Subventionen?

hier her um zu recherchieren?

Überwiegend sind wir privat finanziert, durch

Es kommen die unterschiedlichsten Fachrich-

Mitgliedsbeiträge und durch Spenden. Es

tungen hier her. Es sind nicht nur Historiker.

gibt ein paar Firmen, wie die Sparkasse zum

Man nimmt allgemein natürlich an, dass es

Beispiel, die größere Beträge liefern...

Historiker sind, die auch kommen, aber aus

Also keine staatlichen Zuschüsse...?

hier, Theologen; medizinische Arbeiten, lingu-

den Sozialwissenschaften. Es waren Pädagogen Es gibt auch staatliche Zuschüsse. Den Hauptan-

istische Arbeiten sind auch schon mal gemacht

teil macht die Kommune selbst aus, Emmen-

worden, weil wir ja auch alte Dokumente haben

dingen, die geben einen Jahreszuschuss und

und derjenige über die Alltagssprache im 19.

stellen uns vor allen Dingen die Räumlichkei-

Jhd. geschrieben hat. Das Nutzungsspektrum

ten, mietfrei, zur Verfügung. Das ist ein relativ

ist im Grunde sehr groß. Alle Wissenschaftler

großer Anteil. Landeszuschüsse bekommen wir

die sich mit solchen persönlichen Alltagsdo-

über das Landespräsidium. Letztes Jahr waren

kumenten beschäftigen, die da was von Inter-


Das Deutsche Tagebucharchiv

Interview

esse finden können, die kommen zu uns. Vor

Erinnerungen, sind es Briefe? Zum Geschlecht

allen Dingen nicht nur aus Deutschland...

des Autors und vor allen Dingen die zeitliche

Woher genau?

Merkmale, stammt es aus dem 19. Jhd. und mit

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Zuordnung. Das sind immer ganz wichtige Wir hatten Nutzer, die kamen aus England,

genauen Jahresangaben? Das sind die groben

Spanien, USA, aus Japan. Der Herr aus Japan

wichtigen Merkmale, die eine gute Recherche

hat zum 2. Weltkrieg geforscht, war mehre-

ermöglichen. Die inhaltliche Erschließung

re Tage hier und hat auch sehr viel Material

versucht zum Beispiel herauszuarbeiten, womit

bekommen. Auch Dank des Internets sind

sich das Dokument thematisch beschäftigt.

wir mittlerweile weltweit bekannt. Deswegen

Es gibt eben Tagebücher, die schildern den

kommen auch Nutzer aus dem Ausland her.

reinen Tagesablauf, oder es gibt Dokumente, die sind sehr reflexiv geschrieben, teilen ihre

Wie lange dauert es in etwa bis so ein

Gefühle, Probleme mit. Das wird versucht über

Dokument freigegeben wird? Wie ist

Inhaltsangaben einigermaßen herauszuarbei-

da der Arbeitsprozess?

ten. Ist da Familienproblematik drin, Arbeits-

Die klassische Archivierung kann man in zwei

problematik, Krankheit usw. Nach solchen

Stufen beschreiben. Das erste sind die Erfas-

Schlagworten kann man dann recherchieren.

sung von rein formalen Merkmalen und die Vergabe einer Signatur. Formale Merkmale sind

Gibt es den Gedanken das Tagebucharchiv

vor allen Dingen zeitliche Zuordnungen, aber

vollständig zu digitalisieren? Allein aus

auch Schrift und alles was man ohne Lesen des

Platzgründen.

Inhalts aus einem Dokument ermitteln kann.

Es gibt natürlich schon Gedanken dazu. Man

Dann kopieren wir die Dokumente, soweit

kann sagen, dass viele Transkriptionen die wir

das möglich ist, damit die Originale geschützt

selber machen, manche der Dokumente be-

werden können. Bei einigen erfolgt dann die

kommen wir schon digital zugeschickt, solche

Transkription. Gerade bei Dokumenten die in

haben wir natürlich digital vorrätig. Im Netz

alten Schriften verfasst wurden. Manchmal kann

sind die Dokumente aber nicht frei zugänglich,

das bis zu Monaten dauern. Dann geht es zu den

die sind erst mal nur intern nutzbar. Da gibt

Lesern, die Merkmale zum Inhalt erfassen. Bei

es schon einen gewissen Bestand an digital

manchen scheitern wir. Bei Führungen zeige

zugänglichen Dokumenten, die natürlich den

ich gern ein Tagebuch, das ist in einer Schrift

Vorteil haben, dass über eine Volltextsuche

geschrieben, die überhaupt nicht zu entziffern

manche Erschließung perfektioniert werden

ist. Da werden wir auch gar nichts machen

kann. Das systematische Dokumentieren

können, dass wir das inhaltlich erschließen.

der Originaldokumente haben wir, bis auf

Werden die Tagebücher in verschiedenen

gemacht. Das sind mehr Vorstufen der Über-

ein paar Ausnahmen, im Moment noch nicht Bereichen angelegt?

legung. Dazu bedarf zum einen Teil einer

Die Signatur erfolgt nach dem Zugang. Das

verbesserten technischen Ausstattung, auch

ist eine fortlaufende Nummer. Der Verfas-

personell. Einer der das gut kann. Bei der Art

ser bekommt eine Stammnummer und jedes

unserer Dokumente die zum Teil gebunden

angehängte Dokument bekommt eine Ziffer.

sind, in verschiedensten Zuständen, da ist

Das ist ein reines Merkmal nach Zugang, es

das nicht ganz so einfach zu machen. Wenn

hat sonst keinerlei Bedeutung. So wird es

man aber weiter in die Zukunft denkt, wird

abgelegt. Da gibt es keine thematische Ord-

es schon mal so kommen. Das löst aber noch

nung. Die thematische Ordnung die ergibt sich

nicht das Platzproblem. Die Originale müs-

über die Datenbank und dort wird es natür-

sen ja sachgerecht untergebracht werden.

lich klassifiziert. Sind es Tagebücher, sind es

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5 Johann Gottlieb Friedrich von Bohnenberger war ein deutscher Astronom, Mathematiker und Physiker. Er ist unter anderem der Erfinder der Bohnenberger-Maschine und eines Elektroskops.

Wie werden die Dokumente aufbewahrt?

Sachsen oder Nordrhein-Westfalen. Aber

Wir versuchen sie archivgerecht aufzubewah-

so eine genaue Statistik gibt es nicht.

ren. Nicht luftdicht, aber in einer genormten Archivkartonage, die die Bedingungen erfüllt.

Welche Epoche ist am meisten vertreten?

Bei weiteren Archivbedingungen haben wir

Der größte Teil ist natürlich aus dem 20. Jahr-

natürlich Schwierigkeiten. Archivgerecht wäre

hundert bis in die aktuellste Zeit. Immerhin

natürlich ein Magazin, das bestimmte Tem-

waren in dieser Zeit zwei Kriege, und wie es

peraturschwankungen nicht überschreitet

in Kriegen so ist, wurde relativ viel geschrie-

und wo auch die Luftfeuchtigkeit innerhalb

ben. Das 19. Jahrhundert ist allerdings auch

bestimmter Schwankungen liegt. Das haben

sehr gut vertreten, mit einigen sehr interessan-

wir nicht. Zumindest bei dem Teil, der hier im

ten Dokumenten. Dann gibt es auch ein paar

Haus gelagert wird, der andere Teil ist in der

Einzeldokumente aus dem 18.  Jahrhundert.

Registratur des Landratsamts gelagert und dort sind diese Bedingungen einigermaßen erfüllt.

Dann nun die Frage, die Sie wahrscheinlich

Man kann also sein Tagebuch beruhigt zu euch

ist denn das älteste?

bringen und weiß dass es in guten Händen ist.

Das älteste Tagebuch ist 1760 geschrieben, von

Zumindest ist es nicht feucht. Der Speicher ist gut

einem württembergischen Pfarrer. Der war in

am häufigsten gestellt bekommen: Welches

durchlüftet.

diesem Jahr Feldprediger und hat am Siebenjährigen Krieg teilgenommen. Das ist das einzige

Man kann beruhigt sein.

Tagebuch von dieser Person, die Bohnenberger

Kann man.

heißt, und das überraschende ist, dass dieser

Woher kommen denn die Menschen, die

Er war später Pfarrer bei Calw und hat einen

Tagebücher hier her bringen?

sehr berühmten Sohn5, der dann Professor in

Aus dem ganzen Bundesgebiet. Die Damen, die

Tübingen war und als Geodät und als Astronom

Bohnenberger eine bekannte Persönlichkeit ist.

am Freitag da waren, die kamen aus Berlin. Auf

gearbeitet hat und das württembergische Karten-

jeden Fall ist es nicht nur Baden-Württemberg.

werk entworfen hat. Dieses Tagebuch wurde uns

Im Ausland sind wir auch soweit bekannt, falls

anonym zugesandt. Im Grunde ein sehr bedeu-

nach dort Ausgewanderte bereit sind uns Doku-

tendes Werk von einer berühmten Persönlichkeit.

mente zu schicken, dann bekommen wir auch von dort etwas. Das beste Beispiel ist immer der

Gleichzeitig das älteste und das berühmteste?

Postsack aus Australien. Eine nach Australien

Ob das nun das berühmteste ist, weiß ich

ausgewanderte Deutsche aus Hamburg, die dort

nicht. Aber die Person die dahinter steckt, ist

verstorben ist, hat zehn Jahre ihres Lebens dort

doch sehr bedeutend. Denn die meisten von

verbracht und intensiv Tagebuch geführt. 38 Bän-

denen wir was bekommen, werden niemals

de. Die kamen dann nach ihrem Tod, geschickt

in einem Lexikon zu finden sein. Da sind die

von einer Freundin, im Auftrag von ihr, hier her

berühmten Normalbürger. Von bedeutenden

ins Archiv. Das sind dann solche Beispiele. Die

Persönlichkeiten aus Kunst und Wissen-

Herkunft kann man sagen ist der gesamte deutsch-

schaft haben wir hier eigentlich kaum was.

sprachige Raum. Aus der Schweiz, oder Österreich. Von großen Schauspielern wird man hier Gibt es Bundesländer die besonders intensiv

nichts finden?

Tagebücher schreiben / geschrieben haben?

Wenn uns jemand etwas anbietet würden wir

Wenn man den Bestand genau durchfors-

es nehmen. Solche Persönlichkeiten, wenn

tet, ist möglicherweise der Anteil von

sie was verfasst haben, die werden entweder

Baden-Württemberg größer als der von

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gedruckt oder es gibt speziell Archive die das

spannend wird, ob es da weiterhin Tage-

sammeln. Wie das Literaturarchiv in Marbach

bücher, handgeschriebene, geben wird.

natürlich. Die ganzen Universitäten haben selbst auch ihre eigenen Archive berühmter

Schreiben Sie selbst?

Mitglieder und auf der politischen Ebene

Nein, nein, nein.

gibt es das genauso, wie die Staatsarchive. Es gibt keinen Mangel an Archiven die sich dafür interessieren. Jemand der nicht zu Rang und Namen gekommen ist, interessiert nicht unbedingt die anderen Archive, es sei denn seine Geschichte ist plötzlich ganz wichtig zu einem bestimmten Thema. Das ist eben auch der Grund, weshalb, damals auch in Italien, gesagt wurde: Auch da steckt interessantes Informationsmaterial drin. Es ist auch eine alte Schreibkultur. Wieso sollte man die nicht aufbewahren? Denn da steht drin was die einfachen Menschen erlebt und geschrieben haben. Definitiv. Hatten Sie denn selbst mal ein Erlebnis durch ein Tagebuch, was Sie bewegt hat? Bei dem Sie sagen das Weltgeschehen muss neu gedacht werden. Nein, nein, nein. Das nicht, aber es gibt ein Tagebuch aus dem 19. Jahrhundert das mich sehr fasziniert hat. Bei dem hab ich mich mit dem ersten von 40 Bänden beschäftigt. Ich habe es transkribieren lassen und dann festgestellt, dass das ein ganz wunderbarer Tagebuchanfang gewesen ist. Geschrieben 1845. Das hat mich dazu angeregt doch alle weiteren Bände zu lesen, was eine ziemlich aufwändige Transkription war. Ein ganz tolles, hochinteressantes Tagebuch! Das ist auch eins das ich auf meinen Führungen gerne zeige. Es ist der Anfang, der das Tagebuch als Gesprächspartner sehr schön und in herrlicher Sprache darstellt. Das Tagebuch als die Person, die man sonst nicht hat, der man aber alles anvertrauen kann. Wurde früher mehr geschrieben als heute? Da wäre ich vorsichtig solche Aussagen zu machen. Man erkennt nur, dass diese Schreibkultur, Tagebuch zu schreiben, immer mehr verloren geht. Also viel mehr das Handschriftliche, da ja heute alles mehr und mehr digital wird. Was auch für die Zukunft

Vielen Dank für Ihre Zeit.




Tagebücher Studentische Tagebücher aus der Sammlung des Archivs

Auf den folgenden Seiten wurden exemplarische Beispiele von Tagebüchern des Archivs ausgewählt. Die Tagebücher stammen alle aus dem vergangenen Jahrhundert und wurden ausschließlich von Studenten verfasst. Um den zeitlichen Bezug herzustellen, findet man außerdem wichtige oder weniger wichtige Anekdoten zum Zeitgeschehen.



Tagebuch No –1 1902

Informationen zum Verfasser

Titel Tagebuch 1902 Gattung Tagebuch Ort der Niederschrift Hamburg Zeit der Niederschrift 1902 / 02 / 03 – 1902 / 12 Bände 1 Umfang 136 Seiten Form des Textes Original / Transkription Schriftart Handschrift /Kurrent

Name H., Felix Dr. Geboren 1883 / 09 / 24, in Hamburg Gestorben 1945 / 05, in Auschwitz Ausbildung und Beruf Jurastudium / Rechstanwalt Lebenslauf Geboren als Sohn eines Antiquitätenhändlers, 1913 Zulassung als Rechtsanwalt, 1915 – 1919 Soldat, Eisernes Kreuz 2. Klasse, 1920 Ehe, zwei Kinder, Transport nach Theresienstadt 22. Fer-

bruar 1944, Am 17.2.1950 für tot erklärt Themen Schule / Studium / Rassismus / Deutsches Königreich / Studentenverbindung Lebensspanne 19 – 20 Vertragsbedingungen Schenkung


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... kam ich. Sie war ganz nett, wir gingen zusammen in d. Dünen, ich photographierte sie dort sehr oft, schenkte ihr zum Abschied Blumen und Chokolade, schrieb ihr von Hamburg aus 2 Ansichtskarten in der ersten Woche, vergaß sie dann, da ich nie die Meinung hatte, daß ihr etwas an mir läge. Vorgestern erzählt mir Alice, daß Mathilde Lewiz aus ihrer Pension in Kassel bei ihren Eltern zu Besuch sei u. Alice erzählt habe, Paula Lederer wäre mit ihr in derselben Pension. Kaum hätte sie

2.

April, 1902 Der Kalligraf, Typograf, Schriftentwerfer, Plakatgestalter, Autor und Lehrer Jan Tschichold wird in Leipzig geboren.

gesagt, sie käme aus Hamburg, als Paula auf sie zugeeilt wäre und nach mir gefragt hätte. Sie möchte mich so gerne, ich wär so'n netter Mensch, aber ich schriebe gar nicht mehr, Mathilde müsse unbedingt einen Brief von mir mit zurückbringen. Wenn ich nur wüßte, was an mir ist, daß die kleine Kröte mich so gerne mag? Sie ist ganz hübsch u. dort mochte ich sie auch gern. Jetzt, mit der freundlichen Erinnerung, würde ich mich sogar auf ein Wiedersehen freuen, Kassel ist ja nicht weit von Göttingen und Ehrenbergs Eltern wohnen in Kassel. Drollig, daß die einzige Hamburgerin, die sie in der Pension trifft, die Schwester von Ernst L., mit dem ich nach Sylt gereist war, und von Anna, Alices bester Freundin, ist und uns fast gegenüber wohnt. Heute wird Franz Lewiz ?Larmizmal?, vielleicht gehe ich hinüber, gratuliere, mache bei der Gelegenheit meinen Abschiedsbesuch und spreche selbst mal mit Mathilde. Die leidigen Abschiedsbesuche! Heute gehe ich mit Liebermann zu Christensen und Brauneck. Heute abend bin ich zur Abschiedsfeier bei Elkan eingeladen. Göttingen, Sonntag, den 27. April Apri und was dazwischen liegt sollte vergessen sein? Das wäre zu schade! Ich Von 29. März bis 27. April, möchte diese Zwischenzeit unter meinen späteren Erinnerungen nicht missen. Doch erst mal zu meiner jetzigen Lage. Seit vorigem Sonntag also bin ich hier, in dem »verfluchten Nest Göttingen«, um mit Heine zu sprechen, doch nimmt es sich besser aus, als ich dachte; die Stadt ist freundlich und nett, u; was Heine zu seinerzeit wohl besonders vermißte, Denkmäler u. Anlagen, stehen unter d. Schutze eines Verschönerungsvereins, der für Wege, Parkanlagen, selbst für die Waldwege in ausgiebigster Weise sorgt. Die meisten Denkmäler, an denen G. ja nicht besonders reich ist, sind zudem nach Heine entstanden, so daß G's Aussehen damals wirklich sehr anstößig gewesen sein muß. Meine Wohnung liegt sehr nett hier, Wilhelm Waburgstraße 12 bei Frau Superintendentin Gerße. Ich habe zwei Zimmer, Wohn- u. Schlafzimmer, nicht sehr groß, aber gemütlich. An der Wand, der Breitseite, ein grünes Fadenscheiniges Sopha, daüber eine wohl längst nicht mehr gehende Uhr in einer Art Rahmen; zur Seite 2 Bilder, gerade unter der Uhr ein vielleicht von Lodenchens gemaltes Abbild, eine Burgruine mit Häusern unter sich dartsellend, nach einer meinem Führer befindl. Ansichtskarte scheint es d. Burg Haustein zu sein, rechts links zwei Stiche, die Hochzeit zu Kana u. die Hühner u.d. Raubvogel darstellend. Vor d. Sopha e. kleiner Tisch, links in der Ecke ein größerer Ausziehtisch, davor d. Schreibtisch, an dem ich sitze, vor mir, an ihm befestigt, ein zweibortiges Regal, auf dem ich meine Bücher habe, viel habe ich nicht mitgebracht. Meine Kunstgeschichte, (4 Bände v. Schwinger), Ost- und West, die zionistische Zeitschrift, die Geßhaber sich hält u. mir giebt, wenn er sie gelesen hat, eine Knackfuß-Monographie über Thorwaldsen, eine über Rubens, Petris Fremdwörterbuch, Auerbach: Lesestücke aus d. Propheten und Hagiographen; dann ein als Manuscript gedrucktes Heft: Unsere Reise nach Kleinasien u. Griechenland, von Tante Helene in Mannheim verfaßt, Gellerts Fabeln, die Papa mir kürzlich in einer Ausgabe vom Jahre 1803, mit 12 bunten Kupferstiften von Chodewieky u. Meil; dann Tolstoj: »Wert und Kunst«, von demselben: Meine Beichte, Hengstenberg: d. orientalische Rußland, Lildemeier: Aus Marsch und Geest, Claretil: »Noris«. Knigge: Umgang mit Umschau, Almanach-Theater v. Wolf 1846, »Erste Blicke in d. weibl. Wirkungskreis« von einem Lehrer Seidel 1802, Duden: Wörterbuch. Nur gut, daß ich selbst weiß, warum ich diese Bücher gerade mir migenommen habe, vor anderen müßte ich mich mit einem Kommetar wegen dieser seltsamen Auswahl rechtfertigen. Mehr Bücher habe ich nicht mitgenommen, da Ehrenberg gegenüber wohnt. Er hat einige Klassiker bei sich, außerdem wohnt 5 Minuten von uns entfernt sein Onkel Prof.


Das Deutsche Tagebucharchiv

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Ehrenberg, der eine riesige Bibliothek hat. Abends bin ich meistens mit Ehrenberg zusammen, wir lesen zusammen Heinr. IV 1. Teil v. Shakespeare. 3 Auszüge sind fertig. Montag morgen haben wir uns inscribieren lassen, Hans machte noch eine Dummheit; da er jedenfalls Nationalökonom werden will, gab er als Studium Staatswissenschaften an; vorher will er aber Jura studieren u. auf Wunsch seines Vaters den Referendar machen. Auf jene Angabe hin hätte er später kein juristisches Examen machen können, wie er von seinem Onkel erfuhr, er machte also schnleunigst kehrt u. benachrichtigte d. Richter Beckmeister von dieser Änderung. Eigentlich sind wir sehr fleißig, wir haben alle fürs 1. Semester empfohlenen Vorlesungen belegt. Jeden Tag v. 8 – 9, Mittw. v. 8 – 10 hören wir Prof. Saxelsberger im System d. röm. Privatrechts. Dann 4 Vorlesunen v. Prof. Merkel über röm. Rechtsgeschichte, 2 v. der n. Titze über römischen Zivilprozeß, 2 von demselben über Einführung in d. Rechtswissenschaft, schließlich von demselben eine römisch-rechtliche Übung. Das wären 16 Stunden wöchentlich. Außerdem haben wir noch gemeinsam in Aussicht genommen: eine philos. v. Müller über Logik, dreistündig, Rahlfs Geschichte, 2st.; v. Kranne: Über d. geologischen Verhältnisse Deutschlands, verbunden mit geolo. Excursionen 1 st., Lüders: Judiens Literatur d. Kultur in d. Herrwelt-geschichtl. Bedeutung 1 st. Baumann: Über d. Unsterblichkeit d. Seele, 1 st. Für mich wollte ich dann noch hören Wischger: Italienische Plastik d. Malerei von ca. 1500 ca. 1700 lst. Ehrenberg will noch eine mathemat. v. Helbert hören. Das gäbe zusammen für mich wöchentlich noch 12 St. also insgesamt 28 Stunden, dann kommen auf jeden Tag durchschnittlich über 4 Stunden, das ist reichlich viel, also werde ich abgesehen von d. Kunstgeschichtl. Vorl., die ich wohl sicher hören werde, eine sorgfältige Auswahl treffen müssen. Wenn ich später in Hamburg erzähle, wie viele Vorl. ich gehört habe, d. ich sage auch nur 16, so wird man sagen, natürl. wer immerso fleißig war, konnte auf d. Universität nicht anders sein. Ja, wenn d. Menschen nur bischen mehr nachdächten oder mehr psychol. Kenntnisse besäßen, würden sie. anders sprechen. Ich bin nichts weniger als ein Mensch, der Arbeit immer braucht, der an nichts anderes denkt als Arbeit. Ganz anders ist's und war's mit mir. Von der Vorschule weiß ich nur so viel, daß ich anfangs sehr kränklich war, so oft fehlte, daß Herr Thansen ganz ärgerlich sagte, das dürfe nicht Mehr vorkommen, ich litt an geschwollenen Mandeln, die mir später herausge-

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April, 1902 Das Fotoobjektiv Tessar wird vom Jenaer Unternehmen Carl Zeiss zum Patent angemeldet.

nommen wurden. Im ersten Vierteljahr bekam ich Keuchhusten, wär nicht mitgekommen, hätte Mama, die ja im Israelit. Waisenhaus, dem Paulinenstift unentgeltlich unterrichtet hatte, nicht mit mir nachgeübt. So war ich in d. ersten Jahr nur ein mittelmäßiger Schüler, in dem letzten aber fast immer erster. Ich kam ins Gymnasium; arbeitete, was aufgegeben war, ohne an irgend was zu denken. Nach 6 Wochen sagt d. Klassenlehrer, Dr. Hauschild, ich wär Primus, wie er d. Schlechten bestrafte, wolle er d. Guten belohnen. Ich war sehr erstaunt, hatte ich doch nur d. Arbeiten gemacht, ohne mir bewußt zu

sein, besser als d. andern zu sein. Einmal allerdings hatte H. schon gesagt, ich glaube, wenn Hecht so bleibt, wird er Primus. Von nun an 50. galt ich natürlich für furchtbar fleißig, begabt u. ehrgeizig. Fleißig war ich wohl, begabt sicher nicht so, wie es schien u. ehrgeizig durchaus nicht. Ich war besser als d. andern, als das galt ich, mancher wollte mich erst überflügeln, aber, daß ich erster blieb, kam daher, weil ich eben zum Arbeiten beanlagt war. Da war Papa früher sehr ängstlich um uns, allein durfte ich bis 10 Jahren fast selten aus, dann war ich körperl. zieml. schwach, so kam es von selbst, daß ich von meinen Schularbeiten nie abgelenkt wurde; in den unteren Gymnasialklassen arbeitete W. Sesam, mein bester Freund damals auch, d. blieb es, bis ich weiterdachte und Untertertia u. mir sagte, warst du so lange oben an, kannst du jetzt nicht nachlassen, außerdem freute es Papa. Mit d. Zeit wurde ich ja auch 2ter u. 3ter, kam aber nie tiefer , denn wenn ich auch nie d. Ehrgeiz hatte, erster sein zu müssen, unterm 3ten wollte ich nicht sein, da kann ich also von Ehrgeiz dabei reden. Wär ich um meinen ersten Platz besorgt gewesen, hätte ich dabei Ehrgeiz gezeigt, wäre ich wohl nie runter gekommen, wenigstens wären Mark u. Will nicht über mich gekommen, denn in Latein habe ich Mark wohl mit zum gut verholfen, in Mathematik war er mir allerdings überlegen. Zu den ersten aber, die sich für sich halten, keinem etwas abgeben u. beim Extemporal nichts vorsagen, (u. nach


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diesen edlen Charakteren wird leider allzu oft ein Primus beurteilt,) habe ich Gott sei Dank nie gehört, überhaupt waren unter d. ersten in unserer Klasse keine solchen. In d. untern Klassen habe ich stets gegeben, u. hatte d. Nehmen nicht nötig, oben hat aber stets ein sehr reger Austausch zwischen uns ersten 6 stattgefunden, da brauchte ich d. Gaben anderer auch, wozu auch nicht? Wenn man an so was Unrecht finden wollte, könnte man getrost 9/10 der Menschheit zu den verlorenen Seelen zählen. Also wie gesagt in den oberen Klassen war mein Obensitzen weder großartige Pflicht oder Fleißbewußtsein, einfach d. Ansicht, daß es oben nicht schlechter wie unten gehen dürfe, 2.) da ich Papa u. Mama d. kleine Freude, ihr Trio als erste zu sehen, nicht stören wollte, 3.) weil ich es nicht in Einklang mit meiner Selbstachtung fand, gerade in d. Jahren, in denen man zum Bewußtsein des »non scholaense vital discimus« kommt, zu faulenzen. 4.) weil ich die ersten Jahre nicht umsonst so viel gearbeitet haben wollte, u. 5.) machte sich d. Nutzen dieser ersten Jahre, in denen ich d. Grundlagen in mich aufgenommen hatte, eben sich so fühlbar, daß mir alles, besonders Latein u. verhältnismäßig natürlich wurden, daß ich mir hätte Mühe geben müssen, um dies zu u. das zu vergessen. Meines Augenkatarrhs wegen habe ich nie so wenig gearbeitet wie im letzten Jahr, es war eben nicht nötig. In den letzten Jahren lernt man doch höchstens Stilistik zu, den grammatischen Stoff in früheren Jahren verarbeitet man nur. Wer in den unteren Klassen kaum Grammatik gelernt hat, lernts oben doch nicht, u. ochst er noch so lange. Das sieht man davon, wie viel mangelhafte u. ungenügende Arbeiten in d. Sprachen bis zum Schluß eben zu schreiben werden. Habe ich also immer mit mehr Fleiß als Ehrgeiz u. Begabung gearbeitet, hat Herbert d. besten Teil von uns dreien, denn Eddi geht ja erst seit d. 2. April zur Schule, erwählt. Er bedarf nicht des Fleißes, nicht d. Ehrgeizes, er besitzt eine großartige Anlage und Begabung, alles doppelt so leicht zu erfassen wie andere, ohne es dabei leicht zu vergessen; nur ist er zerstreut und flüchtig, wie es bei solchen Naturen ja oft kommt. Falli dagegen ist fleißig, sehr ehrgeizig , so auch ziemlich beanlagt u. hat ziemlich viel Pflichtgefühl, das Herbert in d. Maßen nicht so besitzt, das mir aber in d. letzten Jahren besonders, wenn ich dann und wann so ganz u. gar keine Lust zum Arbeiten hatte, wieder Arbeitslust einflößte u. das nur anscheinend von Papa geerbt haben. Anlage scheint auch in unserer Familie zu sein, denn sowohl d. Calmanns wie die Hechts sind mit wenigen Ausnahmen alle sehr befähigt u. beanlagt. Daß ich jetzt so große Lust zum Arbeiten habe, kann ich eigentlich nicht sagen. Verbummeln will u. könnte ich nicht, auch ließ es mein Pflichtgefühl gegen Pap, der sein Geld mit seiner Arbeit verdienen muß, nicht zu, es zu vergessen, aber etwas mehr akademische Freiheit, als sie sich mir jetzt bietet, wäre mir wohl erwünscht. Von den jurist. Vorlesungen möchte ich kaum eine verfehlen, von den andern würde ich aber manche für Tummeln u. Tollen hergeben. Allzu großes Bummeln verträgt meine Körper nicht, das weiß ich u. darum werde ich mich auch schonen, aber irgend einer studentischen Vereinigung träte ich doch gern als Aktiver bei. Da kommt ein hemmender Faktor: Das Judentum! Am ersten Tage nach meiner Ankunft klopfts nachmittags an meine Thüre, hereintreten 2 Musensöhne mit schwarzer Mütze obs Samt oder Tuch war, weiß ich nicht ; d. h. ob es d. Verbindung teholog. Wingolf oder d. freischlag. Mündenia war. Nur soviel weiß ich noch, daß einer sich mit »Burg« vorstellte. Sie kämen, um mich zu einer Kneipe ihrer Verb. einzuladen. Ich sagte, Entschuldigen Sie, ich bin Jude, halten Sie Ihre Einladung aufrecht? Darauf große Verlegenheit d. beiden, die mich köstlich amüsierten, worauf der eine Entschuldigungen stotterte, u. daß es nicht mit d. Principien d. Verbidnungen sich vertrüge u.s.w. Mit großer Seelenruhe komplimentierte ich die beiden edlen Jünglinge heraus, als nach etwa 10 Min, wieder ein Student, diesmal mit roter Mütze, hereintrat. Ich hatte u. habe noch nicht d. Übung an d. Mütze d. Verein zu erkennen, Namen d. Verb. u. d. Studenten habe auch vergessen, die Angaben d. Universitäts Verbandes belehren mich, daß er entweder von Korps Hannover, dem Bismark auch angehörte, sein mußten was aber nicht anzunehmen ist, denn Korps keilen nicht in dieser Weise, oder von d. Burschenschaft Brunswiga oder von d. Turnerschaft Cheruscin sein mußte, je nachdem sein Band schwarz-rot-gold oder schwarz-weiß-rot war, das habe ich natürlich nicht bemerkt. Er sagte, ob er mich zu einem


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Nachmittagsbummel einladen dürfe, er hätte gehört, ich wäre hierher gekommen, und er wolle mir behülflich sein, die Stadt kennen zu lernen u.s.w. Ich entgegnete, ich hätte nichts dagegen, eben wären aber schon zwei Herren einer Burschenschaft, ich wußte es ja nicht genau, dagewesen, die, als sie hörten, ich sei Jude, abgezogen wären; erstaunt sagte er, Sie sind Jude?, aber ich wußte nicht, daß bei uns Bestimmungen wären, die d. Aufnahme von Juden verbieten, doch wenn es Ihnen nicht paßt, komme ich morgen wieder. »Ja bitte sagte ich, thun Sie das; also ich sage Ihnen noch mals, ich persönlich hätte nichts dagegen bei Ihnen einzutreten, aber ich will Sie nicht in Verlegenheit bringen, wenn es sich mit den Principien Ihres Vereins nicht verträgt u.s.w.« »Ja, allerdings, verzeihen Sie«, sagte er u. ging. Ich hatte ihn noch zum Sitzen nötigen wollen, doch sein Freund wartete draußen, wie er sagte. Er ist nicht wiedergekommen, ich habe es auch nicht erwartet. So lächerlich aber d. erste Keilerei scheint, so mißmutiger stimmte mich diese. D. Herr hatte ein einnehmendes Gesicht, ich würde es gleich wieder erkennen, er zog sich auch klüger aus der Affaire wie jene beiden. Aber in mir stieg ein bitteres Gefühl auf, u. selbst als ich äußerlich lachend Ehrenberg diese Scene mitteilte, hätte ich wütend klagen können. Nicht, als ob mir was daran liegt, in ner roten, grünen, blauen oder weißen Mütze herumzulaufen, aber mich kränkt es, daß gebildete, denkende Menschen so verrückt sind, Nebenmenschen für die Sünden ihrer Vorfahren, (ich will d. Kreuzigung jetzt vom christl. Standpunkt schlechtweg als Sünde bezeichnen, an u. für sich ist die es ja durchaus nicht, sondern nur ein Ausfluß d. damaligen Zeit, d. Resultat d. Erbitterung eines Volkes, dem man sein Heiligstes, d. Religion, von heute auf morgen rauben, verbessern u. umkehren wollte), verantwortlich zu machen, zu mal der als Mensch doch so hoch dastehende Heiland noch im Todeskampfe Vergebung für die Welt erbat, zumal die »christliche Nächstenliebe« ein Ausdruck geworden ist, mit dem Verstand u. Unverstand heute herumwirft wie mit einem Stück empfindungslosen Holzes, dem es gleich ist, ob es im Rinnstein oder auf Seidenteppichen liegt. Über diesen Blödsinn, den d. Antisemitismus in sich birgt, könnte man lachen, wäre er nicht ein unendlich trauriges Zeugnis menschlicher Unvollkommenheit, menschlichen Hasses, menschlicher Leidenschaften. Vielleicht hätte d. Verein mich genommen, hätte ich drum gebeten, aber mich dulden zu lassen, dafür fühle ich mich selbst zu hoch über solchem Stumpfsinn stehend. Ich glaube, es ist gut, daß ich kein Theologe geworden bin, ich hätte Streitschriften en masse geschrieben, hätte bei d. Gelegenheit gelernt zu hassen, gerade so tief zu hassen, wie ich jetzt heiß lieben möchte u. muß u. zwar bald. So kann es nicht weiter gehen. Hier d. Frommen, die weil sie im Ghetto nichts anderes sahen u. denken konnten als Judentum. So ist es ja am bequemsten, ohne Nachdenken in den Tag hineinzuleben, u. ich beneide d. Menschen, die so glauben können, ich kanns nicht u. viele mit mir nicht die meisten aber sind zu bequem, um an Änderung zu denken, sie lassen sich einfach taufen und bezeichnen sich als confessionslos, um dann ihre Kinder christlich zu erziehen. Es ist ja auch so bequem heutzutage überzutreten, habe ich doch vor etwa 4 Jahren in einer Zeitung noch eine Anzeige eines Pastors gefunden, der sich als Religionslehrer für »Übertretende« empfahl. Seitdem einen Mal habe ich unangenehmen Duftes bewußt geworden, der solche Anzeigen umschwebt. Aber Änderung muß eintreten, vieles bei uns ist veraltet u. bedarf d. Erneuerung, viel nur wegen Difinät gegen unsere Alten bestehenden Einrichtungen müssen beseitigt werden, und zwar möglichst schnell. Sonst verlieren wir neben dem großen Haufen auch noch zuviel große Männer, ich selbst halte von gewissen Sachen gar nichts, werde aber Jude bleiben, weil ich ev. auf Besserung hoffe, da es Papa furchtbar kränken würde, bliebe ich es nicht, d. mir keine Religion so steht, mich mit Personen an denen ich, die an mir hängen wie Großeltern u. Eltern, durch solchen Schritt zu verfeinden. Wären nur gewisse Dinge anders, so könnte ich noch ganz mit Leibe u. Seele Jude sein. Ganz zum Christentum neigt z. B. Emil Liebenschal. Sich selbst nennt er konfessionslos, u. seinen Sohn hat er so erzogen, daß er von jüd. Relig. keine Ahnung hat. Er würde ihn taufen lassen, wäre seine Frau nicht dagegen, so soll er sich in seinem 15 Jahre für d. Religion entscheiden, die er will, für welche er es thun wird, steht ja außer Frage. Letzten Sonntag waren Papa u. Mama mit Liebenhals im

Friedensnobelpreis 1902 für Elie Ducommun & Leiter des Berner „Internationalen Ständigen Friedensbüro“ der „Interparlamentarischen Union für internationale Schiedsgerichtbarkeit“ und für Charles Albert Gobat als Leiter des Zentralbüros der „Interparlamentarischen Union für internationale Schiedsgerichtbarkeit“.


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Parkhotel, wie sie mir schrieben, u. scheinbar unter d. Einfluß einer Disputation mit Herrn B. schrieb mir Papa Montag einen eindringlichen Brief, in der Fremde ja Jude zu bleiben d. h. ich solle nicht viel in Bethäuser laufen, wie Papa es auch nicht thue, sondern nur an unsern alten Gott glauben, wie er es auch stets gethan hätte. Es hätte dieses Briefes nicht bedurft, ich weiß, was ich thun werde, er deckt sich aber ja mit meinen Ansichten. Ich solle d. Brief, nachdem ich ihn gelesen habe, zerreißen,

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Mai, 1902 Der bedeutende deutsch-französischer Film-, Theater- und Hörspielregisseur Max Ophüls wird in Saarbrücken geboren.

schreibe Papa, ich habe ihn aber aufbewahrt, vielleicht ist er er mir noch einmal nützlich. Nun will ich aber mit Schreiben aufhören, ungefähr seit 4 Uhr schreibe ich, jetzt ist's halb acht. Trotz d. Sonntag, trotz d. schönen Wetters bin ich zu Hause geblieben da ich erkältet bin, Husten u. Halsschmerzen habe, d. Wetter kühl ist. Wie ich von d. Tochter d. Superintedentin erfahre, leidet sie an Erkältung; d. ganze Haus, ja ganz Göttingen ist erkältet. Warmes Eierbier hat mir meine Wirtin raten lassen, dann werde ich 2 gekochte Eier essen, noch ordentlich mit Kaltwasser gurgeln und in d. Klappe gehen. Göttingen, Sonntag, d. 11. Mai. 1902. 902. Viel Veränderungen sind in der Zwischenzeit nicht vorgegangen mit mir. Aus den 28 Vorlesungen sind 19 geworden. Vischer liest nicht, den hätte ich sonst noch gehört, Rohlfs und Müller leigen zu unbequem; so höre ich außer den 16 juristischen noch 3 über d. Unsterblichkeit d. Seele v. Baumann, indische Kultur v. Lüders u. geolog. Beschaffenheit Deutschlands v. Koenne. Baumann ist bis jetzt noch nicht besonders interessant, sehr komisch, macht es sich, wenn er beim Schluß der Vorlesung seinen Mantel anzieht, durch d. Bänke bis zum Ausgang geht und dort erst seinen Vortrag viel Neues, z. B. hörte ich d. letzen Stunde vorm Ursprung des Schachspiels und der ursprüngl. Bedeutung seiner Figuren. Der König hat sich erhalten, der indsiche Vesir ist in Europa, da man ihn nicht kannte, zur Königin geworden, die Läufer sind durch ein Mißverständnis aus den Elephanten entstanden, die Springer oder Pferdchen stellen die Reiterin vor und die indischen Streitwagen, rack genannt, kannte man hier auch nicht sie wurden zum Turm. Die Bauern bilden das Fußvolk des Königs. Ehrenberg u. ich spielen übrigens jetzt öfter wieder Schach, er gewinnt meistens, da ich meine Figuren nicht gut entwickeln kann. Skat bringt er mir und Warnecke, einem ehemal. Aloaner MItschüler von E., auch bei. Tournu und Solo kenne ich schon. Sogar zum Jeu habe ich mich bringen lassen durch Ehrenb.s Vetter Rudolf und Lautsch. Neulich Abend habe ich drei Mark, gestern 4 verloren. Zu Ehrenb. habe ich allerdings gesagt nur 1 M, da er gegen 1sten ist. Gerechtfertigt würde ich es finden, wenn er wie einige Leute, überhaupt gegen d. Karten ist; da er aber alles spielt, kann ich seine Abneigung nicht verstehen. Es ist nicht mal Abneigung als eine Marotte, die er einmal ausgesprochen hat und nicht zurücknehmen will. Das Geld seines Vater zu verspielen u. zum Spieler zu werden, finde ich verächtlich. Mir kann es nicht passieren, denn ich sehe einen Vater vor mir, der täglich von morgens 8 Uhr bis abends 8 Uhr im Geschäft für uns arbeitet. Ich lege aber von meinen 150 M. monatlich immer 10 M. fürs erste als eisernen Bedarf zurück, wieviel ich brauche, weiß ich ja noch nicht genau. Von diesem zurückgelegten Gelde bestreite ich meine Schulden u. Extraausgaben, wenn ich solche haben sollte; gegen dies unschuldige Spielen, heute 5 M. verlieren, morgen gewinnen, kann gewiß niemand was sagen. Daß ich vor E. meinen Verlust verkleinert habe, geschah nur, weil er sich sichtbar freut wenn ich verliere, da ich dann bald aufhören würde, wie er sagt. Darin hat er Recht, mehr als 20 M. würde ich nicht verspielen, soweit wird es kaum kommen. Curacao, Eierkognac u. Cigarren habe ich seitlich links: Eigentlich weiter, wenn ich jetzt diesen abgeschmackten Kram lese, kann mans aber lernen, im übrigen nach Entwicklung kennen lernen; würde d. Buch zerrißen, täte es mir nicht leid, damit gewissermaßen Zeugner zu werden. 22. VI. 04. Jetzt auf d. Bude, ungeahnter Luxus, es ist weniger für mich als meine Gäste denen ich es gemütlich machen will, allzu oft allerdings nicht denn gestern haben mir Lautsch u. Rudi sowohl d. Cur. als Eier-


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cogn. fast ganz ausgetrunken. Einen guten Privat-Mittagstisch haben wir auch gefunden bei einer Frau Bruns in d. Goslarstr. Ordentlich ’ne Erleichterung, wenn man ’ne Woche in den Restaurants herumprobiert hat und für 10 G weniger reichlicher und besser bekommt. In fast allen Restaurants kostet das Essen 1,25 M. im Abonnement 1,10 M; es soll früher billiger gewesen sein. Hier essen wir für 1 M. im Abonnement. Ein großer Braten kommt auf den Tisch, man ißt wieder mal ein Stück saftiges Fleisch wie zu Hause und warm, während man in Restaur. 67. bei den meisten Braten den obligaten Hotelküchengeschmack hat, bei dem es einerlei ist, ob man Kalbs- oder Ochsenfleisch ißt der meistens nur lauwarm ist und einem dadurch bald das Essen verleidet. Das Wetter ist gottserbärmlich schlecht, es ist kalt u. schneit trotz des Wonnemonats; in ganz Deutschland ist dieselbe Chose; fast unglaublich ist der Bericht von dem Erdbeben und Vulkanausbruch auf d. Insel Martinique, deren Stadt It. Pierre samt 30.000 Einw. verschüttet sein soll. Wenn ich mir denke, soviel Menschen als Göttingen Einwohner hat? In der Frankfurter Zeitung steht daraufhin eine Übersetzung des Buches des jungeren Plinius von Tacitus über die Verschüttung von Herculanum und Pompeyi und den Tod seines Heims, des älteren Plinius. Um nicht ganz zu versumpfen, halten wir uns die Frankfurter Zeitung. An Ausflüge kann man bei dem Wetter nicht denken. Einmal war ich in den ersten Tagen, bis zum 25. war gutes Wetter, auf dem Roses und von dort auf dem Bismarkturm. Mehrere Tafeln sind drinnen angebracht, auch eine des Hamburger Senats, die lautet »der Staat, nicht die Partei.« Heute vor acht Tagen machte ich einen geolog. Ausflug, den Koenen an seine Vorträge schließt. Da ich keine geolog. u. mineralog. Vorkenntnisse habe, verstehe ich fast nichts; wir fuhren über Northeim bis Hardegsen; Von da gingen wir in die Steinbruche, wo die Leute mit Klopfen begannen. Sie suchten nach Versteinerungen. Ich stand dabei u. that so verständnisvoll wie ich konnte. Wasser goß es in Strömen. Fast alle hatten Touristenanzüge und Regen und Lodenmantel an, nichts von alledem Ehrenberg, Lautsch und ich. Am meisten Vergnügen machten mir die Bergrutsche. Ganz steile Bergstrecken mußten wir runter klettern, um in die verschiedenen Steinbrüche zu gelangen, wovon d. Zeug naturlich nicht besser wurde, wie wir dann überhaupt etwas »drangiert«, um gut deutsch zu sprechen, her wieder ankamen. Etwas habe ich hinzu gelernt, ich habe Schachtelhalme kennen gelernt, konnte leider keinen mitnehmen, da das Gestein völlig durchnäßt war. Pfingsten reise ich nach Hause, bei gutem Wetter wäre ich in den Harz gefahren. Die Geologen machen einen Pfingstausflug in Lippegebiet u.s.w. 40 M. kostet es. Dafür kann ich mich allein besser amüsieren, denn geologisch kann ich d. Gegend so ohne weitere Vorbildung doch nicht verstehen. Jetzt ist es 7 Uhr, gleich kommt Ehrenberg zum Abendbrot , abwechslend esse ich bei ihm und er bei mir. Wir haben d. ersten Teil von Heinr. IV beendigt, vom 2ten Teil einen Auszug gelesen, außerdem lesen wir d. Ethik Spinozas, in der das Dasein Gottes beweisen will. Nach Pfingsten wollen wir einen Roman Zolas oder Daudets auf Französich lesen, um etwas Konversation im Französichen zu lernen. Fecht-, vielleicht Reitstunde werde ich nach Pfingsten beginnen. Göttingen 8. VI. 1902 902 Traurig aber wahr, ich habe mein Tagebuch schändlich vernachlässt, finde aber heute zuerst wieder Lust u. Zeit dazu. In d. Pfingstwoche war ich in Hamburg, dort gerade so schlechtes Wetter wie hier. Pfingstsonntag waren Alice u. ich bei Freidmanns zu, Mittagessen geladen, 20 Personen etwa; von 6 – 9 ruderten wir auf d. Alster. d. Wetter hielt sich. Sonnabend abend, d. 17. Mai, war ich mit Alice zu »Mignon«. Frl Schloß sehr gut, etwas zu dick, Frau Hindemann als Philina großartig in Stimme u. Spiel, besonders in d. Koketteriescene mit Wilh. Meister im 2. Akt. Meister wurde v. Herrn ... einem

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Mai, 1902 Der Deutsche Tennisbund wird in Berlin gegründet.

Gast v. Mainzer Stadttheater gespielt. Absichten auf Engagem. an Töns Stelle; sieht ihm zufällig ähnlich, hat eine gute Stimme, aber kein Soiel von Feuer. Freitag, d. 23. Mai war in ganz Deutschland gut, halb muß stolz sein. Sonnabend, d. 24. Mai im Überbrettl, 2 Tage vorher hat Welzogen seinen Abschiedsbrief geschreiben, Marcel Selzer leitet jetzt alles. Ganz gut, neu für mich Stamha an Koppels Stelle, sehr gut. Sehr gut auch d. Liedsängerin, die Volkslieder auf englisch, französich, norwegisch


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sang. Sie ist aus Norwegen oder Schweden. Gräßlicher Schund eine »Musik« zum Schluß. Einakter, behandelt d. Thema vom Rechtsanwalt, der vor Gericht d. Mörder freispricht u. hinterher, als jener Geld haben will, ihn als schlechten Menschen u. Mörder bezeichnet. Widerlich u. plump ist d. angängige Thema bearbeitet. Geschmacklosigkeit der Regisseure, so was am Schluß nur lustiger Vorstellungen zu geben, wollte man es aus Rücksicht auf den »geistvollen«? Autor nicht ablehnen, konnte es im ersten oder 2ten Teils gegeben werden. D. Mitte entzückend, Tiri-Tira, von Frl. V.'s Eßria u. Wolters reizend vorgetragen. Lustiger Ehemann v. Haselbaum fremd wie einige v.v. Bradski u. Stamha. Am nächsten Abend im Thalia Theater mit d. Eltern, Alice u. Martha: »Sie relagierten Studenten« v. Benady und »heirate meine Tochter« von ... . In beiden Stücken , trotz oder vielleicht wegen ihres Alters, ein köstlicher Humor. Ich will mir hier mal ein Verzeichnis aller bisher von mir gesehenen u. gehörten Stücken machen, soweit sie mir im Gedächtnis sind; u. zwar wenn es geht chronologisch. – Märchen Von meinem 6. oder 8te Jahr an: Heinzelmännchen? (weiß nicht, obs so was giebt, mein erstes Stück muß so was ähnliches gewesen sein). Klein Däumling, Dornröschen, Schneewittchen (Lotte Witt, jetzt in Wien), (Auch mal von Liliputaners). Kindertraum u. in diesem Jahr mit Eddi: Wie klein Elschen d. Christkind suchen ging. – Schauspiele, Dramen usw.: 1. Wilhelm Tell v. Friedr. Schiller; 2. Heinrich v. Heine, II Teile v. Ernst v. Wildenbruch, 3. Nachs Geschlecht, 4. – 5. Wallenstein, Friedr. Schiller; 6. Maria Stuart 7. Räuber 8. Götz v. Berlichingen, Wolfg. v. Goethe; 9. Iphigenie 10. Prinz, Theod. Koerner; 11. Prinz v. Homburg, Heinr. v. Kleist; 12. Johannisfeuer, Herm. Sudermann; 13. Rote Robe, Eugène Brinux; 14. Das Erbe, Felix Philippi; 15. Nathan d. Weise, Gotth. Ephr. Lessing – Lustspiele 16. Hans Huckebein, 17. Logenbrüder, 18. Wohltätige Frauen – Komödien, usw.: 19. d. Anneliese, 20. Wohltätigkeitskuß; 21. Er, er und sie; 22. D. Leibalte; 23. D. Dienstboten; 24. D. einlogierten Studenten, Rot. Brendiz; 25. Ich heirate meine Tochter; 26. D. Weiße Rössel, O. Blumenthal u. G. Kadelburg; 27. Schule d. Ehemänner Milieu.; 28. Strafe d. Eigensinnigen? (Weiß d. Titel nicht genau erinner mich d. Stückes.) – Vergessene Schauspiele, Lustspiel, kurz. Gedicht, Schauspiel: 29. Heinrich VIII, Shakespeare; 30. Nora (Agnes Sorner), Ibsen; 31. Cornelius Voß; 32. d. Journalisten, G. Freitag; 33. König Renées Tochter, Hertz; 34. Alt Heidelberg Magner – Förster – Opern: 35. Postillon v. Lonjumium, Adam; 36. Nürnberger Tupfe; 37. Heimchen am Herd, Goldmark; 38. Hänsel u. Gretel, Humper; 39. Fliegender Holländer; 40. Siegfried, Wagner; 41. Troubadour; 42. Traviata, Verdi; 43. Bajazzo, Leoncavallo; 44. Cavalleria Rusticana, Mascagni; 45. Zar u. Zimmermann, Lortzing; 46. Mignon, Thomas. Seltsamerweise tönt jetzt gerade d. Lied: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?, vom Konzert, das Sonntags v. halb zwölf — halb eins auf d. Theaterplatz abgehalten wird. Sie spielen ein Potpourri aus Mignon, wunderschön klingt es rauf! Jetzt Titania ist erwacht. Das Fr. Hindemann entzückend sang. Ich muß jetzt lebhaft an diese Scene im Schloßgarten denken: alles grün von Mondenschein, Philipe im leichten Sommerkleid, Mohnblumen im Haar u. an d. Brust, glühend rot, dann Lied »Titania ist erwacht« u. d. Zauber ist fertig. Wenn ich ein Gartenhaus hätte, könnte ich mir nichts Schöneres denken, als am lauen Sommerabend ein Gartenfest zu geben wenn möglich im Mondschein, dazu d. Lichteffekte, die sich heute leicht hinstellen lassen, d. Herren in Kniehosen u. Stock à la Roedeo, d. Damen in luftigen weißen Kleidern u. dann solche Lieder wie dies Titanialied, das muß idyllisch schön sein; wer weiß, vielleicht komme ich noch einmal zu so einem Fest. Aber 7 Jahre dürfen nicht verstreichen, allerhöchstens darf ich 30 alt sein, nachher kann man sich bei d. heutigen Realistik kaum in so etwas Schönes hinein versetzen, ohne als sentimental u. schwärmerhaft verschrieen zu werden. Ich muß aber fortfahren u. erinnere mich eines Dramas 47. Hoffnung auf Segen v. Heigermanns (einem Juden.) – Operetten u.Glückliches: 48. Geisha, Sidnerz Jonas; 49. Bettelstudent, Millüdker; 50. Puppen, Audion; 51. D. süße Mädel; 52. Mamarella Nitruhe (Mäderilla) – Drama: 53. Frühlingsopfer (Centa Brä). Also ungefähr 55 Theaterstücke, ich habe kaum mehr als zwei vergessen; ich glaube, das sind nicht zu viel für 18 Jahre u. 8 Monate. Wenigstens bin ich nicht verwöhnt u. kann mich noch auf so vieles freuen.


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12.

Juni, 1902 Australische Frauen haben erstmals das Recht, in das Repräsentantenhaus und den Senat gewählt zu werden.

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Göttingen, 16. VI. 1902. 902. Wenn wir noch an Götter glaubten, könnten wir annehmen, Jupiter Plunios würde von der »achtenäugigen« Hera abwechselnd ausgezankt und wieder versöhnt, denn fast stündlich wechselt d. Himmel sein Aussehen, Zum Glück hielt sich Wetter gestern Morgen, so daß wir über 2 Stunden beide Tennis spielen konnten. Mein Knie schmerzt heute noch redlich von d. ungewohnten Arbeit. 7 Fechtstunden habe ich bereits hinter mir, es strengt d. Handgelenk etwas an. Von d. Umgegend kenne ich bis jetzt nur den Hanstein mit d. Teufelskanzel, das darunter liegende Werrathal liegt idyllisch, hier wo es ein Hufeisen bildet, u. unterhalb des Ludwigsteins. D. Plesse macht von der einen Seite, wo man auf d. Dorf Erringhausen hinunterschaut, einen hübschen Eindruck; Interessant u. lustig zugleich ist's in Mariesprung, wo Studenten seit mehr als 150 Jahren mit Töchtern ehrbarer Göttinger Bürger d. Tanzbein schwingen. Ja d. letzten Zeit haben Hans u. ich mehr gelesen. Heinr. IV 1 u. 2 Teil v. Shakespeare , dann sind wir bei d. Ethik Spinozas u. a. französ. Roman Colombe, für mich habe ich von Ludwig Erbförster, Makrabaer u. Maria gelesen. Dies ist e. Roman, in dem Ludwig sehr dramat u. schön zugleich das Thema behandelt, das weniger zart Kleist in seiner »Marquise v. O« u. in sehr scherzhafter Weise in »Tante Rosinchen« oder »Alles geht schief« sich zum Vorwurf genommen haben u das letzte will ich mir mal von Rudi leihen, da es furchtbar keusch sein soll. Von Kellers Züricher Novellen habe ich »Fadlaub« gelesen, diese Erzählung duftet gerade so nach Romantik, wie die Zeit in der sie spielt, denn die handelnden Personen sind sich ja der Idylle des Minnesängerzeitalters das mit ihnen seinen Abschluß findet, vollkommen bewußt. Sozusagen gelesen oder durchflogen habe ich L. Ferd. Meyers »Der Heilige«. Ich kann d. leidige Gewohnheit, zuerst nach d. Schluß zu sehen, dann am Anfang u. Mitte nur Ergänzungspunkte u. damit Kenntnis d. Fabel zu verschaffen, was bei weniger netten Büchern aufmerksames Lesen ersetzt, selbst bei solchen Geschichten nicht abgewöhnen, einzelne Abschnitte habe ich ganz gelesen, nächstens werde ich es ordentlich nachlesen. Von d. schönen Dichter Echegaray habe ich »Nach seiner Heiligkeit« gelesen, Hans, von dem ich mir die meisten Bücher geliehen habe, will mir noch »Galeotto« von demselben Dichter leihen. Er endet anscheinend furchtbar kraß, die Hoffnung, daß d. Tocher d.unglückl. Vater aus dem Irrenhause retten wird, ist nur schwach, vielleicht unmöglich, da der Arzt u. Freund von dem Wahnsinn des Gelehrten überzeugt sind u. auch deshalb nie ohne Aufsicht lassen, aber in d. Welt zurückkehren lassen. Ich hatte neulich einen sehr netten Brief von Elsbeth, schade, daß ich hier nicht ein nettes Mädel zum Poussieren habe, aber d. Professoren Töchter sind zu schnöde, meistens Provinzialschlampen, für frische, niedliche Backfische habe ich nun mal ne kleine Schwäche, Bonbonieren u. Ansichtskarten kostet es allerdings dabei, aber besser d. Geld sich u. andern zum Vergnügen ausgeben als in Damengesellschaft, die einem nicht nur Geld sondern auch Gesundheit kosten. Im Winter studiere ich voraussichtlich in Berlin, wo ich bei meinem letzten Aufenthalt einen kleinen Sprühteufel in Gestalt einer Freundin meiner Cousine kennen gelernt habe. in d. paar Tagen habe ich fast alles gesehen, was es in 12 Tagen zu sehen giebt, auch den Sportplatz, der soweit ich mich erinnere kaum hinter dem Zoolog. Garten am betreffenden Stadtbahnhof liegt. Was hier poussiert wird, unglaublich. Tennisplätze in großer Anzahl, desgl. Mädels, Studenten, Officiere, Kaufleute, Schüler. Ich ging dorthin mit m. Cousine, dem Sprühteufel Wally Doris u. Edith Samber, beides Freundinnen meiner Cousine. Ich weiß nur so viel, daß ich in 10 Minuten mindestens 20 jungen Leuten vorgestellt war, viele bekannte Mädchengesichter, die mir in d. letzten beiden Jahren in Sylt aufgefallen waren. Dieser Sportplatz machte mir fast den Abschied von Berlin schwer.

902. Gottinga, 7. VII. 1902. Mehr, als daß ich ein Faultier bin, kann ich angesichts der Thatsache, am 16. Juni zuletzt in dies Buch geschrieben zu haben, nichts sagen. Dabei habe ich einige nette Ausflüge hinter mir. Am Montag d. 22.VI. war ich mit Hans u. Rudi in Kassel. Ehrenbergs haben mich sehr freundlich aufgenommen. Morgens waren wir in d. Gemäldegallerie u. dem Marmorbad. Beides ist großartig. Man erzählte


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natürlich d. unvermeidliche Geschichte von Feröne, der sich in Rotwein badete, diesen von seinen Dienern auf Flaschen ziehen u. in d. Handel bringen ließ, daß daher in d. folgenden Jahren kein Rotwein in Kassel getrunken wurde, was man d. Leuten ja nicht verdenken kann, selbst wenn d. Geschichte nicht wahr ist. Zum Essen kamen mittags zwei Vettern von Hans, die auch selbst Vettern waren, Rosenzweigs, der ein Sohn des Kasselers Farbenfabrikbesitzers usw. Er ist in Kassel sehr angesehen. Außerdem war Herrn Ehrenbergs Mutter Frau v. Ehrenberg, u. Herrn Ehrenbergs Vater, Herr Fischl aus Wien da. Nachmittags fuhren wir mit d. Mulang Bahn nach Wilhelmshöh hinaus.

Nobelpreis Chemie 1902 für Emil Fischer als Anerkennung des außerordentlichen Verdienstes, den er sich durch seine synthetischen Arbeiten auf dem Gebiet der Zucker- und Puringruppen erworben hat.

Ich wunderte mich über d. Namen Mulang, bis ich von dem einstigen chinesischen Dorf hörte, von dem noch einige Pavillons vorhanden sind, außerdem hörte ich den schönen Knittelvers: »Zwei Knaben fuhren nach Mulang der eine hieß Kurt, der andere Jean(g), Chinese war nun keiner, S'waren nur Kasselaner.« Äußerst geistreich, zugleich der Reim v. Jean auf Mulang für die Näselausprache des französischen, worin Hans sich Bedenkliches leistet, bezeichnend. Wir kamen gerade recht, um d. 6 springenden Wasser zu sehen, die Kaskaden, d. Steinhöfer Fall, Wasserfall, Aquädukt, Fontäne, Mauer Wasserfall. Bei Strombach tranken wir zusammen mit d. Familie Rosenzweig Kaffee, auch d. Vater von Herrn Rosenzweig, Herr Alsfeld, war dabei, u. gingen dann bis zur Löwenburg, die ich mit Hans, dieser allerdings zum drittenmal, besichtigte. D. andern gingen weg. D. Burg ist originell angelegt. Amüsiert hat mich die nun fehlende »Kamerin«, eine im Publikum befind. Frau, die alles bekukt, Bemerkungen macht, um der Führerin zu imponieren, dabei in Wirklichkeit nichts weiß u. nur sagt, was jeder andere auch sagen kann. Dabei muß ich an eine treffliche Miss denken, die ich Ostern im Schloß zu Charlottenburg sah. »Wie ein Buch«! Mit einem Führer unter d. Arm, (leider nicht d. Bädeker,) mit der spitzen Nase, bot sie d. Bild v. engl. Miß, wie es besser kein Witzblatt bringen kann, kam mir daher äußerst bekannt vor. Immer lief sie voran, mit vorgebeugtem Kopf u. Hals, jeder Stuhl, jede Decke schien Bekanntschaft mit ihrem kaum 2 cm entfernten Gesicht machen zu sollen. Übrigens erinnere ich mich hier d. Schlösser, die ich in Berlin sah; des Charlottenburger Schlosses, Sanssouci u. des neuen Palais, außerdem d. Mausoleum in Charlottenburg u. Potsdam. Am besten gefiel mir Sanssouci, besonders, da Mangels Bilder von Friedrich dem Großen selbst in d. Nationalgallerie mir die Räume noch näher brachten. Sanssouci selbst ist äußerlich nicht hübsch, doch, wenn man den wunderschönen Park hinaufschreitet, wie versetzt man das zurück in jene große Zeit, die Grüpchen im Park scheinen überhaupst für Frack und Zylinder nicht gemacht zu sein, beim Gehen dachte ich mir immer d. Gestalten des Friedericanischen Zeitalters in Kniehosen u. Zopf dort sich ergehen. Könnte man nicht ein Gartenfest od. Ball im Schloß u. Park in d. Kostümen jener Zeit geben? Wie schön müßte das sein. Und erst d. Räume selbst, welche Erinnerungen rufen sie wach. Kommt es, weil ich viel darüber gelesen habe oder weil meine Phantasie mir so elastisch nachgiebt, ich meine alles schon mal zu seiner richtigen Zeit gesehen zu haben u. durchgehe es jetzt mit Bedauern, daß alles vorüber ist. D. Voltairezimmer mit all d. Tiergestalten für d. Tierfeind ist äußerst komisch. Das neue Palais hat nicht viel Reiz, außer dem Muschelsaal wird nur einmal im Jahr benutzt, sagte d. Führer (den ich, wie alle, herzlich bedaure, ein so urvertanes Leben führen zu müssen.), im letzten Jahr wegen d. Hoftrauers nicht. Überhaupt ist dieser Kaiser, meinte jener, nicht so für Bälle usw. wie Kaiser Wilhelm I. Dabei erzählte ein anscheinend mitgereister Herr, der mit Frau Jenny u. mir zugleich d. Schloß ansah, daß in Hessen ein Kurfürst oder anderes, ich habe es vergessen, auch nur selten Bälle gab. Als Klagen darüber ihm zu Ohren kamen, soll er gesagt haben, »Nein! Beim Tanzen erkälten sich d. Damen, aber Siners will ich jetzt öfter geben«! D. beiden Mausoleen sind sehr schön, für d. Potsdamer wird jetzt noch d. Sarkophag d. Kaiserin Heinrich von Bagas gearbeitet. Geärgert haben mich die königlichen Beamten hier, sowohl im Charlottenburger wie Potsdamer Mausoleum. Nach aktuellen Modellrechnungen ist 1902 das frühest mögliches Jahr, in dem das HI-Virus zum ersten Mal einen Menschen infiziert hat.

Besondere Plakate verbieten d. Sprechen überhaupt, im besonderen mit d. königl. Dienern, stattdessen folgen die unaufgefordert u. halten einem ne lange Rede über d. Sarkophage usw. über alles , was man entweder sieht oder lesen kann. Trinkgeld hätte ich ihnen auch ohnehin gegeben, es vertägt sich aber


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nicht mit d. Heiligkeit des Raumes, einen Livree bekleideten Menschen neben, hinter u. vor sich zu haben. Außerdem steht ausdrücklich da, daß d. königl. Beamten d. Trinkgelder Annehmen verboten Nobelpreis Medizin 1902 für Ronald Ross für seine Arbeiten über Malaria, durch die er nachwies, wie die Krankheit in den Organismus gelangt, und damit den Grundstein legte für eine erfolgreiche Erforschung dieser Krankheit und ihrer Behandlungsmethoden

ist. Gegen d. Annhame will ich nichts sagen, man giebt soviel Trinkgeld auf Reisen, daß man diesen in d. Einsamkeit Lebenden auch gern etwas giebt; so haben sie einen unschuldigen Nebenverdienst, der für d. einzelnen Reisenden nicht in Betracht kommt, im ganzen Jahr jedenfalls eine nette Summe ausmachen wird. Trinkgeld hätte ich auch ohne Speech gegeben, habe mir daher vorgenommen, wenn ich im Winter mal wieder dorthin kommen sollt, was von Berlin aus ja nichht unwahrscheinlich ist, stumm auf d. Plakat zu deuten, wenn jener anfangen will zu sprechen. Übrigens standen neulich in d. Frankfurter Zeitung, die ich mir mit Hans zusammen halte, eine Klage über d. Trinkgelder in Kirchen am Rhein u.s.w., die schon v. Viktor Haupt herrühren soll, worauf jemand antwortet, daß es heute auch nicht besser sei, im Kölner Som kostet d. Besichtigung von Rubens Werk glaube ich: Von d. Löwenburg über d. Neiß zum Kölner Dom ist übrigens kein schlechter Sprung, also zurück nach Kassel. Abends machten wir lebende Bilder, die Mütter, Väter, Großmutter d. Vater mußten raten, was es ist. Das war manchmal nicht leicht. Z. B. ich stand mit n. Plaid umkleidet, einem Gewehr in d. Hand auf Tischen u. Stühlen, die auf d. Erde lagen, dazwischen lagen regungslos d. Ehrenberger u. Rosenzweige: »Marius auf d. Trümmern Karthagos«. Ferner gelangte zur Darstellung: Frank segnet Jakob statt Esau, wobei dem Jakob, der mir zugeführt wurde von Rebekka, Hans mit Damenhut, sich durch ein Plaid weiche Haut präparierte usw. griechische, römische biblische u. moderne Stoffe stellten wir dar. D. Neuste vom Neuen war d. Leipziger Bankkrach. Über eine Bank wurde eingedeckt, unter dem ich mich versteckte. Außen wurde ein mit »Leipzig« beschriebener Zettel an d. Bank geheftet; ich kroch unter das Tuch, so daß ich den Ratenden unsichtbar war. Nachdem die Ratensollenden d. Wort Leipzig gelesen hatten, kippte ich, zum allgemeinen Schrecken, die Bank um u. kroch hervor. Sofort stürze sich als Polizist der eine Vetter von Hans auf mich schleppte mich fort, während d. anderen heilend mit Papier in den Händen, d. Aktien vorstellend, auf mich losstürzen. Mit diesem Knalleffekt schlossen wir u. dampften nach Göttingen ab. Wegen d. Vollheit machten wir d. Fahrt II. Klasse, beim Umsteigen in Eichenberg ich I. Klasse mit, trotz unseres Billets, da wir uns nicht in d. überfüllten III. Klassen drängten u. noch Wagen angehängt wurden. In München waren wir in d. letzten Woche auch, es leigt »schlummerhaft«, nur studentisch, (u. weils studentisch ist, will ich nicht sagen blödsinnig) zu sprechen. Thina sagts besonders gern, Büchner hat sichs auch angewöhnt. D. Tillyschanze, ein Relief v. Eberlein ist dort drin, bietet herrlichen Blick auf Zusammenfluß v. Werra, Fulda u. Weser. Von Andrees Berggarten hübscher Blick. Wir gingen nach Oberschaden zurück, nach etlichen Suchen im Wals, da schändlich wenig Angaben über d. Weg dort sind. Auf d. Gleichen waren wir Sonnabend vor 8 Tagen, gingen nach Brenke von dort über Reinshausen nach Dinnroden, von wo es mit d. Gartenthalbahn nach Hause ging . Hans fragte d Schaffner, ob man neben d. Bahn herlaufen könnte, aber stolz wie ein Spanier wandte er sich ab. Gerstern nachmittag fuhren Hans, Rudi, Burschen rauf nach Prügnen, gingen von dort über Grema, wo eine Burgruine u. ein stattliches Eisenbogenviadukt ist, nach Einbeck. 95. Warum es hier wohl fast garnicht Einbecker Bier giebt? Stattdessen muß man sich mit d. Göttinger Jauche begnügen, wenn man nicht dunkles trinkt; dunkel trinke ich lieber. Einige schöne alte Häuser sind in Einbeck, das Rathaus mit den 3 tiefen langen Türmen u. die Kirche davor machen einen altertümlichen, gemütlichen u. ehrwürdigen Eindruck zugleich. Gerade kommt Hans u. holt mich zum Abendbrot zu sich ab, darum Schluß für heute.

3. Juli 1902. 902. Göttingen, 13. Eigentlich bin ich bißchen schlapp, denn 3 Stunden, von 9 – 12, haben wir Tennis gespielt. Allmählich lerne ich, besser u. ruhiger zurückzuschlagen. Etwas Gutes hat außerdem noch in moralischer Beziehung sowohl das Tennis- wie Skatspielen für mich. In beiden bin ich Anfänger u. muß mich infolgedessen mächtig anschnauzen lassen. Anfangs war ich sehr empfindlich, allmählich merkte ich aber,


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wie es einen ärgern kann, durch Ungeschicktheit u. Dummheit des Mitspielers zu verlieren, u. daher bin ich jetzt immer sehr ruhig. Ich merke es auch, daß Hans es sofort bereut, wenn er sich aufgeregt hat, wobei er durch sein Händefuchteln u. seinen kleinen Körper äußerst komisch aussieht. »Das hab ich als Anfänger allerdings auch so gemacht«, sagt er entschuldigend, hat es aber gar nicht nötig, denn im Beruf meiner Lernzeit, besonders bei Skat, habe ich meine Dickfälligkeit u. meinen Gleichmut, aus dem man mich bei so unwichtigen Angelegenheiten mit aller Anstrengung nicht herausbringen kann, schon wiedergefunden u. sage gar nichts mehr, was sie übrigens sich gemerkt zu haben scheinen, denn

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Juli, 1902 Die elfjährige Maria Goretti wird Opfer eines Sexualverbrechers, der ihr mehrere tödliche Messerstiche beibringt. Das Kind vergibt sterbend dem Mörder und wird später heiliggesprochen.

gestern sagten sie auch nichts mehr. Sehr akut tritt mal wieder d. Judenfrage unter uns hervor. Z. B. spielt ein Mediziner, Stern, mit uns Tennis. Sein Vater war bei d. Zentrum in Marburg, sein ?Karten? mit den hiesigen Hannoveranern aktiv, sein Onkel ?Herzinter? in nen Heidelberger Langs; sein Vater hat aber Band u. Mütze zurückgeschickt, oder wenn das nicht, jedenfalls seine »Alte Herrenschaft« gekündigt, als er hörte, daß jetzt keine Juden in studentischen Korporationen mehr aufgenommen würden. Ne Schande ist es ja, läßt sich aber nicht ändern. Jedenfalls war es ein genialer Gedanke von Stöcker und Genossen, ihre Agitation in Akademischen Kreisen zu beginnen, denn so erreichten sie es ja, daß d. Juden, die sie teilweise begründet haben, aus sämtl. Verbänden augenblicklich verdrängt sind. Unbegreiflich ist diese Kurzsichtigkeit, wenn sie nur nicht heute selbstverständlich für jeden christlichen Studenten, obgleich vielleicht 2 1/2 in jeder Verbindung antisemitisch denkt. Es ist mal so, u. daran ändert sich vorläufig nichts. Ich kenne in Hamburg auch noch einen alten Herrn ne Tübinger Burschenschaft werde ihn zum Austritt veranlassen, denn wozu soll er Beiträge liefern, ohne daß seine Kinder, wenn sie einst wollen, Nutzen davon haben? Unter diesen Umständen berührt eine Rede wie die Loi's sympathisch, obwohl sie so undiplomatisch wie möglich war. D. Religionsstreitereien sind, zw. Protestanten u. Katholiken wenigstens nur schlimmer geworden. Weltfeuer wirkt d.?Inschuranten? vom Kaiser her, der sich an Menschen wie Ballin usw. überzeugt hat, daß jüdischer Geist u. Pakt christlichem nicht nachsteht. Am besten haben es wohl die italienischen Juden Ottolenghi ist Kriegsminister, u. ist deutscher Herkunft, seine Eltern, glaub ich, stammen aus Öttlingen, Öttlinger zu Ottolenghi ist ja der Weg nicht weit, Am schlechtesten d. russischen Juden; fast alle Seebäder sind ihnen dies Jahr verboten, darum müssen sie raus aus diesem Schmutzland so schnell wie möglich. D. Hauptsache ist Geld, Errichtung v. Bureaus und Logis in d. Hafenstädten, u. Ländereinkauf in Amerika oder Südafrika. D. Zionismus gefällt mir soweit er nach dem ersten Bosala Kongreß in seinem Programm: »für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina erstrebt«, gar nicht. Diese utopischen Wünsche gehören ins Fabelreich, ihrem Wesen nach für heute, ihrem Werte nach für immer. Aufgeklärte verstehen ja unter dem Zionismus das Vernünftige, nämlich d.Unglücklichen aus Rußland, Rumänien usw. zu befreien und im Ausland wo Platz ist anzusiedeln. Leider wissen viele Juden wenig, d. meisten Christen gar nichts von diesen Bestrebungen des Zionismus, durch d. Nennen d. obigen Programms irregeführt, sonst würden sie zu diesen Zielen auch Mittel beisteuern, denn nichts kann ihnen wie uns doch erwünschter sein, als Europa von diesem elenden Proletariat zu entlasten, das, von einer Grenze über d. andere geschoben u. zurückgestoßen, sich selbst u. uns lästig fällt, während es, angesiedelt u. in Ruhe gelassen.in Arbeitsamkeit seinen Platz nicht nur ausfüllen, sondern segensreich für d. Menschheit wirken kann. Hoffentlich lassen sich diese Wünsche erfüllen, hoffentlich können dann die rumänischen Handwerker der Welt d. Früchte ihres Fleißes zeigen, hoffentlich sind dann Rumäniens Finanzen so zerüttet, wie es einem wortbrüchigen Volke, dessen Königin der Welt so viel Menschenfreundlichkeit u. Humanität vorheucheln kann, nur zu wünschen ists schlimm genug, daß d. Protektoren des Berliner Vertrages auf seine Erfüllung so wenig Wert legen. Verträge scheinen heute überhaupt nur die Herrn derwegen da zu sein; das sieht man an d. Erneuerung des Dreibundes und der darauffolgenden Reise Viktor Emanuels II., der zuerst nach Berlin reist, während Wien »geschnitten« wird, was übrigens den Italienern nicht zu verdanken ist, da d. Eifersucht des ?Pachtes? Franz Josef einen Besuch im Quirinal verbietet. Im Ge-


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gensatz zum Zionismus macht d. Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens einen sehr guten Eindruck auf mich, er schränkt die Begrifffe d. Parteien, besonders der Antisemiten, die sehr eingent... sollte man den Antisemiten nichts übel nehmen, ohne Lügen haben sie eben noch nie bestehen können, u. wie soll man ihnen etwas austreiben, was ihnen zur zweiten Gewohnheit geworden ist, wenn sie nicht lügen müßten, könnten sie ja keine Angriffe mehr gegen uns schmieden, überhaupt sind doch Menschen, die einen Pückler, einen unglücklichen, ich möchte sagen vertierten Charakter ernst nehmen, nicht ernst zu nehmen, obwohl ja gerade Menschen, die nicht für ihr Thun einstehen können, am gefährlichsten sind. Aber »wer Dreck anfaßt besudelt sich«. Verreisen werde ich in diesem Sommer wohl nicht, Ehrenberg, Alexander und Frank machen eine Fußtour durch Tirol; Papa möchte mich aber gerne in Hambg haben. Würde ich ihn um d. Reise bitten, würde er es mir sicher erlauben, innerlich es mir übel nehmen, daß ich nicht nach Hause kommen mag. Wir H.s hängen nun mal alle an unseren Familien, nur ich selbst würde mir undankbar vorkommen, wenn ich nicht nach Hause reise. Vorher sehe ich mir vielleicht noch Harz u. Wartburg an; nach Hahnenklee fahren wir vielleicht nächsten Sonntag, da Ehrenbergs Eltern mit Viktor in d. Ferien dort sind; nach d. Wartburg, wenn ich Ludwig in Siebenstein besuche. Mittwoch Abend war zur Feier d. Geburtstages von Frau Prof. Ehrenberg, die sich aber schon in Wofratshausen befand, bei München, Studentenabend bei Prof. Ehrenberg. Es war äußerst gemütlich, ohne Herrn Prof. u. Rudi, der trotzdem er Pennäler, dabei sein durfte, waren wir 12. Am stolzesten auf d. Einladung kann im 5. Semester, Hirsekorn sein, den Prof. E., ohne ihn näher zu kennen, nur auf Grund seiner guten Arbeiten im Handelsrechtpraktikum eingeladen hatte. Prof. E. sagte zu Hans u. mir, er wüßte schon gerade so viel wie d. Leute im Reichsgericht, er gratulierte dem Hamb. Staat zu solchem Juristen. Zu unserm Stolz ist außer diesem der der beste Zuhörer ist, den Prof. E. seit Jahren gehabt hat, auch ein anderer, der ebenso gut war vor Jahren, ein Hamburger ein Jude, Rechtsanwalt Dr. Falk, (ich kenne ihn nicht) der sich kürzlich verheiratet haben soll. Unser Hamburg. Schule machen Hans u. Ich Ehre, indem der Hans zweitbester, ich d, beste in der römisch-rechtl. Übung sind, wie Prof. Titze zu Ehrenberg neulich sagte. Als allzu gr0ß ist d. Kompliment wohl nicht aufzufassen, denn daß d. Übersetzung des leichten Gains oft so stümperhaft ist, leigt wohl an d. Oberreal-Realgymnasialschülern, die bis jetzt, (mit d. mit der neuen Prüfungsordnung wirds wohl anders werden), noch verzweifelt wenig Latein können, außerdem sind mehrere ältere Semester darunter, die im Latein wohl nicht allzu sattelhaft sind, schließlich hatten wir im Hamburger Gymnasium wohl außer Berlin den strengsten u. besten lateinischen Unterricht, u. zu aller letzt war Latein mir immer leicht geworden u. mein bestes Fach, mündlich wenigstens, so daß ich einige Stellen von Deutsch herunterlassen kann. (Von mir darf ich ja so sprechen.) 31 VII. 1902 902 Donnertag, 31. Ende gut alles kann ich von meinem hiesigen Aufenthalt auch sagen. Göttingen selbst ist allerdings nicht so sehr dran schuld. An sich ist es ein Kaff, das steht fest, seine Umgebung ist famos, u, darauf kommt es ja im Sommer an. Jedoch es als Eldorado in künstlerischer geistiger, gesellschftl. usw. Beziehung hinzustellen, heißt zu weit gegangen. Vom Verein für Fremdenverkehr werden an uns Prospekte versandt, die wir Auswärtigen zusenden sollen. G. ist dort in rosigen Farben geschildert, wie es schon nicht mehr schön ist Aber das ist ja gleich, d. letzte Zeit habe ich mich großartig amüsiert. Am Sonntag d. 13. VII waren Hans u. ich in Hahnenklee, wo seine Mutter, Viktor, u.e. alte Freundin des Hauses Ehrenberg, »d. Tante« genannt, waren. 10.8. Am Sonnabend sahen wir uns d. Kunstuhr u. d. Kaiserhaus in Goslar an; beides ist sehr schön, d. kunstvolle Arbeit an d. Uhr ist bewundernswert, u. d. alten Künstler, der uns alles erklärte, kann mit Recht so stolz sein, wie er ist. Im Kaiserhaus war d. Führerin ein frisches Mädchen von etwa 18 Jahren; mit ei. Deutlichkeit, die an d. Bruna in d. Vorschule erinnert, sprach sie jedes Wort aus, dabei mit heller klarer Stimme, so stelle ich mir d. Kätchen von Heilbronn vor. Hahnenklee, 2 Stunden gingen wir von Gos-


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lar ab hinauf, liegt ziemlich hoch; es beginnt aufzublühen, war ganz besetzt, kaum ein Zimmer war für uns zu bekommen, neun Häuser sind im Bau begriffen. Im Hotel Waldgarten, am äußersten Ende des Dorfes, am Waldrand, wohnten wir zwei Nächte. Sonntag machten wir e. Busfahrt nach Grund, auf d. Wege sahen wir uns e. Silberhütte an, ein Arbeiter erklärte alles; »soviel ein Arbeiter wüßte«, sagte er in seiner Bescheidenheit, thatsächlich wußte er alles. Von Grund aus, wo wir bei Römer aßen, (sehr schöner Speisesaal) gingen wir zur Iburger Tropfsteinhöhle; seltsam, daß d. Stalagmiten u. Stalatiten in 10 Jahren nur um 1 mm wachsen. Montag gingen wir noch in d. Wald, in n. Sinn hatte Viktor e. Burg mit Freunden gegraben, an der wir ihm halfen, nachmittags fuhren wir ab. In Goslar kamen wir in e. falschen Zug, mußten 6 M. wegen ungültigen Billets blechen nach §21 d. Betriebsordnung. In §21 entdeckte ich aber Absatz 4, nach dem bei Billigkeitsgründen von Strafe abgesehen werden kann. Daraufhin haben wir am nächsten Tag reklamiert; neugierig ab mit Erfolg. Schützenfest war auch in d. Woche. Donnerstag besuchte uns Hans Freund Trener aus Freiburg, der schon nach Hambg. zurückreiste. Mit ihm habe ich Hans rumgekriegt, daß er mit nach Berlin im Winter geht. Abends waren wir auf d. Schützenfest. Erst fröhnte ich meinen Gelüsten, d. h. schoß in ei. Schießbude Pfeifenköpfe ab, was ich leidenschaftlich gern thue, habe unter 6 Schüssen leider einen verfehlt. Bei diesen leichten Sachen darf das nicht vorkommen, dann gingen wir in so n Kinematograph. Im ganzen nett u. anständig, dem Pikanten näherte sich nur e. Panorama: »Was ich von unserm Balkon sehe«, Pariser Bild. D. h. unschuldiges Stadtpanonorama, dann sich entkleidende Frauen auf ihrem Balkon usw. Hans u. Anna ritten auch. Jedes Karussel spielt d. kleinen Rache, scheußlich. Einen Kraftmesse Auf d. Dom werden wir ihn wohl wiedersehen. Freitag abend gingen wir in d. Synagoge. Neun Stil; kryäsel Gesang, besonders wenn man durch den Kantor wie Lombard verwöhnt ist. Orgel haben sie auch, wurde nicht gespielt. Nach dem Abendbrot spielten wir Billard, d. 2. Mal in m. Leben. Morgens um halb fünf fuhr ich nach Liebenstein, wo ich Stein besuchte. D. Harz ist streng, Thüringen lieblich. Leider bezahlte Herr Stein alles für mich, ich hatte extra Geld mitgenommen, er wollte es aber nicht anders. Ich schenke gern, lasse mir aber nicht gern etwas schenken. Wir besuchten d. Höhle, ganz nett, 75 Pf Eintrittsgeld, teurer als andere, nicht so schön wie andere Höhlen. Netter See mit Grotte u. Büste d. Herzogs, unter dem 1799 d. Höhle gefunden wurde. Dann gingen wir in d. Schloßpark vom Schloß Altenstaub. Von 2 – 3 zu besichtigen, es war 4 Uhr. Paul kehrt d. Schild »Eintritt verboten« um u. wir gingen hinein. Ludw. u. Paul hatten sich schon mal rauswerfen lassen, daher wollte ich erst nicht gern mit. V . 04 Heidelberg 22. VI. Wir sahen uns den wundervoll angelegten u. gepflegten Park an. Ein Feldwebel stand von n. Bank auf u. sieht uns zischend an, man schlief wohl. Als ob wir nichts hörten, gingen wir weiter, bis wir alles gesehen hatten. Als er dann pfiff, guckten wir uns erstaunt um. Auf seine Aufforderung, d. Garten zu verlassen, meinte Ludwig mit unschuldiger Miene, von 3 Uhr an sei er doch zu besichtigen, Paul bestritt, d. Schild mit d. Verbot gesehen zu haben, u. nach d. höfl. Ermahnung, doch d. Augen gefälligst besser auf zu machen, entfernten wir uns, im Bewußtsein, niemand etwas zu Leide gethan u. alles gesehen zu haben. Die angenehmste Erinnerung, die ich aus d. 1. Semester mit nach Hause nehmen werde, ist d. Bekanntschaft mit zwei famosen Mädels oder (für ad. zweite ist Mädel zu viel gesagt,) jungen Damen, die ich in diesen Tagen in Thüringen machte. 7. VIII 1902 902 Hamburg, Sonntag, 17. Seit d. 6. August bin ich wieder hier, habe noch keine Zeit gefunden, mich diesem Buch zuzuwenden. Beim Schreiben ärgere ich mich über meine Schrift, ich habe keine richtige, ständige Handschrift, auch keine Feder, vielleicht nehme ich Schreibstunde. Seit gestern oder vorgestern ist hier großer Streik der Fuhrwerkbesitzer u. Kutscher. Die neue Polizeiverordnung, die unnötige Härten hat; gab Anlaß dazu.


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Während aber bis gestern Stammkundschaft noch bedient wurde, fahren seit heute überhaupt keine Wagen mehr. Papa war gestern Abend bei Kömke, der uns immer Wagen lieferte u, im Vorstand des Nobelpreis Physik 1902 für Hendrik Antoon Lorentz und Pieter Zeeman als Anerkennung des außerordentlichen Verdienstes, den sie sich durch ihre Untersuchungen über den Einfluss des Magnetismus auf die Strahlungsphänomene erworben haben.

Vereins der Fuhrwerkbesitzer ist. Mam reist nämlich morgen früh 8.00 vom Steuler Bahnhof mit Onkel Max u. Tante Mathilde nach Norderney. Wir fragten nach e. Wagen. Kömke sagte, er glaube kaum, uns einen bewilligen zu können; »wenn jemand n. Wagen kriegt, sind Sie d. erste, denn wir wissen, daß Sie kein Knicker sind«, sagte er zu Papa. Er sprach d. Streit u. meinte, daß d. Polizei d. Kutscher direkt den Socialdemokraten in die Arme treibe. Eine der ungerechtesten Bestimmungen ist, z. B., daß ein Kutscher, der am Bahnhof Reisende aufnimmt, die Wagenuhr nicht eher aufdrehen darf, als bis d. Fahrende d. Wagen bestiegen hat. Läßt sich jener also vom Polizisten n. Marke mit d.Wagennummer geben, wodurch doch d. Kutscher des Wagens für diesen Fahrgast verpflichtet ist/wird, so kann sich der Betreffende im im Restaurant am Bahnhof erst noch an Speise u. Trank erquicken; u. wenn dies ne halbe Stunde dauert, d. Kutscher muß warten, ohne diese Zeit berechnen zu dürfen, erst von d. Abfahrt an darf er sich bezahlen lassen. Andererseits hat d. Polizei mit d. Forderung einer anständigen Uniform recht, oft sehen d. Droschenkutscher unter aller ?...? aus. Gleichwohl haben sie d. Sympathie d. Bevölkerung u. werden hoffentlich gewinnen, denn sie sind einig. führen d. Streik sachlich, ruhig u. anständig u. was d. Hauptsche u. erste Bedingung zu d. Streik ist, sie haben Geld u. werden jederzeit unterstützt. Dienstmänner u. elektrische Bahnen machen jedenfalls augenblicklich das beste Geschäft. Lange Zwischenräume verwischen frische Eindrücke, das sehe ich jetzt, wo ich mir d. Tage aus Thüringen ins Gedächtnis zurückrufen will. Wie ich sehe, schloß ich mit d. Hinweis auf e. angenehme Erinnerung: In Leibenstein wohnte in Müllers Hotel, bei Steins waren auch mehrere russiche Familien; n. Junges Mädchen von etwa 17 Jahren, Marie v. Wrasky, war mit ihren Eltern dort, Steins spielten mit ihr Tennis; dabei lernte ich sie auch kennen; reizend, naiv frisch, lieblich, Typus d. hübsche Russin blonde Haare, blaue Augenn, etwas breite Nase, artiges Gesicht, Kopf kleiner als ich, Mitte zwischen üppig u. schlank. Sie spricht Deustch, versteht auch, wenn man langsam spricht, alles. Abends gab n. Familie Lövy oder wie sie hieß, n. junges Ehepaar, ein Lampionfest u. Feuerwerk für d. Kinder des Hotels. Den Lampionzug, der 2mal durchs Dorf ging, führte ich mit ihr an, hinter uns kam das Kinderklein.

902 Hamburg, Mittwoch, 20. VIII. 1902 Wurde Sonntag unterbrochen. Also wir freundeten uns an diesem sehr an, sie erzählte mir, daß sie auf der Petersburger Damen-Universität Philosophie studieren wolle, nicht in Deutschland, sie hätte sich das Leben der russichen Studentinnen in Berlin angesehen, es gefiel ihr gar nicht. Leider hat sie Recht, die Sitten der russ. Studentinnen sollen ziemlich locker sein; allerdings wird diese Thatsache durch antisemitische Hetzereien vielfach übertrieben, denn viele Rußinnen sind Jüdinnen. Trotzdem sie Christin ist, scheint mir meine russiche Freundin nicht antisemitisch zu sein, denn sie verkehrte mit Steins u. Fekdmann, einer jüdischen aus Odessa stammenden Familie, vielleicht weiß sie es auch nicht genau, denn die elende unterdrückte jüdische Bevölkerung Rußlands sieht ja anders aus als wir. Am nächsten Morgen mußte ich leider abfahren, ich hatte mich in Eisenach mit Onkel Adolf verabredet. Dienstag wollten ihre Eltern übrigens auch schon mit ihr abreisen. Sie wohnt in Tiflis, geht, wie sie erzählt, außerhalb d. Stadt nie ohne militärische Begleitung wegen der Räuberbanden des Kaukasus. Ihre Adresse muß Ludwig mir noch schreiben, wir werden uns wohl kaum jemals wiedersehen, vielleicht schreibt sie nicht in deutsch, aber ich möchte ganz gern mal was von Eisenach, wo ich morgens 10°° meinen Onkel aus Friedrichride erwatete. Er brachte niedliche junge Damen mit. Wir drei fuhren, Steins gingen, dadurch verfehlten wir uns auf der Wartburg, was Anlaß zu e. kleinen briefl. Zwist zwischen Ludwig u. mir gab, das aber schon nach drei Tagen beseitigt war. Eigentlich kommen ich mir etwas flasch vor, allerdings im unschuldigsten Sinn; denn da wir drei im Wagen uns so famos miteinander amüsierten, wünschten wir allein zu bleiben u. waren nämlich schon wieder unten in Eisenach am Bahnhof. Wir fuhren nämlich erst zur Drachenschlucht, stiegen dort aus u. gingen


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durch. D. Himmel war blau, d. Sonne schien hell u. warf ihre Strahlen in d. Schlucht, die wir dicht aneinander gepreßt durchschritten, an einigen Stellen ist sie kaum 1 m breit, Onkel links, ich rechts,

August, 1902 Der britische Physiker, Nobelpreisträger und Mitbegründer der Quantenphysik Paul Dirac wird geboren.

Weberchen in d. Mitte. Es war e. junge Dame, dei sich in Friedrichride zur Erholung im selben Sanatorium, wo Onkel war, befand. Eigentlich sollte noch n. verheiratete Dame mit, e. Frau Behrens, für die nach Ellys Angabe Onkel schwärmte, da aber ihr Sohn krank geworden war, fuhr Onkel u. Elly Weber alleine fort, wodurch jedenfalls die Mütter d. alten Tanten des Badeortes in noch sittlichere Erregung versetzt wurden als wie gewöhnlich; Onkel amüsierte sich als poussierender Frauenarzt dort scheinbar sehr gut, in Hamburg ist er durch seine Praxis angestrengt u. oft schlecht gelaunt, hier kann er mal wieder aus dem Hamburger Klatsch, der ihn mit ungefähr 5 Mädchen zur Zeit verlobt sein läßt, heraus, u. hat sich sehr gut erholt u. amüsiert. Von d. Drachenschlucht fuhren wir zur Hohen Sonne, genossen von dort den herrlichen Durchblick durch eine schnurgerade Baumreihe zur Wartburg,

stiegen dann auf eine Anhöhe, heißt glaub ich, Hirschstein, dann gings per Wagen zurück zur Wartburg. D. Speisesaal war so voll, daß wir anfangs nicht viel essen wollten; es war gegen 3 Uhr, d. Zimmer leerte sich bald. Wir aßen u. tranken ... Sekt. Anfangs wollten wir Weißwein, Mosel, trinken, dann aber sagte Onkel, daß er eigentlich nur Sekt gern tränke, Weberchen fand auch nur an Sekt oder Burgunder Geschmack, daß ich mich den beiderseitigen Wünschen anschloß, ist selbstverständlich. So saßen wir, anfangs bei deutschem, dann bei französischem Champagner von 3 bis 6 Uhr, keiner hatte Lust aufzustehen, so gemütlich war es. Jedoch die Wartburg war schließlich auch noch zu besehen, um 2 Min. vor 8 ging mein Zug, also schnell schloß ich mich dem Rest einer Besichtigungsmannschaft an, ging in d. Rittersaal u. d. Lutherstube. Die ausgekratzte Wand kann einen ärgern. Mit dem darauffolgenden Führer sah ich die übrigen Räume, die Kapelle, in der Luther predigte, den Sängerkriegsaal u. d. Prunksaal. Auf d. Gemälde im ersteren Saal ist Wagner gräßlich, während d. Herzog idealisiert ist. Die Burg mit ihren Räumen imponiert durchaus nicht, wenn man schon andere derartige Gebäude kennt, durch sich selbst aber, ihre Gestalt u. die herrliche Umgebung des Thüringer Landes, besonders aber durch Erinnerung an jenen Mönch, dessen Worte u. Werte den Feuerbrand in den ?Wanst? katholischer Engherzigkeit schleuderten, einen Feuerbrand, der sich über die ganze Welt ausbreitete, dessen Schein sich auf den Gesichtern aller Wahrheit suchenden Männer verklärend widerspiegelte, durch die Vorstellung, daß Mann, umgeben von den Kriegern des Landgrafen, auf demselben Wege wie wir fahren, seinen Einzug in die Wartburg gehalten hatte, macht diese Stätte für jedermann unvergeßlich, man denkt dabei unwillkürlich an das herrliche von komponierte Gedicht Wildenbruchs: Nach der Besichtigung verabschiedete ich mich von den beiden andern, deren Zug 1 Stunde später als meiner ging u. raste nach Eisenach hinunter, zum Glück noch d. Elektrische ereichend, u. gerade zur Abfahrt d. Zuges kam ich an. Ich geriet in ein v. jungen Mädchen gefülltes Koupé, bei d. nächsten Station jedoch schon stiegen sie aus, wurden von Bahnangestellten, die ihren Skat kloppten abgelöst. In Bebra stieg ich um »Nach Göttingen«, also Student wirkte, d. Schaffner wies mir auf Verlangen nach Nichtraucher ein Abteil für mich an, ich gab ihm n. Trinkgeld u. hatte dafür d. Genuß ganz allein zu bleiben. Bis zur nächsten Station fuhr ein sehr netter älterer Herr mit, mit dem ich mich über Seiden – Leipziger Bankcrash usw. unterhielt, nachdem er ausgestiegen war, stellte sich mein Mann wie en. ?Cuberus? vor meiner Thür u. bis Göttingen blieb ich allein. Hans reiste am 4. Aug. schon wieder ab, er machte mit Frank n. Wanderung durch Tirol in München trafen sie sich. Ich hörte noch d. letzten Vorlesungen an, Mittwoch schloß als letzte Rangelsberger, gleich nach seiner Vorlesung fuhr ich fort. Mit meiner Wirtin habe ich abgemacht, bei ihr wieder Wohnung zu nehmen, falls ich im 5. Semester wieder nach Göttingen gehe. Die gute Superintendentin mit ihren Töchtern war wirklich sehr nett, ich habe von Papa einige Kleiderstücke schicken lassen, ihr eine Porzellankanne mit Bronzemarkierung, jeder von ihren 2 Töchtern einen kleinen Meißner Leuchter. Sie hat mir einen höchst gerührt dankbaren Brief geschrieben, sie schreibt den Sachen wohl einen größeren Sinn zu, als sie haben. Ihr Bild hat sie mir geschickt. Am Abend vor meiner Abreise


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mußte ich mich in ein Buch eintragen, das sie für ihre Mieter angelegt hat. Viele hatten was rein gedichtet, also reimte ich auch was zusammen und ließ mich folgendem Herzenserguß aus: »Wunderbar? Hedal...? Wer aus der Großstadt lärmende Getriebe – Ins stille Städtchen jetzt, wie ich, den Fuß – Wer fern von Vaterhaus und Elternliebe – Des Lebens ernsten Teil beginnen muß, – Dem thut es wohl, wenn er im kleinen Hause, – Umstrahlt vom Sonnenlichte hell u. klar – Aufnahme fand in einer

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August, 1902 Die ersten Fahrten der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok finden statt.

stillen Klause, – Die klein zwar, doch auch so gemütlich war. – Woo sich harmonisch Lieb u. Frieden finden, – Wo Glaub u. Segen innig sind vereint, – Ist's da ein Wunder, wenn aus jedem Winkel – Des Glückes Antlitz lächelnd heiter scheint? – Im Hause, wo so gute Geister walten, – Fühlt man sich wohl, u. wenn auch schnell vergehen – Vier kurze Monde, dankbaren Gemütes – Ruf ich, wills Gott, ›auf frisches Wiedersehen!‹«. Ich rechne, u. wohl ohne zu irren auf die gutmütige Milde der Superintendentin, hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich was besseres fabriciert, aber für paar Verse, die man so munter schreibt, genügt es den andern Göttingern wohl. Hier ist nicht viel los. D. Kutscherstreik ist fürs erste beendet, nachdem er seinen Höhepunkt in d. völligen Einstellung aller Fuhren erreicht hatte, d. h. laut Beschluß der Streikenden wurden weder Leichen- noch Ärztewagen gestellt. Über d. ersten Punkt einigte man sich bald, indem d. Polizei den Fuhrherrn alle Konsequenzen dieser gesundheitsschädlichen Handlung klar machte, über d. Streik überhaupt einigte man sich, indem bis 1. Januar 1903 d. alte Ordnung gelten soll u. bis dahin wird die Polizei bei d. neuen Ordnung die gewünschten Änderungen nolens volens machen müssen. Als Mam Montag nach Noderney wegreiste, lieferte uns Oppenheim eine Viktoria, während unser Grünmann Brandt d. Koffer aus seinem Wagen beförderte. Hambg., Donnertag, 21. 2 VIII. 1902 902 An u. für sich nichts neues. Große Vorbereitung zu Eddi’s Geburtstag am Sonnabend. Aus einer alten Sommerjacke von Helli bekommt er eine 76er Uniform gearbeitet, Krägenrand zimmert n. Schildwache. Adressiert waren d. Sachen Aus Norderney, woher Mama sicher ein Dampfschiff geschickt hat. Nicht weniger als 28 Kinder hat sich der junge Herr eingeladen, besonders erfreut ihn das Kommen von Fritz Ajers, einem kleinen Bürschchen, der er anscheinend bemuttert bzw. bevatert. – Die Depesche d. Kaisers erfüllt d. politische Athmosphäre für einige Zeit mit Nährstoff. Politsch klug war sie glaub' ich nicht, aber gefreut hat sie mich doch; was in Bülows feinem Kopf geschüttelt haben mag, als er den Wortlaut las? Da es sich herausgestellt hat, daß von München aus eine Veröffnetlichung nicht gewünscht wurde, da auch d. Berliner Kamzleramt überrascht war, bleibt nur noch das kaiserl. Zivilkabinet übrig, so daß man annehmen muß, daß d. Wolffsche Büreau auf kaiserl. Befehl d. Depesche veröffentlicht hat. Vielleicht war es nicht mal politisch unklug, sondern nur unnötig. Dieser trostlose Sommer, eben noch Sonnenschein, jetzt klatscht es wieder. Überall schlecht, aber in Hamburg am schlimmsten. Man muß lesen. Ich habe mir Niels Chyne von Peter Jens Jakobsen gekauft, von Bret Hart: »Die beiden Männer Sandy Baar.« Außerdem habe ich den reizenden Einakter v. Groß-Trakau: »Ich heirate meine Tochter« nachgelesen, den ich in d. Pfingstferien im Thaliatheater gesehen habe. Hambg., Dienstag 26. August 1902. 902. Trostloses Wetter oder nein, das ist zuviel, geregnet hats heute nicht, Himmel aber sehr bewölkt. In Tirol große Überschwemmungen. Sonntag meinte die gute Frau Brandt, unsere Grünfrau, bei der wir telephonieren: »sie vertünde ja nichts von Wetter, aber ihr wäre so, als ob sich die Erdkugel gedreht hätte, etwas wäre jedenfalls anders, zur Zeit ihrer Kindheit lief man am Ostern noch Schlittschuh, jetzt wäre es auf diesem Fest heiß«. Ich gab verständnisvoll zu, daß sich wohl etwas gedreht habe, was, könnte ich nicht sagen; als ich 1897 in Frankfurt gewesen wäre, hätten wir am Charfreitag unter großer Hitze den Feldberg erstiegen, es war 8. April, ja, sagte sie, gedreht hat sich wohl was. – Sonnabend hatte Eddi Geburtstag, d. Hauptgeschenk war ein Soldatenanzug der 76er. Aus einer alten blauen Sommerjacke, die wohl Helli gehört hatte, hat Mama den Litewka arbeiten lassen, Knöpfe,


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Manschetten u. Epauletten wurden drauf gesetzt; lange Hosen, er sah drollig aus. Nachmittags hatte er sich 28 Kinder, Jungens u. Mädchens eingeladen, Alice mit Anna u. Sabina hatte im Garten gedeckt, eine unmenschliche Menge Kuchen ist vertilgt worden. Verlosungen usw. fanden statt. Beim Abendbrot leider erst sagt mir Eddi was von Feuerwerk, da war es zu spät, hätte jener Papa oder mich dran erinnert, hätten wir beide schnell gekauft u. abgebrannt. Am liebsten spielt Eddi mit einer kleinen Katze, die an ei. Gummiband befestigt ist, Ella hat sie ihm geschenkt. Papa stellte sich erzürnt u. sagte, er wolle ihm d. Unsinn wegnehmen. Darauf machte Eddi den philosophischen Unterschied, die Uniform wäre das schönste u. größte, die Katze das niedlichste Geschenk. Sonntag Morgen als Prof. Leinweber, Bildhauer, der auch ne Büste v. Papa gemacht hat, im Gschäft war, kamen beide auf Amerika zu sprechen, da erfuhr ich sehr interessante Einzelheiten über Papas Jugend u. die damaligen amerikanischen Verhältnisse, die teilweise wohl heute auch noch so sind. Ich glaube, wenn man das Erzählte niederschriebe, so schlicht u. einfach, wie Papa es erzählt, würden sich interessantere Geschichten ergeben, als sie aus d. Feder bekannter Schriftsteller enstehen, jedenfalls hätten sie d. Vorzug, wahr und ohne Pathos u. Aufschneiderei zu sein. Zugleich zeigt sich, wie Papa in jungen Jahren gearbeitet hat, wie leicht es ist oder war, bei Fleiß Geld zu verdienen, wie sehr es darauf ankomm, den Negern zu imponieren, wie wertvoll Körperkraft in Amerika ist. Mit 14 / 15 Jahren ging Papa hinüber, nach New York, mit 16 nach Philadelphia u. mit 18 nach Südamerika, mit 26 Jahren kam er Zurück. Wenn ich von Zeit zu Zeit kleine Erinnerungen nachschreibe, werden sich für unsere Familie wertvolle Manuskripte bilden, in diesen Tagen will ich beginnen, ich werde mir ein besonderes Buch dafür anlegen, – Sonntag Morgen kam Papa u. ich mit Dr. Schwegler, der in Papas Haus wohnt, auf Juden usw. zu sprechen. Ich sprach meine Freude darüber aus, daß beim Seiden- und Leipziger Bankproceß kein Jude beteiligt war, denn sonst hätte es meiner Ansicht nach eine Art Judenverfolgung in dem so wie so antisemitischen Sachsen gegeben. Allerlei sprachen wir, der Dr. sprach sehr vernünftig u. vorurteilslos, Papa meint, er sei doch Anitsemit. Als wir nach Hause gingen, erzählte Papa mir, daß ein Ausspruchihn bei Gründung unseres Geschäfts hochgehalten habe: Kurz nach seinem Fleiß u. Geschäftsgeistbauend, machten 2 Christen ein Conkurrenzgeschäft auf, Wiggers u. Groß. Ersterer begründtete das das andere gegenüber mit den Worten: »Der Süddeutsche Jud darf nicht hochkommen.« Sie beide chikanierten Papa, unterstützt von andren Christen. Eines Tages kommt Wiggers mit e. großen Schlüsel ins Geschäft m. Vaters u. zeigt ihm den. Papa fragt nach d. Preis, » den kannst gar nicht betohlen,« ruft er höhnisch u. geht raus. »Wart nur, denkt Papa, meine Zeit kommt auch«, er wußte nämlich über d. Geschäft der beiden Bescheid, u. erfuhr, daß deren Gschäft bald zusammenbrechen müßte. Groß fuhr in Equipage usw. Richtig kommt eines Tages jener m. Wiggers u. bittet Papa um 500 M.; er brauchte es notwendig. Papa ist sonst d. gutmütigste Mensch d. Welt, er stand auch schon am Geldschrank, dann kehrte er aber um u. sagte nein! für Rache u. Nachtragen bin ich auch nicht, hätte Papa aber den gemeinen Menschen damals geholfen, noch heute würde ich es bedauern. – Bald war Konkurs-Auktion u. den ganzen Krempel kaufte – Papa. Für den bewußten Schlüßel zahlte er 1 mark. Wiggers bettelt noch heute in Hamburg, Groß kommt oft ins Geschäft u. freut sich, wenn Papa ihm einige Mark zu verdienen giebt, Papa hat uns aus einem Laden von 3 Zimmern ein Haus von 30 gemacht. Er hat aber auch gearbeitet wie kaum einer, hat nie andere chikaniert oder schlecht gemacht. Außerdem hat er mehr gelernt als alle, hat einen besonders scharfen Blick für gute Stücke, hatdaher ein wertvolles Lager d. besten Kunden. Ohne sein Zuthun sind außer Auerbach, der keine nenneswerte Konkurrenz ist, alle von Hamburg fortgezogen. Man muß eben andere beneiden, sondern immer fest auf ein Ziel losgehen, dann muß man etwas werden. – Der ganze Judenhaß besteht eben darin, daß d. Christen sehen, wie wir geschäftlich ihnen überlegen sind, das können sie nicht vergessen u. nur daher, auf diesen Haß können wir nur stolz sein, er beweist, daß d. Menschen trotz ihrer Fortschritte auf d. Höhe geistiger Zivilisation noch nicht angelangt sind. Besonders Officiere dünken sich was Besonderes zu sein, kommen bei Papa aber nicht an d. rechten oder gerade an d.


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rechten Mann. So erzählt Papa mir v. Dr. Schwengler was sich diese Herren oft einbildeten u. wie er sie schon abgefertigt hat. Einer z. B., der Sachen verkaufte, sein Geld aber haben wollte, bevor er jene ins Geschäft schickte, weigerte sich anfangs, die Quittung, die Papa in seinem Notizbuch ausgefertigt hatte, zu unterschreiben, »er könne doch seinen Namen nicht in Papas Buch schreiben«. Das haben Sie auch nicht nötig, sagt Papa, das Geld erhalten Sie aber erst nach Empfang der Sachen. Das Herrchen bequemte sich zur Unterschrift. Nach kurzer Zeit kam er ins Geschäft, Martha schickte ihm Kaffee, wo Papa war. Er ging wirklich nach, sagte Papa, er wolle das u. das verkaufen, Papa zog sein Büchelchen aus d. Tasche, gab d. Geld, u. d. Leutnant unterschrieb – im Kaffee. Einige Monate vergingen, da tritt derselbe Officier in großer Uniform ins Geschäft, faßt Papa an d. Schulter u. sagt: »Guter Freund, ich muß Sie sprechen.« Papa geht mit ihm ins Hinterzimmer, sagt dann: »Erstens unterstehen Sie sich nicht noch mal, ihre Hand auf meine Schulter zu legen, dann verbitte ich mir, daß Sie mich guter Freund nennen, das bin ich nicht u. will ich nicht sein; 3.) steht draußen Kunst u. Antiquitätenhandlung u. nicht Geldleihhaus, brauchen Sie Geld, gehn Sie zum Wucherer oder wohin Sie wollen. – »Adieu!« Jener ging weg; als Papa nach wenigen Abenden zu nem feinen u. reichen Herrn kam, traf er dort d. Officier, der ihn sehr fröhlich begrüßte, es war d. Neffe des Hausherrn. Freitag, 26. Sept. 1902. 902. Einen ganzen Monat hab ich nichts verzeichnet. Ich weiß, daß über Uriel Aceste, mit dem am 31. Aug. da. Schauspielhaus seine Saison eröffnete, gleich am folgenden Montag begeistert schreiben wollte, jetzt ist alles verflogen, so schnell kühlen wir ab. Große Demonstration war nach der Verteidigungsbahn Uriels, daß er Jude sei, um mitzuleiden. Warum Uriel, sowohl v. Barenz wie jetzt v. Wagner auch, als Christus dargestellt? Das ist eigentlich eine Blasphemie, dabei ein Bouq. der d. Schauspieler so ohne viele Mühe seine Rollen überragt, Frau Haubiz gab d. Judith, Schil den Dr. Silva. Treffend war d. Scenerie der Synagoge; Anna hatte mich zum Theater eingeladen. Am darauffolgenden Sonntag war Mädchenkneipe bei Anna, gut amüsiert. Am 13. Sept. war d. Konfirmation von Ludi. Papa u. ich reiste dazu nach Charlottenburg. Von Freitag bis Sonntag in Berlin. Sonntag Morgens überraschte mich Papa damit, daß er Rundreisbillets über Köln nach Düsseldorf genommen hatte. Sonntag nacht fuhren wir im Schlafwagen nach Hagen. Ungewohnt, schlief gräßlich wegen des Rüttelns. Um 7 Uhr kamen wir in Hagen an, wo Papa Herrn Carl Ernst Osthaus besuchte, sehr reicher kunstliebender Mann, der aus eigenen Mitteln in Hagen e. Museum erbaut hat. Van der Velde hat es eingerichtet. Die begangenen Fehler, eher zu bauen als zu sammeln, große Räume, wenig Sachen, unter diesen viele neu, wie Papa sagt.Von Hagen fuhren wir nach Cöln, Papa zeigte mir d. Dom von innen, großartig. Daruf fuhren wir durch d. Stadt, Altstadt auch, eine Beerdigung genügte, den Verkehr zu sperren, d. neue Theater war

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August, 1902 Die deutsche Filmregisseurin, -produzentin und -schauspielerin sowie Drehbuchautorin, Fotografin und Tänzerin Leni Riefenstahl wird in Berlin geboren. Insbesondere arbeitete sie an Propaganda-Filmen für die Nationalsozialisten.

großartig u. imposant. Rückseite ermüdend. Um 5.00 fuhren wir nach Düsseldorf, kamen 7.34 an, nette Stadt. Hotel Royal, Breitenbacherhof usw. besetzt, ein Kutscher fuhr uns in d. Europäischen Hof, im Jugendstil gebaut. Abends gingen wir ins Apollo, neu erbautes Varitée, ich war ganz paff gerade in Düsseldorf so was größer als bei uns zu finden; es ist , wie ich höre , das größte aauf d. Kontinent. D. Bühne verschwindet fast vor d. Ausdehnung des Parquets, 50 Sitze in einer Reihe, einige sagten, es sollte anfangs zum Cirkus werden. Gute Kräfte, Max Herz Humorist. Die ?Vogts? lebende Bilder kommen von hier. Eigentlich immer wieder dasselbe, man amüsiert sich aber doch. Sehr komisch war ne Frau vor uns, die bei d. Sprüngen d. französ. Sängerin immer d. Kopf schüttelte. Am nächsten Morgen um 9 Uhr gings in d. Ausstellung. Zuerst zu Krupp. Überwältigend. Leider zu wenig Zeit. Halben Tag in dem Kunstpalast. Ein gräßl. Bild vom Kronprinzen. Wunderbare Bilder. Ein schönes Van der Velde Zimmer, unter d. Antiquitäten kostbare Schreine, eines d. wertvollsten Stücke ein aus dem 7. Jahrh. stammender kleiner Goldschrein mit n. Schuh oben auf. Etwas enttäuscht hat mich Klingers Beethoven, ich hielt ihn für überlebensgroß. Gearbeitet wunderbar. Das Gesicht herrlich, die untere Marmorgrundlage soll, wie ich hörte, eine Wolke darstellen, auf d. Sessel schwebt. Auch dieserist


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ein Meisterstück. Als Hintergrund denke ich mir einen nach sich vertiefenden romanischen Bogen, vielleicht, bläulich beleuchtet oder mit schwarzem oder dunkelblauen Samt ausgestattet, dann hebt sich d. Gestalt besser von d. Umgebung ab. In einem Leipziger Museumsraum dürfte das Denkmal, – eigentlich ist es nur eine Monument, nicht stehen. Vielleicht baut man ne kleine Capelle dafür, wie Franz Friedmann neulich auch meinte. Von Gemälden gefielen mir am besten, soweit ich dem Katalog nach mich erinnere; Der Weg d. Lebens v. Peter Janssen, Fragment, dann Bilder v. Vautiner, Petersen; – ich sehe, es sind soviel, die ich mir gemerkt habe, daß ich es für nicht weiter anmerken will, also brauchten jene Damen hier ebenso gut nichts stehen, da sie noch viele Genossen haben. Scheußlich ist ein Salome Bild. So eine widerwärtige Salome habe ich noch nie gesehen; es ist von einem Louis Perinth. Die großartige Maschinenausstellung, auch Bergrad, Eisenbahn usw. konnte leider nur kurz sehen, da wir am nächsten Morgen schon wieder abreisten. Panorama v. Blüchers Rheinübergang bei Kaub, Marineschauspiele sahen wir uns noch an, 9 – 7 waren wir unterwegs, um 3 viertel 9 gings ins Bett. Am nächsten Tag gingen wir noch in d. Freie Kunst, wo ein schlechtes Bild d. andere ablöst, vereinzelte gute Sachen waren auch hier, z. B. e. Natur v. Kaiser Friedrich. Ob diese Künstler von d. Ausstellung zurückgewiesen waren? Im Vorwort stellen sie sich als Vertreter einer neuen unabhängigen Richtung hin, worin diese bestand, konnte ich nicht begreifen, ebenso Papa. Um 10.44 fuhren wir ab, kamen um 5 in Hambg. an, um 6 bekam Papa ne Depesche, daß es Großmama in Frankfurt schlechter ginge, am nächsten Mittag fuhr Papa hin, kam schon Sonnabend wieder, da d. Zustand d. alte war. Onkel Felix war während unserer Abwesenheit hier, Mama ist wie immer ?rauschend? begeistert. 1902 902. Berlin-Charlottenburg, 25. November 1902. 2 Monate sind vergangen, ich weiß nicht wie, es kam aber auch alles auf einmal. Am 24. Sept. mein Geburtstag; am 27. kam Depesche von Frkf. daß unsere liebe Großmutter sanft entschlafen war. Papas Schmerz war groß. Ich begleitete ihn nach Frankfurt, wo sich d. ganze Familie schon beisammenfand. Auf d. Reise war Papa ruhig, aber d. Wiedersehen mit den Tanten hatte ich gefürchtet, die Hechts sind alle im Glück so freudig, Unglück trifft sie also doppelt schwer. Als Papa ins Nebenzimmer trat, fielen sie ihm alles weinend um d. Hals, u. als ob es für mich gerade so leicht sein sollte, mich zu berherrschen, nur für sie, zu weinen, schoben d. Tanten mich in d. Empfangszimmer, wo ich mit Onkel Ludwig d. einzige von d. eigentlichen Hechts war, der empfing. Und hier mußte ich sprechen, antworten, ungezählte Leute sprachen auf mich ein; ich war nur selten in Frankf. gewesen 3 mal im ganzen, glaub 1885, 1890 u. 1897; und so stellten sich plötzlich erwachsene Vettern, Cousinen, Bekannte vor, die mich auf dem Arm getragen haben wollten usw. Mir war wahrlich nicht zum sprechen zu mut, aber ich mußte. D. Beerdigung ging am Montag vor sich, es war d. erste, die ich im Leben mitmachte; also weiß ich nicht, ob es bei d. Christen auch so ist, daß nach d. Leichenfeier in d. Halle d. eigenen Kinder den auf n. Bahre stehenden Sarg ihrer Mutter selbst an d. offene Grab fahren. Es war schaurig u. groß zugleich, als wir, voran Onkel Felix, der an d. Vorderspeichen schob, dann Papa, Onkel Ludwig, Naschi, Siegmund, d. Seitenspeichen d. Reifen noch faßten u. durch d. Wege d. Friedhofs gingen; selbst d. sterbl. Überreste unserer Teuren zu sehen, ist doch n. wehmütig schönes Gefühl, es möchte einem d. Herz brechen u. man möchte es doch keinem Fremden überlassen. Ob das Öffnen des Sarges vor d. Zunageln, wo d. Toten Kissen unter Kopf u. Füße gelegt wurden, angenehm ist, ob man den überdeckten Körper noch einmal sehen muß, wenige Minuten, bevor man d. Sarg hinunter lässt in d. tiefe Grab, will ich dahingestellt sein lassen, es geht einem sowahr durch u. durch wenn man d. ersten 3 Schollen Erde runterfallen hört, bis alles ebene Erde ist. Noch am selben Abend fuhren wir zurück, denn Dienstag Abend begann d. Neujahrsfest; wodurch d. ?...Schimme...? Sitzen aufgehoben wurde; in Hamburg ging Papa in keine Synagoge, nicht so bekannt, allein d. Gedanke, daß jeder ihn kondolieren würde, war ihm schrecklich; dafür ging er hier in Berlin mit Herr Lissaun in d. Potsdamer Privatsynagoge zur Seelenfeier, die ihn sehr ehrt. Am 19. Okt. kam ich hier an, Ehrenberg kam


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am Abend d. 19.; Umer, Alexander reif morgens. Mit Ehrenberg u. Umer suchte ich d. ganze Montag Morgen bis abends eine Wohnung, wir wollten n. gemeinsames haben, ohne zu finde. Endlich hier in Charlottenburg fanden wir an d. letzten Stell, wo wir suchten, n. geeignete, 3 Zimmer zu 110 Mark u. Nobelpreis Literatur 1902 für Theodor Mommsen als dem gegenwärtig größten lebenden Meister der historischen Darstellungskunst, mit besonderer Berücksichtigung seines monumentalen Werkes »Römische Geschichte«.

für n Bett mehr, (Kurt Ehrenberg kam nach einigen Tagen auch.) 128 M in d. großen Berliner Stube schlafen d. andern drei, in n. kleinen Zimmer ich, ein Zimmer ist Wohnzimmer. Es ist n. Gartenhaus. Frau Dallmann, unsere Wirtin ist sehr nett u. anständig. Als Mitwohnerin ei. altes Fräulein 62 Jahr, Antrauth Witt, frühere Geliebte d. Fürsten v. Puttus; jetzt ist sie ohne Geld, will n. Pension gründen, wohnt solange bei Fr. Dallmann, steckt in Schulden; egstern mußte ich für Fr. Dallm. n. Brief an d. Fürsten aufsetzen, damit er uns Geld schickt. D. »Fürstin« heißt bei uns dreien d. Fräulein; ferner ist noch n. »Witwe«, wie wir sie nennen hier, n. junge Schneiderin, wird in d. nächsten Tagen gschieden von ihrem Mann, hat schon wieder n. »Schatz«, scheint auch anständig zu sein; wir haben Seperateneingang, da unsere 3 Zimmer so zusammenhängen, daß sie getrennt nicht vermietet werden können, d. andern Mieter dennoch können von d. andern Seite in ihre Zimmer. Ich muß jetzt arbeiten, kann leider nicht weiter schreiben. Meine Vorlesungen sind: ... Gestern Abend war ich mit Umer, Alexander dessen Mutter Merzbecher in Manterlinks: Mama Vanna. Ich kann nicht sagen, daß ich gepackt war. Im Anfang war ich paff über d. Spiel, ich dachte d. Deutsche Theater wäre so gut, zuletzt wurde es besser; aber an unser Deutsches Schauspielhaus, auch nicht ans Hamb. Stadttheater, reicht es nur im entferntesten heran. Auch Scenerie ist bei uns besser, vielleicht sehe ich es in Hamburg nochmal, bei besserem, überzeugenderem Spiel muß man aus d. herrl. Gedanken mehr herausholen können, Sommersdorf als Prinziralli u. Teresina Gaßner als Vana standen auf d. Höhe ihrer Leistungen, diese besonders im letzten Akt beim Doppelpiel. Gräßlich ist d. Schnurrbart »Er ist ja nicht v. Sommersdorff«.

902, Hamburg, Donnerstag 18. Dez. 1902, Seit d. 17. bin ich wieder hier, da feierten nämlich d. Eltern 20. Hochzeitstag. Ich war erkältet, hatte verdorbenen Magen, ging nicht ins Kolleg, also fuhr ich her. Onkel Felix, der gestern hier war, erklärte sich zwar damit nicht einverstanden, aber ich bekomme von Alexander alles Fehlende mitgebracht, arbeite hier außerdem d. Kolleq d. Schuldverhältn. durch. Die letzten Wochen in Berlin waren durch d. Versammlungen zu den Leserhallenwahlen ausgefüllt, diese Interessenpolitik an solchen Orte ist schade, aber nicht zu ändern, wir Juden müssen eben dort kämpfen, wo man uns ergreift, daß keine andre Partei als d. T.J.N. unsere Interessen versieht, ist schade, d. h. Tv. W. protzt mit d. paar Christen, die ihr angehören, wem soll man sich also anschließen; ich habe meine Karte Franz gegeben, der sie zum geeigneten Conto gebrauchen sollte, d. h. je nachdem T.J.N. u. Z.Tr.V. einer Unterstützung für ihren Kanditaten bedürfen, verwenden. Als ich abreiste, hatte T.Tv.V. schon über 200 Stimmen, V.J.N. noch nicht, also wird meine wohl für letzten gefallen sein, denn mehr als 2 Leute bekommt keiner von diesen beiden durch. Ich bin nicht für diese noch jene, doch in unserem Interesse liegt es, daß den Juden einen wichtigen Platz in d.A.L.H. erringen, also opfert man dem allgemeinen Interesse sein persönliches. Im Reichstag siehts oder sah es neulich aus; wenn auch d. Mehrheitsprinzip herrschen muß, so durfte es nicht gemißbraucht werden, freisinnige Vereinigung u. Sozialdemokraten haben ihre Pflicht gethan u. wacker gekämpft. Jedenfalls ist es nötig, was Mommsen in d. letzten Woche auf dem Parteitage d. freisinnigen Vereinigung sagte, daß Sozialdemokr. u. Freisinn zusammengehen sollten, wo es ginge, u. wo es nicht ginge beide einander kleine Opfer bringen sollten. Ferner hat er, entweder gesagt oder in diesen Tagen geschrieben, daß von d. mächtigen Parteien d. Sozialdemokratie heute diejenige sei, vor der man am meisten Achtung haben müßte u. die konsequentesten ihre Ziele verfolgte. Am richtigsten ist wohl seine Behauptung, daß mit Bebels Hirn 12 ostelbische Junker (oder 10) so ausgestattet werden könnten, daß jeder von ihnen in seiner Umgebung noch als hervorragender Mann angesehen werden würde. Seit vorgestern ist d. Klage gegen d. Vorwärts aufgehoben, wahrscheinlich auf Betreiben d. Staatsanwaltschaft Frau Krupp gegenüber. Sehr seltssam,


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nachdem doch d. Kaiser selbst so heftig eingegriffen hat. Jedenfalls hat d. Kaiser selbst so heftig eingegriffen hat. Jedenfalls hat d. Vorwärts Recht damit, daß Pathologie nicht vor d. Richter gehört, nur hat er diese seine Meinung Krupp beweisen wollen u. damit zu dessen Tod beigetragen, das läßt sich auch mit aller Sophisterei nicht bestreiten, denn wenn d. Vorwärts sagt, Krupp sei nicht e. Opfer seines Artikels sondern des bewußten Paragraphen geworden, dessen Beseitigung er wünscht, so ist das e. sophistischer Beweis. Seine Ansicht hätte er auch ohne Stammernennung dorthin können. Etwas Gehässigkeit gegen d. Industriekönig, der durch seine Einrichtung 25 000 Menschen ungefähr der Sozialdemokratie entrissen hat, spricht wohl mit. Daß an diesen Menschen jener Partei nicht viel liegt, daß dieser Arbeiterfundalismus – wie d. Vorwärts in jenen Tagen d.d. Kaiserreden schrieb, ihr längst entfremdet ist, ist klar. Trotzdem könnten d. Soz. aber schon aus Sachlichkeit Krupp dankbar sein, ohne politische Rücksichten zu nehmen, sie könnten auch mal loben, was ihnen nicht unmittelbar nützt. Diese Einrichtungen, von denen ich in Düsseldorf doch so viel sah, teils in Abbildungen, teils in Plastik, in Stereskop u. Plänen, sind doch wirklich großartig, diese Arbieterhäuser, Casinos, Fest-, Turnsäle usw. Ja wenn d. Sozialdemokratie nicht gerade so parteiisch-einseitig wäre wie alle andern, hauptsächlich aber, wenn sie für Kaiser u. Reich wäre, ließe sich aus ihr u.s. Emsigen n. wunderschön einziger u. starker Liberalismus bilden, der d. Zukunft für sich hätte, ja wenn... Immer ist sie gegen d. Regierung, jetzt natürlich beim Streit mit Venezuela auch. Meine Theater-Vergnügungen in Berlin waren: 1) Hugenotten im Opernhaus, Gute Aufführung. D. Verschwörungsscene kommt mir durchaus nicht »gemäß« vor, sie wirkt aus sich selbst heraus mächtig u. erhebend, d. Macht musikal. Gedanken hat Meyerbeer hier doch ganz großartig u. geschickt benutzt. 2) »Madam Schwarz« im Zentraltheater. – Blödsinn; – einige nette Liedchen, Joup là Catarina d. Lied v. 4 Eigenschaften habenden Mädchen, d. Text weiß ich natürlich nicht mehr, in diesen Tagen wird es hier auch aufgeführt. Mia Weber niedlich u. gut bei Stimme wie immer. An solchen Stücken sieht man, daß man viel Selbstbewußtsein haben u. immer auf d. Naivität u. Dummheit d. Publikums spekulieren muß oder kann, das sich famos bieten läßt u. lacht, was ich natürlich auch gethan habe; denn wenn jeder auch nur aus Neugier einmal hingeht, d. Klasse hält sich, d. Stück hält sich. Dabei herzerhebende Reime: »Welch a Genuß u. höher, höher, Boa.« ist doch so n. Scheinsilbe – Es kam noch besser. Unser Hauptamüsement war, daß wir zu 9 im Theater waren u. uns nachher alle photographieren ließen auf meinen Rat. Sämtl. Eltern sind entsetzt darüber u. wollen uns mit Gewalt Quequasäuselheit andichten, da wir so müde aussehen. Es kommt aber nur von d. schlechten Beleuchtung; ich riß die Augen auf, weil ich oft auf solchen Bildern geschlossene Augen bekomme. Im übrigen waren wir, trotzdem es 3 Uhr war, sehr munter. 2 Droschken beförderten uns nach Hause 3.) Mama Vana im Deutschen Theater 4.) Don Juan im Theater d. Westens. mit Francesco d. Andrade als Gast. Famos in Spiel, Stimme, Gestalt. »Horch auf d. Klang d. Zither« sang er bei d. dritten Wiederholung deutsch. Auch d. Spiel d. andern, Marg. König, der Rothäuser als Gast w. Opernstern war gut. Reizend spielte Lina Doninger d. Zurlina. Zum Gesang gehört nun mal auch Spiel, was man z. B. bei Bötel oft vermißt. D. beschränkten Verhältnisse d. Theaters d. Westens sind wohl daran schuld, daß man beim Fest d. 3 Orchester auf d. Bühne ganz fortließ u. zuletzt d. Einsturz d. Schlosses durch d. Aufgehen d. Koulisse ersetzt, hinter der d. Platz mit wunderbeleuchteten Konturbild steht, zu dessen Füßen Don Juan niederstürzt. Das wirkte auch. 5.) Hauptmanns »Bieberpelt«. D. Satire wirkte im Theater Schiller gut, d. Spiel war vorzüglich, d. verschiedenen Dialekte, u. fast jeder spricht e. verschiedenen, kamen gut zum Ausdruck, besonders d. gute Rentier machte mir Vergnügen, da es einfach u. doch geräumig, ohne jeden Prunk ist, diese gemütlich Einfachheit findet sich auch in e. kleinen Kaffee am Kai in Charl., wo d. Parterre eines alten Gartenhauses in ein Kaffee verwandelt ist, d. Zimmer sind nicht verändert, also äußerst gemütlich. Ferner war ich 2 Nikisch-Proben, in d. 1. Strauß Heldenleben; ganz verstand ich natürlich nicht; in d. 2. Symphonie v. Weingartner, Ankläbge an bekannte Lieder u. Komponisten, d. letzte Satz sehr schön. Ferner n. Darbietung d. Ballade


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1902

»Held Orluf«, wohl Vorbild zum Erlenkönig, von d. Komponisten dem Sänger Schneidemantel gewidmet, der sie auch sang. Hübsch sind d. Zwischenspiele, zuletzt d. Brautzug. Durch meine Reise entging mir leider d. Probe vom letzten Sonntag, in der 9. Symph. von Nikisch dirigiert wurde. Ich hörte sie hier im letzten Winter u. hätte sie gern jetzt v. Nikisch gehört. Aber das kann man ja noch immer. Sonnabend Abend d. 6. wollte ich zu d. Meiningern unter Steinbach, der am nächsten als Dirigent nach Köln geht. Meine Erklärung v. Donnerstag an, die mich Freitag nachmittag gar zum Bett zwang, das ich bis Sonntag morgen hütete, hielt mich von Konzert fern, d. beiden Ehrenbergers waren in Dresden bei n. Tante zum Maskenball, also mußte Umer mein Billet nehmen, das er mit süßsaurer Miene that, denn es kostete 2,50 M als billigster Platz, u. er verstand nichts von der nicht leichten Musik; mit Abendbrot gab er 3,80 M den Abend aus, woraufhin ich d. armen Kerl am Samstag weidlich neckte. Sonntag Abend war ich mit ihm an n. jung jüd. Abend, der natürlich zionistisches Gepräge trug. D. Vorgetragene war teilweise recht nett. Es war zu Gunsten e. jüd. Kinderhorts. Danach waren wir im Monopol, dem abendl. Sammelplatz d. Zionisten, nachmittags sind Christen da. Nur Sonnabend sollen Juden dort auf Kredit trinken, da sie ja nicht zahlen. Zum 20. Hochzeitstag brachte ich d. Eltern Bismarks Briefe an s. Braut u. Gattin mit. Merkwürdig wenn man aus d. Werbebrief ersieht, wie spät ein Mann wie Bismark zum Nachdenken über religiöse Fragen kam. Merkwürdig ist es, aber auch gesund. Montag gab Herr Nassa zum Geburtstag seiner Frau u. Diener im Unionrestaurant – 15 Person. Wein u. Sekt floß. Bei solchen Sachen esse u. trinke ich n. Minimum von jedem, nur Sekt mehr. Dann ist man am nächsten Tag nicht anders u. müder wie sonst. Einerseits ist so n. Essen mal mit was ganz Nettes, andererseits ists aber doch schade ums Geld. Hamburg am 27. August 194 941 (Mittwoch) 1941 Nachdem dieses Buch fast 40 Jahre in der Versenkung geruht, und wie es scheint, kein Nachfolger gefunden hat, – eröffne ich es wieder, um ihm anzuvertrauen, daß gestern, Dienstag, den 26. August 1941 meine Tochter Inge einem Mädchen das Leben geschenkt hat; im Elisabeth-Krankenhaus am Kl. Schäfekamp in Hamburg Elmsbüttel ist um 3 Minuten vor 10 Uhr abends (21.57) Barbara Susanna Hecht geboren worden, sie wog 3050 gr. u. ist 51 cm lang. Wir befinden uns im Kriege gegen England, Amerika und Rußland. Am Himmel feuern die Jäger, die Mensche, von denen dieses Büchlein bisher erzählte, leben fast alle nicht mehr; vor wenigen Stunden war Wolfgang und Lutz zu Besuch hier, und eben hab ich das letzte Mal den »Hungerpastor« von Wilhelm Raabe gelesen.

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Tagebuch No –2 1932 – 1933

Informationen zum Verfasser

Titel Tagebuch 1932 / 33 Gattung Tagebuch Ort der Niederschrift Canstatt Zeit der Niederschrift 1932 / 10 / 16 – 1933 / 12 / 26 Bände 1 Umfang 36 Seiten Form des Textes Original / Transkription Schriftart Original / Kurrent

Name Ernst-Theodor P. Geboren 1913 Gestorben 2003 / 09 / 13, in Reutlingen Ausbildung und Beruf Musikstudium / Diplom-Musiklehrer Lebenslauf Violinstudium, Hochschule für Musik in Stuttgart, Prüfung als Musiklehrer 1935, Konzertmeister, Kriegsteilnehmer 1939 – 1945, Niederlassung in Tübingen 1945, Fachlehrer für Musik

an der PH Reutlingen Themen Weimarer Republik / Studium / Musikschule Stuttgart / Nationalsozialismus / Studienalltag / Liebe / Freundschaft / Selbstreflexion Vertragsbedingungen Schenkung


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Cannstatt, Sonntag den 24. April 1932 932 Das wichtigste Ereignis dieses Monats ist: Meine Aufnahme und mein Eintritt in die Württembergische Hochschule für Musik. Am 7. April, 8.30 Uhr, stieg ich ins Examen. Angst hatte ich keine; ich wußte, daß ich mit 99 % Sicherheit aufgenommen würde! Aber trotzdem; Examen bleibt Examen.

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Mai, 1932 Amelia Earhart überfliegt als erste Frau im Alleinflug den Atlantik.

Zuerst kam eine schriftliche Prüfung; diese bestand aus Fragen der Elementar-Theorie, z. B Enharmonik oder Intervallenlehre und dergleichen mehr. Diese Fragen habe ich, glaube ich, richtig beantwortet. Daran anschließend kam ein Musikdiktat. Es war so angenehm langsam gestellt, daß man es gut schreiben konnte. Nach dem Schriftlichen mußte ich warten bis 3 viertel 11 Uhr; da sollte ich vor der gesamten Prüfungskommission spielen. Ich wurde in das Zimmer hereingeführt. Es wurden zuerst Tonleiter und Dreiklänge durch 3 Oktaven in B-Dur verlangt. Danach kam eine Etüde: Die letzte ...-Caprice. Ich spielte etwa die Hälfte, da dankte Prof. Wendung. Und nun kam das Vortragsstück. Ich spielte das A-Dur Konzert von Mozart. Als ich auch etwa die Hälfte des ersten Satzes gespielt hatte, wurde wieder gedankt und nun kam noch Gehör-Prüfung. Zuerst Nachspielen von Akkorden auf der Geige und dann Intervalle hören. Als ich dies glücklich beantwortet hatte, wurde beschlossen, während ich außen stand. Ich wurde dann wieder hereingerufen und Prof Wendung, der Direktor richtete das Wort an mich. Daß das Studium sehr lang sei. Ob wir es pekuniär ermöglichen könnten? Nun, ich sei in die Hochschule aufgenommen; am Montag soll ich aufs Sekretariat kommen. Dort werde ich die Lehrer und den Stundenplan erfahren. Damit war ich in die Hochschule eingetreten. Zu Wendling kam ich nicht selbst, wie es zu erwarten war, aber zu seinem Quartettsgenossen, Ludwig Natterer. Dann im Klavier zu Günther Homann. Im Tonsatz: zu Prof. Ewald Strässer. Musikdiktat Frl. Weglein. Gehörbildung: Frau Dr. Karpow. Mit diesen Lehrern bin ich bis jetzt sehr zufrieden. Im Hauptfach hatte ich nun schon zwei Stunden. Die Armhaltung und Bogenführung muß ich ändern; sonst habe ich, glaube ich, keinen zu großen Aufenthalt beim Lehrerwechsel. Im Klavier erhielt ich in dem bekannten Pianisten ... einen strengen und guten Lehrer. Was ich bei Berta Mayer gelernt habe, taugt nichts; ich darf also bei der Geläufigkeitsschule von Czerny wieder anfangen. Und Tonleitern werden geübt in einem andern Tempo wie bei Berta. Neben den Pflichtfächern besuche ich noch einige Vorlesungen. Besonders interessant ist die von Prof. Keller über Stilkunde u. eine über Ästhetik. Außerdem singe ich im Hochschuelchor unter Prof. ... mit. Also Arbeit genug! – Neben meiner Hochschularbeit habe ich jetzt noch eine weitere Aufgabe: Violinenunterricht. Seit meinem Eintritt auf die Musikhochschule habe ich 3 Schüler bekommen und fast mit einem Schlag. Der erste ist Werner..., ein heller Junge in der 4. Grundschulklasse. Gestern wurde mir sein Freund, Helmut Fischer angemeldet. Sie beide bilden die Elite einer Klasse: sie sitzen an 1. u. 2. Stelle! Ich bin deshalb froh, daß ich es mit intelligenten Burschen zu tun habe; man arbeitet mit ihnen viel leichter. Der 3. Schüler ist ein Kollege meines 2. Quartettgeigers, des Herrn Franz Koch. Schock hatte früher schon ein halbes Jahr Violin-Unterricht und möchte es jetzt wieder aufnehmen, wie er versichert. So sehe ich jetzt etwas leichter an mein Hochschulstudium hin, das allem Anschein nach doch lange zu dauern scheint. Denn, nachdem ich jetzt zwei Stunden bei Natterer gehabt habe, sehe ich es eben in der Aufgabe jedes einzelnen Hochschullehrers, die Schüler möglichst lange an sich zu halten, schon deshalb, daß die Verdienstquellen nicht plötzlich versiegen. Natürlich spricht wieder dafür, daß eben eine Hochschule nur durchaus fertiggebildete Musiker und Musiklehrer entlassen kann, sonst würde sie ja schwer ihr Renomée einbüßen und schließlich den Charakter einer eigentlichen Hochschule nicht tragen dürfen. Cannstatt, Montag, den 2. Mai 1932 932 Von meinem 3. Violinschüler, Herr Schock, den ich kürzlich erwähnte, erhielt ich eine traurige Nachricht durch Herrn Koch: Herr Schock hat sich bei der Arbeit an der Kreissäge durch eine Unvorsichtigkeit 4 Finger der linken Hand abgesägt! Dieser Unglücksfall betrifft mich nicht nur deshalb, daß ich dadurch einen Schüler verloren habe, ich bedaure sehr, daß ihm außer


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der Unfähigkeit wieder zu geigen, die wichtigesten lebensnottwendigen Voraussetzungen verloren gegangen sind. Denn wie unendlich wichtig jeder kleinste Teil unseres Körpers ist, sehe

April, 1932 Der US-amerikanische Rockabilly-Pionier Carl Lee Perkins wird in Tiptonville geboren.

ich daran, wie viel Schwierigkeiten zum Beispiel ein kleiner Riß in einem Finger verursachen kann. Wie schrecklich muß es sein, ganze Gliedmaßen zu verlieren! – Aber auch als Violinlehrer tut es mir wirklich leid, Herrn Schock als Schüler verlieren zu müssen, denn er versprach durch seinen Fleiß und seine gute musikalische Begabung bald gute Fortschritte zu erzielen, was jedem Teil von uns zur Freude gereicht wäre. – Doch solche Schicksalsschläge sind uns Menschen unverständlich, und wir haben die alleinige Aufgabe, sie mit Würde zu ertragen. Cannstatt, Sonntag den 22. Mai 1932 932 Heute wollte ich mit den Freunden eine Tageswanderung machen. Wir kamen aber nur bis Rohr, dort aber fing ein starker Platzregen an, der in einen Landregen auslief. Wir standen 2 Stunden in Rohr und fuhren dann wieder nach Hause. So ist es ein verkrachter Sonntag. Es fällt mir der 7. Mai, mein Geburtstag ein. Ich wurde sehr gefeiert! Nachmittags Ernst Köstlin mit den Kindern, abends Tanzvergnügen. Dazu kamen: Hilde und Robert Weiß, Hildegard Endriß mit ihrer Freundin, Frl. Baisch, Ruth Rau u. Karl Klaus, sowie Hermann Friedrich. Wir saßen zuerst gemütlich beisammen bei Kuchen und Tee. Danach tanzten wir lange Zeit. Es war sehr nett. Reich beschenkt wurde ich, wie ein Pascha kam ich mir vor. Die Damen brachten alle Blumen, wie wenn ich schon gestorben wäre und die Herren Rauchwaren. Am Schluß machten wir eine Blitzaufnahme, die einigermaßen gelungen ist und die mir eine nette Erinnerung an den harmonisch verlebten Abend ist. – Es ist mir eine Freude, mein älteres Fotoalbum durchzusehen, nach langer Zeit. Alte Bekannte und Erlebnisse tauchen wieder auf. Ich bin doch sehr froh, daß ich damals durch Wilhelm einen so guten Apparat mir anschaffen konnte von selbstverdientem Geld.

Cannstatt, Freitag, 3. Juni 1932 932 Letzten Sonntag glückte uns eine schöne Wanderung. Diesmal nur Herren. Die »Damen«, die ursprünglich mitgehen wollten sind verschlafen, da wir schon um 5 Uhr losgehen wollten oder wollten sie nicht. Kurzum wir gingen zu dritt los d. h. Robert Weiß, Hermann Friedrich und ich. Durch den Schurwald in die Schorndorfer Gegend wanderten wir. Morgens um halb 8 Uhr sahen wir beim Esslinger Jägerhaus dad Luftschiff »Graf Zeppelin«. Es war ein herrlicher Anblick, wie der Luftriese mit majestätischer Ruhe über uns wegsteuerte. An diesem Tag sind wir sehr weit marschiert: Fast bis nach Schorndorf u. von dort wieder zu Fuß bis Fellbach. Das giebt 10 Stunden Marsch. Ich wollte auf diese Weise die Ausdauer der beiden Andern feststellen, da wir für die Ferienzeit einen großen Plan haben, der zur Ausführung kommen muß: Ich kam eines Tages auf den glücklichen Gedanken, eine große Wanderung mit einem Zelt zu machen. Allerdings ginge das nicht sehr gut allein und so machte ich den beiden Freunden den Vorschlag, sich daran zu beteiligen. Der gewöhnlich sehr phlegmatische Robert Weiß war gleich Feuer und Flamme. Er sprach sich entschieden dafür aus und erging sich schon in Einzelheiten über die Ausführung. Der Herrmann Friedrich dagegen in seiner besinnlichen Art suchte nach Ausflüchten verschiedener Art. Er führte in erster Linie die Finanzierung des Planes an. Doch in der Beziehung konnte ich ihm sehr sachlich erläutern, wie außerordentlich billig so eine Zeltwanderung kommen müsse, wenn einmal das Zelt selbst angeschafft sei. Und wenn es in 3 Teile gehe, sei es für jeden erschwinglich. Nun versuchte er es mit einer anderen Ausrede: Er könne noch nicht sagen, ob er nicht während der Sommerferien irgendeine Beschäftigung finden könne. Durch solche Gründe ließen wir beiden andern uns nicht abschrecken ein Zelt zu bestellen und anzuzahlen, so daß es uns schon jetzt sicher ist. Die große Wanderung, die etwa 14 Tage dauern soll, kann zwar erst Mitte September ausgeführt werden wegen dem Urlaub Roberts. Kleinere Touren über Sonntags werden wir jedoch schon vorher machen zur Übung. Wohin die große Tour gehen soll, bin ich mir noch nicht im klaren.

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Januar, 1932 Der italienische Schriftsteller, Kolumnist, Philosoph, Medienwissenschaftler und wohl bekannteste zeitgenössische Semiotiker wird Allesandria geboren.


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Cannstatt, Montag, den 11.. Juli 1932 932 Das Jubiläum der Musikhochschule ist jetzt vorbei; sie feierte das 75 jährige Bestehen. Eine Reihe

Februar, 1932 Der französische Regisseur und maßgeblicher Mitbegründer der Nouvelle Vague François Truffaut wird in Paris geboren.

von Feierlichkeiten, bei denen zum Teil auch wir Studierenden mitwirkten, beherrschte eine Woche lang das Musikleben unserer Stadt. Das schönste gesellschaftliche Ereignis, das ich mitmachte, war ein musikalischer Abend im Schloß »Villa Berg«. Die Stadtverwaltung Stuttgart hatte die Lehrerschaft und einen Teil der am Jubiläum mitwirkenden Studierenden zu dieser Festlichkeit eingeladen. Ich hatte auch das Glück, eine Einladung zu erhalten und ging mit Frl. Vizemann, einer ...-Schülerin der Musikhochschule, die auch in Cannstatt, ganz in unserer Nähe wohnt. übrigens nicht, daß man glaubt: »Schon wieder?!« Nein wirklich nicht! Also ich ging mit diesem Fräulein zur Villa Berg. Man wurde durch den festlich geschmückten, prächtigen Gesellschaftsraum zum Saal geführt wo schon ein Anzahl erlesener Gäste auf Stuhlreihen Platz nahm. Es entwickelte sich nun der musikalische Teil des Abends ab. Ganz ausgezeichnet ausgeführte klassische Musik wurde gemacht von Lehrern und Schülern der Hochschule. Alles überragend und das ganze krönend war das Spiel Walter Rehbergs, der die C-Dur-Phantasie von Schumann einfach wunderschön spielte.

Cannstatt, Mittwoch, den 13. 3. Juli 1932 932 Nach diesem einzigartigen Kunstgenuß sollten wir kulinarische Genüße seltener Art aufgetischt bekommen. Und wirklich, wir schlemmten kräftig auf Kosten der Stadt und über alle kam im Laufe des Abends eine nette Weinfröhlichkeit. Durch solchen Anlaß wird natürlich das Verhältnis der einzelnen Schüler zu den Lehrern bedeutend beeinflußt. So kam ich mit verschiedenen meiner Lehrer zusammen wie Natterer, Strässer und Homann sowie mit Frau Karpow. Nach dem Essen wurde in dem großen Saal bis spät in die Nacht hinein getanzt. Bei dieser Gelegenheit lernte ich viele Fräuleins von der Hochschule persönlich kennen! an denen ich bisher vorbeilief, ohne sie zu grüßen, was eigentlich einen stoffeligen Eindruck machen mußte. Am Schluß – das war etwa um 2 Uhr nachts – wurden wir mit Privatautos der Stadt bis an die Haustüre geführt. Zuerst wurden die Damen ausgeladen. Es waren davon 5! Und ich, der einzige Herr im Wagen! Ich glaube, eine dieser Fünfe kam in diesen Blättern mal vor? Fräulein Steinruck, dann Frl. Hahn, Frau Dr. Karpow und Frl. Wizemann. Ach richtig, es waren ja nur 4! Man ist eben nie zufrieden! Canstatt, Donnerstag, den 14. 4. Juli 1932 932 Der Plan zur Zeltwanderung ist jetzt in großen Zügen fertig. Am 3. September geht die Reise los. Sie soll bis 17 September dauern, gerade 2 Wochen! Wir werden durch den Schwarzwald wandern und zwar von Culmbach aus über die schönsten Punkte zum Feldberg (über Freiburg). Im Anschluß daran werden wir noch das Donautal durchwandern von Tuttlingen bis Sigmaringen. Das Zelt ist jetzt gekauft und ganz bezahlt. Jetzt müssen wir uns nur noch einige Ausrüstungensgegenstände, wie Schlafsäcke, Verteidigungswaffen usw. anschaffen. Kürzlich hielten wie eine Sitzung ab, in der wir über einzelne Fragen Beschluß faßten und zur Wahl schritten. Ich wurde zum Führer gewählt, Robert Weiß zum Küchenchef und Proviantmeister und Herrmann Friedrich zum Zelt und Lager-Obmann. So hat jeder seinen Wirkungskreis. In dieser Hinsicht ist die Sache sehr gut organisiert und ich bin überzeugt, daß der Plan zur Durchführung kommt, wenn das Wetter einigermaßen günstig ist. Unser nächstes Ziel ist jetzt einige Probewanderungen mit dem Zelt zu machen. Denn wir müssen auch gewohnt werden im Freien zu übernachten. Also Zelt Heil! Canstatt, Dienstag, den 19. 9. Juli 1932 932 Das Streichquartett besteht nun ein Jahr. Leider mußte es oft abgeblasen werden wegen der Fräulein Eytel, die durchschnittlich die Hälfte aller angesetzten Proben-Abende durch plötzliches Absagen aus irgendeinem nicht immer stichhaltigen Grund vereitelte. Aus diesem Grund habe ich mich schon


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Februar, 1932 Der US-amerikanische Country-Sänger Johnny Cash wird in Kingsland geboren.

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1932 – 1933

seit längerer Zeit nach einem geeigneten Bratschisten umgesehen ohne bisher Erfolg gehabt zu haben. Jetzt erst, vor einigen Tagen traf ich auf der Hochschule zufällig (wenn man das so nennen will) einen Schüler von Herrn Reichardt, den ich durch diesen kennenlernte. Wir kamen auch »zufällig« auf Kammermusik zu sprechen. Da erst einige Tage vorher die Frl. Eytel wieder auf einige Wochen abgesagt hatte, so sprach ich mich begreiflicherweise sehr unzufrieden über diese ungeordneten Zustände aus. Ich fragte ihn, ob er mir keinen Bratscher wisse, der mitspielen würde in meinem Quartett. Herr ..., so heißt der neue Mann, verneinte mit Bemerken, daß er hier keinerlei Beziehungen habe und deshalb selbst nicht irgendwie kammermusikalisch spiele. Ich forderte ihn auf, doch bei meinem Quartett einmal mitzuspielen und fragte ihn halb im Spaß, ob er nicht die Bratsche übernehmen wolle. Zu meinem Erstaunen sagte er, dies würde er sehr gern tun und uns ward geholfen! Herr ..., versprach von Bekannten ein Instrument zu entlehnen und ich bat ihn, gestern abend zu kommen. Ich trommelte schnell die übrigen Herrn Weiß und Koch zusammen und das neue Quartett stieg. Am Anfang versprach ich mir nicht viel davon, bis Herr ... eingespielt sein würde, bzw. den Bratsschenschlüssel gut lesen würde; aber ich war sehr erstaunt und erfreut, wie gut und schnell er sich an die Bratsche gewöhnte und wie gut das Haydn-Quartett klappte, das wir zuerst alle vom Blatt spielten. So haben wir jetzt einen guten Ersatz für Frl. Eytel und ich hoffe, daß durch regelmäßige Quartettabende mehr erarbeitet wird als bisher. Übrigens scheint die Frl. Eytel Lunte gerochen zu haben, das wir mit ihrer Absagerei nicht zufrieden waren, denn sie hat ihre ursprüngliche Absage auf nächsten Mittwoch zurückgenommen und kommt nun doch. Nun das schadet nichts 2 Bratscher sind besser als gar keiner. Herr Koch, der zweite Geiger hat uns schon lange aufgefordert, in seinem Garten zu spiele, Bisher hat immer das Wetter oder Frl. Eytel einen Strich durch die Rechnung gemacht, doch hoffe ich, daß es kommenden Mittwoch klappt.

932 Cannstatt, Dienstag, den 26. Juli 1932 Ferienzeit! Seit letztem Samstag haben wir Hochschulferien. Gestern waren wir bei Günzlers eingeladen. Die beiden Mädchen waren sehr gut aufgelegt, besonders Herta! Sie fahren morgen an die Nordsee und zwar nach Wangeroog, der östlichsten der Ostfriesischen Inseln. Die Vorfreude war mächtig. Richtige Ferienstimmung. Ich wurde ordentlich mitgerissen in meiner anfangs durchaus sachlichen Stimmung. Es fällt mir oft schwer, wenn ich allein bin, die Ferien so richtig zu genießen wie früher als Schuljunge, denn wer kann die Zeit völlig vergessen, in der wir leben? Dies müssen besonders glücklich veranlagte Menschen sein. Eben fällt mir die Wortbildung »veranlagt« auf. Ich glaube daß sie falsch im Sprachgebrauch steht Die Vorsilbe »ver« hat etwas Negierendes wie bei »verbildet«, »vergessen«, »verrufen«. Der richtige Ausdruck müßte »beanlagt« lauten, obgleich er ungewohnt klingen mag. Nun es waren auch wirklich glückliche Stunden mit Günzlers zusammen. Der Humor obsiegt bei ihnen immer. Ich bat am Schluß, die beiden, mir aus Wangerooge eine Karte zu schreiben und bin nun sehr gespannt, ob ich eine erhalte. Am 30. Juli feiert Herta ihren Geburtstag dort. Wieder habe ich einen Band Goethe hinter mir und zwar den Vierten. Er enthält »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, »Die Wahlverwandtschaften« und »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«. – Aus den Wanderjahren zunächst möchte ich eine grundlegende Stelle der Musikästhetik herausgreifen (S. 133) 33) (Oder eigentlich der Pädagogik). »Da nun Gesang zwischen den Instrumenten sich hervorthut, konnte kein Zweifel übrig bleiben, daß auch dieser begünstigt werde. Auf die Frage sodann, was noch sonst für eine Bildung sich hier freundlich anschließe, vernahm der Wanderer die Dichtkunst sei es, und zwar von der lyrischen Seite. Hier komme alles darauf an, daß beide Künste, jede für sich und aus sich selbst, dann aber gegen und miteinander, entwickelt werden. Die Schüler lernen eine wie die andere in ihrer Bedingtheit kennen; sodann wird gelehrt, wie sie sich wechselsweise bedingen und sich – wieder wechselsweise befreien. Der poetischen Rhythmik stellt der Tonkünstler Takteinspielung und Taktbewegung entgegen.« Hier zeigt sich aber bald die Herrschaft der Musik über die Poesie: Wenn diese, wie billig und notwendig, ihre Quantitäten immer so wie als möglich im Sinn hat, so sind für den Musiker wenig Silben entschieden lang oder kurz; nach Belieben

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Juli, 1932 Der Dow-Jones-Index in den USA erreicht in der Zeit der Weltwirtschaftskrise seinen historisch niedrigsten Stand mit 41,22 Punkten.


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zerstört dieser das gewissenhafteste Verfahren des Rhythmikers, ja, verwandelt sogar Prosa in Gesang, wo dann die wunderbarsten Möglichkeiten hervortreten, und der Poet würde sich gar bald vernichtet fühlen, würde er nicht von seiner Seite durch lyrische Zartheit und Kühnheit, dem Musiker Ehrfurcht einflößen und neue Gefühle, bald in sanftester Folge, bald durch die raschesten Vergnügen, hervorrufen. Ist durch diese Worte Goethes nicht der konfuse Konflikt zwischen Tonkunst und Dichtkunst auf das erfreulichste beigelegt? Ein weiterer Satz kann die modernen Musikpädagogen zum Schweigen bringen, die das fessellose, wilde Improvisieren auf den Instrumenten für das Evangelium der Musikerziehungslehre darstellen und zu beweisen suchen: »Würde der Musiker einem Schüler vergönnen, wild auf den Saiten herumzugreifen oder sich gar Intervalle nach eigener Lust und Belieben zu erfinden? Hier wird auffallend, daß nichts der Willkür des Lernenden zu überlassen sei; das Element worin er wirken soll, ist entschieden gegeben, das Werkzeug, das er zu handhaben hat, ist ihm eingehändigt, sogar die Art und Weise, wie er sich dessen bedienen soll, ich meine den Fingerwechsel, findet er vorgeschrieben, damit ein Glied dem andern aus dem Wege geht und seinem Nachfolger den rechten Weg bereite, durch welches gesetzliche Zusammenwirken dann zuletzt allein das Unmögliche möglich wird. Was uns aber zu strengen Forderungen zu entschiedenen Gesetzen am Meisten berechtigt, ist, daß gerade das Genie, das angeborene Talent sie am Ersten begreift, ihnen den willligsten Gehorsam leistet. Nur das Halbvermögen wünschte gerne, seine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen und seine falschen Griffe unter Vorwand einer unbezwinglichen Originalität und Selbstständigkeit zu beschönigen.« – Über Dilettantismus (Wahlverwandtschaften, 2. Teil, 3. Kapitel, S. 304) »Es ist eine so angenehme Empfindung, sich mit Etwas zu beschäftigen, was man nur halb tun, daß Niemand den Dilettanten schelten sollte, wenn er sich mit einer Kunst abgiebt , die er nie lernen wird, noch den Künstler tadeln dürfte, wenn er, über die Grenze seiner Kunst hinaus, in einem benachbarten Felde Aus O.s Tagebuch« Tagebuch (S. 312) 3 2) »Wir blicken so gern in die Zukunft, weil sich zu ergehen Lust hat.« – »Aus wir das Ungefähre, was sich in ihr hin und her bewegt, durch stille Wünsche so gern zu unsern Gunsten heranleiten möchten.« – »Wir befinden uns nicht leicht in großer Gesellschaft, ohne zu denken, der Zufall, der so viele zusammenbringt, solle uns auch unsere Freunde herbeiführen.« – »Begegnet uns Jemand, der uns Dank schuldig ist, gleich fällt es uns ein. Wie oft können wir Jemandem begegnen, dem wir Dank schuldig sind, ohne daran zu denken.« – »Sich mitzutheilen ist Natur; Mitgetheiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung.« – »Niemand würde viel in Gesellschaften sprechen, wenn er sich bewußt wäre, wie oft er die Andern mißversteht.« – »Wer vor Anderen lange allein spricht, ohne den Zuhörern zu schmeicheln, wagt Widerwillen.« – »Die angenehmsten Gesellschaften sind die, in welchen eine heitere Ehrerbietung der Glieder gegeneinander obwaltet.« »Durch Nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter, als durch das, was sie lächerlich finden.« (Fall Karl ... und »der ...«) – »Gewisse Mängel sind nothwendig zum Dasein des Einzelnen. Es würde uns unangenehm sein, wenn alte Freunde gewisse Eigenheiten ablegten.« – »Das Betragen ist ein Spiegel, in welchem ein Jeder sein Bild zeigt.« – »Wir sind nie entfernter von unseren Wünschen, als wenn wir uns einbilden, das Gewünschte zu besitzen.« – »Niemand ist mehr Sklave, als der der sich für frei hält, ohne es zu sein.« – »Man hält die Menschen gewöhnlich für gefährlicher, als sie sind.« – »Man weicht der Welt nicht sicher aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sichrer mit ihr als durch die Kunst.« – »Selbst im Augenblick des höchsten Glücks und der höchsten Noth bedürfen wir des Künstlers.« – »Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und mit dem Guten.« Bei der Gelegenheit, über die rituellen Formen der Christengemeinschaft Rittelmeyers zu sprechen, sage ich meine Abneigung aus gegen alles theatralische in der Religion. Das Äußerliche, daß manche Leute glauben, unbedingt haben zu müssen in Form von Weihrauch, farbenprächtigen Gewändern, symbolischen Handlungen ist vom Standpunkt eines frei denkenden Menschen zu verwerfen. Es ist selbst ein Symbol dieses Verfahrens der Verdunklung des Geistes, wenn am hellichten Tage die Fenster mit dichten Vorhängen zum Zweck einer religiösen Handlung verhängt werden, wenn das Licht die helle


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Juli, 1932 Nach der Reichstagswahl stellt die NSDAP erstmals die stärkste Fraktion.

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Sonne verdüstert wird, um die Gemüter in mysteriöses Dunkel zu füllen.Schon Goethe hat zu seiner Zeit mit ähnlichen Vergnügen folgendermaßen abgeurteilt. – Aus »Die Wahlverwandtschaften« (zweiter Teil, 7. Kapitel, S 325) »Was mich betrifft, so will ich mir diese Annäherung, diese Vermischung des Heiligen zu und mit dem Sinnlichen keineswegs gefallen, nicht gefallen, daß man sich gewisse Räume widmet, weiht und aufschmückt, um erst dabei ein Gefühl der Frömmigkeit zu hegen und zu unterhalten. Keine Umgebung, selbst die gemeinste nicht, soll in uns das Gefühl des Göttlichen stören, stören das uns überallhin begleiten und jede Stätte zu einem Tempel einweihen kann... Das Höchste, das Vorzüglichste am Menschen ist gestaltlos, und man soll sich hüten, es anders als in edler That zu gestalten.« gestalten. – Mein letztes Buch von der Buch-Gemeinschaft, daß ich kürzlich erhielt, war Hermann Stohr; »Drei Nächte«. Es liegt eine eigene düstere Stimmung über dem ganzen Werk das jedoch dauernd fesselt durch seinen eigenen, urdeutschen und grüblerischen Charakter. So ein kurzes Beispiel möchte ich hier anführen: »Was irgend Klang, Farbe oder Rhythmus meiner Vergangenheit weckt, wirkt in mir, wirkt mich.« – »Ich verstehe dich nicht«, sprach ich dürr. »Die tiefsten Worte sind auch nicht zuverstehen, sie sind nur zu glauben wie die Musik. Wir werden gespielt, es spielt aus uns!«

932 Cannstatt, Samstag, 30. Juli 1932 Dieses Datum erinnert mich an eine... Könnte ich statt »Cannstatt, den...« – »Wangeroog, den...« schreiben, dann wäre ich froh. Wäre ich es wirklich? Weiß ich denn, ob ich dazu Berechtigung oder Anlaß überhaupt besitze? Wie denkt sie über mich? Bin ich ihr gleichgültig? Es ist kühn, solche Fragen aufzuwerfen, obgleich ich erwarte, und voraussetze, daß kein Mensch diese Zeilen liest als ich einmal später, und daß kein Mensch darüber lächelt wie ich es vielleicht später tun würde. Ich glaube, H. würde mich auslachen, wenn sie dies lesen würde.Spürt sie es nicht, daß ich heute an ihrem Geburtstag, dauernd an sie denke? Manchmal kommt mir ohne irgend eine Gedankenverbindung dein Bild vor Augen. Denkst du in solchen Augenblicken an mich? Ich wage kaum, es zu hoffen! Bei unserem letzten Zusammensein habe ich mir überlegt, ob ich um deine Anschrift bitten soll, um dir zu deinem Geburtstag zu schreiben, dachte aber, ich würde mein geheimstes Fühlen verraten in dieser Bitte. – Alles was ich denke und handle bezieht sich letzten Endes auf dich! An einem strahlend schönen Tag wie heute dein Festtag ist, freue ich mich für dich. Ach würdest du nur einmal andeuten, daß ich dir nicht ganz gleichgültig bin, und ich würde mich dadurch königlich beschenkt finden! Cannstatt, Montag, den 1.. Aug. 1932 932 L. H., Was ich wohl an deinem Geburtstag treib? Die erste Versuchsnacht mit dem Zelt führte ich aus. Interessiert es dich denn überhaupt? Nun, ich nehme es einmal an. Ist doch dieser Appell selbst eine Annahme. Morgens von 9 Uhr ab gab ich meine letzten beiden Violinstunden vor den Ferien. Beide Schüler brachten mir etwas mit: Einer, Helmut Fischer brachte einen sehr schönen Blumenstrauß, den ich am gernsten dir geschenkt hätte; Der andere brachte zu wenig Geld mit, was ich von ihm jetzt bald gewöhnt bin! ... Um 2 Uhr marschierten wir mit schwer beladenem Rucksack bei größter Hitze los. Robert Weiß mein Cellist im Quartett und Hermann Friedrich, Student an der Technischen Hochschule, beide ehemalige Schulkameraden von mir, sind meine Begleiter bei den Zeltwanderungen. Beide sind nette, unkomplizierte Menschen, jedoch ist die Unterhaltung mit ihnen nicht immer sehr gebildet vielmehr öfters ziemlich vulgär! Ist es ein Zeichen von Ungewandtheit oder Verschlossenheit bei beiden daß bei keinem schönen Landschaftsbild, bei keinem, stimmungsvollen Wald oder einem alten Dorf jemals eine beifällige Außerung fällt? Ich meine nicht, daß bei solchem Anblick staunendes verständnisinniges Schweigen herrschte, sondern daß dabei oft nichtssagende, ja minderwertiges Geschwätz fortplätschert; dies befremdet mich äußerst, und ein Gefühl der Einsamkeit neben den Fahrtgenossen überkommt mich zuweilen, eine unbestimmte Sehnsucht nach einem Wesen, das mein innerstes Fühlen miterlebt und teilt. Spürst du, daß ich in solchen Momenten


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besonders deiner gedenke? Ist es ein »unbestimmtes« Sehnen? Nein, es ist bestimmt. Du weißt was ich meine! Das Lagern in einem Zelt ist sehr idyllisch, die Naturverbundenheit ist groß. Nur muß die Verbundenheit mit den Lagergenossen auch in starkem Maße vorhanden sein, denn manches Ungewohnte wird durch bewußt gemeinsames Tragen leichter. Es gibt bei solchen Wanderungen allerdings auch einen sehr prosaischen Umstand, der auch durch noch so gemeinsames Zusammenhelfen nicht erleichtert wird: der schwere Rucksack jedes einzelnen. Dieses Objekt vermag sicher manches schöne Landschaftsbild ungesehen machen, indem jeder gerade aus sieht, möglichst rasch das nächste Ziel zu erreichen, um das umfangreiche Monstrum los zu werden. Deshalb haben wir uns entschlossen, uns ein Fahrgestell mit zwei Rädern anzuschaffen, das die 3 Rucksäcke gut zu tragen vermag und welches im Notfall zusammenlegbar ist. Dadurch wird einer zu raschen Ermüdung vorgebeugt. Doch es ist jetzt spät in der Nacht, auch fürchte ich, dich zu langweilen durch diese technischen Fragen unserer Wanderung; es hätte eher Sinn, wenn du mitgehen könntest, Dein tr. E. Weilheim, Donnerstag, 11.. Aug. 1932 932 Seit gestern bin ich hier in Weilheim. Mutter ist zur Erholung nach Pfronten gefahren mit Willhelms Schwiegermutter. Ich glaube, beide haben es sehr nötig, denn sie sind überaus nervös und leicht reizbar! Hier in Weilheim ist es sehr nett; die Landluft tut mir wohl. Heute haben wir bei heißestem Wetter einen Ausflug auf die Wurmlinger Kapelle gemacht. Die beiden Laccronsbuben, Eberhardt und Dieter aus Plochingen sind zur Zeit auch hier, so daß wir mit Gerhard drei Buben mit uns hatten. Von diesen hatten die beiden jüngeren nach kürzester Zeit genug und wollten nicht mehr gehen. Der kleine Dieter, ein zart veranlagtes Kind, mußte teilweise von Gretel getragen werden, die auch mitging. Außerdem war noch ein Fräulein Holzapfel (Name schöner als das Mädchen!) dabei, welche z. Zt. bei Heinrichs Kinderfräulein ist. Die beiden Damen fingen nun unterwegs an zu singen was mir aber gar nicht behagte. Ich habe gerner, wenn die Menschen Naturschönheiten still in sich aufnehmen, statt durch abgeschmackte Lieder zu betonen, daß der Himmel blau sei, der Wald schön grün usw. Wegen des Gegenteils davon habe ich ja auch schon abfällig von meinen Freunden gesprochen! Ich bin offenbar ein schwieriger Kunde, dem es nicht leicht recht zu machen ist. Aber wenn die Richtige, Eine singen würde mit mir oder schweigen würde mit mir auf einer Wanderung, dann wäre ich restlos glücklich! Weilheim, Samstag, den 13. 3. August 1932 932 Was ich zu erwähnen vergaß, ist daß wir heute vor acht Tagen unsere zweite Zeltwanderung machten, die sehr gut verlaufen ist. Zu dem guten Verlauf beigetragen hat die Benützung eines Zeltwagens, d. h. zweier Räder mit einer starken Achse und einem kleinen Lattengestell, welches drei Rucksäcke zu tragen vermag. Zunächst wurde mir bei der Anschaffung von Seiten der beiden andern Fahrteilnehmern

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August, 1932 Die Filmfestspiele von Venedig finden zum ersten Mal statt.

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August, 1932 Die erste öffentliche Autobahn, die heutige Bundesautobahn 555 zwischen Köln und Bonn wird vom Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer eröffnet.

ziemlich Widerstand geleistet, da die Zweckmäßigkeit des Wagens – besonders von Robert Weiß – stark bezweifelt wurde. Da ich jedoch entschieden von der Notwendigkeit des Wagens überzeugt war, ging ich entschlossen vor, und kaufte den Wagen auf eigene Kosten.Dieser Zeltwagen hat den Vorteil, zerlegbar zu sein, so daß die Einzelteile auf die 3 Teilnehmer der Wanderung verteilt werden können und in oder auf den Rucksack geladen werden können, was die Last der Rucksäcke nicht wesentlich vermehrt und welches Manöver deshalb bei exponierten Wegstellen gut vorgenommen werden kann und man mit ihm nicht nur auf ebene und glatte Wege Rücksicht nehmen muß. Die Wanderung am letzten Samstag auf Sonntag bestätigte dann auch diese Ansicht, denn die schwierigsten Wegstellen wurden leicht und schnell überwunden. Die einzige Schwierigkeit mit dem Zeltwagen ist die des Verladens. Aber dieser Umstand ist durchaus eine Sache der Übung. Ich hatte die Genugtuung daß die beiden Freunde doch bald zugaben, wie zweckmäßig die Sache sei. Unser Zeltlager, das wir im Wald zwischen Buoch und Schorndorf aufschlugen ist wieder in allen Teilen gut gelungen. Hier konnte ich wie das erste Mal schon nicht gut schlafen wegen des ungewohnten Schnarchens von Freund Weiß. Doch auch


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dieser Umstand soll in Zukunft von der praktischen Seite gelöst werden: Ich stopfe mir Watte in die Ohren! Am andern Morgen waren wir bereits um 9 Uhr in Schirndorf. Ich besuchte Tante Ottilie im Stift, die sich sehr über den Besuch freute. Die andern ließ ich weiter ziehen und holte sie nach einer Stunde wieder ein. Über Schlichten, Hohengehren wanderten wir mühelos in der Hitze zum Esslinger Jägerhaus. Es war eben doch angenehm, daß immer zwei Leute gar nichts zu tragen hatten und auch der dritte nur das leichte Wägelchen zu ziehen hatt. Wir waren nach diesem großen Marsch so wenig ermüdet, daß wir vom Jägerhaus nach Cannstatt weiter wanderten, wo wir um 9 Uhr abends anlangten. Diese Tour war die Generalprobe zur großen Wanderung und wir alle waren sehr befriedigt davon. Natürlich erregten wir unterwegs überall Aufsehen mit unserem Wägelchen. Denn wir sind ja gewissermaßen Schrittmacher für eine praktische Neuerung des Wanderns. Es war nun sehr interessant, die verschiedenen Ansichten der Leute zu hören. Weitaus der größte Teil der Äußerungen, die wir vernehmen konnten, waren Ausdruck wohlverstehenden Billigens. Um uns unauffällig ein Werturteil der Leute zuzurufen das auf diese Äußerungen fußte, teilten wir sie nach Kategorien ein 1.a) »Ausgezeichnet«, »eine glänzende Idee«, »sehr praktisch«. b) »wie gelungen«, »wie nett« 2. a) »wie komisch« usw. b) »lächerlich« usw Unter 2b konnten wie eigentlich niemanden enteilen mit Ausnahme von ganz beschränkten unverständigen Kindern oder Schuljungen von Dörfern. Nur eine wars, die ich leider auch in diese Kategorie einteilen mußte, obgleich ich es natürlich nicht aussprach. Das war Roberts Schwester Hilde Weiß. Als wir in Helmuts Flur die Rucksäcke probeweise aufpackten, äußerte sie im Vorübergehen: »Gottes Willa! Ischt dees a Kärrele; Ihr schpennt ja!« Es wird ihr hier also nach der oberngenannten Gradeinteilung ihr Urteil gesprochen: Sie ist eine recht dumme Gans! Weilheim, Montag den 15. 5. Aug. 1932 932 Das jetzt tagsüber die Hitze zu groß war um Wanderungen zu machen, sitze ich meistens pfeiferauchend im Pfarrgarten und lese. Zuerst nahm ich »Faust, 3. Teil«. Ein Parodie von Friedrich Theodor Vischer vor. Der Verfasser, den ich schon von »Auch Einer« kenne, hat mit fabelhafter Routine Goethes Faust, 2. Teil parodiert und bringt zugleich in scharfer Satire die verschiedenen Standpunkte der Wissenschaften auf Tapet. Das Buch hat mich sehr belustigt. Dann lese ich in Schriften von Johannes Müllner, die mir Heinrich zur Verfügung gestellt hat. So »Unser Tageslauf« ein Tagesprogramm, das mir sehr eingeleuchtet hat, dem aber nur Leute folgen können, die viel zeit haben. Ist es an der auch so heiß wie hier? Oder weht dort ein frischer Seewind? In so einem Strandbad muß es sicher sehr schön sein. Besonders wenn man entsprechende Gesellschaft hat. Aber wo bleibt die versprochene Karte? Ich denke täglich daran, wenn der Briefträger kommt! »Die Post hat kein Brief für mich!« Doch wie kann ich nur so anmaßend sein! Dies ist natürlich, wie ich selbst, längst vergessen. Warum sollen denn die andern Leute auch so sein wie ich? Aber nein, unter die Kategorie »andere Leute« gehört sie nicht! Ich glaube doch, daß »zufällig« in einer müßigen Stunde auch die Erinnerung an die Stunden aufsteigt, die wir gemeinsam erleben durften. Weilheim, Dienstag den 16. 6. Aug. 1932 932 Wie kommt dieses Frauenzimmer bloß dazu? Vorgestern abend saßen wir beisammen: Heinrich u. Gretel, Frl. Holzapfel u. ich. Durch irgend eine Gesprächswendung erzählte sie von einem 20 jährigen Studenten der eine 15 jährige Freundin habe. Nachdem man gebührend anfällig geäußert hatte, meinte diese Frl. Holzapfel, ich sei doch auch etwa 21 und habe eine Freundin! Das wisse sie sicher! Ich fragte woher sie das wisse? Und hätte mir durch diese Frage eine Blöße gegeben. Um die Harmlosigkeit wieder herzustellen, fragte ich sie, wie sie denn auf so eine Vermutung komme. Ja, sie wisse es gewiß, ich sehe »so« aus! Nun hatte ichs weg! Um darauf zu entgegnen, denn ich war wirklich platt, sagte ich etwa, dazu sei ich viel zu objektiv und brachte das Gespräch auf ein anderes Thema. Nun, wenn ich mir diese Frage wiederhole und selbst vorlege, so muß ich, wenn ich dem Sinn ihrer Frage antworten will

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aufrichtig sagen: »Nein«! Denn kann man einen Menschen Freund nennen, der vielleicht von meiner besonderen Neigung zu ihm gar nichts ahnt, der diese Neigung vielleicht gar nicht erwidert? Ich weiß wohl, der philiströse Ausdruck dafür heißt »Schwarm«. Aber diesen Begriff weise ich voll und ganz zurück, denn was ein »Schwarm« ist, das weiß ich auch und habe es naturgemäß des öfteren erlebt. Aber »Schwarm« ist entschieden zu wenig für das, was ich jahrelang fühle und ersehne. Ich kann also mit ruhigem Gewissen sagen, daß ich auf die Frage dieser neugierigen jungen Dame (fast zu höflich ausgedrückt) nicht die Unwahrheit geantwortet habe. Denn ich weiß wohl, was sie meinte. Ob ich ein Mädchen kenne, mit dem ich gehe. Welcher läppische Ausdruck! Hat die einen Begriff von mir! Und meinen Zielen. Eine Freundin im geistigen, reinsten Sinn ist wohl mein erstrebenswertes Ziel. Aber ob ich diesem Ziel je näher rücke, wer kann mir das sagen? Meine einzige Freundin war bis jetzt die Hoffnung. Möge sie mich nie verlassen! Da fällt mir ein: Habe ich außer meinem hellen, großen Stern nicht doch noch ein kleines Sternlein? Eine kleine Freundin? Ich denke an Margret Richter, genannt »Moritz«, dem lustigen Berliner Mädel, mit der ich seit dem letzten Sommer korrespondiere. Das ist aber eine Freundschaft in ganz anderem Sinn, sicher nicht in dem Sinn, wie die Holzapfel das meinte. Ein angenommener Brief an Sie nach Wangeroog über Moritz würde etwa lauten: (denn über alle Gedanken und Bekannte von mir soll sie unterrichtet sein). – L. H. Kürzlich erhielt ich wieder einen 6 Seiten langen Brief von Margret Richter aus Berlin. Du fragst, wer das sei. Nun, ich lernte sie letztes Jahr im Sommer kennen, als sie bei ihrem Großvater, meinem Vetter Ernst Richter in Cannstatt die Ferien verbrachte. Es ist ein lustiger, quecksilbriger Berliner Junge u. im Spaß »Moritz« genannt. Es ist ein liebes Ding, das ich schätzen lernte, wie einen treuen Kameraden oder einen Schulfreund. Es ist bestimmt kein »Schwarm«, wie man es vielleicht bei oberflächlicher Betrachtung nennen könnte. Wenn ich eine Schwester hätte, stelle ich mir vor, daß sie und ihr Verhältnis zu mir so sein müßte wie »Moritz«. Der Inhalt unserer Korrespondenz ist meistens politischer Art. Sie sucht mich nämlich energisch zum Nationalsozialismus zu bekehren, was ihr scheinbar auch gelungen ist, weil ich nämlich sowieso gegenwärtig wieder dafür bin! Also, du siehst eine durchaus sachliche Unterhaltung, die einem guten Freund von mir alle, Ehre machen würde. Ich hoffe, daß du nun völlig davon überzeugt sein wirst, wie harmlos diese »Bekanntschaft« ist! Nun sag‘ mir bitte, wann kommst du zurück? Leichtsinnigerweise hatte ich nicht darauf geachtet als deine Schwester M. sagte, wann ihr zurückkommen werdet. Ich glaube, sie sagte, am 24.? Schreibe bitte recht bald! Dein tr. E. Ach wären wir so weit, daß diese Briefform an sie möglich wäre! Wie gerne wollte ich dann so einem Holzapfel Auskunft geben! Und zwar unzweideutig. Doch Fräulein Holzapfel, Sie sollen Ihre Strafe haben, für Ihr vorlautes Gerede! Es eine sehr gelinde Strafe die sogar zu ihrem geistigen Vorteil erheblich beitragen kann! Ich hörte, Sie seien für Bücher interessiert. Also werden Sie bei der nächsten Gelegenheit für die Deutsche Buchgemeinschaft gekeilt. Wenn ich dort ein neues Mitglied einführe, so erhalte ich als Werbeprämie ein Buch nach freier Auswahl. Und wenn es der glückliche Zufall will, so ließt die Freundin, die vorläufig noch in der Vorstellung schwebt als solche, dieses Buch, was mich sehr freuen würde und mich an den Vorfall hier erinnern würde. Ich werde gleich auf den Werbefeldzug gehen. Ich hoffe daß Sie die Strafe annehmen! Natürlich sage ich nicht, warum ich jetzt auf einmal so sehr um ihre geistige Bildung besorgt bin, wo ich doch seither gar nichts eigentlich mit Ihnen gesprochen habe. Wissen Sie, ich habe eben an andere Leute zu denken und zwar äußerst intensiv. Vielleicht hat Sie dieses Verhalten auf den richtigen Trappen gebracht und Sie hatten mit der Freundin doch nicht so ganz daneben getippt! Nun Pfeife angesteckt und los! Weilheim, Samstag, 20. August 1932 932 Eigentlich wollte ich ja heute abreisen aber da nun Mutter auch bis morgen in Pfronten bleibt, so habe ich mich überreden lassen bis Montag früh zu bleiben. In den letzten Tagen war ich am Schreiben verhindert. Am Mittwoch nachmittag ruderte ich in Tübingen auf dem Neckar. Ich verabredete mich mit Heinrich, denn er lud mich zum... ein. Wir kauften vorher Feuerwerkskörper, denn wir wollten den


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3 Buben ein kleines Feuerwerk veranstalten. Wir saßen dann sehr gemütlich beisammen bei Bier und Bratwürsten und Heinrich erzählte mir aus seiner Studentenzeit in Bingen. Abends fuhren wir mit dem Omnibus nach Derendingen und gingen von dort zu Fuß nach Weilheim. Am Donnerstag machte ich die Zurüstungen zum Feuerwerk, welches Abends steigen sollte. Die Buben hatten ein großes Fest. Ich baute große Gerüste auf nach dem Vorbild der Riesenfeuerwerke in Cannstatt, und befestigte daran eine Reihe Feuerrädchen, Sternregen und sonstigen Zauber. Endlich nach Einbruch der Dunkelheit – etwa um 9 Uhr – ging die Sache los. Als Eröffnungskanonenschlag erfolgte ein Schuß aus meiner Alarmpistole, der mit Lachen quittiert wurde. Offenbar stand ich zu weit weg! Nun ging es Schlag auf Schlag allerdings manches ging nicht gleich los und mir dann beim zweiten Anzünden ins Gesicht. Meinen Photo-Apparat hatte ich aufgestellt. Auf die Aufnahme bin ich allerdings sehr gespannt; denn auf derselben Platte befand sich schon eine Aufnahme vom Ausflug auf die Wurmlinger Kapelle, wie sich hinterher herausstellte. So zog sich das Feuerwerk bis 10 Uhr und ich griff zum letzten »Sternregen«, den man aus der Hand abbrennen konnte, wie der Verkäufer im Geschäft versicherte. Ich entzündete also die Hülse und schon sprühte der feurige Regen daraus hervor. Da am Schluß gab es einen Knall, das Feuer schlug aus der Hülse auch hinten hinaus und verbrannte mir die Finger an 3 Stellen. Es mußte etwas Pulver in den zum Festhalten abgedrosselten Griff gekommen sein bei der Herstellung sodaß der Rand dieses Griffes durch die Entzündung dieses Pulvers aufriß und brannte. Wütend warf ich das Ding von mir aber natürlich zu spät. Nun nach diesem Mißerfolg meiner pyrotechnischen Fähigkeiten griff ich wieder zur Pistole und knallte die übrigen 5 Schüsse schnell hintereinander hinaus, was einen großen Eindruck machte. So hörte das Feuerwerk wenigstens einigermaßen befriedigend auf – für die andern. Mir mußten die Brandwunden verbunden werden, die mir nun den letzten Tagen sehr hinderlich und lästig waren. Ich konnte, da es an der rechten Hand war weder schreiben noch geigen. Jetzt geht es wieder ohne Verband und ich kann zu Not auch wieder den Bogen halten. Gestern ging ich mit Gretel und Emma Klemm nach Lustnau zu Regierungsrat Elwerts, die mit uns weitläufig verwandt sind und die mich kennenzulernen wünschten; sie haben ein schönes Haus auf der Höhe und waren sehr nett und freundlich. Sie tateen sehr verwandtschaftlich und redeten mich selbstverständlich mit Du an, obgleich wir uns nie vorher sahen meines Wissens. Ich brachte deshalb dieses Du nicht gut fertig, besonders da ich nicht von allen die Vornamen wußte und lavierte mich deshalb möglichst gewandt mit »man« durch. Heute morgen machte ich für Heinrich einen Gang nach Derendingen zu Stadtpfarrer Lang, der Heinrich an einem Sonntag seines Urlaubs vertreten soll. 66 Und durch diese verschiedenen Anlässe und Abhaltungen wurde meine Absicht, die Frl. Holzapfel für die Burschengemeinschaft zu keilen, noch nicht ausgeführt. Es fällt mir auch gar nicht leicht, diesbezüglich ein Gespräch mit jemanden, der mir ziemlich fernsteht, anzufangen, der Verdacht sehr naheliegt, daß ich nur das Betreffende wegen der Werbeprämie zu garnieren suche, was nicht immer, wohl aber in diesem besonderen Fall zutrifft. Zudem sagte mir Gretel, daß das Fäulein fast gar kein Geld hat, sodaß ich keine größeren Erwartungen hege, doch noch ein Buch bei dieser Gelegenheit herauszuschinden. 932 Cannstatt, Freitag, den 26. Aug. 1932 Eben erhielt ich eine lustige Karte von Wangerooge von Herta Günzler! Ich dachte in der letzten Woche schon, sie hätte es glatt vergessen an mich zu schreiben. Aber ich hatte mich getäuscht. Zum Glück! Sie schreibt, sie sei mit Traude zur Strandkönigin ernannt worden! Das glaube ich. Die Karte hat mich richtig gefreut. Trotzdem sie schreibt, daß reizende Kavaliere dort seien, mit denen sie sich köstlich amüsiert hätten. Das gehört auch zum Strand! Würde ich es nicht ebenso gemacht haben, wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, mich mit jungen Damen zu amüsieren? Auf die Karte schrieb so ein »Kavalier« darauf, daß er mir amtlich bestätigen kann, daß es mit der Strandkönigin stimmt. Hinrichsen heißt der, ist also sicher ein Ortsansässiger von Wangerooge. Ich freue mich für sie, daß sie es dort so


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schön hatte und freue mich auch auf ein Wiedersehen in Cannstatt, bei dem wir einander unsere Erlebnisse erzählen können. Aber nach der Schwarzwaldtour, damit ich auch etwas auftischen kann! Nobelpreis Physik 1932 für Werner Heisenberg für die Begründung der Quantenmechanik, deren Anwendung zur Entdeckung der allotropen Formen des Wasserstoffs geführt hat.

Cannstatt, Sonntag, den 18. 8. Sep. 1932 932 So, diese Schwarzwaldwanderung ist nun auch vorüber. Ich kann ruhig sagen: »glücklich vorüber«, denn es hätte noch schlimmer sein können! Nun, so arg war es ja gerade nicht, wie diese Einleitung vielleicht den Anschein machen könnte. Der Kernpunkt in meinem leichten Unbefriedigtsein von dieser Tour liegt im Technischen und Persönlichen. Ich habe mir eine neue Lebensregel gebildet: »Hast Du einen Freund gefunden, so erprobe ihn lieber nicht, Enttäuschungen sind unausbleiblich!« Aber alles was recht ist, planmäßig ist die Wanderung verlaufen. Es war zwar nicht immer leicht, den Plan einzuhalten, aber mit großer Energie allerseits und mit ziemlich Rücksichtslosigkeit meinerseits als Führer ging die Sache glatt. Es muß gesagt werden, diese meine Rücksichtslosigkeit den andern Fahrtteilnehmern gegenüber war durchaus am Platze, wenn man weiß, mit was für zwei Phlegmas man es zu tun hat. Wenn ich nicht so rigoros gewesen wäre, säßen wir sicher heute noch im Schwarzwald an einem Wirtshaustisch und würden gemütlich vespern, vorausgesetzt, daß das Geld noch nicht aus wäre! Nun zur Wanderung selbst! Durch einen unglücklichen Umstand wäre mein Plan fast umgestoßen worden. Jedenfalls sah es sehr fraglich aus, ob wir die Tour mit dem Zelt überhaupt machen konnten: Herrmann Friedrich hatte sich am Freitag, 2. Sept. – also einen Tag vor der Abreise – eine Halsentzündung zugezogen durch Unvorsichtigkeit bei einem Gewitter, bei welchem er durchnäßt wurde und die Kleider wechselte! Ich erfuhr es durch Weiß und mein erster und fester Entschluß war, wir gehen trotzdem zu zweit. Natürlich war dies mit großen Schwierigkeiten bezüglich der Verladung verknüpft. Die Last, die für 3 Personen berechnet war, mußte nun von zweien getragen werden. Denn bis zum Ausgangsort Calmbach mußte alles verladen und in den Rucksäcken getragen werden mit dem Zeltwagen. Am Samstag, 3. September ging ich morgens noch zu Hermann Friedrich. Der in einer halben Woche soweit wieder hergestellt zu sein hoffte, daß er uns nachfahren konnte. Ich gab ihm genau Ort und Zeit an, wo wir ihn am Donnerstag der darauffolgenden Woche treffen würden. Schon jetzt machte sich meine genaue Ausarbeitung des Plans bezahlt. Mit einem Omnibus, der nach Wildbad fuhr, kamen wir am Samstag nachmittag nach einer schönen Fahrt über Calw nach Calmbach bei Wildbad. Unsere beiden schweren Rucksäcke wurden auf den Zeltwagen geschnallt und Ios gings. Gleich ein Steilanstieg von einigen 100 Metern! Schlechter, steiniger Weg und gut warm dazu! Wir schwitzten wie Magister. Nach anstrengendem Zerren an dem verd... Karren hatten wir die

Höhe erreicht mit Aufwand der doppelten Marschzeit als im Führer (Weris) verzeichnet stand! Wir hatten gleich einen richtigen Begriff bekommen von den Anstrengungen, die uns durch den Zeltwagen im Lauf der nächsten Tage bevorstanden. Dazu kam meinerseits noch Ärger über Roland Weiß der ungenügend ausgerüstet war meiner Meinung nach. Er kam nämlich mit Stadt-Halbschuhen an und dazu, was mich noch mehr reizte, mit einer Sportsmütze, wie sie die Arbeitslosen tragen. Er wußte genau, daß ich diese Mütze nicht ausstehen kann, aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb machte er mir das Vergnügen diese scheußliche Kopfbedeckung 14 Tage lang permanent ansehen zu müssen! Natürlich ließ ich mir von meinem Ärger nichts merken sondern trachtete möglichst rasch vorwärts zu kommen um einen zünftigen Zeltlagerplatz zu finden. Nach Überschreitung der Höhe kam der Abstieg zur Eyach-Mühle, welcher natürlich rasch vor sich ging obgleich auch ziemlich unbequem wegen der Last des Zeltwagens, die wir nun gewaltsam abzubremsen hatten bergabwärts. Es waren aber ganz andere Wege wie in der Gegend um Stuttgart. Nach der Eyachmühle kam eine langsam ansteigende Straße nach Dobel, auf der wir etwa halbwegs – einen Heuwagen stehen sahen ohne Bewachung. Der war offenbar der Steigung wegen von einem andern Wagen abgehängt worden und sollte extra abgeholt werden. Schnell packten wir unsere Schlafsäcke aus schauten im Wald nach einem ebenen Lagerplatz, den wir auch bald fanden, füllten unsere Säcke mit dem duftenden, frischen Heu und schlugen unser Zelt auf.


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Da hatten wir Glück gehabt, denn bald hörten wir Pferde auf der Straße unten einherkommen und der Heuwagen wurde alsbald abgeholt. Also hatten wir höchste Zeit. Auch wurde es bald Nacht und nachdem wir unser mitgebrachtes Abendbrot verzehrt hatten, richteten wir uns zur Nachtruhe ein. Das Zelt wurde zugeknüpft, die Schlafsäcke und Teppiche ausgebreitet. Für den Notfall hatten wir Schußwaffen mitgenommen ich ein scharfes Terzerol und einen 6-schüssigen Alarmrevolver mit Gaspatronen. Ich legte die Waffen schußbereit neben mich, ebenso die Blendlaterne. Wir erwarteten zuerst, daß mindestens einmal nachts ein Stromer uns belästigen würde und hatten uns deshalb mit wirksamen Verteidigungsmitteln ausgerüstet. Diese Befürchtungen stellten sich jedoch als unbegründet heraus, denn wir wurden nicht ein einziges Mal aus dem Schlaf gestört – wenigsten von solcher Seite. Anders aus dem Schlaf gestört wurde ich ja immer im Zelt; beziehungsweise, ich schlaf selten ein. Aber gegen diesen Schlafstörer konnte ich keine Schußwaffe anwenden! Denn es war Genosse Robert Weiß, der schnarchte, daß mir hören und sehen verging! Ich hatte Ohrenstopfen mitgenommen, die sich jedoch bei diesem Gesäge fast als wirkunslos erwiesen. Stundenlang lag ich schlaflos und mußte dem ekelhaften Geschnarche zuhören. Meine Wut war grenzenlos! Ich fluchte, wie lange nicht in einem Jahr zusammen geflucht wird. Fruchtlos! Meine kräftigen Rippenstöße waren absolut erfolglos. Jede Viertelstunde machte ich Licht um auf die Uhr zu schauen. Endlos schien mir die Nacht. Auf dem Heu lag man gut warm; aber eine ganze Nacht schlaflos darauf zu liegen, ist trotzdem nicht angenehm. Endlich brach der Morgen an. Ich trieb Weiß, sich möglichst zu beeilen, daß wir an dem Tag unser Ziel erreichen könnten. Dem pressierte es aber gar nicht. Nach 1 einhalb Stunden war endlich alles verpackt. Nun konnte es weitergehen; aber jetzt fing es an zu regnen. Also die Capes heraus. Wir standen eine Zeitlang unter Bäumen. Als es nicht nachließ, brachen wir trotz des Regens auf. Kaum 5 Minuten unterwegs wurde der stärker und stärker. Es bildete sich ein Gewitterrergen aus, wie wir noch selten einen erlebten – auch an Ausdauer. Durch den Wagen waren wir gehemmt, schneller zu gehen, und zudem stieg die Straße dauernd an. Die Pelerinen schlugen an den Knien durchs Schreiten durch, bald lief mir auch das Wasser zu den Stiefeln oben (!) herein. Nach einer halben Stunde sahen wir Dobel ganz oben am Berg liegen. Da mußten wir ninauf, denn vorher konnte man nirgends unterstehen. Endlich hatten wir es erreicht und standen unter einem weit vorspringenden Scheunendach unter. Jetzt ließ der Regen nach! Nachdem wir unter Dach standen; stellenweise war ich bis auf die Haut durchnäßt. So waren wir am ersten Tage unserer Wanderung kräftig eingeregnet und mußten über eine Stunde warten bis der Regen etwas nachließ. Da wir schon naß waren, machte ich Vorschlag weiterzugehen, da wir durchs Marschieren eher trocken würden als durchs Herumstehen. Also gingen wir auf der Fahrstraße weiter nach Herrenalb. Dort bezeugte Freund Weiß derartigen Hunger beim Anblick der vielen Gasthäuser, daß ich nachgeben mußte u. mit ihm in eines derselben ging, obgleich ich wußte, daß Herrenalb als Kurort sehr teuer sei. Und so wars; für ein geringes Käsevesper und 2 Glas Bier mußten wir über ein einhalb Mark zahlen! Soviel wollte ich kaum für den ganzen Tag brauchen! In dieser Wirtschaft beschlossen wir, nicht auf die Teufelsmühle anzusteigen, da es immer noch regnete und man doch keine Aussicht gehabt hätte. Es wäre unnötige Kraftvergeudung gewesen, den Zeltkarren auf den hohen Berg hinaufzuschleppen. Also gingen wir auf der Fahrstraße weiter über Loffenau nach Gernsbach. Dort übernachteten wir in der Jugendherberge, einem ehemaligen Amtsgefängnis. Wieder hatte ich eine Schererei mit dem Bleibeausweis des Robert Weiß, welcher er als alter Schlamper trotz meiner Aufforderung nicht erneuern ließ und jetzt Schwierigkeiten mit den Herbergswirten hatte. Denn so wenig man ohne Loch einen fahren lassen kann– nämlich Loch in der Fahrkarte der Bahn! – so wenig kann man in der Jugendherberge ohne gültigen Ausweis übernachten. Nun, in Gernsbach ging es noch. Durch die Gutmütigkeit der Herbergsmutter. Am nächsten Morgen, Montag 5. Sept. fuhren wir mit der Bahn nach Forbach, um von dort zur Badener Höhe umzusteigen. Unterwegs hatten wir ein Malheur mit den Gummireifen des Zeltwägelchens. Diese lockerten sich, so daß man sie alle halbe Stunden verlor und wieder suchen und festbin-


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den mußte. Ich hatte von da ab von dem Wagen so genug, daß ich ihn am liebsten in den nächsten Abgrund geworfen hätte. Das Ziehen auf die Badener Höhe wurde so anstrengend, daß ich eine ungeplante Rast einschieben mußte. Von da ab waren wir genötigt, unsere Rucksäcke zu tragen und nur das Zelt allein auf dem Wagen zu ziehen. Jetzt ging derselbe natürlich leichter vom Fleck und wir kamen von da ab wenigstens etwas schneller vorwärts, obgleich die Anstrengung durch das schwere Rucksacktragen und Ziehen eher noch größer geworden war. Mit Mühe erreichten wir die Badener Höhe. Vom Turm genossen wir eine herrliche Aussicht auf die ganzen Bergzüge, die wir in den folgenden Tagen besteigen wollten. Als nächstes Ziel sahen wir die Hornisgrinde vor uns liegen. Auf dem Naturfreundehaus »Badener Höhe« tranken wir Kaffee, der uns nach des Tages Mühe gut tat. Die erste Postkarte nach Hause wurde abgesandt. Das Wetter war seit Forbach (Montag morgen) wieder sehr gut geworden, so daß wir etwas zuversichtlicher wurden als anfangs. Nach der Badener Höhe kamen wir an den Kurhäusern Sand Hundseck vorbei. Um an diesem Abend noch an den Fuß der Hornisgrinde zu gelangen schlugen wir den Fußweg nach Unterstmatt ein. Die Dämmerung brach an; es galt, einen Zeltplatz möglichst rasch zu finden. Der Weg war aber mitten in bewaldetem Steilhang angelegt so daß sich gar keine Möglichkeit zum Zelten ergab. Also Eilmarsch nach Unterstmatt in dreiviertel Stunden. Endlich kurz vor dem Kurhaus wurde das Gelände ebener und auf einer freien Nadelbodenplatte schlugen wir das Zelt auf. Noch hatten wir natürlich keines. Diese Nacht vom 5. auf den 6. Sept. war dann auch die kälteste und unangenehmste. Die oben erwähnten, fürchterlichen Schnarchgeräusche waren natürlich unverändert. Dazu kam jetzt auch Bodenkälte, die trotz des Nadelbodens gegen Morgen noch erheblich zunahm. Zudem lag ich auf einem Baumstumpf, den ich beim Aufschlagen des Zeltes, in der sinkenden Nacht übersehen hatte. Cannstatt, Montag, den 19. 9. Sep. 1932 932 Nach dieser Nacht brach der Dienstag, 6. September an. Das Wetter war gut. In 2 einhalb Stunden vom Zeltplatz aus hatten wir die Hornisgrinde bestiegen. Ein schöner Berg mit prächtiger Aussicht. Leider war über der Rheinebene im Nord-Westen eine Dunstschicht, die uns den Anblick des Straßburger Münsters verwehrte. Aber die Berge des südlichen Schwarzwaldes lagen mächtig und klar vor uns. In nächster Nähe den Kniebis, einen langgezogenen Bergrücken, den wir an dem Tage noch beisteigen wollten. Nach kurzer Rast stiegen wir ab zum Mummelsee, einem teifschwarzen Moorsee, rund umgeben von steilem Tannenwald.Weiter ging der Höhenweg übers Eckle zum Ruhestein, den wir um die Mittagszeit erreichten. Jetzt wieder Anstieg auf den Schliffkopf, einem mit Moorpflanzen bedeckten Bergrücken, auf dem wir stundenlang auf schattenlosem Weg bei großer Hitze marschierten. Ziemlich erschöpft kamen wir auf der Zuflucht um halb 5 Uhr an. Von diesem Kurhaus hatten wir noch 1 Stunde zum Kniebis und zwar wieder auf heißer Landstraße. An diesem Tage hatten wir noch nichts ordentliches gegessen, da sich der »Küchenchef« nicht bequemte, irgendwo abzukochen und ich meinerseits nicht mehr aufs Einkehren in eines der teuren Kurhotels hereinfiel. An diesem Tag wollte ich nach den schlechten Erfahrungen der letzten Nacht nicht zelten und so wanderten wir vom Kniebis aus zum Naturfreundehaus Kiebis, welches sehr gut und komfortabel eingerichtet ist. Wir bestellten ein warmes Nachtessen und tranken Mineralwasser dazu, da es in solchen Häusern kein Bier giebt. Eine kalte Brause erfischte die erschlafften Glieder. In guten Betten brachten wir eine ganzdurchschlafene Nacht zu. Meine erste auf der Wanderung. Am nächsten Tag beschloß ich abweichend vom Plan einen Abstecher nach Freudenstadt zu machen um dort einen Rasttag zu verbringen. Ein solchen hatten wir nötig nach den Strapazen der 3 letzten Tage. Also standen wir am Mittwoch, 7. Sept. gemütlich auf, bestellten ein reichliches Frühstück, machten vom Haus und Umgebung einige photographische Aufnahmen und brachen auf nach Freudenstadt, welches wir um die Mittagszeit erreichten (Teichelweg). Wir brachten zuerst unser Gepäck zu Jugendherberge und dort erfuhr Weiß,


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daß er unmöglich mit dem alten Bleibeausweis hier übernachten könne. Zun hatten wir die Bescherung, denn ich hatte in meinem Plan vorgesehen noch verschiedene Übernachtungen in Jugendherber-

September, 1932 Mahatma Gandhi beginnt einen Hungerstreik im Gefängnis.

gen vorzunehmen, welcher Vorsatz noch bestärkt wurde durch meine schlaflosen Nächte im Zelt. Nach vergeblichen Versuchen, auf dem Rathaus in Freudenstadt einen neuen Ausweis zu bekommen gab ich Weiß den Rat, sofort den alten Ausweis aus Stuttgart zum Jugenherbergsleiter zu schicken mit der Bitte, nach Freiburg einen neuen postlagernd zu schicken. Nach längeren Zögern ließ er sich von mir den Brief diktieren. Wir suchten nachmittags in Freudenstadt Herrn Gustav Baumgärtner auf, einen alten Bekannten von Cannstatt, der in Freudenstadt seit einigen Jahren lebt und bei der Nat. frz. Partei Dienst tut. Mit ihm machten wir einen Gang durch die Stadt. Im Posterholungsheim erkundigte ich mich nach Walter Ernst ... von Berlin, der seinen Urlaub dort zuzubringen pflegt, ich erfuhr, daß er vor 5 Tagen abgereist sei. Robert Weiß wurde nun im Ringhof, einem evangelischen Gemeindehaus einquartiert und erhielt sogar um das gleiche Geld wie ich in der Jugenherb. ein Einzelzimmer mit frischbezogenem Bett. Auf diese Weise hat er nochmals Glück gehabt. Am nächsten Morgen (Donnerstag, 8. September) nahmen wir in dem wunderschönen städtischen Schwimmbad ein erfrischendes Bad und gingen anschließend zum Bahnhof. Ich hatte den Zug, mit dem Herrmann Friedrich nach Hausach kommen sollte herausgeschrieben, sodaß wir im gleichen Zug nach Hausach fahren konnten. Die Berechnung stimmte; auf dem Bahnhof Freudenstadt trafen wir wirklich Friedrich, welcher genesen war. Er war freilich sehr überrascht, uns in Freudenstadt anzutreffen, statt in Hausach. Von Hausach fuhren wir weiter nach Triberg. Die Strecke Hornberg – Triberg mit ihren Kehrtunnels ist sehr interessant. Von Triberg kamen wir über die Triberger Wasserfälle nach Schönwald und auf den Brend. Auf dem Brendturm hatten wir eine prachtvolle Aussicht. Wir sahen zum ersten Mal den Kandel und den Feldberg mit seinen 2 Türmen. Die Vogesen waren blau im Hintergrund; die Abendsonne vergoldete alles. Es war ein einzigartiger Anblick. Ganz in der Nähe des Turms war eine Bauernhütte. Dort bekamen wir Stroh zu zelten. Und diese Zeltnacht war die weitaus angenehmste. Das Stroh unter dem Gummiboden des Zeltes war warm und weich. Das ganze Panorama hatten wir vor dem Zelteingang: Die hinter den Vogesenbergen untergehende Sonne, die Rheinebene und das Ziel des nächsten Tages: den Kandel. Es war wirklich ein idealer Zeltlagerplatz. Auch habe ich nachts einigermaßen gut geschlafen. Am Freitag, den 9. September bestiegen wir den Kandel von Gütenbach aus durchs Wildgutachtal, an den ...fällen vorbei über den Plattenhof. Es war ein Aufstieg von etwa 1000 Metern, da wir von Brend zuerst ganz ins Wildgutachtal mußten. Das Ziehen des Zeltwagens diesen steilen Berg hinauf war ja gewiß sehr anstrengend und ermüdend. Aber das Gebahren meiner beiden Wandergenossen mißfiel mir sehr. Nach 10 Minuten Anstieg pflegte ich kurz stehenzubleiben um aufzuatmen von der Last des Rucksacks und des Wagenziehens. Dieses kurze Stehenbleiben war

für die andern das Zeichen, ihre Rucksäcke abzulegen und sich selbst auf den Boden zu setzen, um jeweils vor 5 Minuten (oder 10) nicht wieder aufzustehen. Dies wiederholte sich wie gesagt alle 10 Minuten und es ist kein Wunder, warum wir so furchtbar lange zu so einer Bergbesteigung brauchten. Meine Vorhaltungen über dieses unvernünftige Verhalten wurden übel aufgenommen und mir als »fortgesetztes Maulen und Brutteln« vorgeworfen. Äußerst erbittert über solche und noch andere Äußerungen meiner Mitwanderer schwieg ich stundenlang und nahm mir vor, keine größere Wanderung mit ihnen mehr zu machen. Wahrscheinlich ist dieser Vorsatz gegenseitig! Als wir auf dem Kandel angekommen waren, ließen sich diese Musterwanderer auf eine Bank nieder und verschmähten die sich darbietende Aussicht zu betrachten. So weit ging ihre Interessenlosigkeit. Ihre einzigen Fragen an mich bestanden darin, daß sie sich eingehend nach den vor uns liegenden Wegstrecken erkundigten, ob es jetzt wieder bergauf gehe und wann das nächste Vesper verzehrt werde! Solche finden Gefallen! Ich hatte die Nase voll von ihnen! Vom Kandel kam ein anstrengender Abstieg nach Waldkirch, bei dem die Kerle wieder viel maulten. Vor Waldkirch zelteten wir in der Nähe einer Wirtschaft, wo wir Stroh bekamen. Nachts kam ein starker Gewitterregen, der heftig auf unser


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Zelt trommelte. Dieses hielt jedoch ausgezeichnet dicht und hat sich also in dieser Hinsicht bewährt. Am Samstag, 10. September marschierten wir über Waldkirch nach Denzlingen und fuhren auf Wunsch des Robert Weiß, der offenbar genug hatte, vollends mit der Bahn nach Freiburg. Dort gingen wir zuerst zur Post, wo richtig Weißens Bleibeausweis angekommen war. In einer sehr gemütlichen Wirtschaft in Freiburg leisteten wir uns ein reguläres Mittagessen mit Bier. Das hatten wir alle verdient. Nachmittags nahmen wir wieder ein Bad im Paulinenbad. Darauf besichtigten wir die Stadt. Mir gefällt Freiburg ausgezeichnet. Das herrliche Münster vor allem machte mich Staunen. Es ist mir unbegreiflich, wie auch hier die beiden Kerle gleichgültig an dem hohen Bauwerk vorbeistoffelten; kaum daß sie es verschlafen ansahen. Irgend eine Äußerung darüber konnte ich nicht wahrnehmen. Ebenso ging es an andern schönen Bauwerken, wie dem Stadttheater oder der stilvollen Universität, welche einheitlich aus dem heimatlichen Rotsandstein erbaut ist. Immer mehr packte mich die Wut, als ich sah, wie die beiden abends in der Herberge anfingen zu tuscheln, was ich nicht hören sollte! Jetzt fing mein Zorn an, in Verachtung überzugehen. Denn wen ich verachte, der steht weit tiefer als der, dem ich zürne. In dieser Nacht überlegte ich nun, daß ich als Führer der Gruppe auch dazu verpflichtet sei, den äußeren Frieden zu bewahren und nahm mir vor, Kompromisse zu schließen, so schwer mir dies auch fallen mochte. Aber von diesem Augenblick ab, war die Unbefangenheit einander gegenüber erledigt. Am Sonntag, 11.. September fuhren wir mit der Bahn von Freiburg nach Hirschsprung (mit der Höllentalbahn). Wir machten Abstecher zu dem romantischen Hirschsprungfelsen und später in die Ravennaschlucht, von welcher ich ziemlich enttäuscht war, da der Wasserfall nur spärlich herabfloß. Der Aufstieg zum Feldberg war äußerst beschwerlich mit dem Wägelchen und wir schwuren: »Nie wieder!« Auf dem Feldberg wehte ein derartiger Wind, daß es uns fast umwarf. Wir wurden manchmal buchstäblich vom Sturmwind einige Meter fortgerissen. 2 mal riß mir der Wind den Hut fort, den ich fest in der Hand hielt! Und doch war es einzig schön auf dem Feldberg. Leider war die Aussicht nicht so gut, daß man Hochgebirge oder den Rhein sehen konnte. Aber das war andererseits ein Zeichen, daß das Wetter halten würde. Im Naturfreundehaus Feldberg übernachteten wir. Im Aufenthaltsraum schrieben wir Postkarten. Die beste, die ich auftreiben konnte, schrieb ich an Herta Günzler. Ich dankte ihr unverzüglich für ihre Karte von Wangerooge. Hoffentlich fiel es nicht auf, daß ich die Karte an sie allein richtete, während auf ihre Karte auch Traute schrieb. Doch Karten mit summerischen Adressen liebe ich nicht. Am Montag, 12. 2. September stiegen wir bei dichtem Nebel vom Feldberg ab und kamen nach 4 eineinhalb Stunden an den schönen Titisee. Ich beschloß, an diesem Tage noch nach Tuttlingen zu fahren und trieb die beiden andern, rasch zu marschieren, damit wir bis 3 Uhr nach Neustadt kämen; dies Ziel erreichten wir auch rechtzeitig und bald verließen wir mit dem Zug den schönen Schwarzwald, um über Donaueschingen, Immendingen und Tuttlingen zu reisen. Dort tranken wir abends ein sehr gutes Bier im ...bräu und übernachteten in der Jugendherberge. Dort konnte ich natürlich viel besser schlafen als im Zelt, da ich mich möglichst weit von R. weglegte. – Am Dienstag, 13. 3. September begann die Donautal-Wanderung. Wir hatten am Montag abend den verfl... Zeltwagen per Expreß nach Sigmaringen geschickt, so daß wir jetzt ungehindert wandern konnten. Um 7 Uhr sollte der Zug nach Mülheim abgehen; wir verabredeten abends um dreiviertel 7 Uhr auf zubrechen un um viertel 7 Uhr aufzustehen. Um viertel 7 Uhr weckte ich also die beiden; keiner erhebt sich. Wütend ziehe ich mich an, gehe in den Waschraum und verlasse punkt dreiviertel 7 Uhr die Herberge, um nicht auf die Bahn springen zu müssen, was ich nicht ausstehen kann. Ich komme rechtzeitig an und denke schon, die beiden Schlafmützen kommen zu spät, als sie dahergeschnauft kommen. Frostiger Empfang! Ich spreche kein Wort und stelle mich auf einen gewissen Standpunkt! In Mülheim begann der Audstieg nach Mariahilf. Ein steiler, steiniger Weg führt zu dieser alten Klosterruine. Die beiden Kerle schienen verabredet zu haben, mich zu versetzen und rannten den Berg hinauf wie besessen. Besonders Friedrich, den ich als den Vater dieses Gedankens vermute. Ich ließ die Simpel ruhig ziehen und kam in meinem gleichmäßig ruhigen Tourtempo nach. Ich wußte, daß

Nobelpreis Medizin 1932 für Charles Scott Sherrington für ihre Entdeckungen auf dem Gebiet der Funktionen der Neuronen.


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die beiden es nicht lange so treiben würden, denn keuchend und schwitzend standen sie oben. Weiter gings über Friedingen – Ziegel... – Schloß Bronnen nach Beuron. Die riesigen Felsen des Donaudurchbruchs machten einen mächtigen Eindruck auf mich. Die Donau selbst ist ja in dieser Gegend noch sehr unbedeutend. Ausgerechnet in Beuron wollten die beiden Kerle, die immer mehr zusammenhielten – gegen mich – im teuersten Wirtshaus zum Mittagessen; wohl oder übel mußte ich mit. Mein Geld

Nobelpreis Chemie 1932 für Irving Langmuir für seine Entdeckungen und Forschungen im Bereich der Oberflächenchemie.

war allmählich schnell gezählt. Bei der Besichtigung der hochinteressanten Klosterkirche, wurde ich von einem katholischen Pfarrer auf den gleich beginnenden Gottesdienst aufmerksam gemacht, der weltberühmt sei und sehr interessant zu sehen für jedermann. Ich wäre natürlich gleich darauf eingegangen, da es eine halbe Stunde gedauert hätte, aber Weiß wollte diesen »Scheiß« nicht sehen. Was der nicht will, will der andere auch nicht und so mußte ich wieder nachgeben, weil ich selbst beim Anfang der Tour bestimmt hatte, daß bei Meinungsverschiedenheiten Stimmenmehrheit entscheidet! Also weiter nach Schloß Wildenstein. Dort ist eine Jugendherberge, in der wir übernachteten. Am Abend machte ich noch einige Aufnahmen von dem guterhaltenen Schloß. Am Mittwoch, 14. 4. September brachen wir zeitig auf und bestiegen in kurzer Zeit das auf der gegenüberliegenden Donauseite aufragende Schloß Werenwag. Abermals frühstückte man dort in einem Gasthof, dem man schon von weitem ansah, daß er nicht billig war, was wir auch bald merken sollten. Dies war wieder aus Opposition gegen mich geschehen, da ich vorschlug, im nächsten Ort etwas zu verzehren. Nun wurde ich auf diese Weise mein bißchen Geld rasch vollends los. Ich war jetzt fest entschlossen an diesem Tag nicht mehr in der Jugendherberge Sigmaringen zu nächtigen, sondern am Abend nach Hause zu fahren. Merkwürdigerweise waren die beiden andern damit einverstanden, trotz ihres Widerspruchsgeistes. So wurde endlich ein richtiges Touristentempo eingehalten durch welches wir über Schaufelsen – Falkenstein – Tiergarten – Gutenstein – Dietfurt – Inzighofen nach Sigmaringen kamen. Die beiden waren derart abgekämpft, daß sie nicht mehr aus der Bahnhofswirtschaft zu bringen waren, um Sigmaringen zu besichtigen. Ihre schon erwähnte beispiellose Gleichgültigkeit mag dazu auch beigetragen zu haben. Ich ging daher allein und machte noch schnell vor Abgang des Zuges eine Aufnahme des stolzen Fürstenschlosses. Ich hatte inzwischen in der Wirtschaft, wo die andern saßen, ein drittes Glas Bier bestellt – denn großen Durst hatte ich von dem Gewaltmarsch doch bekommen und wollte nun einen kräftigen Schluck nehmen als ich zurückkam. Da spürte ich, daß ich mit dem Bier einen Gegenstand in den Mund gebracht hatte: Wie groß war mein Erstaunen, als ich eine lebende Wespe aus dem Mund zog, die in das Bier gefallen sein mußte und die mich nicht stach! Welches Glück ich da hatte. Denn die Wanderung hätte dadurch schlimm für mich ausgehen können. Ein Gefühl der Freude und Dankbarkeit überkam mich. So ist denn die Reise in allen Teilen doch noch glücklich verlaufen. Nach einer schönen Fahrt am Hohenzollern vorbei, kamen wir nach Tübingen, wo ich Base Emma Klemm besuchte, da wir eine Stunde Aufenthalt hatten. Das Dienstmädchen kannte mich zuerst nicht: so verwildert, unrasiert und ungepflegt muß ich ausgesehen haben. Mit dem Eilzug erreichten wir rasch vollends Cannstatt, wo wir nach 10 Uhr ankamen. Die Überraschung zu Hause war bei allen groß, daß wir schon so bald zurückgekommen waren. Die Mitteilung vom gänzlichen Versiegen unserer Geldquellen klärte jedoch diesen Umstand rasch auf! Cannstatt, Mittwoch, den 21.. Sep. 1932 932 Am Montag war ein großes Symphoniekonzert zu Gunsten der Schloßbrandhilfe in der Stadthalle! Wenn ich den Namen »Stadthalle« höre, so habe ich schon genug. So ein Affenstall! – Die Ausführenden waren ja ganz erste Kanonen; das durch 30 Mann der Dresdener Philharmonie verstärkte Landestheaterorchester (zus. 110 Mann) geleitet von Fritz Busch, und als Solistin Sigrid Onegin! Trotz alledem war es eine ganz blasse Aufführung, die mich völlig kalt ließ. Schuld daran war einzig und allein – die Stadthalle! Leider ist sie der größte Saal Stuttgarts und die Konzertleitung rechnete scheinbar auf einen ausverkauften Saal. Also die Akustik war auf den meisten Plätzen derart schlecht daß


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der grandiose Schlußchoral der V. Symphonie B-Dur / Anton Bruckners einfach nicht mächtig wie in der Liederhalle heraus kam, dabei war die Besetzung viel stärker. Der Riesen-Streichkörper klang wie einige Geigen, ärmlich und mager; Piani gingen überhaupt unter. Deshalb machten sich auch bei mir zum ersten Mal die vielgeschmähten Brucknerschen »Längen« insbesondere beim langsamen Satz nachteilig bemerkbar. Also nie wieder Stadthalle! Komme, wer und was da wolle! Gestern Abend spielte ich bei der Christengemeinschaft im Saal der Musikhochschule. Vor Konfirmanden (Waldorfschülern) wurde ein »Adamspiel« aufgeführt. Dieses sollte ich mit Frau Mayer musikalisch umrahmen. Ich benützte dazu das Haydn-Violinkonzert G-Dur, dessen ersten Satz ich am Anfang und den Mittelsatz zum Schluß vortrug. Leider erfuhr ich erst am Tag selber, daß ich spielen sollte, und konnte daher nicht mehr mit Frau Mayer probieren, die das Konzert zum ersten Mal begleitete. Sie machte es ja ganz gut; aber manchmal mußte ich ihr doch etwas nachgeben und konnte mich deshalb nicht so in den Vortrag vertiefen, wie ich es wollte, da ich immer fürchten mußte, sie schmeiße mir um. Doch wir endigten zu allgemeiner Zufriedenheit; der Beifall war herzlich, ja gut für die wenigen Leute, die im Saal waren. Von einer Tatsache war ich besonders erfreut: ich hatte nicht im geringsten Lampenfieber, sondern spielte ruhig und sicher wie zu Hause. Dies ist mir besonders viel wert, denn Ruhe bei derlei Konzerten ist immer ausschlaggebend. Nur eine bessere Geige sollte ich haben! Cannstatt, Donnerstag, den 22. Sep. 1932 932 Gestern Abend war bei mir die letzte Probe für das Konzert meines Quartetts am nächsten Montag im Bayreuther Bund. Dort spielen wir das Klavier-Quartett von Beethoven. Den Klavierpart übernahm Herr Reinhold Beck mit dem ich einen ganz ausgezeichneten Pianisten für meine Kammermusik-Abende gewann. Er überragt meine bisherigen Klavierbegleiterinnen turmhoch. Seine Sicherheit und Musikalität ist in Dilettantenkreisen beispiellos. Schade, daß er nicht Berufspianist wird; er würde bestimmt seinen Weg machen. Die Bratsche spielt bei diesem Abend unser neuer Bratschist Herr Mehl u. das Cello der Robert Weiß, der mit zum Stamm des Quartetts gehört. Dieser ist unser berühmter oder berüchtigter Dauer-Forte-Spieler. Gestern hat er diese seine zweifelhafte Fähigkeit so übertrieben, daß wir mitten in einem Mendelssohn-Klavierquartett aufhören mußten, weil wir vor Lachen nicht mehr weiterspielen konnte. Mit dem einfältigsten Gesicht der Welt pflegt Weiß zu sagen, wenn ich ihm das unkammermusikalische solchen Lautspielens vorhalte:»Ha, s‘steht doch do: forte!« Canstatt, Freitag, den 23. Sep. 1932 932 Heute Volksfestbeginn. Alter Tradition ging ich mit Wilhelm u. Eugenie nachmittags auf den Festplatz. Wir gingen wie üblich durch die Gassen der Zeltstadt, blieben an einzelnen Buden stehen um die Aufschneidereien zu hören und lenkten dann dem Hofbräu-Bierzelt München zu. Dort bestellte jedes sein Maß und heiße Wurst dazu. Alles traditionell! Als ich mich eben in den Maßkrug vertieft hatte, sehe ich eine Gruße Mädchen an meinem Tisch vorbeikommen. Einem eigentümlichen Zwang folgend, sehe ich zu der Gruppe hin; wer ist darunter? Sie! Herta Günzler grüßte mich mit fröhlichen Lachen! Ist so ein »Zufall« noch Zufall zu nennen? Bei einem Gedränge von Tausenden kommt gerade sie an mir vorbei. Und ich muß wie gebannt zu ihr hinsehen. In meinem Nachsinnen nach diesem seltsamen Begegnen fiel mir ein Volksfest vor Jahren ein, auf dem ich sie auch mitten im Gewühl mit einer Freundin traf. Es war noch zu der Zeit, da wir uns noch nicht persönlich und näher kannten. Aber trotzdem bleibt mir die Begegnung frisch im Gedächtnis wie die heutige auch... Sie hatten beide ziemlich Lampenfieber. Doch über einige Klippen kamen wir gut weg. Solche Kleinigkeiten fallen sicher nur dem auf, der das Werk – auch von der technischen Seite – genau kennt. Der langsame Satz und der Schlußsatz gingen auch verhältnismäßig gut und am Schluß ernteten wir reichen Beifall. Studienrat Schollkopf dankte jedem einzelnen. Materiell waren ja für uns mit diesem Konzert keine Vorteile verbunden – im Gegenteil, selbst unser Bier mussten


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wir selbst bezahlen, aber wir »dürfen« nächstes Mal wieder spielen, ein Zeichen das das Vorgetragene gefallen haben muß. – Am Donnerstag kommt Kreisler. – Am Samstag – Strandkönigin! Canstatt, Mittwoch, den 28. Sep. 1932 932 Heute hat die Musikhochschule wieder angefangen. Zuerst hatte ich Musikdiktat bei Frl. Weglein. Es waren im ganzen nur 3 Kursteilnehmer da, so daß ich u. jeder einzelne oft an die Reihe kam, das diktierte vorzulesen. Ich hatte Glück, keinen einzigen Fehler dabei zu machen. Weniger fehlerlos verlief nachher meine Klavierstunde bei Herrn Hofmann. Die Czerny-Geläufigkeitsschule muß ich immer wieder durchrasseln, da meine Geläufigkeit noch viel zu wünschen übrig läßt, und auch infolgedessen die Schnelligkeit der Tonleitern und Arpeggien. Dann stellte ich mich heute vormittag dem Komponisten Hermann Reutter vor, der die Stelle des pensionierten Professor Strasser einnimmt. Ich wurde in Reutters Tonsatzklasse aufgnommen und bin nun gespannt, wie der Unterricht im strengen Satz und Kontrapunkt bei einem ganz anderen, atonalen Komponisten ausfällt. Am nächsten Sonntag vormittag soll ich mit Frau Meyer, Weiß und Mehl bei der »Menschenweihehandlung« der Christengemeinschaft spielen. Ich habe mich entschlossen, 2 Kirchensonaten von Corelli, die wir noch nie spielten, zur Aufführung zu bringen und muß daher nun morgen mit den Leuten probieren. Denn die alte Musik ist gar nicht so leicht wie sie aussieht und sich anhört; manche Stellen sind rhytmisch und technisch sogar recht verzwickt. Doch mit dem alten Mut werden wir uns die beiden Sonaten möglichst gut herausbringen. Heute beim Quartettspielen – Haydn – wurde wieder viel gelacht über Feund Weiß! Canstatt, Samstag, 2. Okt. 1932 932 Heute ein großes Ereignis! Herta Günzler war bei uns! Mit ihrer Mutter und Traute kam sie heute nachmittag zum Kaffee. Wir unterhielten uns über die Ferien. Sie erzählte mir von Wangerooge und zeigte viele reizende Aufnahmen. Ich berichtete von meiner Wanderung und von den mancherlei Enttäuschungen die ich dabei erlebte. Meine Photos fanden ihren Beifall, was mich sehr freute. Nach dem Kaffee wollten wir – Traute u. ich – anfangen zu musizieren. Da kam zufällig die Sprache aufs Grammophon und ob ich neue Tanzplatten hätte. Als ich bejahte, bestürmten mich beide, sie spielen zu lassen. Da rückten wir den Tisch beiseite und tanzten! Ich forderte zuerst Herta zum Tanzen auf und zwar 2 mal hintereinander! Fiel dies wohl auf? Ich merkte gleich, daß ich gar nimmer in Übung war, und glaube, mich recht täppisch benommen zu haben beim ersten Tango. Ich kam mir sehr ubeholfen vor, und dies ist mir sehr peinlich. Gerade vor ihr! Wo ich eigentlich im Grunde genommen das Tanzen nur lernte und übte, um es mit ihr ausüben zu können! Und nun versage ich so! Mit Traute nachher ging es schon besser, weil ich mich allmählich eintanzte, aber nun mußte Herta leider gehen und das kostbare Vergnügen für mich, mit ihr zu tanzen war für heute aus. Dafür holte ich mir bei ihr die Einwilligung, daß sie mit ihrer Schwester Abends einmal zum Tanzen zu mir komme wird. Darauf freu ich mich! Canstatt, Sonntag, 3. Okt. 1932 932 Die Freude, die mich gestern fieberisch durchglühte als Herta zu mir kam, durchpulst mich noch heute. So stark war für mich das Erlebnis! Ich unterhielt mich mit ihr angeregter denn je. Alle Hemmungen, die ich sonst empfand fielen weg; es war mir sonst immer, als alles was ich sagen wollte nicht würdig genug wäre und schwieg deshalb lieber. So heilig ist sie mir! Ja, es giebt auch Engel auf der Erde. Diese Ansicht muß einem kommen, wenn mit ihr in Berührung kommt, nein, man sie nur ansieht. Meine Zukunft, meine Träume, meine Gedanken, alles dreht sich nur um sie, dies Eine. Und dies seit Jahren. Ist das ein Wunder, wenn mein Innerstes von Grunde auf erfaßt wird in einem Wirbel von Wonne und Glück, wenn ich sie in den Armen halten darf beim Tanzen, wenn ich ihr geistig näher komme durch anregende Gespräche. Wenn ich weiter denke, steigen mir Zweifel auf an meinem Beruf. Werde ich es so weit bringen, daß ich einst ruhig vor sie hintreten darf und sie fragen darf?... Die einzige Antwort heißt:


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Arbeiten —mehr denn je! Das Ziel ist gesteckt. Wehe mir, wenn ein Anderer vor mir das Ziel erreicht das einzige Ziel! Nieder mit allem Zweifeln! So sehr ich gestern vom Glück begünstigt war, eine solch schwere Enttäuschung mußte ich heute erleben; allerdings künstlerischer Art. Wir sollten heute vormitNobelpreis Literatur 1932 für John Galsworthy für für die vornehme Schilderungskunst, die in »The Forsyte Saga« ihren höchsten Ausdruck findet.

tag in der Menschenweihehandlung der Christengemeinschaft spielen. Um halb 10 Uhr waren wir in der Musikhochschule; im Gang tritt eine Dame auf mich zu die nach mir fragt. Es war die Mutter des Herrn ..., dieser, sagte sie, sei nachts schwer erkrankt und könne also nicht mitspielen. Jetzt was tun? Wir hatten nur die Corelli-Sonaten geprobt und außerdem gar keine Noten mitgebracht. Da kam meine Mutter auf den Gedanken Frl. Eytel, meine frühere Bratschistin, telefonisch herzubitten. Dies klappte; sie wurde vor einem Taxameter hergeholt, aus dem Bett, ungewaschen und ohne gefrühstückt zu haben. Sie sah die Sonate zum ersten Mal! Im ersten Teil ging es noch leidlich, sie kam nur einmal aus dem Takt, doch kam sie bald wieder mit. Aber im Adagio am Schluß (G-moll Sonate von Corelli) kam sie so aus dem Konzept, daß Frau Mayer (!) am Klavier die Ruhe auch verlor und vollkommen verwirrt wurde und dementsprechend falsch spielte. Robert Weiß wußte, nun auch nicht mehr wo man war und hörte auf... Ich spielte aber auf dem Klavier weiter damit weitere Mißtöne vermieden werden sollten bis ich eine Buchstaben nahen sah. Da rief ich den andern zu »E«. Nun kamen sie wieder mit und ohne Klippen ging es dem Ende zu. Aber trotzdem ich daran keine Schuld hatte, mitblamiert fühlte ich mich doch!

932 Cannstatt, Montag, den 3. Okt. 1932 Heute vormittag hat ich die erste Stunde im Tonsatz bei Hermann Reutter, der an Stelle Strässers jetzt auf der Hochschule darin unterrichtet. Ich brachte einen dreistimmigen Kontrapunkt, welchen er lobte. Bei manchen Kühnheiten meinte er, dies hätte ich Herrn Strässer nicht bringen dürfen. Es ist sehr interessant, bei ihm Unterricht zu haben. Ich glaube, daß ich auch etwas lerne bei ihm. Bei Berta Mayer habe ich letzte Woche meine Gesangstunden wieder aufgenommen. Ich studiere jetzt den Schubert‘schen Cyklus: »Die schöne Müllerin«. Ich glaube, es ist mit meiner Stimme nicht so weit her; aber solche schöne Lieder kennen und singen zu lernen, bedeutet für mich einen großen Gewinn. Es ist doch merkwürdig. Heute – zwei Tage nach unserem musikalischen Mißerfolg (so fasse ich es wenigstens auf!) kommt Frau Wolf – eine Priesterin der Christengemeinschaft – und und bittet mich, in ihrer Gemeinde in Esslingen mit meinem Quartett ein Konzert zugeben.Und zwar im Saal des alten Rathauses, der wunderschön sein soll. So ist mir wenigstens diese Genugtuung geblieben, daß wir durch dieses Mißgeschick das Vertrauen nicht verloren haben. Morgen habe ich zum ersten Mal in diesem Semester wieder Hauptfach-Unterricht bei .... Ich bringe das Spohr-Konzert D-moll, Nr. 2. Cannstatt, Mittwoch, den 5. Okt. 1932 932 Gestern hatte ich meine erste Violinstunde; es ging alles soweit gut. Am Schluß bat mich Herr Natterer, nachdem ich das Spohr-Konzert (Langsamer Satz!) angefangen hatte, ich möchte doch einmal eine Händel-Sonate (D-dur) bringen. An einer solchen könne er mir noch vieles sagen, was zur Verbesserung meines Tons und auch der Bogenführung beitragen könne. Solche Kleinigkeiten könne man im Spohr nicht lernen, weil sie gar nicht vorkommen. Er meinte ferner, solch ein scheinbarer Rückschritt im Stoff würde sich später sehr bezahlt machen. Nun, diesen Standpunkt verstehe ich. Wenn mir auch Natterer im Stoff ein bißchen zu sehr bremst, so hoffe ich doch, die verlorene Zeit dadurch bald wieder einzuholen. Übrigens sehe ich gerade, daß ich diese D-dur Sonate von Händel gar nicht studiert habe, weder bei Van der Vegt, noch bei Reichardt. Es ist daher sehr angebracht, wenn ich dies jetzt nachhole. Heute war Herr Hermann mit meinen Klavierübungen zufrieden. Seine Unterrichtsweise sagt mir sehr zu. Die halbe Stunde, die ich als Nebenfachschüler bei ihm habe, ist so konzentriert eingestellt auf meine Technik, daß sie glatt einer ganzen Stunde bei einem andern Lehrer entspricht. Überhaupt fand ich bis jetzt alle meine Lehrer auf der Hochschule als ausgezeichnete Pädagogen. Heute Abend gehe ich ins Wendling-Quartett. Es wird u. a. das Streichquintett von Bruckner gespielt.


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Cannstatt, Donnerstag, 6. Okt. 1932 932 Heute habe ich zum ersten Mal im Hochschul-Orchester mitgespielt, und zwar Bratsche, Das kam so: Natterer fragte mich, ob ich auch Bratsche spielen könne, da Prof. Wendling im Orchester nötig einige brauche. Ich sagte, ich habe früher in meinem Quartett ausnahmsweise gebratscht. Nun hatte Natterer offenbar zu Wendling gesagt, ich könne auch Bratschen. Als ich mich heute bei Wendling meldete, fing er gleich vom Bratschen an. Ich erwiderte, daß ich keine eigene hätte. Warum ich mich nicht darum umgetan hätte? Ich soll nur gleich nach einer suchen. Nun sprang ich in der ganzen Hochschule herum und bekam endlich von Rickele, dem Faktotum des Hauses ein Instrument. Mit diesem wollte ich nun in den Saal; Wendling ließ das bereits spielende Orchester aufhören u. fragte, ob ich eine Bratsche habe und ließ mich stimmen. Dabei kam ich mir wie ein Solist vor, der vor dem schweigenden Orchester sein Meisterinstrument stimmt. Ich merkte, diese Viola klang ausgezeichnet. Nun fing man wieder an. Es war die Ouvertüre zu »Der Wasserträger« von Cherubini. Anfangs hatte ich mit dem Schlüssel schwer zu tun. Die plötzliche Umstellung war mir angenehm. Aber schließlich ging es leidlich. Und nun bin ich also Bratschist im Orchester. Ich fragte Wendling am Schluß, ob ich mich an der Quartettstunde beteiligen könne. Er sagte, er wolle sehen, ob ich auch dort eine Bratschenstimme übernehmen könne. Also ist mir auch diese Möglichkeit angebahnt. Heute Abend muß ich wieder in die Hochschule. Da ist Probe vom Orchesterverein. So ist der Donnerstag ausgefüllt bis zum Schluß. Im Orchesterverein will ich sehen, in die 1. Geige zu kommen. Da muß man eben – von selbst tun die so etwas nicht. An der Hochschule existiert auch ein zweites Orchester, das für die Dirigenten-Schule da ist. Der gegenwärtige Dirigent, ist mir bekannt; es ist ein Herr Löffler, der mir von Herrn Mehl vorgestellt wurde. Dieser traf mich heute nach dem Orchester und bat mich, in seinem Orchester mitzuspielen und zwar als Konzertmeister. Ich sagte zu, obgleich es für meine Zeiteinteilung eine neue Belastung ist. Aber man muß mitnehmen was kommt, damit man seinen Nutzen daraus zieht. In diesem sog. »kleinen« Orchester wird die h-moll-Sinfonie (Unvollendete) von Franz Schubert probiert, ein Werk, demzuliebe ich allein schon mitwirken würde. Cannstatt, Montag, 10. Okt. 1932 932 Gestern fiel eine nette Episode vor! Sie raubte mir den letzten Rest von Symphatie für eine ehemalige Bekannte. Diese heißt Hilde Weiß. Ich kann mich heute noch nicht verstehen, wie ich diesen Wisch ästimieren konnte. Vor einigen Tagen also forderte mich Robert Weiß auf, an einem Tanzausflug des Gesangvereins »Frohsinn« nach Mühlhausen a. N. teilzunehmen, sein Vater spiele dort zu Tanz auf. Hermann Friedrich habe schon zugesagt. Ich fragte, was denn für Damen mitgehen sollen; seine Schwester Hilde u. deren Freundin, gab er mir zur Antwort. Nun, in Erwartung, daß man in Mühlhausen einen guten neuen Wein bekommt, sagte ich dann zu. Ich wurde dann Sonntag um 2 Uhr schon abgeholt von Hermann Friedrich. Bei strömendem Regen marschierten wir dann mit den anderen nach Mühlhausen in eine Wirtschaft mit schönem Saal u. ließen uns dort gemütlich nieder. Allerdings ohne die »Damen«. Denn diese wurden unterwegs von einem ehemaligen Schulfreund von mir, Willi ..., einem Bäckerssohn mit dem Auto und verschiedenen anderen Herrn dorthingebracht. Und als wir in den Saal kamen, saßen sie schon mitten in einer Herrenrunde munter und fidel, ohne nach uns herumzusehen. Doch muß ich entschieden sagen, es ärgerte mich nicht im geringsten. Vielmehr ließ ich mir den ausgezeichneten süßen Wein nur desto mehr schmecken. Wie es mit dem Tanzen werden sollte, war uns auch nicht klar. Ich glaube Weiß und Friedrich haben sich schwer geärgert, daß wir so veräppelt wurden. Um so mehr mußte es ihnen auffallen, daß ich mit der heitersten Miene hinter meinem »Viertele« saß und einen Stumpen rauchte. Denn sie waren es bis jetzt gewohnt, daß ich meinen Unmut unzweideutig sonst zu erkennen gebe durch sackgrobe und bissige Bemerkungen. In einer Tanzpause kam Hilde zu uns herüber; ich überlegte mir, ob ich sie nicht plötzlich mit »Fräulein W.« u. »Sie« anreden solle. Aber dies wäre vielleicht zu deutlich gewesen, meine aufsteigende Abneigung


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auszudrücken. Ich tanzte nur einige Male, aber anfangs so schlecht, daß ich mich blamiert fühlte; doch dann dachte ich, in dieser Gesellschaft kann ich mich unmöglich blamieren und dann war mir auch alles gleichgültig. Ich darf mit Sicherheit annehmen, daß diese Frauenzimmer von meinen Gedanken keine Ahnung hatten, denn ich gab in keiner Weise Anlaß, das gute Einvernehmen zu stören; im Gegenteil: ich war gegen alle freundlich und zuvorkommend, tanzte mit jeder einige Male u. führte

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November, 1932 Franklin D. Roosevelt wird zum neuen amerikanischen Präsidenten gewählt.

konventionelle, aber unendlich kühle Unterhaltung d. h. so gut eben eine Unterhaltung mit derlei Leuten möglich ist. Ich beschloß bei mir, meine Beziehungen zu ihnen, so entfernt sie auch immer waren, allmählich ganz abzubrechen. Denn sie sind ein unmöglicher Umgang ohne die geringste Lebenart. Meine frühere Äußerung, besonders über Hilde Weiß betrachte ich als gewaltige Verirrung; und die heutigen als einen Beweis, daß ich im Stande bin, manche Menschen zu durchschauen. Denn die scheinbare Harmlosigkeit auf dem Gesicht des Mädchens ist Betrug, Scheinheiligkeit. Ich habe ihr wahrstes Wesen entlarvt. Hinter ihrem hübschen Gesicht verbirgt sich eine grenzenlose Öde, die sich in ihren faden Reden wiederspiegelt, wenn sie selten genug einige Worte fallen läßt. Darum – endgültig erledigt! Auch Freund Weiß hat sich ja von einer andern Seite gezeigt, die eng verwandt ist mit obiger Schilderung seiner Schwester. Bei der Schwarzwaldwanderung hat er sein wahres Gesicht auch gezeigt. Friedrich erwies sich als der Alte. Der ist gutmütig bis dorthinaus. Ein anständiger, harmloser und gefälliger Mensch, wenn er nicht von Weiß beeinflußt wird. Also gestern hat er doch auch gemerkt, daß nicht alles Gold ist was glänzt, und manches schwarz ist, was »Weiß« aussieht! (Bzw. heißt!) Warum blieb ich nun so ruhig und gelassen bei diesem Vorfall? Weil ich weiß, wohin es mich zieht.

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November, 1932 Mit der Industrielleneingabe an Hindenburg fordern 20 Vertreter aus der Wirtschaft Hitler zum Reichskanzler zu ernennen.

Cannstatt, Sonntag, den 16. Okt. 1932 932 Dieses neue Heft beginne ich mit der Erzählung eines meiner beglückendsten Erlebnisse. Gestern Abend veranstaltete ich einen Gesellschaftstanz. Als (in meinen Augen besonders) Hauptperson lud ich Herta Günzler ein, die uns dann mit ihrer Schwester Traute ihre Gegenwart für den Abend schenkte u. ihn dadurch zu einem seltenen Ereignis gestaltete. Als »Herren« lud ich die Gebrüder Klaas ein, die sich sehr nett betrugen, da sie eben doch aus einem guten Hause stammen und man unwillkürlich Vergleiche zieht mit früheren Tanzpartnern... So trug alles zu einem harmonischen Verlauf des Tanzabends bei. Der Tag stand scheinbar unter glücklichen Sternen! Das Tanzen mit H. ging schon viel besser als das letzte Mal. Manchmal kam ich mir wie in einem schönen Traum vor, wenn ich sie vor mir sah... Mit wallendem blauen Kleid, ihren wundervollen blauen Augen und ihrem prächtigen hellblonden Haar glich sie einer Göttin. Die klassische Schönheit ihrer Züge muß auf jeden einen unvergeßlichen Eindruck machen. Dabei dieses frische, ungezwungene Wesen der beiden Schwestern. Manchmal gönnte ich sogar meinen Freunden das Vergnügen nicht, mit ihnen u. besonders Ihr zu tanzen. Aber wie ist es möglich, in Hertas Gegenwart die gute Laune zu verlieren? In lauterem Glück flossen die Abendstunden rasch und vergnügt vorüber. Und die Erinnerung bleibt! Cannstatt, Donnerstag, den 17. 7. Nov. 1932 932 Was! Schon ein Monat vorüber. Seit dem Tag, da ich sie sah! Letzten Samstag wollte ich den Tanzabend wiederholen. Alles schien zu klappen. Meinen Lautsprecher baute ich vollends fertig, um an dem Abend etwas Ehre damit einzulegen, beziehungsweise um H. zu zeigen, daß ich es nur wegen ihr so eilig fertiggemacht habe. Mit Hermann Klaas ging ich vorher nach Stuttgart um neue Tanzplatten einzukaufen. Wir brachten auch eine ganze Anzahl mit. Dann ging ich am Freitag vormittag wieder zu Günzlers um Gewißheit zu haben daß sie kommen, Mutter fing auf mein Drängen hin schon an, einen schönen Kuchen zu backen, da erfuhr ich von H.‘s Mutter, daß wir an dem Samstag nicht tanzen könnten, da Herta erkrankt sei. Es sei eine Erkältung und sie müsse an dem geplanten Abend zu Bett. ich bedauerte diesen Umstand sehr, und gab der Hoffnung Ausdruck, daß sie bald wieder gesund werden möge, u. daß wir dann kommenden Samstag zusammen kommen wollten. Erst nachher fiel


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mir ein, daß nächsten Samstag von der Mus. Ver. eine Veranstaltung ist bei der ich mitspielen muß. Nun muß der Tanzabend auf Samstag in 8 Tagen verschoben werden, denn Samstags ist es enstchieden am schönsten. Nun habe ich in der Zwischenzeit Gelegenheit, noch weitere Tanzplatten zu kaufen! Cannstatt, Donnerstag, den 17. 7. Nov. 1932 932 Den letzten Satz las ich eben, den ich am 17. November in optimistischer Stimmung schrieb. Ja, ich werde noch lange Zeit und Gelegenheit haben mir Tanzplatten zu kaufen bis die Schwestern Günzler wieder kommen. So wie ich vor einem halben Monat optimistisch war so pessimistisch bin ich jetzt in dieser Hinsicht. Ich glaube einfach nicht mehr, daß ich in diesem Jahr Herta Günzier beim Tanz sehen soll. Nachdem der erste Plan vereitelt war durch ihre Erkältung kam es nach 14 Tagen nicht dazu. Frau Günzler kam u. entschuldigte ihre Töchter, da Herta jetzt intensiv aufs näherkommende Abitur arbeiten müsse. Darauf hin war ich schon der Sache ziemlich hoffnungslos, besonders da mir das Motiv Hertas einleuchte. Das Abitur soll ja schon Ende Januar sein. Da traf Mutter am 24. November Frau Günzler mit Traute im Straßenbahnwagen u. brachte offenbar das Gespräch auf den vereitelten Tanzabend (26. Nov.). Frl. Traute soll dann erwidert haben nun könnten sie doch kommen! Jetzt hatte aber ich schon andere Leute auf Samstag den 26. Nov. u, konnte also meinerseits nicht, wollte es jedoch auf nächsten Samstag, 3. Dez haben. Um nun sicher zu sein, daß es an diesem Samstag endlich zum Klappen kam, ging meine Mutter gestern abend zu Günzlers traf Herta allein an, welche gerne zusagte u, es nur davon abhängig machte, ob ihre Schwester da auch könnte. Ich bekam wieder darauf hin Hoffnung. Aber auch diesmal sollte es nicht sein! Heute erfuhr ich; als ich nach Hause kam, Frau Medizinalrat sei hier gewesen u. habe für ihre Töchter abgesagt, für nächsten u. übernächsten Samstag auch! Gründe? Einmal, am nächsten Samstag seien beide Schwestern beim Weihnachtsverkauf der Christengemeinschaft tätig. Herta soll den Buchverkauf übernehmen u. bekomme dafür ein Buch; sie wähle sich dafür Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Um diesen Preis würde ich allerdings auch manches tun. Daß sie sich dieses herrliche Werk wählt beweist mir auch, daß ich mich nicht in ihr getäuscht habe. Ich hätte sie nur einmal wieder gern selber gesprochen, um zu hören, ob sie meine Einladung gern oder ungern absagt oder absagen muß (!) Weiter erfuhr ich, sei sie am Samstag in 8 Tagen nach Tübingen auf ein Verbindungshaus eingeladen und habe aber auch abgesagt. Dieses zu hören freute mich etwas, denn wenn sie dies nicht auch abgelehnt hätte so hätte ich doch eine Ablehnung mir persönlich gegenüber empfinden müssen. Mit Bedauern hörte ich auch, daß das vielgeplagte Mädchen auch noch zum Zahn- und Ohrenarzt müsse. So kann ich es doppelt verstehen, daß sie unter all diesen Umständen nicht aufegelegt zum Tanzen ist. Mein Plan wird eben auf die lange Bank geschoben. Aber aufgschoben ist nicht aufgehoben! Auf die eben beschriebene Art wurde ich in letzte Zeit empfindlich an Enttäuschungen gewöhnt. Auch anderer Art wurde ich sehr enttäuscht. Die Frage besteht ja schon lange, daß ich mir eine Meistergeige verschaffen will u. soll. Mein Lehrer sagte neulich auch selbst wieder, meine jetzige Geige genüge nicht für meinen Beruf. Das habe ich natürlich auch selbst schon längst bemerkt. Insbesondere wenn ich öffentlich irgendwo spielen mußte: Die Geige klingt eben einfach nicht. Ich wußte nun 2 Quellen im Bekanntenkreis wo ein gute Geige zu entlehnen war. Der erste Fall war »Hauser«. Frau Postinspektor Hauer versprach mir einmal daß ich die gute Geige ihres Großvaters, die unbenützt daliege leihweise haben könne. Durch Tante Elise erinnerte ich sie an ihr Versprechen; doch nun stellte sich ein Haken ein: es sei ein Familienstück u. zudem müsse er darauf Kanarienvögel vorspielen! Über diese Leute ein besonderes Urteil abzugeben erübrigt sich ja völlig nach dieser schöner Begründung! Die zweite Geigenquelle Ilse wußte ich daß sie ein gutes Instrument besitze welches sie aber gar nicht benütze. Wir besuchten die Leute; ich brachte die Sprache auf die Geige u. stellte drastisch dar, wie schlecht dieselbe sei und daß ich mich eifrig nach einer besseren bemühe. Sie schwiegen aber konstant bei meinen Anspielungen auf ihre Geige, die ganz unzweideutig waren. Wir verabschiedeten uns; die Frage wegen der Geige war noch nicht fest entschieden. Ich dachte, sie können es sich noch überlegen. Einige Wochen


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später kamen Endrißens mit Tochter zu uns. Ich hatte mich entschlossen, diesmal direkt mit der Bitte an sie heranzutreten, mir die Geige für den nächsten Abend des Bayreuther Bundes zu leihen, an dem ich

Dezember, 1932 Mit einer spektakulären Bühnenshow wird die Radio City Music Hall In New York City für das Publikum geöffnet. Die damit angestrebte Rückkehr zum hochklassigen Varietè scheitert jedoch.

spielen sollte. Kurz u. schnippisch erwiderte die Tochter – übrigens ein hochmütiges Ding – dies komme gar nicht in Frage, ich sei auch auf der Geige gar nicht eingespielt u. würde nur falsch spielen, auch sei sie ja gar nicht gerichtet usw. usw. Nun wußte ich auch da Bescheid. Dies sind die guten Verwandten und Bekannten! Ich hätte hier beiden Teilen einen Vorteil gegeben, denn es ist ja klar, daß es besser ist, eine Geige wird gespielt, als sie liegt unbenützt im Kasten. Nun meine Konsequenzen werde ich aus diesen Erfahrungen ziehen: Ich werde den Leuten gegenüber sehr reserviert sein. Und dann: Nie ein Gefälligkeit von Bekannten u. Verwandten erwarten oder wollen! Enttäuschungen sind unausbleiblich.

932 Cannstatt, Freitag, den 9. Dez. 1932 Eben hatte ich ein künstlerisches Erlebnis ganz seltener Art. Ich war im Theater. Gastspiel des Heinrich George als Götz von Berlichingen. Ich hatte nun das große Glück, das große Jugendwerk Goethes von einem einzigartigen Darsteller aufgeführt zu sehen. Ich sah kein Theater mehr, dachte an keinen Goethe u. an keinen Darsteller im einzelnen mehr, sondern erlebte den Götz von Berlichingen in seiner wirklichen Gestalt. D. h. der ideale Zustand zwischen Schauspieler + Zuhörer und Verfasser war so stark vorhanden, daß das Stück einfach lebte; u. dies letzten Endes hervorgebracht durch die großartige Leistung eines Künstlers. Unser einziger Dank der Zeit an Goethe ist allein schon die Forderung, daß seine großen Werke nur durch solch große Künstler aufgeführt werden. Aber unsere Zeit verkennt solche Schöpfungen produktiver und unproduktiver Kunst fast völlig. Nur wenige meiner Altersgenossen haben Verständnis, Liebe u. Sinn für unsere Klassiker. Wie einen prophetischen Ruf höre ich Lerses Worte bei Götzens Tod: »Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!« Cannstatt, Sonntag, den 11. Dez. 1932 932 Gestern Abend war ich nun im 2. Gastspiel des Heinrich George u. zwar im »Fuhrmann Elensehe!« von Gerhard Hauptmann. Der Eindruck auf mich war infolge dieser Darstellung des Henschel erschütternd auf mich. George war in diesen beiden Rollen unglaublich verschieden. Im Götz von Berlichingen der charaktervolle, groß- u. edelmütige deutsche Ritter, im Fuhrmann Henschel naturalistisch dargestellt, der biedere Mann aus dem Volke der unendlich gut u. gutmütig u. in seinem gerechten Zorn unberechenbar u. doch immer ungemein überzeugend ist. Diese beiden Theaterabende werden mir immer unvergeßlich sein. Ein solcher Eindruck kann sich auch im Lauf von Jahren nicht verwischen. Cannstatt, Sonntag, den 11. Dez. 1932 932 Heute habe den letzten (5.) mir zur Verfügung stehenden Groß-Bände der Werke Goethes zu Ende gelesen. Ich hatte mir vorgenommen in diesem Goethe-Jahr die Hauptwerke kennenzulernen und zu studieren. Dieser letzte Band enthält »Aus meinem Leben. Wahrheit und Dichtung« sowie »Reineke Fuchs«. Unter den vielen großen Werken aus »Wahrheit und Dichtung« greife ich mir einige besonders wichtige Stellen heraus: (3. Teil, 11.. Buch, S. 258.) »Alle Menschen guter Art empfinden bei zunehmender Bildung, daß sie auf der Welt eine doppelte Rolle zu spielen haben, ein wirkliche und ein ideelle; und in diesem Gefühl ist der Grund alles Edlen aufzusuchen.« »Was uns für eine wirkliche zugeteilt ist, erfahren wir nur allzudeutlich, was die zweite betrifft, darüber können wir selten ins Klare kommen. Der Mensch mag seine höhere Bestimmung auf Erden oder im Himmel, in der Gegenwart oder in der Zukunft sehen, so bleibt er deshalb doch innerlich einem ewigen Schwanken, von außen einer immer störenden Einwirkung ausgesetzt, bis er ein- für allemal den Entschluß faßt zu 272.) »Die höchste Aufgabe einer jeden Kunst erklären, das Rechte sei das, was ihm gemäß ist.« – (s. 272.): ist, durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben ist aber, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliches übrig bleibt.«


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Cannstatt, Montag, den 12. Dez. 1932 932 Weitere Stellen aus Goethe: »Wahrheit Wahrheit und Dichtung.« Dichtung. (Schluß des Elften Euches): »Die Jugend ist des höchsten Glückes fähig, wenn sie nicht kritisch sein will, sondern das Vortreffliche und Gute ohne Untersuchung und Sondere auf sich wirken läßt.« XIII. Buch, Seite 328: 328 »Die wahre Darstellung hat keinen didaktischen Zweck: sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge, und dadurch erleuchtet und belehrt sie.« XIII. Buch (Schluß, S. 332): »Doch das ist unser schönster und süßester Wahn, den wir nicht aufgeben dürfen, ob er uns gleich viel Pein im Leben verursacht, daß wir das, was wir schätzen und verehren, uns auch womöglich zueignen, ja aus uns selbst hervorbringen und darstellen mögen.« Es ist interessant den Worten Goethes über die Kunst (S. 20) Ausführung über dasselbe von Rudolf Steiner entgegenzustellen. Dieser sagt in »Die Die Pforte der Einweihung«: Einweihung »Ich kann wohl unterscheiden zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit... Die Kunst kann nur dann zu ihrer Größe emporsteigen, wenn sie sich an das volle Leben hält. Sobald sie sich von diesem entfernt, werden ihre Werke unwahr«... »Man muß, um sich zu finden die Kunst entfalten erst, die in das eigne Wesen dringen kann. In Wahrheit sagt das Weisheitwort, entwickle dich um dich zu schaun.« Diese Worte Rudolf Steiners treffen wohl den Kern der Sache, sind aber für meinen Geschmack zu mysteriös! Die Erkenntnis die mit den Worten schließt »Entwickle dich um dich zu schaun« hat Goethe in eine andere klarere Form gekleidet: »Wie kann man sich selbst kennenlernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. Was ist aber deine Pflicht? Die Forderung des Tages.« Weiter sagt Goethe über Kunst: »Natur und Kunst sind zu groß, um auf Zwecke auszugehen.« »Die hohen Kunstwerke sind nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden.« »Der Irrthum wiederholt sich immerfort in der Tat, deswegen muß man das Wahre unermüdlich wiederholen.« »Seelenleiden, in die wir durch Unglück oder eigene Fehler geraten, sie zu heilen vermag der Verstand nichts, die Vernunft wenig, die Zeit viel, entschlossene Tätigkeit alles.« Ich fand bei Goethe die herrlichste und zugleich prägnanteste Begriffsformulierung für das Wort »glücklich«: »Wer freudig tut und sich des Getanen freut, ist glücklich.« »Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste.« Cannstatt, Montag, den 19. 9. Dez. 1932 932 Ach wie lange ist es her, daß ich H. nicht mehr gesehen habe. Vor einiger Zeit machte ich einen letzten Versuch die beiden Schwestern zum Tanzen einzuladen. Mutter sah Herta und hörte von ihr, sie würden sehr gerne kommen, auch an einem Sonntag. Ich ließ nun durch Mutter sagen ich habe an dem und dem Tage Zeit und lasse sie bitten, zu kommen. Sie traf aber bloß Frau Med. zu Hause und diese lehnte wieder sofort ab. An einen Sonntag könne Traute nicht, am andern sei Herta eingeladen. Ich hörte diesen abermaligen abschlägigen Bescheid mit großem Bedauern. Nun weiß ich wenigstens, wer Schuld ist an dem fortwährenden Mißlingen unserer Zusammenkünfte. Denn es liegt doch klar auf der Hand, daß ihre Mutter diese harmlosen Vergnügungen zu verhindern sucht. Nun, ich finde mich auch damit ab. Ich räume ja gerne ein, daß es selbst Herta gegenwärtig nicht darum zu tun ist, sich mit Tanzen zu erfreuen, da ihr Abitur immer näher rückt. Andererseits wäre ein vergnügtes Beisammensein doch wieder eine notwendige Abspannung und Abwechslung. Könnte ich doch Klarheit bekommen, wie sie darüber denkt! Es waren unfrohe Tage, die ich seither verlebte in dumpfer Ungewissheit dahinwandelnd. Cannstatt. den 1. Feb. 1933 933 Nun sind wieder beinahe 2 Monate vergangen ohne daß ich hätte etwas aufzuzeichnen vermocht. War nichts wichtiges vorgefallen in dieser Zeit? Nein! Denn ich sah sie nie mehr! Es hieß nur, sie stehe jetzt vor dem Abitur und müsse sehr viel arbeiten. Kürzlich – etwa vor einer Woche kam ich auf den Eissee. Es war Vormittags. Eine Mädchen-Schulklasse war da. Es waren Abiturientinnen. Außen standen zwei, die nicht Schlittschuh liefen, und welche ich anfangs gar nicht beachtete.


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Aber wie erstaunte ich als ich zufällig an den beiden jungen Damen vorbeikam, daß die eine davon Herta Günzler war! Und ich hatte sie beinahe übersehen und nicht gegrüßt. Ich begrüßte sie nun nachträglich und muß in Folge meiner Unachtsamkeit etwas verwirrt u. aufgeregt gewesen sein. Wir sprachen kurz über das bevorstehende Abitur u. verabredeten einen Nachmittag, an dem sie mit Mutter und Schwester zum Kaffee und Musizieren kommen sollte. Dann mußte sie zur Schule. Der Nachmittag kam doch sie konnte nicht mitkommen und alles blieb gleich wie bisher.

20.

Februar, 1933 Ende der Prohibition in den USA wegen explosionsariger Zunahme der organisierten Kriminalität wie Kosher Nostra oder Al Capone.

Cannstatt Samstag, den 4. Feb. 1933 933 Gestern Abend war im Kursaal Cannstatt ein Wohltätigkeits-Abend zu Gunsten der Olga-Krippe. (Olgastraße wäre mir lieber gewesen!) Auf dem Programm stand unter anderem: »Klemm-Trio« (Herren Ernst Klemm — Violine, Robert Weiß — Cello, Reinhold Bek — Klavier) Nun das war also ich mit meinen Kammermusikfreunden! Erstes öffentliches Konzert mit Presse und großem gewählten Publikum. Wir spielten zuerst das G-dur Klaviertrio von Mozart. Es ging fehlerlos. Doch war ich von meiner Geige sehr unbefriedigt. Sie trägt nicht in den tiefen und mittleren Tonlagen und in der Höhe klingt sie scharf. Der Beifall war herzlich; wir hatten jedoch auch viele Verwandte u. Bekannte unten sitzen. Als zweite Nummer trugen wir den ersten Satz der D-moll-Trios von Mendelssohn vor. Dieser prachtvolle Satz ergreift mich jedesmal beim Spielen von Neuem. Da ging ich auch kräftig los und riß die anderen im Tempo mit, so daß wir mit großem Schwung zum Schluß kamen. Der Beifall war diesmal stärker und anhaltender als zuerst. Wir wurden herausgeklatscht u. als wir eben vortraten um uns zu verbeugen fiel der Vorhang zu! Ein junger Bub war mit diesem Amt betraut und nahm dieses Geschäft offenbar sehr wichtig! Nun! Die Sache ging für uns gut vorbei.

18.

Februar, 1933 Die japanisch-amerikanische Künstlerin, Filmemacherin Yoko Ono wird in Tokio geboren.

Cannstatt, Sonntag, den 19. 9. Feb. 1933 933 Auf ein schönes Ereignis dieser vergangenen Woche darf ich zurückblicken! Am Mittwoch, 15. Februar war ich zu Dr. Kerlé‘s, den Eltern meines Schülers, Abends eingeladen. Familie Günzler sollte auch kommen. Ich freute mich schon darauf. Als ich ankam, war ich der erste und sprach dann mit Dr. Kerlé über seinen Jungen. Es wurde dann erwähnt, daß ich eine sehr gute Kritik in der Cannstatter Zeitung bekommen habe. Nun kamen Frau Medizinalrat Günzler mit ihren beiden Töchtern. Herta hatte eben den schriftlichen Teil ihres Abiturs hinter sich. Sie sah bleich und angegriffen aus. Hatte sie doch das Unglück, am Tag vor dem Examen eine Angina zu bekommen, so daß sie in krankem Zustand geprüft wurde. Nun kommt am Donnerstag noch das Mündliche Examen und dann will sie mit ihren Mitschülerinnen zum Ski-Laufen in die Berge. Wenn ich da mitkönnte! Nachdem wir eine Weile im Herrenzimmer saßen, wurden wir ins Eßzimmer zum Tee geführt. Ich kam zwischen den beiden Schwestern zu sitzen, rechts von mir Herta, links Traute. Es waren noch zwei junge Leute geladen und eine rege Unterhaltung kam in Schwung. Dr. Kerlé ein Mann mit feinem Mutterwitz

21.

Februar, 1933 Die US-amerikanische Soul- und Blues-Sängerin Nina Simone wird in Tryon geboren.

führte das Gespräch nach allen möglichen Seiten hin. Ein besonderer Anlaß zur Debatte war eine Rundfunk-Übertragung der Wahlrede des Reichskanzlers Adolf Hitler aus der Stadthalle Stuttgart. Die Ansichten waren geteilt. Mir war die Stimme des Hitler gar nicht sympathisch: er schrie wie ein Metzger oder Raufbold. Ich glaube, meine ... rechte Nachbarin war der selben Meinung, was ich aus ihrem Mienenspiel ersah. Überhaupt trugen wir beide nicht aktiv am Gespräch bei. Es lag ein verständisinniges Schweigen über uns. Ich hatte ein Gefühl unendlichen Friedens und frohen Gemütes von ihrer Seite. Ich fragte mich nachher, etwas verärgert über mich, warum ich meine Nachbarin bei Tisch nicht besser unterhielt? Aber es lag ein ungezwungenes Schweigen zwischen uns. Jede alltägliche Bemerkung wäre profan gewesen. Gegen Ende des Abends setzte man sich ins Herrenzimmer zum Rauchen u. Mokka-Trinken. Wir, Herta u. ich, kommen uns gegenüber zu sitzen am Tisch und ließen einander kaum aus den Augen. Ein tiefes Glück überkam mich, wenn sie mir mit ihren wundervollen blauen Augen Dinge und Gefühle erzählte, die der Mund nie sagte.


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Sonntag, den 12. März 1933 933 Das Abitur ist längst vorbei. Ich las ihren Namen in der Zeitung. Am Fastnacht-Dienstag wollte ich einen Tanz-Abend bei mir veranstalten und hatte natürlich die geheime Absicht sie dabei zu sehen. Meine Mutter besuchte Günzlers um die beiden Schwestern einzuladen. Aber mit halbem Erfolg kam sie zurück. Frl. Herta habe ihre Mitschülerinnen an dem Abend eingeladen und könne somit nicht kommen; sie habe das Abitur mit einer 5 bestanden! Aber ihre Schwester Traute könne gerne u. wolle an Stelle ihrer Schwester eine Freundin mitbringen. Ich hatte die Brüder Klaas und eine Studentin der Musikhochschule, Frl. Längerer eingeladen. Letztere ist bei mir im Musikdiktatkurs und ein nettes, munteres Mädchen. So wurde der Abend sehr unterhaltend und lustig; besonders die Freundin von Traute Günzler, eine Fräulein ... brachte Leben herein. Aber letzten Endes fehlte mir doch etwas. Traute sprach davon, daß vielleicht später ihre Schwester mit ihrem Bruder noch käme, was mich mit großer Freude erfüllte, aber ich wurde enttäuscht: sie kamen nicht, wegen des Bruders, der offenbar wo anders hinging. Und allein wollte wohl Herta nicht kommen. So ging der Abend seinem Ende entgegen; d. h. er ging in den Morgen über. Nach 2 Uhr brachen wir auf um die Damen nach Hause zu bringen. ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, Fräulein Längerer zu Fuß nach Hause zu bringen, da der letzte Straßenbahnwagen hinaus war. Der Weg war ziemlich weit, so daß ich nach 4 Uhr heimkam. Die Straßenkehrer waren schon an der Arbeit. Und um 7 Uhr mußte ich wieder aufstehen! Aschermittwoch! Am Montag darauf traf ich im Wendling-Quartett-Konzert Frl. Traute Günzler. Nach Schluß saßen wir im Cafe Zeppelinbau zusammen (mit Herrn Bek u. Weiß). Am vorherigen Dienstag hatte ich ihr am Schluß der Tanzerei vorgeschlagen, am Samstag der nächstfolgenden Woche (also gestern) mit ihrer Schwester zu kommen, damit diese das Versäumte nachholen könne. Nun fragte ich sie nach dem Konzert wegen dieses Abends. Ich bekam wieder eine Absage! Herta sei zur Verbindung Hilaria eingeladen und müsse am darauffolgenden Sonntag nach München wegen einer Beratung über ihre Berufsausbildung in der Heilgymnastik. Also nach München soll sie kommen; ganz fort von hier; nachdem ich sie in letzter Zeit sowieso kaum sah! Sollten all diese Absagen eine Gleichgültigkeit mir gegenüber bedeuten? Cannstatt, Mittwoch, den 22. März 1933 933 Nun weiß ich noch mehr über diese Münchener Sache. Vorgestern besuchte ich Frau Medizinalrat, um ihr eine Karte für das Konzert meines Klavierlehrers anzubieten. Ich erfuhr, daß ihre Tochter H. an dem Tag morgens ins Gebirge zum Skilaufen mit einer Freundin und einigen Studenten gegangen ist. Wohin, erfuhr ich nicht, zurückkommen wird sie nächsten Sonntag. Frau Günzler erzählte mir, daß sie in München gewesen seien, um dort über Hertas Ausbildung zu sprechen mit dem Professor für Orthopädie an der Münchener Hochschule. Es wurde gleich ein Zimmer gemietet und am 1. Mai soll sie dort anfangen um ein Jahr zu studieren. Nach dieser Ausbildung komme sie ein Jahr nach St. Moritz in ein Kinderheim wo sie anscheinend praktizieren soll. Über diese Nachricht war ich sehr niedergeschlagen. Wie selten würde ich sie jetzt noch sehen. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich nicht mehr befleißigt war, unsere Freundschaft zu befestigen, daß ich eine blödsinnige Scheu nicht überwunden habe, mich ihr zu nähern und ihr meine Neigung zu äußern. Wie bald wird sie nun die wenigen Zusammenkünfte mit mir vergessen haben, die für mich Erlebnisse tiefster Art bedeuteten! Wie manches wollte ich in letzter Zeit hier aufschreiben an Gedanken und Erinnerungen; aber eine gewisse Gleichgültigkeit allem gegenüber ist mir gegenwärtig eigen, was sich nicht um den einen Angelpunkt dreht, der mich bewegt, und von dem selbst ich eine Gleichgültigkeit am allerwenigsten verschmerzen würde. Die großen politischen Ereignisse der letzten Zeit: Hitlers Kampf und Sieg, die nationale Erhebung des Volkes, der gestrige Tag von Potsdam; all dies vermag mich nicht primär zu begeistern, obgleich ich die nationale Idee Hitlers sehr begrüße; weiß ich doch nicht, wie sie darüber denkt. Über viele Fragen der Zeit, der Kunst und der Geisteswelt möchte ich

21.

März, 1933 Das Konzentrationslager Dachau wird errichtet.

2.

März, 1933 Der Spielfilm »King Kong und die weiße Frau« hat seine Premiere in New York City.


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1.

mich gerade mit ihr unterhalten, da ich weiß, wieviel Verständnis sie mir entgegenbringt. Und nun sah ich sie nicht, seit sie ihr Abitur bestanden hat; ich konnte ihr dazu noch nicht gratulieren. Nun,

April, 1933 Durch die Nationalsozialisten organisierter Boykott jüdischer Geschäfte, Anwaltskanzleien und Arztpraxen.

ich werde mich darin gewöhnen müssen, nichts zu wünschen was in diesem Bereich liegt. Ich sehe sie als einen unerreichbaren Stern an den Horizont meiner Traumwelt rücken, unnahbar, wunderschön und klar. Möge mich nie ein Trotz erfüllen, wenn ich Irdischer die Himmlische und Hehre nie erreichen kann. Dank sei ihr ewig für die heiligen Stunden, die sie mir durch ihre Gegenwart opferte.

6. April 1933 933 Cannstatt, Ostersonntag, den 16. In letzter Zeit mußte ich manche Enttäuschung mit ihr erleben. Dies heißt nicht, daß ich von ihr enttäuscht wäre. O nein! Das würde und könnte nie der Fall sein. Aber von mir bin ich enttäuscht. Weil ich H. in letzter Zeit so selten sah, machte ich mir selbst Vorwürfe. Was habe ich eigentlich getan um sie zu sehen. Gar nichts! Ich ließ alles an mich herankommen und war recht unglücklich wenn eben nichts zu mir kam. Die Gesichtspunkte, die mich davon abhielten sie aufzusuchen, sind wohl verständlich. Aber ist alles richtig, was man mit dem Verstand erfaßt? Ich wollte eben auf keinen Fall aufdringlich sein, wollte ihr nie lästig werden. Aber ich sehe jetzt ein, daß ich diese Rücksicht zu weit trieb. War es auch nur Rücksicht? Nicht vielmehr eine unbestimmte Scheu, meine Gefühle zu verraten? Nun ich vor einiger Zeit erfuhr, daß sie am 1. Mai nach München reisen würde, wollte ich aktiv dafür eintreten, mit ihr vorher Zusammensein herbeizuführen; dieses erstens um sie in frischem Andenken zu bewahren und zweitens, um innerlich von ihr Abschied zu nehmen. Denn wann werde ich sie wiedersehen? Durch ihre Schwester Tr. ließ ich ihr sagen, ob sie Lust habe an den Ostertagen eine Wanderung mit mir zu machen. Ich ging dann selbst in die Wohnung von G.s um Antwort zu erfahren. Von ihrer Mutter erfuhr ich nun, daß beide Schwestern wohl Lust hätten, an der Wanderung am Ostersamstag teilzunehmen. Aber es sei leider nicht möglich, da H. jetzt nur noch 14 Tage zu Hause wäre und daß es in Folge dessen noch viel zu tun gäbe mit ... und so weiter. Es könnte sein, daß ihre Schwester Frl. Tr., am Ostermontag mitkönne an dem ich auch eine Wanderung vorhabe; ich möchte deshalb heute Abend bei ihnen anfragen. Ihre Tochter H. werde aber nicht mitkönnen, sie habe da schon etwas anderes ausgemacht. Dann lud Frau G. meine Mutter und mich auf nächsten Mittwoch zum Kaffee und Musizieren ein. Vielleicht sehe ich da H. zum letzten Mal für längere Zeit. Könnte ich nur erfahren, ob es in letzter Zeit immer unglückliche Umstände waren, die ein Zusammensein mit ihr unmöglich machten!; oder war es ihrerseits eine bewußte Abkehr von mir? Wollte sie mit dem häufigen Absagen zum Ausdruck geben, daß meine Annäherung nicht besonders erwünscht ist? Ein günstiger Umstand in dieser für mich so unfrohen Zeit ist, daß ich mir jetzt eine gute Meistergeige erworben habe. Sie stammt von einem böhmischen Meister: Mathias Heinicke aus Wildstein bei Eger und wurde in diesem Jahr gebaut. Ein mir gut bekannter Geigenbauer namens Mages in Stuttgart vermittelte mir zu äußerst günstigen Bedingungen den Kauf, den man als seltenen Gelegenheitskauf ansehen kann. Natürlich habe ich mich vorher bei allen möglichen Seiten erkundigt nach den Preisen und der Qualität der Heinicke-Geigen. Das Ergebnis dieser Erkundigungen bestärkte mich in der Absicht, die Geige zu kaufen. Auch Herr Reinhardt hat sich sehr lobend über die Geige geäußert und mir empfohlen, sie anzuschaffen. Mein Lehrer Natterer ist nicht vorurteilsfrei, da er durchblicken ließ, daß er auch einige Geigen zu verkaufen habe, und da ich merkte, daß er ein gutes Geschäft witterte, das er mit mir zu machen gedachte. Ich habe ihn aber nicht gefragt, da ich auf Herr Reinhardts Urteil mehr gebe und vermutlich weiß, daß dieser kein Interesse daran hat, mir die in Aussicht stehende Geige zu verekeln oder herabzusetzen. Nun arbeite ich doppelt so gerne, und ich merke, daß die neue geige schön klingt und noch dazu entwicklungsfähig ist. Wenn ich nächsten Mittwoch bei G.s vor ihren Ohren auf meiner neuen Geige spielen darf, dann wird sie geweiht sein auf Lebensdauer und ihr Urteil darüber soll ihr Taufspruch sein! Ein edles Musikinstrument hat einen Geist und eine Seele in sich. Es ist mehr als ein Objekt. Jedes hat sein individuelles Gepräge und seinen mehr oder weniger stolzen Lebenslauf. Wie

9.

April, 1933 Der französische Schauspieler Jean-Paul Belmondo wird in Neuilly-sur-Seine geboren.


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10.

Mai, 1933 Die Nationalsozialisten verbrennen auf dem Opernplatz in Berlin 20.000 Bücher missliebiger Autoren.

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stolz muß also eine Geige sein, die von einem herrlichen Menschen gelobt und gepriesen wird. Welch gutes Omen für meine neue Geige wird es also sein, von H. gehört und gelobt zu werden? Gleich will ich mich vorbereiten, auch technisch vor ihr zu bestehen. Ich will die einzige Frühlings-Sonate von Beethoven einüben, um sie und die ihren damit zu erfreuen. Könnte sie fühlen, was ich musikalisch mit der Musik ausdrücken will und was ich mit dem Mund noch nicht sagen darf und kann, so wüßte sie, daß ich nur für sie allein spiele! Auf keinem Instrument – außer der menschlichen Stimme – vermag der Mensch seinem Gefühl und seiner Seele so Ausdruck zu verleihen als auf einer edlen Geige. Möge es mir gelingen, mit den Werken der großen Meister durch meine Seele vermittelt mit meinem Spiel die Herzen der Menschen – und einmal bloß eines – zu gewinnen, so habe ich meinen Beruf verstanden.

0. Juni 1933 933 Cannstatt, Samstag, den 10. Was hat sich alles in den letzten Monaten ereignet! Seit dem letzten Mal als ich hier Erinnerungen aufschreiben konnte, die mit H. in Zusammenhang standen, habe ich sie nicht gesehen. Damals wollte ich ihr Urteil über meine Geige erfahren. Bescheiden lehnte sie es ab sich darüber ein Urteil zu erlauben, da sie wie sie sagte nicht musikalisch begabt sei, was ich übrigens bezweifle. Aber sie setzte noch hinzu, daß selbst sie es höre, daß die Geige wunderschön klinge. Wollte ich mehr? Die neue Geige hatte ihren Taufspruch bekommen. An diesem Nachmittag als wir bei G. waren, war ich zum letzten Mal vor ihrer Abreise mit H. zusammen. Am Ostermontag ging nämlich nur Traute mit mir. H. hatte schon etwas anderes verabredet. Es war ja eine sehr schöne Wanderung an diesem Tag. Wir gingen durchs Siebenmühlental auf den Uhlberg und nach Neuhausen, aber sie vermißte ich doch dabei. In der darauffolgenden Woche wollte ich sie mit den Ihren zu uns einladen; doch als ich eines Mittags anläutete öffnete sie mir und sagte, daß es vor ihrer Abreise nicht mehr reiche zu kommen; sie sei vielfach bei Verwandten eingeladen, wie auch jetzt wieder Verwandte hier seien. So verabschiedete ich mich kurz von ihr unter der Tür und sah sie bis gestern nicht mehr. Über Pfingsten war sie eine Woche hiergewesen und letzte Woche, als wir bei G.s eingeladen waren, brachte ich zeitig die Sprache darauf, daß sie in der Pfingstwoche während ihres Hierseins miteinander zu uns kommen sollen. Nun klappte es endlich einmal wieder. Gestern Nachmittag war sie mit Mutter und Schwester bei uns. Sie erzählte von München und ihrer Tätigkeit dort. Leider konnte wir unsere Unterhaltung nicht immer nach Gusto drehen wie wir wollten: Die Damen Mütter rissen autoritativ die Unterhaltung an sich, so daß wir als »guterzogene Kinder« vielfach zum Schweigen verdammt waren. Donnerwetter, das müßte im 3. Reich eigentlich auch anders werden! Doch trotzdem, wir waren beisammen und darüber sehr erfreut, wenngleich wir nicht reden konnten, was wir wollten. Durch Zufall erfuhr ich ihre Wohnung in München – Karlstr. 21 – so daß ich die Möglichkeit habe, ihr einmal zu schreiben. Und dies wird sein am 30. Juli. Morgen abend fährt sie wieder nach München, um auf längere Zeit wieder ferne unserem Kreis zu sein. Warum habe ich sie nicht gebeten, mir einmal zu schreiben, wie es mein Vorsatz war? War es mir, daß Mutter und Schwester dabei waren oder war es die alte Scheu, mich und meine Gefühle zu verraten? Verdammte Scheu! Ich treibe es einmal so weit, daß es zu spät ist für immer. Doch war mein Verhalten bis jetzt in dieser Sache vielleicht unbewußt das richtige. Rudolf Steiner sagt in seiner Schrift: »Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit«: »Du hast eigentlich in früheren Jahren Dinge getan, die du jetzt erst anfängst zu verstehen.«

Cannstatt, Sonntag, den 2. Juli 1933 933 Ich kam wieder lange nicht dazu meine Erinnerungen aufzuschreiben. Jetzt habe ich eher wieder Gelegenheit da ich Tante Ottilies Sekretär erbte. Ich ließ ihn als Schreibtisch herrichten und nun kann ich eher ungestört schreiben als früher. Was hat sich alles ereignet in der letzten Zeit?! Letzten Mittwoch spielte ich zum ersten Mal im Vortragsabend der Hochschule. Nicht Solo, sondern als Bratschist in


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3.

einem Streichquartett der Quartettklasse Wendling, in die ich auf diese Weise hineingekommen bin. Wir spielten eine Haydn-Quartett (G-dur, op. 17) welches ausgezeichnet ging, dank der gewissenhaf-

Mai, 1933 Der US-amerikanische Sänger James Brown wird in Barnwell geboren.

ten Arbeit bei Professor Wendling. Dieser hat sich dann auch nach dem Konzert sehr anerkennend ausgesprochen. Dieses Urteil hat für mich nur den einen Haken: Ich werde dadurch unwillkürlich bei den Kommilitonen zum Bratscher gestempelt. Umso mehr, da man weiß, daß ich Schüler von Natterer bin, der ja eigentlich Bratschenlehrer ist. Dabei wäre mir weniger die scheinbar untergeordnete Stellung der Bratsche im Quartett an sich peinlich als die Tatsache, daß ich als Bratscher und nicht als Geiger gewertet werde, was naturgemäß nicht zu meinen Gunsten ausschlagen kann, da ich ja noch nie Bratsche richtig geübt habe. Da es nun sehr an Bratschisten fehlt auf der Hochschule, so werde ich als Bratscher zu allen möglichen Konzerten, Quartetten usw. geholt, was mir nicht angenehm ist aus obigem Grund. In diesem Stil geht es nun weiter so lange, bis ich endlich einmal genug habe! 2. Juli 1933 933 Cannstatt, Mittwoch, den 12. Das Sommersemester geht zu Ende. Was habe ich erreicht? So gut wie nichts. Als ich vor zwei Jahren bei Reinhardt Violine studierte, eröffnete er mir eines Tages, ich sei musikalisch und technisch so weit, daß ich eines der großen Mozartkonzerte studieren könne, entweder das A-dur oder das D-dur (große). Die Wahl stehe mir frei. Ich entschied mich damals für das A-dur, welches ich dann bei der Aufnahme-Prüfung der Musikhochschule vorspielte und welches ich nach Reinhardts Meinung ganz

ordentlich spielte. Als ich nun bei Natterer (2 Jahre später) kürzlich in der Stunde kein neues Konzertstück vorzuspielen hatte, entschloß ich mich, um überhaupt etwas zur Stunde mitzubringen das Ddur Konzert von Mozart anzufangen. Als ich Natt. diesen meinen eigenwilligen Entschluß vorbrachte, lehnte er es ab, das Konzert anzuhören, mit der Begründung, es sei noch zu schwer für mich. Einen Augenblick stieg die Wut in mir empor. Doch ich unterdrückte eine scharfe Entgegnung und erwiderte nur möglichst gelassen, daß das Haydn-Konzert C-dur das ich letzthin bei ihm studiert habe erheblich schwerer sei als das D-dur v. Mozart. Er konnte dies nun nicht wiederlegen, wollte es aber doch nicht wahrhaben, sondern sagte dann, in den 2 Stunden vor den Sommerferien könne ich das MozartKonzert doch nicht fertigbringen. Nun war es also doch nicht zu schwer! Sondern er wollte es wegen der Zeit nicht haben. Wie wenn mir daran gelegen wäre, das ganze Konzert vor den Ferien fertigzubringen! Hatte ich doch vielmehr die Absicht, in den Ferien daran zu arbeiten! Übrigens ich sage: »Hatte« die Absicht! Nein: ich habe die Absicht es in den Ferien zu studieren, trotz Natterers Hemmschuhen, die er mir anzulegen versucht. Denn was Reinhardt vor 2 Jahren für mich zu studieren geeignet fand, kann Natterer jetzt nicht als verfrüht bezeichnen. Ich hatte, um offen zu reden, Natterers Vorgehen für eine bewußte Hemmungsaufnahme, esrtens um mich als Schüler möglichst lang auf der Hochschule festzuhalten (aus rein wirtschaftlichen Erwägungen), zweitens damit ich in der Konzert-Literatur nicht zu rasch vorrücke, das heißt, bald an Werke gelange, die ihm als Lehrer schwer fallen, selbst einwandfrei vorzuspielen. Leider kann ich ihm als Schüler mit keiner solchen Harmlosigkeit der Urteilskraft aufwarten, wie er es vielleicht gerne von mir hofft. Denn um mir zu imponieren und mir plausibel zu machen, wie schwierig das D-dur Konzert Mozarts sei, spielte er aus dem ersten Satz ein Seitenübergangsstelle in Sechzehnteln in einem derart wahnsinnigen Tempo vor, daß die Bogenhaare nur so pfiffen und ein wirrer Brei von Tonfolgen entstand, der mit dem idealen Mozartklang verdammt wenig gemein hatte. Denn ich habe dieses Konzert schon so und so oft von großen Künstlern (so auch Kreisler) gehört und hauptsächlich die fabelhafte Interpretation Kreislers in Erinnerung, so daß mein derzeitiger Maestro wirklich besser daran getan hätte, auf diesen sein sollenden »Effekt« zu verzichten. In Wirklichkeit hat er das Gegenteil seiner Absicht erreicht: Nach diesem Gekratze kommt mir die Stelle geradezu leicht vor, wenn ich auch das Konzert keineswegs unterschätze.


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Cannstatt, Donnertag, den 13. 3. Juli 1933 933 Gestern war auf der Hochschule ein politischer Vortrags-Abend, der von allen Studierenden pflichtmäßig zu besuchen war. Somit ging ich auch hin. Referend war der neue nationalsozialistische Dramaturg des Rundfunks Herr Lorenz, der im Braunhemd und mit Hitlergruß anrückte. Thema: »Volk und Rasse«. Dieses Problem von der Rasse, das in letzter Zeit wieder hochaktuell wurde, interessierte mich deshalb schon, weil gerade die Rassefrage und ihre Behandlung auf Seiten der Nationalsozialisten ein Gebiet ist, mit dem ich nicht einverstanden bin, so begrüßenswert mir an sich nationale Revolution erscheint. Ich war also schon einigermaßen gespannt darauf, einmal etwas Positives über die Rassenfrage zu hören. Leider konnte ich von dem Vortrag nicht begeistert sein. Dieser Lorenz stellte am Anfang als grundliegend für das ganze Problem die Behauptung auf: »Was ist Staat?« – »Staat sind die Kinder von Müttern!« Es erübrigt sich weitere Einzelheiten dieses Vortrags herauszuheben, wenn das ganze Gerede auf einem derartigen Unsinn fußt. Denn in diesem Stil ging es weiter. Ein wirklich logische Gegenüberstellung der Begriffe »Volk« und »Rasse«, wie es das Thema forderte, konnte ich nicht herausfinden. Wohl kamen die üblichen Gehässigkeiten an jüdische Künstler zum Ausdruck, aber sonst hörte ich nichts Neues und Bemerkenswertes. Cannstatt, Sonntag, den 16. 6. Juli 1933 933 Am Freitag brachte ich zu Natterer in die Violinstunde meine kleinen Stücke von Kreisler zur Auswahl um für mich ein zum Studium geeignetes herauszugreifen. Er gab mir von Corelli-Kreisler: »Sarabande und Allegretto« auf und sah auch die anderen bekannten Stücke von Kreisler durch, die ich mir angeschafft habe mit der Zeit. Wie war ich erstaunt, als N. etwa die Hälfte dieser Stücke gar nicht kannte! Und mich bat, ihm einige davon zur Ansicht dazulassen. Diese Stücke, die man in jedem Konzert eines bedeutenden Geigers hört, die im Rundfunk und auf Schallplatten oft zu hören sind, kennt mein Lehrer nicht! Daß er sich eine solche Blöße gab, hat mich einigermaßen frappiert, denn jeder Geiger muß diese Stücke mindestens kennen! Heute abend soll bei gutem Wetter die erste Freilichtaufführung des »Rienzi« vor dem großen Haus der Staatstheater gegeben werden. Es ist dieses eine Idee des neuen General-Intendanten Otto Kraus. Da ich nun schon seit 4 Jahren als Statist am Landestheater, jetzt Staatstheater — mitmache, so habe ich natürlich bei diesen Rienzi-Aufführungen auch mitzutun. Die Proben dazu dauerten öfters bis nachts um 1/2 2 Uhr! Es gehört ein gehöriger Idealismus dazu, um eine Mark einen Abend herumzustehen. Es ist eine große Menge Volks und Soldaten erforderlich um die große Freilichtbühne einigermaßen zu füllen. So hat man für die Statisten aus allen möglichen Kreisen Verstärkung geholt. So sind Reichswehr, SA u. SS und Freunde und Bekannte der Statisten herbeigezogen und es ist erstaunlich, mit welch verschiedenen Volksschichten ich auf diese Weise zusammenkomme. Um von oben anzufangen: Da ist der »Chorführer« Alfons Fischer, von den (alten) Statisten »Pfondse« genannt. Dieser Name paßt nicht übel zu ihm, wenngleich in anderem Sinn, als er vielleicht ursprünglich gedacht (nämlich als schwäbischer Gebrauch seines Vornamens Alfons). Er sieht nämlich wirklich pfundig ausl Ein aufgeblähter feister Gesell, ungefähr Nobelpreis Medizin 1933 für Thomas Hunt Morgan für für seine Entdeckungen über die Bedeutung der Chromosomen als Träger der Vererbung.

30 Jahre alt, maßlos eingebildet, launisch, mit denkbar schlechten Manieren d. h. mitunter sackgrob, frech und unverschämt, das ist unser Chorführer. Dieser gänzlich ungebildete Mensch soll eine ausgezeichnete Stimme haben und giebt demzufolge Gesangstunden! Seine Schülerschar bildet eine Anzahl auserlesener Statisten; deshalb auserlesen, weil sie seine Schüler sind. Es liegt nun auf der Hand, daß dieser Fischer nach oben versuchter Charakterisierung diese seine Schüler in der sträflichsten Weise bevorzugt und dieses so unverhüllt und plump, daß man es unter gebildeten Menschen haarsträubend fände. Aber man muß sich an unglaublich viel gewöhnen. Als ich am Anfang meiner Tätigkeit als Statist glaubte, durch Höflichkeit im Umgang mit diesem Menschen etwas Achtung zu verdienen oder beziehungsweise einigermaßen entsprechend behandelt zu werden, stand er nicht an, mich mit ironischem Ton nachzumachen und vor den anderen Brüdern lächerlich zu machen. Handel-


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te es sich darum in neue Opern eingeteilt zu werden, in denen nur eine beschränkte Anzahl Leute beschäftigt war, so wurde ich mit der Begründung abgespeist, ich sei für dieses Stück zu »klein« oder man müsse die »Alten« berücksichtigen. Freilich bemerke ich, nachdem ich nun nach 3 oder 4 Jahren allmählich auch anfange zu den »Alten« zu gehören, daß diese »Alten« nur berücksichtigt werden, wenn sie entweder Schüler oder Saufbrüder des Statistenhäuptlings sind. Nachdem ich aber gesehen habe, daß »Neue« die aber so »klein« sind wie ich, in Stücke eingeteilt sind, bei denen ich nicht mitmachen darf, nur weil sie Schüler des Fischers sind, da wußte ich, daß ich auf Gerechtigkeit bei diesen Leuten nicht hoffen darf. Meine Gründe, daß ich als Musikstudierender darauf angewiesen sei, die neuen Opern kennenzulernen und was auch wichtig ist, dabei Geld zu verdienen, werden natürlich achselzuckend abgewiesen. Eigentlich sollte ich diesem Kerl in seiner Sprache den Marsch blasen, aber es widerstrebt mir, mich mit solchen Menschen herumzuschlagen. Ich habe immer vorgezogen, den Mund zu halten und zu staunen, was für gemeine Menschen es gibt. Allmählich wurde ich abgehärtet und jetzt macht mir dieses rohe Gehabe fast nichts mehr aus. Wie nun der »Obere« sind meistens auch die »Unteren«. Viele grobe und gänzlich ungebildete Schluffel sind der Stamm der Statisterie. Aber es sind auch noch einige Leute darunter die Wirklich nett sind und die die angeführten Schattenseiten eher vergessen machen. Aus allen Berufsständen begegnet man Vertretern: Vom Bankbeamten, der nach Dienst der »Gaude« halber statiert, (ich glaube auch der Kantine halber, die für das Bühnenpersonal da ist, wo man billig Bier trinkt und vespert!) vom Handwerker, Kaufmann, Vertreter, Arbeiter zum Erwerbslosen, der auf ein paar Mark im Monat angewiesen ist, die er beim Theater verdient. Unter diesen vielen Leuten (es ist ein Stamm von etwa 40 – 50 Leuten) sind nur 3 Musikstudierende von der Musikhochschule dabie: Außer mir 2 Cellisten Herr Zimmermann (der in dem Quartett der Klasse Wending mit mir spielt) und ein Herr Ühli. Da wir so wenig Studierende sind, könnte man umso mehr auf uns Rücksicht nehmen. Seit einiger Zeit sind Robert Weiß und Hermann Friedrich dabei, so daß mein Kreis näherer Bekannter im Theater zunimmt. Mit dem übrigen Personal hat der Statist keinerlei Beziehung. Gar nicht natürlich mit dem Solisten und dem Orchster. Leute die schon jahrelang da sind grüßen höchstenfalls die Mitglieder vom Chor und Ballett, die sie vom Sehen kennen, oder mit denen sie zusammen im Vorraum beim Pförtner zusammenstehen und ihre Zigaretten rauchen.Der Intendant kennt natürlich keinen persönlich: Die Bühnen-Inspizienten Wiese und Schwarzenberger kennen mich allmählich und grüßten freundlich. Sie haben manchmal auch die Pflicht uns Statisten an der Bühne rauszuschmeißen, wenn wir gerade nichts zu tun haben. Und dieses meist deshalb, weil einige so ungeschickt dastehen, daß sie Bühnenarbeiter beim Umbau hindern, oder daß sich andere bei einer Arie, bei der es sehr ruhig sein soll, die neuesten Ereignisse vom Fußballplatz erzählen! Die Tätigkeit des Opernstatisten ist meist denkbar einfach: nur vielfach sehr ermüdend. Bei »Meistersinger« beispielsweise bin ich etwa 6 Stunden im Theater. Eine halbe Stunde vor Beginn muß ich zum Einkleiden und Schminken da sein. Ich habe im ersten Akt einen Momentauftritt: als Kirchgänger mit einigen andern aud der Kirche kommen und hinter den Kulissen verschwinden. Umzug! 2 Stunden Zeit, während denen ich den ersten Akt zu Ende hören kann, was mir durch die herrlich Musik nie lange wird. Im zweiten Akt höre ich wieder hinter die Bühne den wunderbaren Fliedermonolog des Hans Sachs, den Auftritt des Backmesser u. Evchen und später Stolzing, bis ich dann bei der Prügelszene selbst auftreten muß, allerdings in passivem Sinn. Die Statisten müssen nämlich mit dem Ballett über die Bühne rennen um von den Herren Choristen verprügelt zu werden; und dieser 4 bis 5 Mal, bis Herr Wiese Einhalt gebietet. Nun ziehen wir schweißtriefend in unsere Garderobe ab. Jeder hat irgendwo einen Schlag hingekriegt! Nunmehr kommt der letzte Umzug für den 3. Akt. Zuerst höre ich wieder hinter der Szene Hans Sachsens Wehemonolog, der zur Zeit von Max Roth glänzend gesungen wird (früher von Hermann Veil) dann das Preislied des Stolzing und schließlich das einzigartige, wunderbare Quartett. Während diesem bereitet sich schon die Verwandlung zum letzten Bild, zur Festwiese vor. Diese ist auf der ganzen


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Hinterbühne schon fertig aufgebaut. Hans Sachsens Zimmer, das auf einem sogenannten Wagen steht, wird wie es ist von einigen Bühnenkulis weggezogen auf eine Seitenbühne und schon geht der Vorhang wieder auf, Trommelwirbel und Fanfaren erschallen kräftig und frisch und der herrliche Aufzug vor Friedensnobelpreis 1933 für Norman Angell als Mitglied der Exekutivkommission des Völkerbunds und des Nationalen Friedensrats

den Toren Nürnbergs beginnt. Vornen raus in rotbraunen Gewändern die Stadtpfeifer mit ihren Instrumenten. Ich bin bei einer kleinen Gruppe von Gesellen mit Kinderinstrumenten, die als Spaßmacher lustig auf der Bühne rumspringen sollen, was wir auch redlich besorgen. Nach einem Soloauftritt von uns auf das charakteristische Thema der gestopften Trompete (gebrochener Quartsextakkord) kommen im Kahn die Mädchen aus Fürth angefahren. Es sind dies die Damen des Balletts die mit dem leisen Ausruf »D‘ Fürth‘ser Mädle kommet« empfangen werden. Mit komischer Höflichkeit (in meiner »Rolle« ganz aufgegangen!) reiche ich den teilweise schönen Mädchen die Hand beim Aussteigen aus dem Kahn, welche Hilfe an sich bei solchen leichtfüßigen Menschern gar nicht nötig wäre. Sie kommen gerade recht zum Tanz der Lehrbuben, bei welchem wir Statisten als »Mob« zum Zuschauen verdammt sind! Der Tanz bricht jäh ab mit dem Ausruf: »Die Meistersinger, die Maischtersinger«. Fahnen der Zunften, dickbauchige Meister treten selbstbewußt auf. Der dicke Fritz als Pogner mit seinem Evchen und schließlich Hans Sachs. Alle werden von uns stürmisch begrüßt, insonderheit Hans Sachs, der mit wahrem »Heil«-Gekröhle empfangen wird. »Euch macht ihrs leicht, mir macht ihrs schwer«, singt er dann, was er nicht nur als Hans Sachs, sondern auch als Sänger Max Roth vollständig berechtigt singen kann, denn diese Stelle ist ungemein schwer zu singen. Nachdem prächtigen Chor: »Wacht auf! Es nahet der Tag« bei dem ich unbefugter Weise begeistert den 1. Baß mitsinge, nach dem lächerlichen Auftritt Beckmessers und seinem schwächlichen Abgang erscheint Walther von Stolzing auf der Bildfläche. Mit Spannung im Publikum wie bei uns auf der Bühne wird sein »Morgendlich leuchtend« erwartet. Bei Schluß der ersten Strophe bei dem Zwischenruf des Chores »Das ist was andres« hört man die Kritik des Sängers: »Nicht schlecht« oder »Heut ischt er guat«. usw. Nun noch die Schlußansprache des Sachs: »Verachtet mir die Meister nicht« die Roth mit voller Stimmkraft bringt – eine ungeheure Leistung am Ende einer solchen Rolle – dann allgemeine Heilrufen, Fahnenschwenken und Mützen in die Luft werfen. Unter den Worten »Heil Hans Sachs!« fällt der Vorhang, hinter welchem spontaner Beifall einsetzt. Kaum hat sich der Vorhang geschlossen, so ist die Festwiesenstimmung wie weggeblasen; alles rennt in die Garderobe. Schnell reiße ich die Perücke ab, springe an den Schrank und hole ein frisches Handtuch. Dann an den Abschminkspiegel, der im Nu von etlichen, die es auch eilig haben, belagert ist. Man fährt mit dem Tuch in den Abschminke-Topf und mit dem weißlichen Fell im Gesicht herum, bis die schwarzen Augenbrauen und der rotbraune Teint verschwunden sind. Dann mit Hilfe des Garderobiers das Kostüm aus und möglichst rasch die eigenen Kleider wieder an und hinaus zum Tempel. Beim Hinauslaufen mit dem Arbeitslosen Heim sagt dieser befriedigt, nach dem er sich auf dem aufliegenden Zettel eingeschrieben: »So, etzt wär‘ wieder a Mol a Mark verdeant.«

7. Juli 1933 933 Cannstatt, Montag, den 17. Gestern abend war vor dem Theater die erste Freiluftaufführung des »Rienzi«. Das Wetter war sehr zweifelhaft, daß man 5 Minuten vor Beginn noch nicht wußte, ob die Vorstellung im Freien oder im Haus stattfinden sollte. Intendant Kraus hielt dann eine kurze Ansprache ans Publikum, in welcher er kategorisch erklärte, die Aufführung finde im Freien statt. Man werde nicht vom Platze weichen, bevor man nicht gezwungen sei, ins Haus hineinzuschwimmen! Diese Äußerung zeugt von der Energie und dem Optimismus unseres neuen Intendanten. Das am Anfang so drohend aussehende Gewölk verzog sich und die Vorstellung ging reibungslos, und vom Publikum begeistert aufgenommen, vor sich. Für die Ballettmädchen war es allerdings weniger angenehm, gestern im Freien aufzutreten. Im 2. Akt bei der Festszene sind sie nur sehr dürftig angezogen (d. h. ärmellose Kleidchen!) so daß sie schlotternd und zähneklappernd auf ihren Auftritt warteten. Denn es kam ein frischer, ziemlich starker Wind vom Anlagensee her, welchem es jedoch zu verdanken war. daß es nicht reg-

13.

August, 1933 Der Architekt Le Corbusier verkündet die Charta von Athen.


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nete. Im letzten Akt, bei der Inbrandsteckung des Kapitols wurde eine grandiose Wirkung erzielt. Das ganze Volk mit brennenden Pechfackeln, das Theater dann in glutrot beleuchtete Rauchwolken gehüllt, bis am Schluß eine Kavalkade von 20 Soldaten das kreischende Volk vor sich hertreibend die ganze Bühne durchraste und damit dieser großen Regieleistung den krönenden Abschluß bildete.

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August, 1933 Bei der Eröffnung der 10. Funkausstellung in Berlin wird der erste Volksempfänger vorgestellt.

Cannstatt, Dienstag den 18. 8. Juli 1933 933 Heute war mein Bruder Heinrich mit seiner Frau bei uns zu Besuch. Er hat mich freundlichst eingeladen im August in den Ferien zu ihnen nach Weilheim zur Erholung zu kommen. Natürlich nahm ich es dankend an. An sich liegt es mir ja nicht, zur Erholung an einem Ort festzusitzen, an dem man zudem auf die werte Hausfrau Rücksicht nehmen muß, d. h. sich freundlich lächelnd einer fremden, ungewohnten Hausordnung unterordnen muß und dauernd eine Schar Kinder um sich hat, die ich ja sehr gerne habe und die allerhand zur Kurzweil beitragen, manchmal aber doch das Lesen usw. unmöglich machen. Eigentlich hatte ich für meine diesjährigen Sommerferien einen großen Wanderplan. Ich hatte vor, von Jugendherberge zu Jugendherberge wandernd, von Eberbach durch den Odenwald – Taunus nach Wiesbaden zu marschieren, um dort auf dem Rheinhöhenweg zum Niederwald, auf dem Rhein aufwärts bis Koblenz und wieder zu Fuß nach Mainz. Dieser Plan nimmt nahezu 20 Tage in Anspruch und auch leider eine größere Summe Geld. An diesen letzteren Umstand wird nämlich die ganze Sache scheitern, da ich in letzter Zeit sehr viel brauchte für Noten und andere notwendige Anschaffungen. Ich hoffe jedoch immer noch, wenigstens einen Teil dieses Projekts zur Ausführung zu bringen. Einen Fahrtgenossen habe ich freilich nicht, doch finde ich das Alleinwandern sehr schön. Allerdings, wenn die beiden Günzlers-Schwestern mitgehen könnten, wäre es noch weiß ich viel schöner. Aber daran kann ich noch nicht recht glauben. Es wäre vielleicht auch zu anstrengend für Mädchen. Cannstatt, Dienstag den 18. 8. Juli 1933 933 Letzten Freitag sah ich seit langer Zeit Frau Medizinalrat wieder. Ich erfuhr, daß H. heute abend heimkommt und zwar von einer oberbayrischen Ferienreise mit ihrem Bruder. Ich bin nun gespannt, ob wir zusammen eine Wanderung machen können, da sie von heute ab hier sei. Ich machte auch Frau Günzler diesen Vorschlag und sie stimmte ihm zu, so daß es jetzt nur noch auf die Ausführung und auf sie ankommt. So habe ich wenigstens einigermaßen Hoffnung, mit ihnen in diesen Ferien einige erfreuliche Tage zuzubringen und auch bei Gelegenheit des Musizierens mit ihrer Schwester Traute mit H. selbst zusammen zu sein. Gestern abend waren meine Freunde und Bekannte, bei mir versammelt. Trotz ziemlicher Ebbe in meinem Geldbeutel hatte ich einige Flaschen Wein, Konfekt und Rauchwaren besorgt, was ziemlich einschnitt. Der Erfolg dieser Bemühung war nicht gerade ermutigend, diese Affaire zu wiederholen. Ich hatte meine beiden Freunde Hermann und Karl Klaas, Robert Weiß und Hermann Friedrich eingeladen. Ich hatte zuerst vor, einen Tanzabend zu veranstalten, aber die »Damen« die Weiß beibringen wollte, waren alle verhindert oder sagten aus durchsichtigen Gründen wie »Krankheit« usw. ab. Überhaupt sind derartige »Damen« wie sie Weiß als bringt, mehr »Dramen«! Dieser Verlust ließ sich also leicht verschmerzen. Also gestern war es hauptsächlich Herr Friedrich, der sich übel ... hat! Über dessen sonderbare Allüren und Charakter habe ich, glaube ich, schon anläßlich der Schwarzwald-Zeltwanderung vorigen Jahres †usführlich gesprochen. Als ich den Wein vom Keller heraufholte, sahen alle, daß ich aus Sparsamkeitsgründen kein üppiges Trinkgelage veranstalten konnte. Ich hatte vom neueröffneten Cannstatter Kurbrunnen einige Flaschen geholt, die ich im Keller kühl lagerte. Dieses Wasser vermischt mit einem Teil Rotwein ist ein sehr gutes, erfrischendes Getränk, das eigentlich jedermann lobt bis auf den Herrn Friedrich, der sich als Gast nicht sehr taktvoll benahm, sondern sich dauernd ohne zu fragen sein Glas voll schenkte und somit die andern Herrn benachteiligte. Ich ließ darauf hin eine Bemerkung über »Wildwestgebräuche« fallen. Dieser Mensch meinte offenbar, dies sei ein köstlicher Witz. So etwas ließe ich mir etwa von jemanden


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gefallen, der originell ist und den gesellschaftlichen Fehler durch gute Witze und lustiges Benehmen wiedergutmachte. Aber solches kann man bei Friedrich nicht finden. Der sitzt wie ein stummer Fisch einen Abend lang da, bemüht sich keineswegs um die Unterhaltung und läßt häufig unangebracht ein höchst albernes, unfeines Lachen hören, an welchem man ja den Menschen am besten erkennen und beurteilen kann. An sich ist es ja von mir nicht fein, dieses unbedeutende Vorkommnis zu beachten,

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August, 1933 Der polnische Filmregisseur, Drehbuchautor und Schauspieler wird in Paris geboren.

aber es soll ja nur ein Beispiel sein, wie es mich frappiert, von einem gebildet sein wollenden Studenten derartiges zu erfahren. — Da gestern das 15. Deutsche Turnfest begonnen hat, gingen wir etwa um 11 Uhr abends auf die Festwiese um den Betrieb zu sehen. In den Bierzelten war allenthalben Musik und teilweise Tanz.Um 12 Uhr nachts etwa sahen wir zufällig die »Dame«, die sich für heute abend mit Kranksein entschuldigte, mit einem »Herrn« in einem solchen Zelt verschwinden, wo eben getanzt wurde. Ich sagte ja nichts, doch merkte ich, wie es Robert Weiß äußerst peinlich war, dieser in unserem Beisein unter diesen Umständen zu begegnen. Beim Heimweg sollte ich dann Friedrich noch mehr kennenlernen. Ich sprach im Allgemeinen über den studentischen Arbeitsdienst, der dieses Jahr eingeführt wurde. Ich wußte, daß sich Friedrich freiwillig gemeldet hat, aber nicht aus innerer Uberzeugung sondern aus Berechnung; um sich beruflich irgendwelche Vorteile zu erringen. Ich erfuhr, daß man in manchen Arbeitslagern ein Taggeld erhält, und daß man sich das Lager selbst wählen kann, in dem man arbeiten will. Nun riet ich Friedrich, wenn dem so sei, so werde er sich doch in das Lager melden, wo er etwas verdienen könne. Es ist dies bei einem mittellosen Studenten eigentlich selbstverständlich Er fuhr mich jedoch brüsk an, ihm sei es darum nicht zu tun und ließ mich ziemlich brutal verstehen, daß es mich nichts angehe (was ja nebenbei bemerkt auch den Tatsachen entspricht). Ich fragte nach seinen Gründen, die legte er mir aber nicht klar, sondern erklärte in patzigem Ton das »Gezerfe« führe zu nichts, er wisse ja das »Resultat«. Da sagte ich kurz »Gute Nacht« und kehrte ihm den Rücken! Ich sagte oben: »Freunde und Bekannte«. Mit letzterem war er gemeint, denn ihn kenne ich jetzt! Cannstatt, Mittwoch, 13. 3. Sep. 1933 933 Lange Ferien! Schwarzwald! 5 Schöne Wochen war ich in Schönwald bei Triberg mit meinen beiden Kollegen Bert Heckmann und Gerhard Saal. In Schönwald ist ein schönes, großes Hotel, welches dem Stuttgarter Jugendverein gehört: durch Herrn Heckmanns Vermittlung erhielten wir drei Studenten im Kurhaus Viktoria einen kostenlosen Ferienaufenthalt. Dafür mußten wir nachmittags ein Unterhaltungskonzert machen und einmal in der Woche ein Abendkonzert. Das war ja ein wirklich leichter Dienst. Im übrigen hatten wir freie Zeit und konnten tun was wir wollten. Wir hatten viel Verkehr mit den Kurgästen. Das Haus war gestampft voll! Anfangs, am 2. August kamen wir an. Wir lernten eine nette Irländerin kennen, Miss Kathleen Violet Stothers genannt Miss Kay. Sie war in ständiger Begleitung einer Frl. Schulz, welche im Tag oft keine 3 Sätze sagte! Dazu kamen noch zu Besuch für Heckmann und Gerhard Saal ein Bundesbruder Herr Erwin Baur mit Otto Sigloch, welche mit Motorrädern ankamen. Diese beiden blieben etwa eine Woche bei uns. Natürlich traf ich auf Verwandte dort: Die beiden Basen Else und ..? Stroh mit Präsident Aichele aus Stuttgart. Mit all diesen Leuten haben wir uns ganz gut unterhalten, bis etwa zur Hälfte unseres Aufenthalts eine bedeutsame Änderung in unserem Bekanntenkreis eintrat. Wir, d. h. Gerhard Saal und ich bemerkten einige Zeit schon im Speisesaal eine Familie bestehend aus einer Frau und 4 Töchtern. Zunächst hielten wie alle miteinander für sehr hochmütig, doch gefielen uns die beiden ältesten Töchter derart, daß wir beschlossen, sie kennenzulernen. So kam es auch. Bei passender Gelegenheit stellten wir uns vor. Es war ein Stausee in der Nähe; an dem wollten wie gemeinsam baden. Und nun sollten wir zwei reizende Menschen in ihnen kennelernen, die uns den Aufenthalt in einziger Weise verschönt haben. Maria Pohl, zu der ich mich besonders hingezogen fühlte, nicht die älteste Tochter (natürlich relativ sehr jung mit 17 Jahren), dann Gerhard Saals Freundin Veronika Pohl, welche 15 Jahre ist! Wie ich eben bemerkte, wird diese Beschreibung das reinste Familienregister. Als »Anhang« kommt die 12 jährige


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Therese und die klein 5 jährige Hanna. In Frau Professor Pohl lernten wir eine sehr feine, gebildete Frau kennen. Ihr Mann war Universitätsprofessor in Bonn und ist vor einigen Jahren gestorben. Wir waren nun täglich beisammen zu Ausflügen in die nähere und weitere Umgebung. Mit Maria spielte ich viel Schach und wurde auch von den anderen deswegen aufgezogen. Lieder mußten nun Pohls eine Woche vor uns abreisen und der Abschied wurde uns vieren besonders schwer! Ich erhielt nun gestern von Maria einen reizenden Brief und eben bin ich nun im Begriff, ihr zu antworten. Cannstatt, Mittwoch, 13. 3. Sep. 1933 933 Liebe Maria, vielen Dank für Ihren lieben Brief! Er wurde sehnlichst erwartet! Also! Ich habe mir schon beim letzten Brief die Kühnheit herausgenommen, Sie mit ihrem schönen Namen Maria anzureden; natürlich habe ich angenommen, daß Sie dasselbe tun würden, sofern Sie meinen Vornamen behalten haben! Ich hoffe, daß Sie Ihren nächsten Brief nicht wieder mit »Herr Klemm« anfangen, das klingt so feierlich und offiziell! Zunächst ganz besonderen Dank für die beiden reizenden Bilder, die Sie mir schickten. Das »reizend« gilt aber bloß dem Bild meiner lieben Schachpartnerin! Dieses Bild ist ausgezeichnet. Sie können sich gut vorstellen, welche Freude ich hatte, als ich Ihren Brief bekam. Daß Sie mir bald eine Zeitung schicken wollen, freut mich ungemein; Sie wissen, wie viel mir daran leigt. Daß ich enttäuscht sein würde dürfen Sie nicht sagen; darin geht Ihre Bescheidenheit wirklich zu weit. Nun erhalten Sie beiliegend meine Schönwalder Aufnahmen. Sie sind ja passabel einigermaßen gelungen, könnten aber besser sein. Wenn Sie für Verona (sie würde wütend, wenn ich sie dies lesen würde!) Abzüge von diesen Bildern haben wollen, so teilen Sie es mir mit, ich schicke gerne noch welche (die ersten Abzüge schicke ich gleich Ihnen). Ich bedaure Sie sehr, daß Sie sich noch bis Ostern mit »Handelsstoff« abgeben müssen; ich glaube, wie ich Sie kenne, liegt Ihnen eine derartige Wissenschaft gar nicht. Sie sind doch künstlerisch veranlagt. Sie müßten malen, schriftstellern oder musizieren! Aber Sie können ja zum Ausgleich mit diesem trocken Studium viel lesen. Übrigens darf ich Sie vielleicht daran erinnern: Wenn Sie »Die Heilige und ihr Narr« gelesen haben, so holen Sie sich doch mal das »Sinngedicht« von Gottfried Keller herbei; dies wird Ihnen bestimmt viel Freude bereiten. Schreiben Sie mir bitte Ihre Eindrücke darüber. Überhaupt würde ich sehr gerne unseren Briefwechsel aufrecht erhalten, wenn Sie damit einverstanden sind. Wir würden eine seltene Ausnahme machen zu der Regel, daß man Bekannte aus der Sommerfrische sehr bald wieder vergißt. Ich hoffe auch, daß wir uns im Frühjahr – vielleicht an Ostern – am Rhein wiedersehen. Meine geplante Rheinfahrt in diesem Jahr muß ich verschieben, da jetzt schon meine Schüler wieder zur Stunde kommen. Als Ihr lieber Brief ankam, las ich gerade das Gedicht von Eduard Mörike »Abreise«. Ich mußte unwillkürlich an den Abschied vor dem Triberger Bahnhof denken. Ob Mörikes Theorie hier wohl stimmt? Die letzten 8 Tage in Schönwald sind langsam vergangen, ich kann fast sagen »langweilig«. Jeden Tag eilten Gerhard und ich zum Briefkasten und immer mußten wir mit enttäuschten Gesichtern zurückkehren. Heute bin ich im Begriff die 3 schönen Feldstiefmütterchen, die Sie mir am Tag Ihrer Abreise schenkten in schön gepreßtem Zustand in mein Tagebuch zu den Erinnerungen an Schönwald einzukleben. So sentimental bin ich; Sie werden lachen! Aber es ist mehr, so wie ich an Schönwald denke, taucht das Bild der Familie Pohl und besonders das Ihre in meinen Gedanken auf. Nun aber Schluß! Schreiben Sie bitte auch bald wieder. Mit herzlichen Grüßen Ihr Ernst K. P. S. Viele Grüße an Ihre Frau Mutter u. an Ihre Schwestern. Cannstatt, Donnerstag, den 14. 4. September 1933 933 Heute erfuhr ich von Gerhard Saal, daß ich mit ihm und 2 anderen Studierenden der Musikhochschule zum Quartettspielen bei einem Fräulein von Putliz in Oberstdorf (Allgäu) eingeladen sei. Und zwar soll ich dort die Bratsche spielen. Es sollen Hauskonzerte gegeben werden; gespielt wird offenbar nur Klassisches, also Haydn, Mozart und Beethoven. Einesteils bin ich erfreut, bei die-


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sem Streichquartett mitzuspielen, andererseits ist es mir nicht so recht, weil ich in einem fremden Quartett – wahrscheinlich ohne Proben – Bratsche spielen soll. 2. oder 1. Geige würde mich in keiner Weise beunruhigen. Doch es wird schon gehen, wie so manches andere gegangen ist. Es war zuerst die Rede davon, daß mein Quartettbratscher, Walter ..., der auch Bundesbruder von Gerhard Saal ist, als Bratscher mitgehen soll. Aber Saal hat dann entschieden, daß es ihm lieber wäre, ich

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August, 1933 Der US-amerikanische Musikproduzent Qincy Jones wird in Chicago geboren.

gehe mit. Es könnte nun noch sein, daß der zweite Geiger des Quartetts, Herr Sterle, nicht mitgeht, dann übernehme ich die zweite Geige und Mehl die Bratsche. Die Abreise ist übermorgen, Samstag, wir bleiben eine Woche. Gestern abend war Miss Stothers, die Bekannte aus Schönwald, bei uns in Cannstatt. Sie kam zum Abendbrot zu uns; nachher gingen wir zusammen mit den Brüdern Klaas in den Kursaal, wo ein Konzert des Landessymphonie-Orchesters stattfand. Es hat Miss Kay in Cannstatt sehr gut gefallen. Wir verabredeten mit ihr einen kleinen Ausflug nach Esslingen, der nun durch meine Reise nach Oberstdorf ins Wasser fällt – wenigstens für meine Person. Cannstatt, Montag, den 25. September 1933 933 Heute morgen um 00.30 kam ich hier wieder glücklich an von Oberstorf. Wir sollten eigentlich um 9 Uhr ankommen aber durch einen Defekt am Omnibus bekamen wir gründliche Verspätung. Der Aufenthalt in Oberstorf war ganz schön, nur das Wetter machte uns einen Strich durch unsere Pläne. Die Hinfahrt im Omnibus war sehr schön; wir hatten von Memmingen ab eine günstige Sicht auf die Allgäuer Alpen. Schon in Kempten machte der erste Geiger des Quartetts, Theo Mayer mit mir Schmollis; der zweite Karlfritz Stierle kam alsbald nach. Wir hatten über die ganze Zeit dann auch ein sehr nettes, kameradschaftliches Verhältnis. Ich erfuhr, daß die Gastgeberin. Fräulein zu Pulitz gar nicht zu Hause sei, nur ihre Haushälterin Bertl. Wir kamen abends an und mußten noch eine halbe Stunde zu Fuß gehen nach Reute. Wir kamen in ein schönes Bauernhaus, von dem man auf Oberstdorf und die umliegenden Berge eine prächtige Aussicht hatte. Vom zweiten Tag an verhüllten sich aber alle Gipfel, so daß eine richtige Hochtour eigentlich zwecklos war. Wir pielten daher viel Quartett vor einigen älteren Damen, die auch im Haus als Kurgäste weilten. Wir bestiegen einmal das Nebelhorn, sahen dort aber tatsächlich nur Nebel! Die Breitachklamm war sehr schön, dann das Söllereck, auf welches wir am Tag vor der Abreise stiegen; wir sahen von dort den Bodensee. Cannstatt, Freitag, den 29. September 1933 933 Gestern morgen, bevor ich zum ersten Mal wieder zur Hochschule ging, kam ein Brief von Maria aus Bonn! Auch von Veronika war eine Briefkarte beigelegt mit der Bitte, noch einige Abzüge der Bilder von Schönwald zu schicken. Sobald diese Abzüge fertig sind, werde ich Marias Brief beantworten. Ich habe wirklich große Freude an diesem, unserem Briefwechsel und ich hoffte, daß er regelmäßig weiterläuft. Meine Antwort auf ihren Brief gebe ich hier wieder: Liebe Maria, Für Ihren Brief vom 25. Sept. danke ich vielmals. Beiliegend schicke ich die Abzüge für Verona. Bitte grüßen Sie Ihre Schwester V. von mir. Ich lasse ihr bestens danken für ihre Zeilen. Gerhard Saal zeigte mir kürzlich ein ausgezeichnetes Bild von Verona. Es ist zwar unbscheiden von mir, aber wenn Sie mir ein ähnliches Bild von Ihnen schicken könnten, wäre ich sehr dankbar. Am Sonntag sind wir nun endgültig nach Suttgart, um gleich am Montag wieder mit der Arbeit zu beginnen. In Oberstdorf war es noch sehr ganz nett, abegesehen vom Wetter, welches meist so zweifelhaft war, daß wir keine Hochtouren unternehmen konnten. So hatten wir auch vom Nebelhorn nicht die geringste Aussicht wegen des dichten Nebels. Landschaftlich bedeuten die bayerischen Allgäuer Alpen noch eine gewaltige Steigerung gegenüber dem Schwarzwald für mich, aber was die persönlich Erinnerung abelangt, so stellt Schönwald alles andere in den Schatten, denn die bleibende Erinnerung dieses Sommers wird die Begegnung mit Ihnen und Ihrer Familie sein! An den Regentagen in Oberstdorf habe ich verschiedene Bücher von Hermann Hesse gelesen, so u. a »Narziß u. Goldmund« welches mir sehr gefällt u. »Siddartha«. Kennen


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Sie Hesse? Ich habe Sie bedauert, daß Sie einen Aufsatz über das Thema »Kampf ums Recht« machen mußten. Man kann zwar – besonders in Hinsicht auf Michael Kohlhaas – ziemlich viel über dieses Allerweltsthema schreiben, aber gerade deshalb ist es schwer, das richtige zu treffen. Ich kann mir den Lehrer (od. die Lehrerin) gut vorstellen, der ein solches Thema giebt! In dieser Woche habe ich meine Tätigkeit als Statist beim Staatstheater wieder aufegenommen und zwar bei den Stücken »Carmen«, »Zigeunerbaron« und »Vogelhändler«. An den übrigen freien Abenden der Woche spiele ich bei ... zu

Nobelpreis Physik 1933 für Erwin Schrödinger und Paul Dirac für die Entdeckung neuer produktiver Formen der Atomtheorie (Weiterentwicklung der Quantenmechanik).

Hause Quartett oder Klaviertrio. Samstag abends ist manchmal Hausball bei mir; es ist schade, daß Sie nicht in der Nähe Stuttgarts wohnen. Ich hätte zwar kein 14 Tage altes Auto um Sie abzuholen, aber trotzdem wären Sie keine Minute vor mir sicher! Denken Sie, wie sentimental ich bin: Vor einiger Zeit habe ich die 3 Feldstiefmütterchen, die Sie mir am Tag Ihrer Abreise von Schönwald verehrten, in schön gepreßtem Zustand in mein Tagebuch eingeklebt zu den Erinnerungen an Schönwald! Sie sehen, ich passe eigentlich nicht in die Zeit der Sachlichkeit! Es würde mich nun außerordentlich freuen, wenn wie unseren Briefwechsel weiterführen könnten, d. h. wenn es Ihnen nicht zu langweilig wird. Aber so viel ist sicher: Ein Briefe von Ihnen kann mir nicht lang genug sein! Schreiben Sie also bitte recht bald wieder einen langen Brieef unter der Beifügung eines schönen »Maienbildes«! Seien Sie mit Ihrer verehrten Frau Mutter und Ihren Schwestern herzlichst gegrüßt von Ihrem Ernst Klemm. 933 Cannstatt, Freitag, den 29. September 1933 Am vergangenen Samstag habe ich den Entschluß gefaßt meine Tätigkeit als Statist am Staatstheater aufzugeben. Der äußerer Anlaß war folgender: Es wurde Vogelhändler gegeben; in diesem Stück war ich fest eingeteilt. Ich hatte eine halbe Stunde Zeit zum Auftritt. Mein erster Blick ins Theater zeigte mir , daß mein Kostüm schon angezogen war. Nun wußte ich ja immer, daß der Statistenführer Fischer mir nicht gewogen war. Ich habe ihn schon auf Seite 64 zu charakterisieren versucht. Im Garderobenraum angekommen, fragte ich einen Ankleider, wie es möglich sei, daß mein Kostüm schon angezogen sei, ich sei wie immer zeitig gekommen. Dieser erwiderte, Fischer habe einem anderen, jungen Statisten die Anweisung gegeben, dieses Kostüm anzuziehen, mit dem Vermerk: »Auch wenn der Klemm kommt.« Da ich dies hörte, hatte ich denn doch genug! Ich hatte mir dort oben im Theater schon vieles gefallen lassen und hatte bisher immer den Mund gehalten. Aber jetzt hatte ich genug. Ich wartete nicht einmal bis Fischer wieder in die Garderobe kam, sondern ließ ihm sagen, ich sei zeitig wie immer gekommen, habe dann verstanden, was ich verstehen sollte und sei sofort wieder gegangen. Damit verließ ich das Theater, um es als Statist nicht wieder zu betreten! Ich überlege mir nun noch, ob ich dem Fischer schriftlich meine Meinung ausdrücken soll, daß er ein ungebildeter, rücksichtsloser Schlüffel sei, oder ob ich ihn überhaupt keines Wortes mehr würdige. 933 Cannstatt, Sonntag, den 8. Oktober 1933 Von Günzlers hörte ich in letzter Zeit sehr wenig. Heute Nachmittag nun hatte ich plötzlich Lust bekommen, spazieren zu gehen und hatte dabei die bestimmte Ahnung, H. G. zu treffen. Ich ging los und als ich um die nächste Ecke bog, kamen mir die beiden Schwestern Günzler entgegen. Ihre Mutter sei verreist und sie wollten nun auf den Weißenhof gehen. Ich fragte, ob meine Gesellschaft erwünscht wäre, ich würde mich ihnen gerne anschließen. Die Frage wurde bejaht und ich ging mit. Ich war bei der Begegnung einen Augenblick ganz verwirrt weil meine Ahnung so prompt in Erfüllung ging. Wir gingen nun durch den Rosensteinpark durchs Löwentor zum Weißenhof. Unterwegs fiel mir auf, daß H. ziemlich wenig redete; sie gab mir ganz kurze Antworten auf meine Fragen oder Äußerungen. Ich war darüber nicht wenig betroffen; sollte ich sie irgend wie beleidigt haben? Dann waren die Entschuldigungen mit denen sie in letzter Zeit unsere Einladungen ablehnte, ihr vielleicht erwünscht und angenehm. Ich versuchte dann, die Schuld bei mir direkt zu suchen; vielleicht bin ich nicht recht im Stande, zwei junge Damen zu unterhalten? Sei dem wie ihm wolle! Jedenfalls bin ich fest entschlos-


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sen, von mir aus in nächster Zeit nichts mehr zu unternehmen, um mich ihr zu nähern! Vielleicht wollte sie durch ihr heutiges , unbegreifliches Verhalten diesen Entschluß bei mir herbeiführen!? Cannstatt, Mittwoch, den 18. Oktober 19 933 1933 Vor einigen Tagen erhielt ich von Maria einen Brief aus Bonn. Lange kam ich nicht dazu ihr zu schreiben.Heute nun endlich will es mit der Zeit reichen. Cannstatt, den 18. Oktober 1933 Liebe Maria! Vielen Dank für Ihren lieben Brief vom 11.10. Lange kam ich nicht dazu ihn zu beantworten, da ich in den letzten Tagen sehr viel zu tun hatte. Sie denken vielleicht auch: »Dumme Ausrede«; es ist aber wirklich so. An den freien Abenden, an denen ich am besten hätte schreiben können, mußte ich Proben mit meinem Streichquartett abhalten, da ich in nächster Zeit für einige Konzertabende verpflichtet bin, an denen ich Streichquartette von Mozart und Haydn aufführe. Am heutigen Nachmittag‘ schwänzte ich die Vorlesungen, um Ihnen nun endlich für Ihre lieben Zeilen zu danken. Sie sehen, daß ich immer viel beschäftigt bin, sie sehen aber auch, daß ich trotzdem Wert darauf lege, daß unser Briefwechsel nicht einschläft, Kürzlich hatte ich zum erstenmal seit Schönwald wieder Schach gespielt und zwar mit meinem Bruder aus Tübingen-Weilheim, der uns für einige Tage besuchte; die beiden Partien gingen 1:1 aus. Ich habe mich also wieder so leidlich durchgeschlagen! Es interessierte mich, zu hören, daß Sie in einem Konzert mit Pembaur waren; die »Coriolan«-Ouvertüre, die sie dort hörten, studieren wir zur Zeit eisern im Hochschulorchester unter Leitung von Prof. Wendling. Pembaur hat auch in Stuttgart am vergangenen Montag mit großem Erfolg konzertiert. Sie haben mich wegen Ihrer vielen Schulaufgaben vertröstet, auf die versprochene Zeichnung und Ihre Aufnahme noch etwas zu warten. Selbstverständlich warte ich gerne, besonders da ich weiß, daß ich nicht vergebens warten werde. Nun schreiben Sie bitte recht bald wieder, Sie machen mir damit eine Riesenfreude; ich weiß es ganz besonders zu schätzen, daß Sie sich von Ihrer kostbaren Zeit eine Stunde wegstehlen, mir einen Brief zu schreiben! Mit herzlichen Grüßen Ihr Ernst Klemm. P. S. Beiliegend schicke ich Ihnen 2 Abzüge von meinen Oberstdorfer Aufnahmen, damit Sie sehen, wie schön wir es dort hatten. Beides sind Blicke von dem Balkon aus, auf dem wir uns viel aufhielten. 22. Oktober 1933 933 Wie man sich oft täuscht in den Menschen! Wie falsch ist oft eine oberflächliche Beurteilung! Ich erinnere mich noch deutlich an die Zeit, als wir 3 Musik-Studenten in Schönwald ankamen und von unserem Tisch aus die Familie Pohl beobachteten. Mein stärkster Eindruck beim ersten, prüfenden Begegnen war die zarte Maria. Gerhard Saal hielt Veronika für die Schönste. Wir alle drei hielten die ganze Familie für sehr hochmütig und hochnäsig. —So gingen wir etwa 2 Wochen unseres Aufenthaltes aneinander vorbei, ohne uns näher zu kommen. Wir wanderten, badeten meist zu dritt und sprachen schon immer davon, wie schön es wäre, wenn ...! Da faßte sich Gerhard, der Gewandte, ein Herz und sprach Veronika Pohl eines Morgen an; er fragte sie, ob sie nicht mit zum Schwimmen gehe. Sie sagte zu, mit ihren Schwestern zu kommen. Nun wurde auch ich vorgestellt. Freund Heckmann war nicht dabei, dem waren sie zu »hochmütig« und er hielt sich auch fernerhin zurück. Bald, nachdem wir uns kennengelernt hatten, war im Hotel Adler eine Tanz-Reunion. Dorthin gingen wir zusammen. Ich lernte auch noch die Mutter, Frau Professor kennen. Heckmann wurde diesmal auch mitgeschleift, da wir noch eine Dame hatten. Frl. Schulz, die, Stumme (Dumme!). Er schimpfte schon den ganzen Tag, es würde eine steife Geschichte geben mit den Professors. Ich pflichtete ihm zunächst etwas bei, da ich die Pohls noch nicht näher kannte. Doch bald war ich anderer Meinung! Wie waren alle ganz anders im Wesen als wir dachten und als es den Anschein hatte! Maria, die neben mich zu sitzen kam, hatte gar keine kühle Art, mit Fernerstehenden umzugehen. Aber wie war ich angenehm enttäuscht! Bald spürte ich bei ihrem scheinbar kühlen, unnahbaren Wesen einen herzlichen Ton feiner Sympathie mitschwingen, den zu hören mir unendliche Freude bereitete und der mich


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November, 1933 Das erste deutsche Tierschutzgesetz wird verabschiedet.

selten glücklich stimmte. Und diese Stimmung hielt dauernd an, wann und wie oft ich auch nun mit Maria und den Ihren zusammensein konnte. Von diesem Abend an war ich eigentlich immer heiter und glücklich in Schönwald und mein Aufenthalt dort gewann an Zweck und Ziel. Obgleich das feine, liebe Mädchen selten aus ihrem zurückhaltenden, ja fast stolz anmutenden Wesen herausging, so glaubte ich doch bald zu bemerken, daß ich ihr nicht gleichgültig war, so wenig sie mir. Dies zeigte sie mir in wunderbarer feiner Weise bei ihrem Abschied von uns, den ich nicht vergessen werde.

1. September 1933 933 Cannstatt, Samstag, den 11. Endlich nach 3 Wochen wieder von Bonn ein Brief. In diesen 3 Wochen hat sich viel ereignet. Aber zuerst schreibe ich an sie! C. d. 11.. September 1933 Liebe Maria! (Auf Ihren lieben Brief vom 4.11. gaben Sie mir lange Gelegenheit, mich zu freuen,) Sie gaben mir lange Gelegenheit mich auf Ihren lieben Brief vom 4.11. zu freuen: meine Freude war um so größer, als er nun endlich doch noch kam, nachdem ich schon glaubte, Sie hätten mich vergessen! Also herzlichen Dank dafür. Ich kann es sehr gut verstehen, daß Sie so lange nicht zum Schreiben kamen, da Sie ja in letzter Zeit besonders viel zu arbeiten hatten nur dem Zeugnis in letzter Zeit; zu Ihrem fabelhaften (!) Zeugnis gratuliere ich. Ein solches hatte ich meistens nicht in der Schule, da ich immer gefaulenzt oder andere Interessen verfolgt habe. Über Ihre Zukunftspläne staune ich; Sie sind sehr unternehmungslustig. Daß Sie nach England gehen wollen, ist an sich sehr lehrreich und schön für Sie. Nur werden wir uns dadurch länger nicht wiedersehen, als ich es ursprünglich dachte, denn mein Plan einer Rheinreise gilt in erster Linie Ihnen! Bei mir hat sich in den letzten Wochen manches geändert: Ich bin nun bei der Korperation »Partita« activ geworden; Gerhard Saal ist mein Leibbursche. Dann bin ich der S. A. beigetreten wie Sie es von Ihrem Bruder auch berichten; es ist heute für einen Studenten unmöglich, ohne S. A.-Dienst auszukommen. Durch diese beiden neuen Bindungen ist natürlich meine Zeit aufs äußerste ausgefüllt. Die von Ihnen genannten Hebbel‘schen Werke besitze ich, habe sie aber noch nicht gelesen u. will mich nun gleich dahintersetzen. Hoffentlich waren bei Ihnen in der Deutschstunde diese Werke nicht so zerpflückt, daß man sie satt bekommt; erinnern Sie sich noch, daß wir in Schönwald darüber sprachen im Zusammenhang mit »Goethes Faust«? Den Film, den Sie empfohlen haben, werde ich mir ansehen, sobald er nach Stuttgart kommt. Heute hörte ich die Alpensymphonie von Richard Strauß unter persönlicher Leitung des Komponisten. Dies Kunstereignis sollten Sie miterleben können! Warum sagten Sie mir, ich möchte Ihnen wieder schreiben, wenn »noch ein bisschen Lust dazu vorhanden ist«? Dies meinten Sie sicher nicht ernst! Denn, liebe Maria, Sie haben keine Ahnung, wissen nicht, wie ich in den letzten Wochen nach dem Briefträger anschaute, um einen Brief von Ihnen zu bekommen. Ich weiß nicht zu was ich mehr Lust hätte. Habe zu nichts mehr Lust als Ihnen zu schreiben, wenn ich nur weiß, daß ich Ihnen dadurch ein Freude machen kann, und daß dadurch unsere Freundschaft (von Schönwald) gepflegt und gefördert wird. Erfüllen Sie mir eine Bitte: Lassen Sie das offizielle »Sie« fallen, und reden wir uns mit dem freundschaftlichen »Du« an! Ihr nächster Brief, den ich mit Spannung erwarte, wird mir hoffentlich zeigen, daß Sie mit dem Vorschlag einverstanden sind. Ich halte dieses schöne »Du« für den besten Weg, einander persönlich immer näher zu kommen. Wollen Sie mir die Freude machen? Mit den herzlichsten Grüßen immer Ihr Ernst Klemm. Cannstatt. 17. 7. November 1933 933 Letzte Woche stand an der Hochschule am Schwarzen Brett »S. A.-Dienst ist Pflicht« für alle Studierenden bis zum 4. Semester. Ich bin gerade noch dabei. Man mußte nun 3 Fragebogen ausfüllen und 3 M bezahlen. Ich wurde zum Spielmannszug eingestellt und mußte am Mittwoch abend Dienst tun, d. h. bei einer Probe des Spielmannszug mitarbeiten. In dem Lokal verführten die etlichen Trommler und Pfeifer einen derartigen Lärm, daß mir Hören und Sehen verging. Ich mußte nun eifrig versuchen aus einer Pfeife Töne zu entlocken, was mir ab und zu auch gelang. Außerdem wurde mir gleich eine Tonleiter und der Anfang eines Marsches eingetrichtert. Und nun soll ich, morgen, Samstag 7 Uhr


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in Stuttgart antreten und bis 4 Uhr nachmittags auf dem Burgholzhof Dienst machen. Als Ausrüstung soll man die Pfeife, auf der ich ja noch gar nichts kann, mitbringen; im übrigen »Räuberzivil«. Ich bin gespannt, zu was man nun eigentlich dort gezwungen wird. Ich muß mich erst wieder daran gewöhnen, mich zwingen zu lassen wie ein Schuljunge. Überhaupt ist mir dieser »S. A.-Zwang« nicht klar. Es ist keine militärische Ausbildung im eigentlichen Sinne, die Uniform muß ich selbst bezahlen, meine Unterrichtsfächer auf der Hochschule leiden darunter, und zu dem allem werde ich einfach gezwungen. Wir wollen doch keine Wehrmacht! Wir versicherten doch am 12. November der Welt, daß wir abrüsten wollen und daß wir den Frieden wollen! Was ist denn dieses? Cannstatt, Samstag, den 18. November Heute habe ich meinen ersten S. A.-Dienst im freien Gelände gemacht. Ich muß schon sagen, ich bin sehr enttäuscht.Um 7 Uhr bei Nacht und Nebel traten wir in Stuttgart an. Der »Sturm 15 / 216« marschierte dann auf den Burgholzhof. Wir »Spielmöpse« von der Musikhochschule bildeten den Schluß. Oben angekommen hieß es »Spielmannszug abrücken zum Üben«. Nun standen wir stundenlang auf dem Gelände herum. Aus meiner Pfeife brachte ich kaum einen Ton heraus, weil meine Finger steif waren vor Kälte. Die anderen S. A.-Leute hatten durch Marschübungen usw. wenigsten Bewegung und somit eher Schutz vor der Kälte. Nach einigen Stunden, während denen ich sehr mißmutig war, überkam mich ein Gefühl äußerster Wursthaftigkeit das so weit ging, daß ich die ganze Sache allmählich von der humoristischen Seite nahm, was sicher immer der beste Standpunkt ist. Ich weiß nun doch nicht ob mein Entschluß, zum Spielmannszug zu gehen, gut war unter diesen Umständen. Man sagte mir eben, daß dort weniger Dienst sei, als in den anderen »Stürmen«. Nun, mein fester Vorsatz ist, alles was in dieser Beziehung kommt, mit stoischer Ruhe über mich ergehen zu lassen. Ich bin ganz gewiß patriotisch eingestellt, aber zum Soldat-Spielen bin ich eben nicht immer aufgelegt! Ich möchte den Leuten gerne sagen: »Wissen Sie, was Sie mich können?« Cannstatt, den 3. Dezember 1933 933 Ich machte schon einige Male bei mir eine interessante Beobachtung: Wenn ich aus einem Symphoniekonzert heraus kam, das mich ergriffen hat, so pfiff oder summte ich vor mich hin nicht etwa ein markantes Thema der z. B. eben gehörten Sinfonie, sondern ein Thema aus dem letzten Symphoniekonzert, das vielleicht Wochen vorher stattfand, und welches Thema bis dahin im Unterbewußtsein weiterlebte. So ging es mir heute mit 2 verschiedenen Mädchen: Gestern Abend war von der Corporation aus ein Fuchsenbummel zu dem ich Frl. Sigrune Arndt einlud. Wir tanzten die ganze Nacht durch und waren sehr vergnügt. Ich kam erst um halb 6 Uhr heute früh nach Hause. Sigrune Arndt ist ein schönes, liebenswürdiges Mädchen; sie ist ziemlich jung, doch sehr gewandt und gescheit und ist sich ihrer Vorzüge sicher bewußt. Sie machte einen sehr guten Eindruck auf mich; ich freue mich wirklich sehr, sie kennengelernt zu haben. Nun waren heute nachmittag seit endlos langer Zeit Günzlers bei uns. Ich war gespannt, wie sich H. mir gegenüber verhält, da ich doch unlängst bei einem Gang mit ihr und ihrer Schwester den Eindruck gewann, als ob ich ihr vollständig gleichgültig, ja geradezu lästig sei. Ich wurde heute angenehm enttäuscht; sie zeigte wieder ihr liebes, altgewohntes Wesen, so daß mir dieser Spaziergang ganz unwirklich vorkam. Ich überlegte mir nun, ob ich damals nicht selbst Schuld hatte an ihrem seltsamen Gebaren, obgleich ich mich erinnere, dabei möglichst um gute Unterhaltung bemüht war. Aber eben die Bemühung machte das Gezwungene, Unfreie im Gespräch besonders deutlich. Eine zwanglose Unterhaltung muß sich selbstverständlich, heiter und organisch wie der Gang selbst fortbewegen. Das krampfhafte Suchen nach einem neuen Thema, das endlose Herumreiten auf einem solchen Thema und die Angst vor dem Ausbleiben neuer, das Gespräch fortführender Gedanken gleicht der zwangvollen mühsamen Fortgewegung mit Krücken oder Krankenstöcken. In dieser oder doch ähnlicher Weise steht mir unser Spaziergang vor einigen

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Monaten in Erinnerung, der meine Gefühle so lange und nachhaltig in Erregung brachte und verkühlte. Nach unserer heutigen Zusammenkunft war ich mit der stillen Freude erfüllt, daß vielleicht doch nicht alles verloren ist. Doch merkwürdigerweise kam ich in dieser Freude darauf, daß ich schon einige Zeit vorher dauernd an Sigrune dachte, bis es mir dann plötzlich deutlich zum Bewußtsein kam. Da fiel mir der Vergleich mit den Sinfoniekonzerten ein. Es ist wie bei einem Rundfunkgerät mit mir, welches nicht trennscharf ist! Wenn ich irgend einen Sender einstellen will, kommt ein anderer ganz unvermutet in den Vordergrund und verschwindet ebenso unvermutet wieder. Ich bin wie ein Planet; durch meinen Horizont eilen Mädchen gleich Kometen: Hell und strahlend tauchen sie auf und verschwinden ebenso rasch von der Bildfläche, wie sie emporgestiegen sind. An meinem Himmel stehen aber auch einige Fixsterne die fest und unverrückbar ihr freundliches, klares Licht aus scheinbar unnahbarer Ferne zu mir herschimmern lassen. Doch wie die ewigen Weltenbürger den Gesetzen der Anziehung gehorchen, so daß der größere, schwerere Körper, die kleineren anziehen und dauernd im Bann halten muß, so habe ich das Gefühl, daß der Planet »Ich« noch nicht so viele Kräfte in sich gesammelt hat, daß andere Sterne ihren Kreislauf unabwendbar um ihn ziehen müssen. Die Stufe oder Höhe des Geistes ist noch verwandt mit dem Magnetismus des Körpers. Wie einem gewöhnlichen Stück Eisen die Möglichkeit gegeben ist durch eine geeignete Behandlung magnetisch zu werden, das heißt daß in ihm ungekannte Kräfte ruhen, so kann der Mensch seine Geisteskraft ins scheinbar unermeßliche steigern, bis er geläutert und vollendet ist. Das, was man gemeinhin »Erfahrung« nennt, lehrt den einzelnen Menschen die für ihn wirksamen und fördernden Energien auf sich zu konzentrieren, das ist die Einstellung, die Frömmler und gegen sich Unaufrichtige »Egoismus« nennen! Cannstatt, Mittwoch, den 6. Dezember 1933 933 Heute kam ein Brief meiner Bonner Freundin Maria an. Ich war sehr erfreut, da ich glaubte, sie schriebe mir nicht mehr, womit ich mich schon abfinden wollte. Dieser Brief enthält zwar einen Tropfen Wermuht für mich: »Sie« bat mich, das bisher angewandte »Sie« in der Anrede beibehalten zu dürfen, nachdem ich ihr das freundschaftliche »Du« angeboten hatte. Darauf hin konnte ich mir natürlich gut erklären, warum so lange kein Brief kam. Entweder hat ihre Mutter meinen Brief gelesen und ein Machtwort gesprochen, daß dieses »Du« nicht geht, oder wollte sie es selber nicht. Sei dem wie ihm wolle, ich werde Maria nach wie vor in gutem Andenken behalten. Sie hatte mir manche schöne Stunde durch ihre Gegenwart bereitet. Ich werde ihr also bald wieder schreiben, um ihr zu zeigen, daß ich ihre Ablehnung richtig verstanden habe. Heute spielte ich mit einigen Bundesbrüdern im Marionettentheater bei der Mozart-Oper »Bastien«, »Bastienne« oder der Pergolesi-Oper »La serra partrona«. Ich übernahm als einziger die Bratschenstimme. Das Orchster hat mir jedoch nicht gefallen, es klappt gar nicht zusammen, die Leute sind es nicht gewohnt, nach einem Dirigenten zu sehen und zu spielen. Ich hoffe, daß es sich in den nächsten Aufführungen, die in dieser Woche noch folgen, bessert, sonst ist die Musikhochschule blamiert. Hauptsächlich der Cellist, Ühli, ist rhytmisch ganz unmöglich; glücklicherweise ist der kein Bundesbruder. Auf Sonntag habe ich Sigrune Arndt eingeladen; sie hat angenommen! 933 Cannstatt, Sonntag, den 10. Dezember 1933 Am 5.D.M. kam ein Brief von Bonn, den ich sofort beantwortete: Liebe Maria! Herzlichen Dank für Ihren lieben Brief vom 4.12. Ich komme sebstverständlich ihrem Wunsche, den »Sie«-Stiel beizubehalten, nach und hoffe nur, daß Sie mein Ansinnen im letzten Brief nicht mißverstanden haben; dies würde mir leid tun, da wir uns bis jetzt doch immer gut verstanden haben. Wie geht es Ihnen; ist es in Bonn auch so kalt wie hier? Wir können schon einige Zeit Schlittschuh laufen, nur bin ich bis jetzt erst einmal dazu gekommen da ich gegenwärtig wieder viele Proben habe: Am Mittwoch, 13. Dez. spiele ich nämlich im Rundfunk Quartett (nachmittags halb 4


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Uhr) vielleicht önnen Sie es hören. Durch den S. A.-Dienst bin ich jetzt sehr in Anspruch genommen. Wir hatten letzten Samstag einen Ausmarsch Felddienst von morgens 7 Uhr bis abends halb 7 Uhr ohne Unterbrechung und ohne Proviant. In völlig abgehetzten Zustand kam ich zu Hause an, wo ich nichts anderes tun konnte als mich umzuziehen, da ich abends um halb 8 Uhr in einem Konzert mitzuwirken hatte. Einige tage darauf veranstalteten wir einen Fuchsenbummel, der abends um 6 Uhr los ging und von dem ich am andern Morgen um 6 Uhr zurückkam! Um 2 Uhr nachts brachten wir meinen Leibburschen Gerhard ein Ftändchen, dem dann noch ein Tänzchen im Hause Saal folgte. So gelegentlich nebenher komme ich dann auch noch zum arbeiten! Dann habe ich in der Zeit vor Weihnachten für 6 verschiedene Konzerte Proben abzuhalten, so daß man fast aus der gewohnten Ruhe kommen könnte! Nun haben Sie schon Ferien, wogegen ich noch 1 einhalb Wochen schuften – sollte! Nun. Aber ich werde mir kein Bein dabei ausreißen! »Man tut aber sein möglichstes!« Denken Sie nicht, daß ich das von Ihnen in Aussicht gestellte Bild vergessen habe; es wäre schön, wenn ich mich noch an diesen Tagen daran erfreuen könnte. Grüßen Sie bitte Ihre l. Familie von mir, und seien Sie selbst herzlichst gegrüßt. Von Ihrem Ernst Klemm Cannstatt, Dienstag, den 19. 9. Dezember 1933 933 Am 14. Dezember hatte ich die große Freude, mit Herta zum Eislauf zu gehen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, sie abzuholen, ging sie nun doch mit. Es war wunderbar, mit ihr Bogen zu Nobelpreis Literatur 1933 für Iwan Bunin für die strenge Künstlerschaft, womit er die klassische russische Linie in der Prosadichtung vertritt.

fahren. Auch bei einer Vorstellung der beiden Opern von Pergolesi u. Mozart im Marionettentheater ging sie mit. Darauf saßen wir noch vergnügt im Hindenburgbau zusammen. Es scheint mir, das Eis ist gebrochen. Und draußen leider auch! Auf morgen vormittag verabredete ich mich mit Herta, zum Schlittschuhlaufen zu gehen und jetzt hat es nur noch 0 Grad. Ich hoffe stark, daß es über Nacht noch anzieht! Gestern war die Weihnachtsveranstaltung der Partita im Hotel Royal. Ich hatte Siegrune Arndt dazu eingeladen. Diese hat sich seit dem letzten Fuchsenbummel offenbar gut mit unserem Fuchsmajor angefreundet (Wie ich gestern bemerkte duzen sie sich bereits.) Nun, ich machte mir nicht viel daraus; ich hatte ja auch an jemand anderes zu denken! Natürlich verlief die Sache nicht ohne gegenseitige Schenkerei. Meiner Tischdame und einigen mir näher stehenden Bundesbrüdern ließ ich mein Bild machen und dichtete einige Verse darauf. An Siegrune Arndt: »Weil unser Fuchsenbummel – Bildnis ist verkracht – Hat heimlich eine frech gelacht – Die scheinbar sehr mit ihren Bildern geizt – Was wieder andre nicht zum Lachen reizt. – Den hohen Herrn Major hat selber dies gefuchst – Und sicher lange schon hat er darauf geluchst – Daß er erhält, was ich jetzt möchte erbitten: – Ein Bild vom schönsten Gaste der Partiten!« 18. Dezember 1933 An meinen Leibburschen Gerhard Saal: »Frau Budenzauber war entzückt von einem blonden jungen Manne – Auch »Gurke« war gleich ganz entrückt – viel »Sächsisch« hatt‘ er auf der Pfanne! Noch war im Volke nicht die Rede – von Luftschutzübungen und so – Als auf des Nebelhorns trister Öde – Im Nebel einer übt‘ incognitol« – An Theo Meyer: »Die Gurke« und Frau Budenzauber – Fanden das Haydn‘sche Reiterquartett – Im Ganzen gut und ziemlich sauber – Und riefen, er sei ›wirklich nett.‹ Dann saßen bald die fröhlichen Vier – Studiosi aus dem Schwabenland – In Oberstdorf am Tisch beim Bier – Unter denen sich auch ein ›Bonze‹ befand. – An Karlfritz Stierle: ›Wenn ein Gurke essen könnt‹ – Die Pflaumen all‘, die man ihr gönnt – So pflaumte man sie dauernd an – Daß man füglich ›Pflaume‹ nenne kann! So waren vier zur Sommerzeit – Zum ›Pflaumen‹ stets und gern bereit – Der wär ein Spießer und ein Schurke – Der nicht anpflaumte: so ‘ne Gurke!‹ – An Bert Heckmann: »In Burhardts großem ›Wartesaal‹ – Saßen drei beim Mittagsmahl – Als Vierter saß ein stummer Gast – Leblos bei Ihnen, wie verglast. Die Dreie, mit verständnisinnigem Blick – Dachten dabei an ein Symbol zurück – Sie sahen über sich im Saale schweben – ‘Nen Mords-Armleuchter, stumm, ganz ohne Leben!«


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Cannstatt, Mittwoch, den 20. Dezember 1933 933 Heute vormittag bin ich mit Herta Schlittschuh gelaufen! Ich holte sie um halb 11 Uhr ab; zuerst war sie nicht gerichtet, weil sie glaubte, ich komme nicht, wegen des Wettersturzes. Denn die Temperatur schwankte um 0 Grad. Aber Herta ließ sich überreden und ging mit. Und wirklich ging es noch verhältnismäßig gut; das Eis war zwar schon etwas weich, so daß man keinen allzugroßen Schwung bekam aber wir hatten viel Platz zu Verfügung. Ein Großlautsprecher ließ seine mehr oder weniger schöne Tanzmusik ertönen. Zum Schluß, bevor wir gingen, kam eine nette Tanzplatte dran: »Kleiner Mann, was nun?« Ja dachte ich, was nun? Das Wetter ist gefallen, wir können in den nächsten Tagen nicht mehr Eislaufen; wann sehen wir uns wieder! Heute Abend spielte ich bei Berta Mayer; diese hatte ein Schüler-Weihnachtskonzert veranstaltet. Bei einer schönen Kantate von Vincent Lübeck wirkte ich mit. Unter anderem auch eine Herta (Herta Schmid). Diese ist ein schönes junges Mädchen, kann aber an H.G. (dürfte ich sagen: meine H.!) nicht ran. Selbstverständlich ist sie sehr anziehend und reizvoll (wenn sie Herta heißt!) aber ihre ganze Art ist noch richtig backfischhaft. Sie ist vor allem sehr eingebildet, was scheinbar im Alter von 16 – 20 kaum fehlt bei jungen Mädchen. Ich dachte ab und zu an Siegrune Arndt, welche ähnliche Eigenschaften hat, obgleich diese viel gewandter ist. Siegrune hat viele Allüren der großen Dame, während Herta Schmid stolz und eigensinnig ist, ein nettes kleines Trotzköpfchen. Sie wollte nämlich, als wir Jungen zum Tanzen noch da blieben, absolut gleich gehen; d. h. wollte sich rar und interessant machen. Beides gelang ihr aber nicht ganz! Ich dachte dabei an frühere Jahre: Da wollte ein Fräulein Steinrück immer aufgefordert sein zu allem möglichen, damit sie dann stolz einen Korb geben könnte. Heute wäre sie froh, man würde sie noch auffordern, zu kommen, aber es fällt niemandem mehr ein. Und so geht es allen, die sich mit Ziererei großtun. Da hat mir in dieser Beziehung Frl. Arndt mehr imponiert. Die blieb wenigsten immer bis zum Schluß einer Tanzerei, ohne immer so zimperlich an den Aufbruch zu mahnen. Siegrune hat mir auf mein Gedicht hin eine sehr schöne Aufnahme von sich verehrt. Sie schrieb darauf: »Oh Klemm, weil Sie so schön gedichtet Sei dieses Bildchen Ihnen gestiftet.« Siegrune Arndt: Durch das »Ihnen« ist eine Silbe zu viel; man müßte das »Sie« und »Ihnen« mit »Du« und »Dir« vertauschen, dann gings! Cannstatt, Freitag, den 22. Dezember 1933 933 Heute sah ich Herta wieder. Ich hatte ihrer Mutter auf meine Rundfunkquittung Theaterkartengutscheine zu besorgen. Die brachte ich heute mittag hin. Herta war allein zu Hause; wir unterhielten uns längere Zeit sehr gut. Ich entwickelte Pläne für die Weihnachtsferien. Ich wollte sie einladen zu einigen Theatervorstellungen in der nächsten Woche. Erfreulicherweise ging sie gleich darauf ein. So hoffe ich, daß wir beide uns trotz des schlechten Winterwetters in der nächsten Zeit öfters sehen werden. Ich bat Herta am Weihnachtsfest mich zu besuchen, damit sie mal meine Bücher besichtigen könne, die ich ihr alle zur Verfügung stelle, was sonst niemandem gelingt, da ich meine schönen Bücher grundsätzlich nicht ausleihe. Ich bin nun gespannt, ob sie kommt! In der Familie Günzler gingen in letzter Zeit manche Veränderungen vor sich. Hertas Schwester Traute ist für einige Monate nach Arosa zu Verwandten als Kinderpflegerin und Haustochter abgereist. Herta selbst beginnt am 3. Januar einen Kurs in der Stuttgarter Handelsschule Zimmermann mitzumachen. Dadurch wird sie sehr viel zu tun bekommen im nächsten halben Jahr. Doch hoffe ich, daß wir uns trotzdem öfters sehen, als bisher. Denn ich fühle es immer mehr, ich kann ohne sie nicht mehr sein! Alle meine Gedanken kreisen um sie, die Einzige. Mein Traum dringt durch die Nacht zu dir Du einig Schöne, Reine. Ach gäbest du ein Zeichen mir (daß ich mit dir mich eine) Das mich mit dir vereine. Cannstatt, den 26. Dezember 1933 933 Das Weihnachtsfest ist vorüber; durch viele Gaben von allen Seiten wurde ich reich beschenkt, ein Beweis, mit wieviel Liebe man umgeben ist. Und doch konnte ich mich diesmal nicht so von Herzen


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freuen wie sonst. Das Hauptgeschenk für mich – blieb aus. Als solches betrachtete ich den mir in Aussicht gestellten Besuch Hertas am Christfestmorgen. Zeitig stand ich auf, richtete das Zimmer auf das sorgfältigste; von Minute zu Minute stieg die Spannung, sie kam nicht. Meine Erregung wurde immer größer, schließlich setzte ich mich ans Klavier um meine Gedanken zu zerstreuen, ich fing ein Streichquartett aufzuschreiben an, das mir schon lange im Kopf herum geht, aber ich kam über die ersten Takte nicht hinaus. Die Uhr rückte weiter auf 1/2 12 Uhr, meine Hoffnung sank immer mehr. Ich hörte mit der Arbeit auf. Ich suchte nun nach Gründen, warum sie etwa nicht kommen konnte. Der Tag ging mir in düsterer Stimmung zu Ende. Heute morgen hatte ich einen schwachen Hoffnungsschimmer: sie konnte, wenn sie gestern verhindert war ja heute kommen. Wieder wie gestern. Als es halb 12 Uhr war hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging zu ihrer Wohnung um mir Klarheit zu verschaffen; ich stand vor verschlossener Tür! Heute mittag bin ich allein, Mutter ist nach Schorndorf zu Tante Emilie. Ich habe schon eine Theaterkarte für sie und mich für Donnerstag in der Tasche. Ich muß sie sehen! Es ist am Besten, ich gehe heute zu meinem Leibburschen, um mich zu beruhigen und zu zerstreuen! Sicher klärt sich morgen alles und ich lache über meine Besorgnis von heute!?

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Tagebuch No –3 1961 – 1963

Informationen zum Verfasser

Titel Bruchstücke meines Lebens Gattung Erinnerungen Ort der Niederschrift Lennestadt Zeit der Niederschrift 1990er Jahre Bände 1 Umfang 78 Seiten Form des Textes Abschrift Schriftart Maschinenschrift

Name B., Eberhard Geboren 1838 / 06 / 22, in Potsdam Ausbildung und Beruf Studiendirektor Themen Fluchthilfe / Widerstand / Gefängnis / Selbstreflexion / Studium / DDR / Mauerbau Lebensspanne 25 Vertragsbedingungen Dauerleihgabe


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Notizen zu der Zeit vor dem Mauerbau Fast allen Häftlingen, die auf Grund des völlig überraschenden und grausam einschneidenden Mauerbaus mit DDR-Gesetzen in Konflikt geraten waren, war eines gemeinsam: Keiner von ihnen konnte seine familiären Angelegenheiten rechtzeitig regeln. Infolgedessen traf seine Abwesenheit seine

13.

August, 1961 Baubeginn der Berliner Mauer.

nächsten Angehörigen wie ein Schlag. Unvermittelt waren die einen von der Staatssicherheit zu Hause abgeholt oder von der Volkspolizei auf offener Straße festgenommen worden, weil sie offen ihre Abneigung gegen die Sperrmaßnahmen der DDR-Regierung ausgedrückt hatten. Wer zu der Schar derer zählte, die sich innerhalb weniger Tage oder oft auch nur einiger Stunden dazu durchgerungen hatten, in eines der grenznahen Gewässer zu springen, um schwimmend und tauchend das rettende West-Berliner Ufer zu erreichen, hatte meist gar nicht die Nerven, zu Hause jeden Angehörigen einzuweihen, geschweige denn, daß er alles für den Alltag dort weiterhin Notwendige bedenken konnte. Ebenso muß es bei den meisten Fluchthelfern in jener hektischen, turbulenenten Phase direkt nach dem 13.8.1961 ausgesehen haben: Sie wollten spontan helfen, bevor es zu spät war. Wohl keiner, der damals seine Freiheit, seine Gesundheit oder sein Leben riskierte, konnte sich vorstellen, was es bedeutet, seine Angehörigen für Monate oder Jahre nicht wiedersehen zu können. Wenn man sich später in der Haftzeit einem neuangekommenen Mitgefangenen nähern und öffnen wollte, lautete spätestens die dritte Frage: Wie sieht es bei Dir zu Hause aus? Man wollte innerlich mitgehen, denn man erinnerte sich zu genau an die trostlosen Stunden kurz nach der eigenen Festnahme. Da zirkulierten die Gedanken in unsteten Kreisen nicht nur um die Überwindung der ersten Schreckminuten und um glaubhafte Ausreden, da tauchte vor dem inneren Auge auch ganz schnell eine hilflose Geste oder der letzte nachdenkliche Blick der Angehörigen auf. Wer eine Tat sorgfältig und langfristig plant, befindet sich da ja in einer anderen Situation. Fast alle politischen Häftlinge, die ich zwischen 1961 und 1963 etwas näher kennenlernen sollte, waren aber durch den Mauerbau wie vor den Kopf gestoßen, verstanden sozusagen die Welt – ihr Berlin – nicht mehr und fühlten sich zu einer Antwort herausgefordert. Je spontaner die Reaktion vor der »Tat«, desto aufwühlender und belastender die unausweichliche Erkenntnis nach der »Tat«, daß nun ja auch die zu Hause Wartenden quasi vor dem Nichts standen. In fast allen mir bekannten Schicksalen war für den Gefangenen der Gedanke an seine Familie, an seine Frau, an seine Eltern und andere nahe Verwandte entscheidend für seinen Durchhaltewillen. Täglich konnte man den Wunsch und die Hoffnung spüren: Wenn nur die Verbindung nicht abbricht, wenn wir uns nur gesund wiedersehen! So war das natürlich auch bei mir, dem 23jährigen West-Berliner Studenten: Schon in den ersten Verhören und erst recht in den Pausen dazwischen unruhige Gedanken an zu Hause, d. h. meinen nun bald 70 jährigen Vater, meine fast 75 jährige Stiefmutter, meine beinahe 80 jährige Großmutter. Diese meine Großmutter mütterlicherseits befand sich in einem Hospital für Alte und Schwerkranke in Berlin-Spandau. Ihr Zustand stand mir geradezu furchtbar deutlich vor Augen. Ich war ihr einziges Enkelkind. Nachdem meine Mutter wenige Wochen nach meiner Geburt gestorben war, konzentrierten sich für meine Großmutter fast alle Erwartungen auf mich. Nachdem sie wegen übergroßer Schmerzen und altersbedingter Hilflosigkeit ins Hospital mußte, waren meine sonntäglichen Besuche ihr Lichtblick. Daran mußte ich schon in den ersten Stunden nach meiner Festnahme am 19. August 1961, 1961 einem Sonnabend, immerzu denken. Der Verhaftete braucht Zeit, bis er sich mit den neuen Gegebenheiten abfinden kann. Möglich ist, daß er zeitweise einen Teil der immer bedrängenderen, ungewohnten Realitäten gedanklich ausschaltet, indem er Bezirke innerer Freiheit aktiviert. Sein Anknüpfungspunkt an die vollständige Freiheit, die er ständig herbeisehnt, ist dabei die Zeit vor seiner Inhaftierung. Was bis zu diesem Zeitpunkt lebendige Wirklichkeit war, im Guten und im weniger Guten, beeinflußt sein Verhalten und sein Träumen in hohem Maße. Bei mir standen vom Beginn der Einsperrung an immer wieder jene alltäglichen Sorgen im Mittelpunkt des zermürbenden Grübelns, die wir uns bis August 1961 zu Hause gemacht hatten: das schwere Los der Großmutter, die altersbedingten Beschwerden der Eltern, mein anvisierter Studienabschluß in


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ca. 2 Jahren. Hinzu kamen meine eigenen gesundheitlichen Probleme: eine konstitutionelle Schwäche der Wirbelsäule und des Gefäßsystems mit der Disposition zu Verkrampfungen. Was das angestrebte Staatsexamen anbetraf, hatte ich im Juli 1961, etwa 6 Wochen vor dem Mauerbau, den allerersten Teil, die sogenannte Allgemeine Prüfung in Philosophie und Pädagogik, abgelegt. Da sich in der Haftzeit verschiedene Erinnerungen an dieses kleine Examen immer wieder sehr deutlich bemerkbar machten, möchte ich auf jenen Prüfungstag Anfang Juli ausführlicher zu sprechen kommen. Die erste halbe Stunde war dem »Philosophicum« vorbehalten. Der Prüfling durfte sich am Anfang zu einem ihm vertrauten Thema äußern. In meiner Philosophie-Prüfung war das »die Frage der Freiheit bei Fichte.« Bald darauf, im Gefängnis Magdalenenstraße, über drei Monate ohne irgendeine Lektüre, war ich froh über mein ziemlich weites Erinnerungsfeld. Ein Orientierungspunkt war das von mir in der Prüfung dargelegte Grundproblem der praktischen Freiheit. Meine Prüferin hatte seinerzeit gewünscht, daß ich nicht bei den Gedanken stehenblieb, in Fichtes System werde sowohl die menschliche Freiheit als auch das Sein eines allmächtigen Wesens fundamentiert. Ich sollte auch Karl Jaspers‘ Gedanken zum Thema »Freiheit und Transzendenz« nachvollziehen. So entwickelten sich, rechtzeitig für das »Philosophicum«, aber eigentlich vor allem rechtzeitig für die Zeit der Prüfungen in DDR-Haft, neue Ideen. Von der Erkenntnis, daß Freiheit und Schuld miteinander verknüpft sind, führte Jaspers zur Frage, ob der Mensch in Unabhängigkeit oder in Abhängigkeit von der Transzendenz lebt. In der gänzlichen Freiheit – ohne einen letzten Bezugspunkt – hat der Mensch kein Schuldgefühl. In der gänzlichen Abhängigkeit ist eigene Schuld ohne Freiheit nicht denkbar. Ich begriff Freiheit als noch etwas Unvollkommenes, uns Suchenden durch die Transzendenz zuteil Gewordenes. In der Freiheit merken wir durch die Schuld, daß wir mit der Höheren Kraft verknüpft sind. In der Transzendenz wird die Antinomie Freiheit göttliche Bestimmtheit aufgehoben. »Der ganz auf sich Stehende«, heißt es bei Karl Jaspers, »erfährt angesichts der Transzendenz am entschiedensten jene Notwendigkeit, die ihn ganz in die Hand seines Gottes legt.« Bei meiner Rückbesinnung auf die Allgemeine Prüfung im Gefängnis Magdalenenstraße schien sich mir eine Art Brücke anzubieten, über die ich gehen konnte und gehen mußte, wenn ich nicht verrückt werden wollte; es war jene Verbindung zwischen Freiheit und Schuld. Von hier führte ein Weg zur Transzendenz. Meine innere Freiheit würde, auch in der engen Zelle mit ihren 18 oder 22 cbm, nicht verloren gehen, wenn ich sie auf Gott hin and von Gott her führen wollte.

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September, 1961Der World Wide Fund for Nature (WWF) wird in der Schweiz gegründet.

Die Gründe für meine Fluchthilfe 1. Die Unruhe nach dem Mauerbau Nach dem Besuch bei meiner Großmutter in Spandau am Sonntagnachs mittag bin ich mit der Linie 75 wie üblich wieder nach Hause gefahren. Im Laufe des späten Nachmittags klingelte es, und J. und B. standen vor der Tür. Sie wollten mich um meinen Personalausweis bitten, den einer von ihnen über die Sektorengrenze bringen wollte. Militäreinheiten der DDR hatten seit den frühen Morgenstunden dieses 13. August die gesamte Grenze zwischen ihrem Sektor und West-Berlin abgeriegelt. Kein Ost-Berliner und kein DDR-Bürger durfte diese Trennungslinie jetzt noch passieren. Wir dachten an unseren Klassenkameraden R.Sz., der seinen Wohnsitz in Ost-Berlin hatte, aber an der West-Berliner F.U. studierte. Eine uns damals erfolgversprechende Möglichkeit, gefahrlos über die Grenze zu kommen, schien mit einem West-Ausweis gegeben zu sein. Wie B. sich später erinnerte, habe ich bei der ganzen Unterhaltung über das Überlassen des Ausweises für R.Sz. eine »Nebenrolle« gespielt. Dominierend: mein Vater. Seine Einstellung: unverrückbar. Seine Argumentation: völlig abgehoben. B. und J. hätten gemerkt: da ist nichts zu machen. Meine Frage in diesem späteren Erinnerungsgespräch, ob bei der Diskussion der Gedanke an meine Großmutter eine Rolle gespielt habe, verneinte B. und fügte hinzu: »Das hätten wir ja verstanden, aber das andere war uns unverständlich.« J. ergänzte, für ihn habe am 13.8.1961 seine Schwester H. – Ferienaufenthalt in Thüringen! – im Vordergrund gestanden. Bei ihrer Flucht war B. eingeschaltet, während R.Sz. gar nicht, wie ich bisher angenommen hatte,


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mit B‘s Hilfe (Ausweis) über die Grenze kam, sondern auf eigene Faust (»sportlich, Sprung über die Mauer«). Jedenfalls wurde mir da wieder klar, was am 13.8. für das »Nein« meines Vaters ausschlaggeNobelpreis Physik 1961 für Rudolf Mößbauer für seine Forschungen über die Resonanzabsorption der Gammastrahlung und seine damit verbundene Entdeckung, die den Namen Mößbauer-Effekt trägt und für Robert Hofstadter für seine bahnbrechenden Studien über Elektronenstreuung im Atomkern und für die dabei erzielten Entdeckungen über die Struktur der Nukleonen.

bend gewesen war: daß R.Sz. ja gar nicht um Hilfe gebeten hatte, sondern daß sich J. wohl in einer jetzt nicht mehr zu sezierenden Mischung aus Kameradschaftlichkeit, Fürsorglichkeit, Panik in den Kopf gesetzt hatte: dem R. müssen wir rüberhelfen! Ich versuche zu rekonstrieren, wie meine Eltern zwischen dem 13. und 19. August 61 reagiert haben. Ohne Bosheit möchte ich sagen: mit meinem Vater konnte ich zumindest »damals« (d. h. als Oberschüler und Student) kein Gespräch über Politik führen. Dafür gibt es sicher viele Gründe, über die man nicht leichtfertig und rasch urteilen soll. Mir ist kein Gespräch erinnerlich, welches sich auf den Schock infolge der Sperrmaßnahmen bezogen hätte. Ich erinnere mich aber sehr genau an den Abend des 13.8., als er und auch meine Mutter in meinem Zimmer uns drei, J., B. und mir, abrieten, sich für R.Sz. in Gefahr zu begeben. Also: kein Personalausweis für R! Die beiden Schulfreunde zogen erfolglos ab, mir war bei dem Gedanken nicht wohl, daß ich nicht geholfen hatte. Am nächsten Tag versuchte mir mein Vater klarzumachen, warum er gegen die Hergabe des Ausweises zu Fluchtzwecken war. Gedanken der lutherischen Staatslehre spielten dabei die Hauptrolle: Respekt, Gehorsam oder doch wenigstens passive Hinnahme der Ostberliner Maßnahmen; wohl auch der Standpunkt von Herrn Mg. – selbst in der DDR lebend –, daß nicht alle weggehen dürften, denn jeder würde im Osten an seinem Platz gebraucht. Dahinter stand die Idee: mit wem sollen wir uns denn wiedervereinigen, wenn so viele Anständige abgehauen sind! Wir alle in West-Berlin haben damals vor allen Dingen auf die Reaktion der Amerikaner und ihrer Verbündeten gewartet, auch auf eine Reaktion seitens der Bundesregierung Adenauer. Der Wunsch und die Erwartung waren sehr groß, daß Adenauer unmittelbar kommen sollte. Nichts dergleichen geschah. Keine sichtbare, nachvollziehbare Reaktion des Westens, unserer bis dahin so oft und hoch gelobten »starken Verbündeten und Freunde«! Auch von der Bundesregierung ließ sich in den ersten Tagen keiner bei uns in Berlin sehen. Am 16. August, August am Mittwoch nach dem Mauerbau, fand vor dem Rathaus Schöneberg eine große Protestkundgebung gegen die Ost-Berliner Maßnahmen statt. Ich erinnere mich, daß in verschiedenen Geschäften in unserem Viertel, also etwa Wilmersdorfer Straße Ecke Sybelstraße, Schilder zu sehen waren, auf denen sinngemäß stand: wir wollen nicht kommunistisch werden und schließen daher am ... teilzunehmen. Von diesem Treffen der Berliner Bevölkerung auf

dem Rudolfe Wilde-Platz nahm ich viele Eindrücke mit nach Hause. Arbeiter der Firma SEL standen ganz in meiner Nähe mit ihren Protestschildern: Papierene Proteste halten keine Panzer auf! – Die Wut der Menge, ihr Zorn und ihre Ohnmacht waren gleichermaßen groß. Die Redner, vor allem Willy Brandt, mußten alles aufbieten, um die Emotionen einigermaßen herunterzuschrauben. Die Kundgebung an jenem Mittwochnachmittag trug dazu bei, daß ich mich drei Tage später bereit fand, meinem Ost-Berliner Freund W.S. den Personalausweis hinüberzubringen, als er mich um meine Hilfe bat. Im Sommer 1991 suchte ich mit meiner Frau das Rathaus Schöneberg und dort die Bibliothek des Abgeordnetenhauses auf, um Willy Brandts Reden und Ansprachen aus jener Zeit nachzulesen. Aus der Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin vom 16.August 6.August 1961 961 will ich einige markante Passagen zitieren: »Die Sowjetunion hat ihrem Kettenhund Ulbricht ein Stück Leine gelassen. Sie hat ihm gestattet, seine Truppen einmarschieren zu lassen in den Ostsektor dieser Stadt. Sie, die Sowjetunion, hat ihrem Kettenhund die Vollmacht gegeben, internationales Recht zu brechen. Die Panzer, die in Stellung gebracht wurden, um die Massenflucht aus der Zone zu stoppen, diese Panzer haben unter ihren Ketten den gültigen Viermächtestatus Gesamtberlins zermahlen. Ein Regime des Unrechts hat ein neues Unrecht begangen, das größer ist als alles zuvor ! Die Verantwortung dafür trägt der Osten! Er trägt die volle Verantwortung für das, was sich daraus ergeben mag. Wir können den Mitbürgern im Sektor und den Landsleuten in der Zone in diesen Tagen nicht ihre Last abnehmen, und das ist heute das Bitterste für uns! Wir können sie ihnen nur mittragen helfen, indem wir ihnen zeigen, daß wir uns der Stunde gewachsen zeigen! Sie fragen, ob wir sie jetzt


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4.

Juli, 1961Erstausstrahlung der Sportschau.

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abschreiben. Darauf gibt es nur die Antwort: Nein, niemals! Sie fragen uns, ob wir sie jetzt verraten werden, und auch darauf gibt es nur die Antwort: Nein, niemals!« Gegen Ende seiner Ansprache zog Willy Brandt Parallelen zwischen der Ulbricht-Diktatur und dem »Dritten Reich«: »Was sich in den letzten drei Tagen hier abgespielt hat, das ist auf einem kleinen Platz, aber nicht weniger bedeutsam, eine neue Auflage der Besetzung des Rheinlandes durch Hitler. Nur heißt der Mann heute Ulbricht. In den vor ans liegenden Wochen und Monaten wird es darum gehen, daß Berlin nicht ein neues München wird. Man muß sich, meine Freunde, das sogenannte ›Neue Deutschland‹ von gestern und heute ansehen, den Ton des Hohnes, den Ton des Triumpfes, den Ton des Prahlens mit der funktionierenden Militärmaschinerie. Wir kennen diese Töne aus dem Tausendjährigen Reich. Und wir wissen, daß ein Teilerfolg einer Diktatur diese Diktatur nur hungriger und hemmungsloser macht. Nachgeben und beschwichtigen sind nur je Einladung zu neuen Übergriffen...« Der Regierende Bürgermeister schloß seine Rede mit folgenden Worten: »Wir haben uns alle so zu verhalten, daß nicht die Feinde sich freuen und die Landsleute verzweifeln, wir haben mehr denn je zusammenzurücken und zusammenzustehen. Wir haben uns würdig zu erweisen den Idealen, die in der Freiheitsglocke über unseren Häuptern symbolisiert sind. Wir haben in Ruhe, aber auch in Entschlossenheit und mit festem Willen einzustehen für das ganze Deutschland, für Einigkeit und Recht auf Freiheit.« Entweder am Tage darauf oder am Freitag, dem 18. August, traf ich V. auf einer Baustelle am Kurfürstendamm. Er erzählte mir stolz, daß er seinen Ausweis für R.Sz‘s Flucht zur Verfügung gestellt habe. B. habe auch noch andere rübergeholt. V. erzählte das mit großen Selbstbewußtsein. Es war für ihn eine ganz klare Sache das mußte man doch machen! Ich hörte aus seinen Worten heraus: meine Güte, und du hast deinen Ausweis nicht hergegeben; warum eigentlich nicht? Beim Mittagessen zu Hause tischte ich dieses Gespräch »brühwarm« auf. Dann traf W.S‘s Karte aus dem Ost-Berliner Stadtteil Kaulsdorf ein: ich möge ihn ooch baldigst besuchen. Das wichtigste Thema am Mittagstisch war dann meine Fahrt nach Kaulsdorf zu W.S. Mein Vater sagte sinngemäß: fahr zu W.S., den Klassenkameraden kannst du später

dann sagen: »Ihr habt etwas für R.Sz. getan, hier, ich habe auch etwas getan – für meinen Freund!« 2. »Ich wurde dazu gebeten...« Die BZ erschien an diesem 18. August 61 mit der großen Überschrift: Der Osten handelt, der Westen tut nichts! Nachdem ich in der Wohnung meines Freundes W.S. in Kaulsdorf angekommen war, empfing mich Frau S. aufatmend mit den Worten: »Haben Sie einen Ausweis mit?« Ich: »Ja ich habemeinenAusweis mit.« Frau S.: »Ach so, W. braucht unbedingt einen Ausweis.« Sie schilderte mir mit Tränen in den Augen, daß sie sich sehr große Sorgen um W. mache, denn er müsse unbedingt nach West-Berlin, so schwer ihrem Mann und ihr die Trennung falle. Viele seiner Freunde seien (selbst nach dem 13. August) bereits drüben in West-Berlin, und ihr Sohn habe Angst, daß er allein zurückbleiben müsse. Deshalb habe W. mich zu sich gebeten. Sie selbst habe seit dem 13. wenig gegessen und wenig geschlafen, sie sei gar nicht zur Ruhe gekommen. Frau S. befürchtete, W. könne sein Studium im Osten auf keinen Fall fortsetzen, er müsse zur NVA. Für den kommenden Tag, den Sonnabend, erwartete Frau S. eine große Ulbricht-Rede im Rundfunk, in welcher noch schärfere Maßnahmen an der Grenze angekündigt würden. Deshalb müsse ihr Sohn unbedingt ohne Zeitverlieren in den Westen, es könne bald zu spät sein. Sie dankte mir sehr bewegt, daß ich nach Kaulsdorf gekommen sei. Da mein Freund selbst nicht zu Hause war, riet mir Frau S., bei Familie Wag anzurufen, um zu erfahren, wo W. sich z.Zt. befinde. W. kam dann auch selbst ans Telefon. Bald traf er dann in seiner Wohnung ein, wo er mich mit Freude begrüßte. Sowohl er als auch sein Vater, der von der Arbeit nach Hause kam, bestätigten, daß W. nach West-Berlin müsse, um weiter studieren zu können. Ich wußte ja aus früheren Erzählungen, daß man ihm aus gesellschaftspolitischen Gründen einen Studienplatz in der DDR verweigert hatte. Seiner Mutter lag auch daran, daß W.‘s Studienbuch sowie andere Bücher nach West-Berlin geschafft würden. Ich sagte daß das nicht primär wichtig sei. Wie W. mir dann sagte, war vor wenigen Stunden G.D. (ein gemeinsamer Studienkollege aus West-Berlin) bei ihm gewesen. Auch er hatte sich nach W. erkundigt und sich über seine Fluchtabsichten informiert. Nachdem mir mein Freund nochmals vor Augen


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gestellt hatte, wie nötig seine Flucht sei, wies ich ihn zunächst einmal auf die Möglichkeit einer Flucht durch Hinüberschwimmen hin. Daran hatte W. auch schon gedacht, meinte aber, es komme nicht in Frage, die Flucht mit Hilfe eines West-Ausweises sei sicherer. Ich wollte nun wissen, woher er denn einen solchen Ausweis zu bekommen denke, und erhielt den Hinweis, ich solle versuchen, im Weskammhaus (der West-Berliner katholischen Studentengemeinde) einen Ausweis für ihn zu erhalten. Er sei dort sehr gut bekannt. Ferner bat er mich, Pater R. im Weskammhaus aufzusuchen, der W. vom Bund‚ Neu-Deutschland-Görress‘ gut kenne. Der Pater werde sich gewiß für ihn einsetzen und mir weitere Tips geben. Zur Bekräftigung übergab mir W. sein Paßbild. Ich versprach ihm, mich für ihn einzusetzen. Zu Hause besuchte mich gegen 19 Uhr G. D., der mir von seinen Eindrücken in Ost-Berlin und von seinem Besuch bei Familie S. berichtete. Auch er war überzeugt, daß W. unbedingt nach West-Berlin wolle. Wir beide suchten noch am Abend das Weskammhaus auf. Pater R. ließ uns aber (trotz telefonischer Voranmeldung) nicht zu sich kommen. Nach längerem Warten sagte uns der Pförtner, Pater R. sei nicht da. G. D. und ich suchten daraufhin das eigentliche Weskammhaus auf, in der Hoffnung, dort einen Studenten zu treffen, der W. kennt. Wir trafen keinen an. Die sprachlich etwas eigenartige Formulierung in der Kapitelüberschrift stammt aus einem der Vernehmungsprotokolle beim SSD. Später, in der Berufungsschrift vom 25.9. 61, zitierte mein Verteidiger den wichtigen Passus, um dann – allerdings vergebens – den Anklagepunkt »Verleitung« (statt Beihilfe) zur Republikflucht zu entkräften: »Schließlich sagte B. weiter aus, er wollte kein Feigling sein und beging die Tat gegen den Willen seiner Eltern. Zum Vater äußerte er wörtlich: ‚Ich wurde dazu gebeten und muß es tun. Aus diesen nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen, die sich im übrigen mit den Aussagen des S. decken, geht eindeutig hervor, daß B. den S. keineswegs zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik im Sinne von § 21 StEG verleitet hat. Das Gesetz hebt in 21 Abs. 2 ausdrücklich hervor, daß der Täter mittels Drohung, Täuschung, Versprechen oder ähnlichen die Freiheit der Willensentscheidung beeinflussenden Methoden den Republikflüchtigen zum Verlassen der DDR verleiten muß. Solcher Methoden bedurfte es auch gar nicht, weil die Aktivität zu dem gesamten Vorhaben offensichtlich von S. ausging.« Als meine Frau und ich im April 1992 noch einmal zu den alten wunden Punkten von 1961 – 1963 zurückkehrten, suchten wir auch Kaulsdorf, die damalige Heimat meines Freundes W. S., kurz auf. Was uns bei der S-Bahnfahrt dorthin neu bewußt wurde: die große Entfernung von der Charlottenburger Wohnung in der Cleusewitzstraße bis nach Kaulsdorf. Und das heißt: der Zeitdruck, unter dem ich am 18. und 19. 9. August 1961 961 stand, kam uns verständlich vor. Mittags die Karte von W., Gespräch am Mittagstisch, meine Hinfahrt (Kontrolle und Bahnsteigwechsel in Friedrichstraße) sicher anderthalb bis zwei Stunden, Gespräch mit Frau S., mit W. und mit seinem Vater, die Rückfahrt, G. D‘s Eintreffen in unserer Wohnung, Beratung, Anruf meines Vaters im Weskammhaus usw. Nachdem G. D. und ich im Weskammhaus nichts für W.S. hatten tun können, fiel mir in der Nacht oder am nächsten Morgen mein Freund O. in Spandau ein. Er sah dem W. in Kaulsdorf etwas ähnlich. Ich rief ihn am frühen Vormittag des 19. August an und sagte ihm, worum es geht. O. versprach mir, so schnell wie möglich in die Clausewitzstraße zu kommen; natürlich brauchte man von Haus zu Haus mindestens eine Stunde. Inzwischen war G. D. eingetroffen. Als O. dann schließlich bei uns war, schilderte ich ihm unser Vorhaben. Er gab mir ohne Zögern seinen Personalausweis, damit W. S. nach West-Berlin gelangen könnte. Ich sagte etwas keck: »In Nürnberg hängen sie keinen, sie hätten ihn denn«, womit ich meinte, so gefährlich werde es schon nicht werden. Immerhin war ich ja gestern ganz gut rübergekommen, die Kontrollen waren nicht sehr scharf gewesen. Dann gab es noch ein, zwei Fragen, ob W. nicht in letzter Minute angesichts der Sperren am Übergang Friedrichstraße zu nervös würde und möglicherweise einen Rückzieher machen könnte. Hin und her überlegten wir, wie wir ihm sozusagen Geleitschutz geben könnten. G. D. fand, wir könnten dem W. nicht noch einen Tritt geben, damit er durch die Kontrolle geht. Es war uns klar, daß W. mit unserer Hilfe einen leichten Weg suchte, was jedoch für uns nicht so ganz ohne war.Jedenfalls fragte ich:


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1961 – 1963

»Herr D., wollen Sie es machen?« – »Ach nein, machen Sie es lieber.« Damit war die Sache eigentlich schon klar. O. fuhr wieder nach Hause. G. D. und ich vereinbarten, wo wir uns in Ost-Berlin treffen würden und machten auch einen Zeitpunkt aus. Beide gemeinsam wollten wir W. beim Übergang helfen. Zunächst aber mußte ich ja erst einmal den zweiten Personal-Ausweis sicher über die Grenze bringen.... Daran daß ich an jenem Samstagmorgen mit meiner Mutter ein kurzes Gespräch über die Fluchtmöglichkeiten der Ostdeutschen führte, kann ich mich sehr gut erinnern. Ungefährer Wortlaut: Ich: »Würdest du jemanden aus dem Osten rüberholen, wenn du gegebeten würdest?« Meine Mutter:

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28.

Mai, 1961 Die britische Wochenzeitung The Observer veröffentlicht einen Aufruf des Rechtsanwalts Peter Benenson, sich durch Briefe für die Freilassung politischer Gefangener einzusetzen. Amnesty International wird geboren.

»Nur einen ganz, ganz guten Freund; Tante I. etwa. Aber sonst: nein!« (Tante I. war ihre Herzensfreundin.) Von dem, was sich in der ersten Tageshälfte des 19. 9. August 61 in unserer Wohnung Clausewitzstrage abgespielt hat, haben sich in den Jahren danach meine Gedanken kaum lösen können. Das Scheitern Ich habe die Gefahr unterschätzt Während in ganz West-Berlin eine Art Hochstimmung herrschte, weil man sich auf den Empfang des amerikanischen Vizepräsidenten Johnson vorbereitete, war die Stimmung beim Mittagessen zu Hause sehr gedrückt. Uberall in der Stadt fieberte man der Ankunft jener amerikanischen Soldaten

Nobelpreis Chemie 1961 für Melvin Calvin für seine Forschungen über die Kohlensäure-Assimilation der Pflanzen.

entgegen, die in langen Konvois über die Autobahn nach West-Berlin geführt wurden, um die USGarnison zu verstärken. Ich jedoch saß in Gedanken bereits in der S-Bahn Richtung Ost-Berlin. Die Zeit schien mir zu drängen. Deutlich erinnere ich mich, daß mein Vater sagte: »Jetzt iß erst mal, wer weiß, wann du wieder was kriegst!« Ich schlang also hastig ein paar Bissen herunter. Da stellte mir mein Vater die Situation vor, wie die Ost-Berliner Polizei bei der Kontrolle den fremden Personalausweis finden würde, und fragte mich: »Was dann?« Schon allein die Frage kam mir Weltfremdem abwegig vor. Ich sah nur, wie die Zeit drängte, war nur mit der hilflosen Familie S. beschäftigt. Zu einem wirklichen Mitdenken und selbständigen Nachdenken über das »Wie?« oder das »Was dann?« brachte ich es nicht. Noch immer höre ich mich gehetzt und energisch sagen: »Ich muß, ich muß.« Wie ich 1985, Jahrzehnte später, in einer kurzen Tagebuchnotiz vermerkte: Meinem Vater ist in dieser unruhigen Situation eben auch nichts Besseres eingefallen als der Tip: »Mein Freund hat eine Liebschaft.« Diese ›Ausrede‹ habe ich dann prompt bei den ersten Verhören verwendet. Ich werfe mir vor, daß ich viel zu unerfahren in dieses Abenteuer hineingegangen bin, ohne ausreichend informiert zu sein, was an der Grenze wirklich los war und wie es im Osten tat sächlich zuging. »Er Er ist sehr aufgeregt« aufgeregt Auf dem Weg von unserer Wohnung zum S-Bahnhof Charlottenburg ging man die Giesebrechtstraße hinunter, überquerte die Wilmersdorfer Straße, bog in die Mommsenstraße ein und kam zur S-Bahn-Unterflührung. Ich war diesen Weg zig-mal gegangen und erinnere mich da nicht speziell an jenen frühen Samstagnachmittag. Umso deutlicher an die nun folgenden »Stationen«: den letzten S-Bahnhof auf »unserer« Seite, den Lehrter Bahnhof – den Grenzbahnhof Friedrichstraße – die ersten Verhöre beim AZKW (DDR-Zoll) und die folgenden bei der Transportpolizei. Zunächst durfte man zwischen den Verhören mit anderen dort festgehaltenen Reisenden sprechen; einer von ihnen war ein Leidensgenosse: der West-Berliner Student H.A., den ich viele Monate später im Gefängnis Rummelsburg wiedersehen sollte. Zwar reichen mir meine eigenen Erinnerungen an jene Stunden. Dennoch blende ich an zwei Stellen kleine Passagen aus Vernehmungsprotokollen ein, die aus ihrer Perspektive die bedrückende Atmosphäre im Bahnhof Friedrichstraße wiedergeben. Ich weiß, daß es mir während des kurzen Halts im Lehrter Bahnhof durch den Kopf geschossen ist: »Aussteigen! Sollst du jetzt aussteigen oder nicht?« Bin dann aber sitzen geblieben und nach Friedrichstraße reingefahren. Bahnhof Friedrichstraße: alle Züge aus Richtung Westen endeten auf einem bestirnten Bahnsteig, die Reisenden mußten die S-Bahn verlassen. Wie am Tage vorher, war die erste Kontrolle bereits auf


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dem Bahnsteig. Man ging an Posten und Tischen vorbei, zeigte dort seinen Personalausweis, der kurz kontrolliert wurde, dann konnte man weitergehen. Eine lange Treppe führte hinunter in die große, hohe Halle. Als ich auf den letzten Stufen war, kam von rechts ein Uniformierter auf mich zu und forderte mich auf, ihm den Ausweis zu geben und mitzukommen. Mir war lange rätselhaft, warum dieser Posten ausgerechnet auf mich zukam. Der Zug war zwar wenig besetzt, es waren aber ganz bestimmt noch weitere Reisende da. Möglicherweise – so dachte ich – bin ich am Tage vorher an der-

Nobelpreis Medizin 1961 für Georg von Bèkèsy für seine Entdeckungen im physikalischen Mechanismus der Erregungen in der Schnecke des Ohres.

selben Stelle geknipst worden. Oder: es war inzwischen im Osten bekannt, daß bestimmte Typen von Jugendlichen »Gefährliches« im Schilde führten. Des »Rätsels« Lösung ist wohl viel einfacher: man sah mir meine Unsicherheit an. In dem Raum, in den es nun hineinging, befanden sich noch andere Reisende. In einer Ecke wurde ein älterer Reisender genauestens kontrolliert, er mußte all sein Gepäck vorzeigen und als nächstes den Koffer aufmachen. Es war eine mulmige Atmosphäre, als der Posten mich weiter kontrollierte, d. h. sich nicht nur den Personalausweis ansah, sondern mich aufforderte, die Jacke auszuziehen. Ich hatte alles vorzuzeigen, was sich in meinen Taschen befand. Ich weiß nicht mehr, ob dann die Schuhe rankamen oder was als nächst es abzulegen war. Eine Leibesvisitation begann. Kurz bevor er in meine Gesäßtaschegriff, sagte ich: »ach, da ist ja noch ein Ausweis«, als sei mir dies ganz plötzlich wieder eingefallen. In der Anzeige des AZKW vom 19.8. 9.8. 61 wurden diese Minuten mit folgenden Worten zusammengefaßt: B. wurde aufgefordert, alle Gegenstände aus seinen Taschen der Kontrolle vorzuführen. Bei der nachfolgenden Kontrolle seiner Kleidungsstücke wurde in der Gesäßtasche eine leere Brieftasche mit einem WB Personalausweis auf den Namen O. gefunden. Er ist sehr aufgeregt, schweift von den gestellten Fragen ab. Der Posten nahm den Ausweis sofort an sich und fragte, wo ich ihn herhätte. Mit Bestimmtheit erklärte ich, daß ich diesen Ausweis von meinem Freunde O. erhaten hätte, zur Aufbewahrung. O und ich hätten einen gemeinsamen Besuch des Pergamon-Museums vorgehabt, zu diesem Zwecke hätte mir O. seinen Personalausweis schon vorher zur Verwahrung übergeben. Mein Freund habe allerdings einer anderen Verabredung mit seiner Braut nachkommen müssen, so daß ich – mit seinem Ausweis – allein nach Ost-Berlin gefahren sei. Ich wurde bald darauf der Transportpolizei übergeben. In den dortigen Verhören blieb ich bei meinen Aussagen, bat um schnelle Erledigung der Angelegenheit. Dem Protokoll der Transportpolizei ist zu entnehmen, wie die Einsatzgruppe nun reagierte: OP-Stab verständigt: 16.15 Uhr – MfS verständigt: 16.20 Uhr – Einsatzleiter verständigt: 16.20 Uhr Ich spürte: du bist in die Enge geraten, du kommst hier kaum wieder raus, da zieht sich etwas zu. Sie glaubten dieser Ausrede nicht. Ich selbst war ja von ihr auch nicht überzeugt, wußte damit zu wenig anzufangen, stand nicht dahinter. Es fehlte so viel: die überlegene kühle Haltung, die Abgebrühtheit, die Gerissenheit, das richtige Einschätzungsvermögen. Über das Gefühl des stundenlangen Ausgeliefertseins in Bahnhof Friedrichstraße haben meine Frau und ich des öfteren mit Freunden gesprochen. J. gab in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß mein Vater durch seine Ablehnung, sein Contra, meine Position in den Verhören geschwächt hatte. Herr St. sagte, wie beklommen ihm immer bei früheren DDR-Kontrollen zumute war; an eine schreckliche Leibesvisitation konnte er sich gut erinnern, obwohl er ja gar nichts zu befürchten gehabt hatte. Im Polizeipräsidium (VP-Insektion Mitte Keibelstraße) Das Polizeipräsidium Keibelstraße ist für mich ein Synonym für harte Verhöre, Verzweiflung angesichts der mangelhaften Tragfähigkeit meiner Ausrede, Preisgabe des Namens W.S. In der Keibelstraße hieß es dann gegen Mitternacht: hinunter in den Hof – Handschellen – hinein in den fensterlosen 992 war dieser Ort in der Käfig eines Polizeifahrzeugs – nächtliche Fahrt ins Ungewisse. Im Jahre 1992 Nähe des Alexanderplatzes einer von mehreren die ich noch einmal aufsuchen sollte, dies mal aus therapeutischen Gründen. Im April 92 machten meine Frau und ich uns dorthin auf, begleitet von D., einem alten Freund. In dem Gebäudekomplex Keibelstraße sollte sich nun einiges lösen. Zunächst der 19.08. 9.08.1961: 961: Gegen 18 Uhr wurde ich zur Kriminalpolizei, VP-Inspektion Mitte, Rückblick auf den 19.08.1961:


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abtransportiert. Der Vorgang: auf dem Korridor der Transportpolizei wurde plötzlich mein Name aufgerufen, ich meldete mich, mit dem Posten und mit noch einer Festgenommenen ging ich die Treppen zur Bahnhofshalle herunter. Ich mußte den Gang in Richtung »Unter den Linden« benutzen. An der Eingangstür standen bewaffnete Posten. Einen Polizei-Mannschaftswagen, der rechts parkte, sollte ich besteigen und dort auf einer Bank Platz nehmen. Hier saßen noch weitere Festgenommene. Transportpolizei bildete die Bewachung. Das Fahrzeug fuhr an der Humboldt-Universität und am Roten Rathaus vorbei. Irgendwo hielt der Wagen einmal kurz an, eine ältere Frau drehte sich auf dem Bürgersteig nach uns um. Wir hielten schließlich vor der VP-Inspektion. Ich sollte aussteigen. Zwei Transportpolizisten nahmen mich in die Mitte. Die schwerbewaffnete Torwache ließ uns passieren. Im Gebäude begegneten wir immer wieder Angehörigen der ostdeutschen Betriebskampfgruppen, die mich mißtrauisch und höhnisch musterten. Dann übergab man mich der Kriminalpolizei. Bald befand ich mich in einem großen Raum, wo einige ältere Herren gleichfalls warteten. Ich fragte einen von ihnen, wie lange man hier warten müsse. Er antwortete mir, es könne sehr lange dauern, er selbst wäre schon seit Freitagabend da. Dann wurde uns aber jedes Sprechen verboten, ein Posten setzte sich vor die Tür und paßte scharf auf, daß jeder schwieg. Die folgenden Verhöre, insgesamt 3 oder 4, ergaben zunächst keine Klärung. Ich blieb bei meinen Aussagen. Dabei lag den vernehmenden VP-Angehörigen sehr an der Bestätigung, daß O. mich angerufen habe. In einem Verhör tat man so, als stünde die Aufhebung meiner Festnahme unmittelbar bevor; nur noch eine Frage sollte ich jetzt beantworten: warum ich der Aufforderung beim Zoll , alles aus meinen Taschen auszupacken, nicht hundert-prozentig nachgekommen sei. Der Kriminalpolizist behauptete, nicht ich, sondern der Angehörige des AZKW habe den Ausweis meines Freundes O. zutage gefördert. Als ich das richtigstellen wollte, entgegnete er scharf, im Protokoll des Zolls stünde eine ganz andere Darlegung. Mir wurde wiederholt vor Augen gehalten – was ich entschieden bestritt – , daß ich mit dem zweiten Ausweis jemanden nach West-Berlin holen wollte. In einem Verhör gegen 23 Uhr wurde ganz betont die Frage nach unseren Telefonanschluß zu Hause gestellt. Mit Genugtuung vermerkte mein Gegenüber die Angabe unserer Telefonnummer 32 84 85. In einem Verhör hatte man mir angekündigt, andere Methoden anzuwenden, um die Wahrheit zu erfahren – »wir werden mit Ihnen Schlitten fahren«. Meine Nervosität nahm immer mehr zu, weil ich mir vorstellte, unser Telefon würde in diesen Stunden von östlicher Seite überwacht. Um den schlimmen Folgen dieser »Telefon-Anzapfung« zu entgehen, sagte ich in einem Verhör gegen 22.30 Uhr aus, daß ich W.S. rüberholen wollte. Die genauen Zusammenhänge gab ich noch nicht an. Die letzte Seite des Protokolls der Volkspolizeinspektion Mitte setzt sich aus drei Teilen zusammen: zunächst in Schreibmaschine die Zusammenfassung, die ich zu unterschreiben hatte; sodann eine von mir geschriebene »Richtigstellung«, um die ich händeringend gebeten hatte; schließlich der handschriftliche Zusatzvermerk eines VP-Meisters: Mir, Eberhard B., wurde eben ein Protokoll verlesen, in dem ich Angaben über eine versuchte Abwerbung nach Westberlin zugab. Der Inhalt des Protokolls ist richtig. Es sind sinngemäß meine Worte. Mit meiner Unterschrift bestätige ich das Protokoll. Folgende Richtigstellung: Ob in anderen Semestern (oder Gruppen) der Universität über das gleiche Thema gesprochen wurde, ist mir nicht bekannt. Am 18. 8. 61 fuhr ich nicht als Beauftragter irgendeiner Gruppe, sondern aus eigener Initiative. über die geführte Unterhaltung mit ... berichtete ich nur dem und einem weiteren Freund von mir, der ebenfalls Student ist. Vermerk B. bestand auf die »Berichtigung«, weil er befürchtet, daß diese Angelegenheit in unserer Presse veröffentlicht wird. Aus meinem Tagebuch der Berlin-Reise 1992: 992: Die Keibelstraße. Ein riesiger Bau. Eine verwirrend zugebaute Umgebung. Eine Art Empfangskomitee mit Direktor und drei, vier Hauptmitarbeitern, 1.) zu Ehren. Kaffee und Plätzchen. Alle und alles freundlich. Die Angst, die am 19 .August von der Keibelstraße ausging, war jetzt fast gar


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nicht mehr direkt nachvollziehbar. Wo wurde man hineingefahren? Es ging damals ja alles sehr schnell. Ob ich überhaupt Einzelheiten im Treppenhaus wahrgenommen? Wo nun die Verhöre stattgefunden haben? Im 4. Stock (meine Vermutung), im 5. Stock (was wohl nach der Aussage der beiden Begleiter wahrscheinlicher ist)? Es wird sowieso alles renoviert oder ist z.T. schon schön modernisiert. An mehreren Stellen tauchen Handwerker auf. Der eine Begleiter, im feinen Anzug, weiß so viel über die baulichen Maßnahmen, daß die begleitenden Sätze erdrücken. Hineingeführt in diesen, in jenen Flur, durch den Zellentrakt, vorbei an Aufsehern, hinunter auf einen der Höfe, Blick hoch. Ganz, ganz schlimm war damals, gegen Mitternacht, der Moment,wo es hieß: »Kommen Sie raus!« Jemand in völlig fremder Uniform führte mich schnell hinunter auf den Hof; gegen die Wand; das Fahrzeug rollte heran; Handschellen; nichts half mehr; kein Umsehen mehr, ab hinein in den Kasten. Dunkle Fahrt. Dieser Hof und vorher der Warteraum und anschließende Verhörzimmer, das war Keibelstraße am 19. August. Aber vergittert waren diese Räume doch wohl nicht? Unruhiger Zuspruch 1. In der Magdalenenstraße Staatssicherheitsdienst Waren die bisher baschriebenen Phasen des Scheiterns geeignet, einen jungen Menschen in Verzweiflung zu stürzen, so sollte die folgende Zeit in der Untersuchungshaftanstalt des Staatssicherheitsdienstes in noch weitere Tiefen führen. Ich erlebte eine Zeit bislang nicht vorstellbarer Härte, feindseliger Verdächtigungen und zerstörerischer Bestrafungsmaßnahmen. Mit einer Untersuchungshaft hatte das nichts zu tun. In der Magdalenenstraße merkte ich allmählich: »denen hier« geht es nicht um die Aufklärung eines individuellen Vergehens und um eine angemessene Beurteilung. Die Vernehmer sahen in dem von ihnen zu Verhörenden nicht irgendein kleines Individuum. Hier hatten sie einen »Klassenfeind« vor sich, der aus ihrer ideologischen Gegenwelt stammte. Infolgedessen machten sie politische Rechnungen auf, deren 1. Rate an Ort und Stelle in Form von 100 qualvollen Tagen à 1440 Minuten zu bezahlen war. Soweit ich weiß, bekam damals kein Gefangener in der Magdalenenstraße auch nur ein einziges Blatt Schreibpapier. Dennoch habe ich über jene Zeit eine Art Tagebuch. Ich schrieb es aus klarer Erinnerung in den ersten drei Wochen nach meiner Heimkehr 1963. Diese Tagebuchnotizen mit dem jeweils unterstrichenen Datum sollen ein roter Faden sein, mit dem stellenweise weitere Fäden (z. B. Briefe von G.K., meinem ältesten und treuesten Mitgefangenen, oder Aufzeichnungen beim therapeutischen Besuch 1992) verknüpft werden. 20.8.61 Nach einer Fahrt von etwa 15 Minuten hielt der Wagen. Die Tür wurde aufgerissen und unter starker Bewachung von Uniformierten wurde ich in eine Zelle geführt. Es war kurz nach Mitternacht . Mir wurde allmählich klar, daß ich in einem Gefängnis war. Genauere Vorstellungen konnte ich mir nicht machen. Obwohl ich schon am Nachmittag des 19.8. vom AZKW gründlich durchsucht worden war, erwartete mich hier eine schikanöse zweite »Untersuchung«: völlig ausziehen; der SSD-Mann unterNobelpreis Literatur 1961 für Ivo Andric für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet“

suchte nicht nur meine Kleider, durchwühlte meine Haare, sondern auch das Innere meiner Ohren, ließ mich den After auseinanderklappen, griff unter meine Armachseln. Zwei Offiziere des Staatssicherheitadienstes nahmen eine gründliche, z.T. von Drohungen begleitete Vernehmung vor, die den Sachverhalt für sie genügend aufklärte. Dem Druck dieser Vernehmung und der Atmosphäre der Umgebung war ich nicht gewachsen. Daher erklärt sich auch, daß ein Teil der Gespräche, die wir am 13.8. zu Hause geführt hatten, zutage trat. Dennoch blieben wichtige Tatbestände des W.S.-Komplexes, auch in den weiteren Vernehmungen, unentdeckt. Gegen 4 Uhr gab es eine Unterbrechung. Ich wurde in eine Zelle geführt und durfte mich auf einer Matratze, die auf dem Fußboden lag, ausruhen. Vorher hatte man mir einige belegte Brote und ein Saft-Getränk gegeben, nachdem die Vernehmer erfahren hatten, daß ich seit dem 19. um 13 Uhr nichts zu mir genommen hatte. Die Vernehmungen wurden


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nach etwa zwei Stunden durch einen Vernehmer wieder aufgenommen. In der Hauptsache ging es um die Bestätigung und schriftliche Festlegung aller meiner Aussagen so wie meines Lebenslaufs. Zu diesem Zweck wurde bald eine Sekretärin geholt, die die Sätze des Vernehmers auf der Schreibmaschine zu Papier brachte. Es wurden verschiedene Durchschläge gemacht. Am Schluß jedes DIN A4 – Bogens mußte ich gegenzeichnen. Als der Vernehmer für kurze Zeit den Raum verließ, fragte ich die Sekretärin leise: »Wo sind wir eigentlich hier, in Pankow?«, worauf diese antwortete: »Nein, weiter südlicher.«

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22.

August, 1961 Im Deutschen Fernsehen (ARD) wird die erste Sendung von Musik aus Studio B mit Chris Howland als Schallplattenmoderator ausgestrahlt.

Anschließend sagte sie überraschend: »Ich habe die Plautze voll!« Ich vermutete eine Falle und entgegnete hierauf nichts. Nachdem diese Vernehmungen abgeschlossen waren, wurde ich in die Einzelzelle 98 geführt. Das war gegen 8.30 Uhr. Als die Zellentür hinter mir verschlossen wurde, war ich allein. 18 cbm, eine Pritsche mit undichtem Strohsack, aus welchem Halme herausrieselten, ein blau-weiß emaillierter Kübel, kahle Wände, Steinglasfenster, dicke Tür mit Beobachtungsspion und Essensklappe, an einer Wand ein Druckknopf zur Betätigung eines Signals »Fahne« genannt , der dann zu bestimmten Zeiten 2 x am Tag gedrückt werden durfte, wenn man Klopapier haben wollte. Kaum war ich drin, drangen aus einer der Nebenzellen Schreie: »Laßt mich raus!! Ich will nach Hause!!« Dann bumste es irgendwo gegen die Zellentür von draußen der Ruf: »Sein Se still!!« Dann war Stille. Es war eigentlich die schönste Sonntagsstille auf dem Gang. Doch zwischendurch immer wieder entsetzliches, lautes Schließen, zum Erschrecken. Alles ungewohnt. Ich saß auf der Holzpritsche, einsam, gedankenvoll, ermüdet. Gedanken an zu Hause: »jetzt sitzen sie da und warten...« Gedanken an meine Großmutter: »sie wird warten...« In diese Gedanken hinein läuteten auf einmal Kirchenglocken, sogar ganz nahe. Die Luft und der Raum waren erfüllt davon. Ich dachte: »jetzt gehen sie also zur Kirche, ganz in der Nähe...« Ich kam zur Ruhe, betete, weinte, betete und legte aus zwei Stohhalmen ein kleines Kreuz zusammen. Ich war allein, aber nicht mehr einsam. An diesem Sonntag lernte ich die Zeit in ihrer Länge kennen. Nachmittags waren Vernehmungen. Sie wurden in einem anderen Vernehmerzimmer durch einen Leutnant des Staatssicherheitsdienstes in Uniform durchgeführt. Er versuchte mich dadurch zu demoralisieren, daß er mir das bittere Leid der Familie S. vor Augen hielt. So schilderte er mir z. B., daß Frau S. schwer herzkrank sei, und betonte meine alleinige Schuld an der Verschlimmerung der Krankheit. Er stellte sodann in der Hauptsache zahlreiche politische Fragen. Ich hatte bereits vorher zu verstehen gegeben, daß ich mich noch nie sehr um Politik gekümmert hätte. Ich konnte damit erreichen, daß ich mich vor einer Festlegung auf antiwestlichen Kurs drücken konnte. Als der Vernehmer dennoch fragte, wie ich mir die Wiedervereinigung Deutschlands vorstellte, sagte ich, sie würde dadurch gefördert, daß Deutsche aus beiden Teilen miteinander sprechen könnten. So jedenfalls hielt ich diesen Teil fest, als ich nach meiner Entlassung im April 1963 das Tagebuch schrieb. Inzwischen habe ich von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, mir eine Kopie der sog. Stasi-Akten schicken zu lassen. Im Protokoll vom 20.8. 61 wurden Frage und Antwort wie folgt aufgenommen: Frage: Welche politische Einstellung besitzen Sie? Antwort: Grundsätzlich gehe ich bei der Bildung einer bestimmten Anschauung; über ein politisches Problem von den christlichen Geboten aus. So bin ich beispielsweise in der Frage des Krieges der Meinung, daß jeder Krieg Unrecht ist. Ich bin für die Pflege von Kontakten der Bürger Westdeutschlands und der Deutschen Demokratischen Republik und wünsche, daß die Frage der Einheit Deutschlands durch menschliche Kontakte wiederhergestellt wird. Die Tätigkeit der Regierungen der Deutschen Demokratischen Republik und Westdeutschlands in der Frage der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands kann ich nicht beurteilen, da ich mich damit nicht befaßt habe. Hinsichtlich der von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik am 13.8.1961 erlassenen Maßnahmen der Sicherung der Grenze der DDR möchte ich sagen, daß ich diese Maßnahmen nicht verstehe und sie zu einschneidend und zu hart finde. Ich zitiere noch einmal aus dem Hafttagebuch vom 20.8.61: Er (der Vernehmer) versuchte meine Schuld dadurch zu vergrößern, daß er in das Vernehmungsprotokoll den Satz einschob, ich hätte mit meiner Handlung W. von seiner Verlobten trennen wollen. Ich erklärte mit Entschiedenheit, ich wisse von einer »Verlobten« meines Freundes nichts, mir


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sei nur von einer »Freundin« des Herrn S. etwas bekannt. Der Vernehmer ging auf meinen Einwurf ein. Eine andere scharfe Passage im Protokoll lautete etwa: Ich habe nun erkannt, daß jedes Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik illegal ist. Auf meinen Einspruch wurde der Passus geändert in: ...jedes Verlassen der DDR illegal sein kann. Als ich den Vernehmer jedoch auf die Prttokollstelle aufmerksam machte, wo es um die Politik der »Deutschen Demokratischen Republik« und »Westdeutschlands« ging und ihn darauf hinwies, daß entweder Deutsche Demokratische Republik und Bundesrepublik Deutschland oder Ostdeutschland und Westdeutschland stehen müßten, wurde er äußerst scharf, verletzend und unnachgiebig. Der Passus wurde nicht geändert. Als ich einige Jahre nach der »Wende« meine sog. Stasi-Akte lesen konnte, wurde zum ersten Mal für mich nachvollziehbar, wie die Offiziere in der Magdalenenstraße bereits am 20.8.61 zur Gegenschlag ausholten; ihr Vorschlag trägt oben den Genehmigungsvermerk des zuständigen Ministers: »Einverstanden, Mielke 2o. VIII. 61« 961 Berlin, den 20.8.1961 Verschlag zur Durchführung eines Prozesses vor erweiterter Öffentlichkeit. Es wird vorgeschlagen, vor dem Stadtgericht Berlin einen Prozeß gegen die Beschuldigten – 1. ... – 2. ... – 3. B., Eberhardt; geb. am: 22.6. 1938 in Potsdam; Beruf: Student der Philosophischen Fakultät der »Freien Universität«; wohnh.: Berlin-Charlottenburg, Clausewitzstraße – 4. ... – 5. durchzuführen. m Prozeß sollen Funktionäre von Parteien und Massenorganisationen sowie Vertreter der demokratischen Presse und des demokratischen Rundfunks; teilnehmen. Für die propagandistische Auswertung der Hauptverhandlung ist die Abteilung Agitation des Ministeriums für Staatssicherheit verantwortlich. Mit diesem Prozeß wird das Ziel verfolgt, die von Westberliner Dienststellen und Konzernen ausgehenden Methoden der Abwerbung von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach Inkrafttreten der Schutz- und Sicherungsmaßnahmen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 13.8.1961 zu entlarven. 21.8.61 Nach einer »Freistunde« von etwa 15 Minuten wurde ich bald in eine andere Zelle geschlossen: Nr 112. Diese war größer, vorher 18 cbm, jetzt 22 cbm. Hier fand ich einen Mitgefangenen vor, etwa 25 Jahre alt, der sich »Kö« nannte. Er sagte, er sei Anfang Juli 61 verhaftet worden und wegen »illegaler Gruppenbildung« in Haft. Am frühen Nachmittag wurden wir unten vom Sanitäter karteimäßig erfaßt. Nachmittag: ich wurde nochmals zu Vernehmungen nach unten geholt. Der gleiche Leutnant teilte mir mit, daß ich am 22.8., also am Dienstag, vor Gericht als Zeuge aussagen solle. Ich müßte vor allem meine Aussagen bestätigen. Am Abend dieses Tages durfte ich einen Brief nach Hause schreiben. Die etwa 5 Zeilen, mit Tinte geschrieben, unterschrieb ich mit »Euer unglücklicher Eberhard«. Der Vernehmer sagte, den Briefumschlag wolle er selbst ausfüllen und frankieren, er könne die Anschrift meiner Eltern ja aus den Protokollen ersehen. Ich habe nach meiner Haft von meinen Eltern erfahren, daß sie nie einen Brief vom 21.8.61 erhalten haben. Aus dem Tagebuch unserer »therapeutischen« Berlin-Reise, April 92: Gisela zeigte mir am Nachmittag eine Kastanie, die sie von einem der kleinen »Frei-«höfe mitgenommen hat. Hätte man damals auch nur ein winziges Steinchen vom Erdboden aufgehoben und einzustecken versucht, ich bin sicher, der Posten, der oben patrouillierte, hätte wie wild geschrieen. Ich weiß noch, was für eine unbeschreibliche Angst ich hatte, als ich zum ersten Mal zur »Freistunde« herausgeführt wurde. »Wir schießen hier keinen, Sie sollen nur Ihre Freistunde machen«, klärte der alte Posten. Sein Gesicht habe ich als ernst, fast nachdenklich in Erinnerung. Doch nun wieder zurück zum Tagebuch aus der Haftzeit: Die »Frei«stunde wurde nicht täglich durchgeführt. In der Regel je Woche 4 »Frei«stunden. Jede von ihnen dauerte etwa 15 – 20 Minuten. Zu diesem Zweck wurde jede Zeile in einen ca. 15 m langen und 3 m breiten, durch hohe Wände (ca. 3 m) von den anderen Freistunden-...bot. Die meisten der Zeugen waren junge


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1961 – 1963

Menschen, Studenten, wie ich vermutete. Nach kurzer Zeit wurde ich ausgeschlossen und mußte mit meinem Vernehmer einen anderen Raum aufsuchen. Bald danach wurde ich aufgerufen. Der Vernehmer »beruhigte« mich und sagte: »Vor Gericht können Sie wie ein freier Bürger auftreten.«

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Max Frisch schreibt das Theaterstück Andorra, das allerdings in einem fiktiven, und nicht dem realen Land Andorra spielt.

Ich wurde in den Gerichtssaal gerufen, in welchem zahlreiche Zuhörer saßen. Ich wandte mich nach links und stand vor dem Richtertisch. Direkt vor mir waren Mikrofone. Den Vorsitz des Gerichts führte Oberrichter G, der später auch in meinem Prozeß den Vorsitz hatte. Auf der Anklagebank saßen drei jugendliche Angeklagte, die ich nicht kannte. Ich mußte kurz die Tatsachen meiner geplanten Fluchthilfe für W. S. angeben. Auf die Frage des Vorsitzenden »Wurden Sie durch Westberliner Pressemeldungen zu Ihrer Tat ermuntert?« antwortete ich mit einem klaren »Nein«. Oberrichter G. stellte sodann die Frage »Sie wußten doch, daß friedliebende Westberliner Bürger uns als Besucher willkommen waren. Waren Sie ein friedliebender Bürger?« Ich gab zur Antwort: »In diesem Falle nicht.« Nach den Zeugenaussagen wurden wir in die Magdalenenstraße zurückgefahren. 23.8.61 Am frühen Nachmittag wurde mein Mitgefangener »Kö« aus Zelle 112 ausgeschlossen, gerade als ich ihm in einem längeren Gespräch Kants Philosophie und meine Einstellung zum Christentum erläuterte. Ich hatte »Kö« klargemacht, daß ich aus christlichen Motiven den Materialismus ablehne. Von »Kö« habe ich nie wieder gehört. Der von der Staatssicherheit gut inszenierte Zeugenauftritt vom 22.8.61 31.8.61 durch eine kleine Szene ergänzt. Mein Vernehmer ließ mich zu sich kommen, um wurde am 31.8.61 mir zwei Dinge mitzuteilen. In Kürze sei mein Termin; außerdem sei anläßlich der Zeugenaussage mein Name in die ostdeutsche Presse gekommen. Während er mir das eher lässig erzählte, beobachtete er mich lauernd. Natürlich hatte er im VP-Protokoll vom 19.8. gelesen, wie sehr ich mich dagegen gewehrt hatte, als Straftäter in der Ost-Presse erwähnt zu werden. Etwa ein Jahr später, im Gefängnis Rummelsburg, fiel mir auf der Toilette unseres Arbeitskommandos ein Stück Zeitungspapier vom 23.8.61 in die Hände. Ungefährer Wortlaut der Überschrift: »Brandts Ausweisschmuggler sagen aus.« Der Name jener Ost-Berliner Zeitung ist mir entfallen. Jahre später ließ ich mir in einer West-Berliner Bibliothek eine Kopie des »Neuen Deutschland« von jenem 23.8. 61 geben. Hieraus stammen die beiden folgenden Zitate. BRaNDtS aUSWeiSSCHMUGGLeR VOR GeRiCHt! Hohe Gefängnisstrafen für Kopfjäger mit falschen Papieren ....In der Vernehmung der Zeugen B. und ... stellte sich heraus, daß Westberliner Studentengruppen, zum Beispiel eine katholische Studentengemeinde, sich ebenfalls zum Ausweishandel und -mißbrauch hergeben. ...In der gleichen Ausgabe vom 23.8.61 druckte das ND folgende Bekanntmachungen des Ministeriums des Innern der DDR ab: Durchgeführte Prozesse und Feststellungen der Kontrollorgane der Deutschen Demokratischen Republik haben ergeben, daß die bestehende Freizügigkeit zum Betreten der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (das demokratische Berlin) durch Westberliner Bürger vom Westberliner Senat und bestimmten Agenten- und Spionageorganisationen zur Stör- und Wohltätigkeit gegen die Deutsche Demokratische Republik mißbraucht wurde. Diese ungesetzlichen Handlungen dienten u.a. dem Einschmuggeln von Westberliner Personalausweisen zur Fortsetzung des organisierten Menchenhandels und erleichterten Schiebern und Spekulanten das Handwerk. Der Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik beschloß zur Verhinderung dieser ungesetzlichen Handlungen erforderliche Maßnahmen. In Durchführung des Beschlusses des Ministerrates wird mit Wirkung vom 23. August 1961, 00.01 Uhr folgendes angeordnet: 1. Westberliner Bürgern ist das Betreten der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (das demokratische Berlin) nur mit einer Aufenthaltsgenehmigung gestattet. 27.8.61 Vom 23. bis 27.8. war ich wieder allein, Zelle 112, 22 cbm, sonst alles das gleiche Bild. Diese Tage waren wohl als eine Extrastrafe gedacht. Vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein habe ich mich selbst


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beschäftigt: Shakespeare – »Hamlet« – laut rezitiert (»To be or not to be that is the question«, »Oh what a rogue and peasant slave am I«), – Marlowe – »Doctor Faustus« – (»Ah, Faustus, now hast thou but one bare hour to live.«), Sophokles – »Antigone« – (»Vieles Gewaltige lebt«), Schiller – »Teil« – leise für mich hergesagt: »Nein, eine Grenze haben muß Tyrannenmacht.« Dann habe ich mir Vorträge in deutsch, englisch und italienisch gehalten, habe meine Reisen rekapituliert. Das alles war gut und schön, aber getröstet wurde ich nicht dadurch. Manche helfen sich vielleicht in derartigen Lagen mit Humor, aber Humor konnte ich nicht aufbringen. Ich suchte Trost. Ich betete meine alten Gebete, das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, dann sang ich Kirchenlieder: »O Christenheit, sei hocherfreut«, »Sonne der Gerechtigkeit«, »Befiehl du deine Wege«, »Ach bleib mit Deiner Gnade«, alle Lieder, die mir vom Kirchentag her einfielen. Zwischendurch läuteten die Glocken: um 8 Uhr, um 12 Uhr, um 18 Uhr . Welche Freude war dieser reine Klang! Aus Papier drehte ich mir ein kleines Kreuz. Wertvolle Worte fielen mir ein: »Rufe mich an in der Not, so will ich dich eretten, und du sollst mich preisen«, »Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet«, »Siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende«. Jedes Bibelwort zerlegte ich und baute mir eine Ansprache auf, wie ich sie vor anderen Mitgefangenen halten würde, um sie zu trösten: »Woraus will Gott, mich erretten? Aus der Einsamkeit! Ich brauche jemanden, der bei mir ist und bleibt, zu dem ich sprechen kann. Jesus versteht meine Not, er kennt schlimmere Nöte. Die Not der Einsamkeit hat er vor mir kennengelernt, er wurde damit fertig. Er wird auch mir helfen, er kommt zu mir. Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, Herr, bleibe bei uns am Abend dieses Tages, am Abend unseres Lebens, am Abend dieser Welt.« Ich spürte ein Wunder (– und obwohl, und weil Jahrzehnte zwischen diesen Worten im Hafttagebuch und dem heutigen Tag liegen, gebe ich genau diese Worte jetzt her –) ich spürte Jesu Gegenwart in meiner Zelle, ich war nicht mehr getrennt von Gott, ich hielt am Gebet fest. Ich dachte: »Vor Gericht wird soviel auf Zeugen Wert gelegt. Auch ich bin Zeuge, daß Christus durch sein lebendiges Wort mir die Gewißheit gegeben hat, daß er bei mir war und ist.« Nie zuvor und selten danach habe ich Gottes gegenwärtige Macht so deutlich gespürt. Ich dachte viel an meinen Vater, meine Mutter, meine Großmutter, betete für sie. Wenn die Glocken läuteten, fühlte ich mich manchmal nach Hause versetzt. Minutenlang habe ich die Zelle überhaupt nicht gesehen. Die Zeit kam mir so wunderbar vor, daß ich später zu Herrn G.K. und Herrn H. (d. h. zwei Mithäftlingen der ersten Zeit) sagte, die Einzelhaft habe mich ganz fest im Glauben gemacht. Aber natürlich habe ich mich immer wieder gefragt: wozu ist das alles gedacht? Was haben die Menschen von der SSD-Bewachung damit angestrebt, daß sie mich in Einzelhaft eingesperrt hielten? Viele haben mir in Rummelsburg erzählt, wie drückend sie jeden Tag Einzelhaft empfunden hatten. Vor allem drängte sich jede Stunde die Frage auf: was kommt nun noch alles? Wenn sich auf dem Gang Schritte näherten, wenn die Nebenzelle krachend auf- und zugeschlossen wurde, dann fuhr ich zusammen und zuckte. »Gott hat mich in die Tiefe geführt, damit ich von dem Bisherigen Abstand gewinne und zu mir komme, damit ich dann mich aus der Tiefe des Terrors hinausführen lasse in das Licht der Gewißheit 27.8 morgens Herrn G.K. in der Zelle kennenlernte, konnte ich ihm von dieser Gottes.« Als ich am 27.8. Gewißheit mitteilen und ihn trösten: »Glaube, Hoffnung, Zuversicht«, sagte ich zu ihm. Schon nach Friedensnobelpreis 1961 für Dag Hammarskjøld als Generalsekretär der Vereinten Nationen.

wenigen Tagen beteten wir zusammen. Zwischen uns gab es Vertrauen. An dieser Stelle, am Ende der äußerlich nicht sehr langen Einzelhaft, trete ich gewissermaßen für einige Zeit aus der Zelle heraus. Zwei Passagen aus späteren Tagebüchern, eine kurze vom 29.9.1985 und eine längere von dem »therapeutischen« Besuch in der Magdalenenstraße im Frühjahr 1992, schiebe ich ein. Nach diesen Einschüben will ich mit Hilfe meines Hafttagebuchs zu meinem Mithäftling G.K. zurückfinden. 29.9.85 Heute ist Herr Pastor M. nach 31 Dienstjahren festlich verabschiedet worden. Wir vier waren im Gottesdienst, wo der Superintendent die Predigt hielt. Er sagte u.a., wir seien eine laute Umwelt gewöhnt,


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»Gottes Wort will in der Stille gesucht und gehört werden.« Mir wurde dabei so deutlich bewußt, welche große Zeit die Wochen beim SSD waren. Es war zunächst schrecklich bitter, allein zu sein. Aber das göttliche Wort begann zu wirken und füllte die tiefe Not aus. Ein anderer Gedanke aus der Predigt: Gott gefällt es zu schweigen. Ein großer Glaube aber ruft beharrlich weiter, fragt und bittet, läßt sich auch durch Absagen nicht entmutigen. Heute ist Mittwoch, 8. April 92. Gestern vormittag waren Gisela und ich in der Magdalenenstraße. Mein häufigster Gedanke unter dem Eindruck des ganzen Geländes, der Gebäude und Höfe, der Tore und Gitter und der Gänge, Treppen und Zellen: es ist sehr eng. Die Gänge, die ich damals entlanggeführt wurde, die Netze zwischen Mauer und Gang, die Treppen zwischen den Stockwerken: alles schmal, viel schmaler als in meiner Erinnerung. Wenn ich früher z. B. an die Netze dachte, stellte ich sie mir umfangreich und sehr ausgedehnt vor. Die Gänge vor den Zellen hatte ich so schmal nicht in Erinnerung. Ein anderer Eindruck: es liegt alles so dicht beieinander. Die beiden Turmspitzen der Kirche, Häuserblocks mit Balkonen und Fenstern, der Straßenverkehr, die Untersuchungshaftanstalt. In den Zellen hat sich viel verändert: es stehen richtige Betten mit Bettwäsche, wo vorher der Holzkasten war, und diese Betten stehen zumeist so, daß man bis zur Fensternmauer hindurchgehen kann. Hinaussehen kann man allerdings immer noch nicht, denn die dichten Glasbausteine lassen nur das Tageslicht hindurch, nicht aber den Blick, der Konturen oder Farben. In fast jeder Zelle, bis auf Z. 96, befinden sich Waschbecken und Toilette; kein Kübel mehr; wohl kann man in Zelle 96 links vorne ein in den Fußboden eingeprägtes Rund erkennen, ich glaube, das ist die Spur des Kübels, der Jahrzehnte dort stand. Dieses Kreisrund ist aber gar nicht sehr groß, ich war erstaunt über den kleinen Durchmesser. In der Erinnerung ist mir der Kübel immer als ein sehr großer Behälter vorgekommen. In Zelle 96 bin ich die Schritte von Wand zu Wand, parallel zur Zellentür, durchgegangen: genau 3 Fußlängen und eine Halbe. Das war – damals in Z. 98 – alles. Das Kasten ragte weit vor in Richtung Zellentür, man hatte nachts in ganzer Länge Platz darauf, Kopf unterm Fenster, so daß die Posten beim Hineinleuchten jederzeit das Gesicht sehen konnten. Auch das Licht befindet sich nicht, wie ich mich zu erinnern meine, oberhalb der Tür, sondern etwa in er Deckenmitte; jetzt Neonröhren. In Z. 112 oder 113 : sehr viele »Zeichnungen« an den Wänden, mit Bleistift; damals völlig undenkbar. Der etwa LW Jahre alte Aufsichtsbeamte, der uns zunächst hierhin und dorthin führte – Höfe, Eingangstreppen, Aufsichtsplattform über den »Frei«stundengängen usw. meinte zu den vielen Zeichnungen und Kritzeleien, kurz nach der Wende seien hier wohl auch Ausländer eingesperrt gewesen; ich sah ein Bleistiftkreuz mit kyrillischen Buchstaben darin. Man hat, sicher vor längerer Zeit, Zellenräume vergrößert dadurch, daß man 2 Zellen zu einer gemacht, also Trennwände herausgenommen hat, So kam es, daß ich Zelle 98 nicht wiederfand. 27.8.61 Am vormittag wurde überraschend die Zellentür aufgeschlossen,und ein neuer Mithäftling trat zu mir, den ich mit Erleichterung begrüßte. Es war Herr G.K., ca. 65 Jahre alt, bis zur Festnahme tätig beim Verlag Volk und Wissen als Korrektor. Herr K. wurde wegen Hetze angeklagt und verurteilt (Antrag der Staatsanwaltschaft: 2 1/2 Jahre Gefängnis – Urteil: 2 Jahre Gefängnis). Herr K. wollte am 27.8. gerade mit seiner Frau zu Hause seinen ersten Urlaubsmorgen feiern. Er hatte sich soeben im Badezimmer seiner Wohnung gewaschen und rasiert, als er völlig unvorbereitet von 2 oder 3 Beamten im Auto abgeholt und in die Magdalenenstraße gefahren wurde. Herr K. war westlich orientiert. Er hatte an den politischen Versammlungen seines Betriebs pflichtgemäß teilgenommen und war auf den letzten Versammlungen um seine freie Meinungsäußerung zum 13.8. 3.8. 61 6 gebeten worden. Herr K. hatte nur widerstrebend das Wort ergriffen und sich dann mit den Maßnahmen des 13. August nicht einverstanden erklärt. Herr K. war als Buchdruckerfachmann Jahrzehnte hindurch Gewerkschaftsmitglied. Von 1945 bis 1946 war er Mitglied der IPD, trat jedoch nach dem Gründungsparteitag der SED aus der Partei aus. Da ich G.K‘s spätere Anklageschrift lesen konnte,weiß ich, daß

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sich sein Austritt aus der Partei ungünstig auf sein Urteil auswirkte. Die meiste Zeit des Tages war Herr K. unten bei den Vernehmungen. Von den Briefen, die ich später, nach meiner Entlassung, von G.K. erhielt, möchte ich zwei aus den Jahren 1964 und 1965 heranziehen, um G‘s menschliche Haltung zu illustrieren. Die in dem ersten Brief auftauchenden »Windmühlen« waren eine Umschreibung unserer heftig kreisenden Arme, als wir in unserer monatelang ungelüfteten, heißen Zelle ein typisch knastologisches Ventilationssystem ausprobierten. Der Roman »Esther Waters« des irischen Schriftstellers George Moore, auf den G.K. im zweiten Briefauszug zu sprechen kommt, tauchte im September und Oktober 1961 in manchen unserer Zellengespräche auf. Ich hatte das Buch im Sommer 1960 in einer Übung des Englischen Seminars kennengelernt. Brief vom 12. 6 .64 Wir haben hier heute ca. 30°+, also ein schöner schweißtreibender Sonntag, der mich ein wenig an unsere »Windmühlen» in der M.-Straße erinnert. Zurückschauend verlieren ja solche Erinnerungen an Schrecken, zurückbleibt der Zorn – und selbst der verschwindet wenn nicht ganz – so doch etwas: setzt man menschliche Dummheit und menschliche Überheblichkeit in Rechnung. Wir wollen nicht vergessen, L. E., aber alles, was geschah in unserem Leben ( und besonders für Sie, L. E., hat das Geltung als den Jüngeren), richtig registrieren. – So wird selbst das Negative zum Positiven. 5.4.65 Brief vom 15.4.65 Aber nun erst einmal zu den Neuigkeiten in Ihrem Brief, L. E. Ich entsinne mich noch sehr gut der »guten (?) alten Zeit» und unserer »Märchen-Abende« vor dem Abendflieger und nach dem Abendläuten. Sehen Sie, L. E., wie rasch alles vorüber geht und was im Laufe der Jahre schon wieder es an Neuem gegeben hat. Und nun soll also »Esther Waters« noch zu besonderen Ehren gelangen. Wie schön, daß Sie sich ein solches Thema (d. h. für meine Staatsexamens-Arbeit) ausgesucht haben. 28.8.61 Im Stillen hatte ich gehofft, nach Hause gehen zu dürfen, da meine Mutter heute Geburtstag hatte. 29.8. oder 30.8.61 Ein dritter Gefangener kam auf Zelle 112: Herr H., ca. 19 Jahre alt, später wegen Paßvergehens verurteilt zu etwa 8 Monaten Gefängnis. Herr H. war etwa seit dem 16.8. 61 in Haft und berichtete gleich, daß er mit Gefangenen zusammen gewesen sei, die wegen politischer Vergehen zu vielen Monaten und Jahren Gefängnis verurteilt worden seien. Wie sehr wir Gefangenen damals 992 ersenach Neuigkeiten lechzten, kann man indirekt auch aus einer Tagebuchnotiz vom April 1992 hen: Wir sind mehrmals den Gang vor den Zellen entlanggegangen.An den Enden des Ganges große rote Lampen, die man auch heute noch anschalten kann. Früher leuchteten sie auf, wenn einer der Gefangenen geführt wurde, wie der eine Aufsichtsbeamte sagte. Ich habe keine Erinnerung an diese Einzelheit; möglicherweise hatten sie damals andere Mittel, um die Gefangenen ja ganz weiträumig voneinander fernzuhalten. Den kleinen weißen Schildern an den Zellentüren mit den Hinweisen »18 cbm« und »21cbm«, die meiner Meinung nach damals überall angebracht waren, begegnet man jetzt kaum noch; wir haben nur eins bewußt gesehen. Der Raum, in dem damals einmal am Tag die Kübel entleert und neu mit Wasser und Chlor gefüllt werden mußten, war auch nicht wiederzuerkennen. Man hat den Ausguß ja auch hicht mehr benötigt, weil irgendwann einmal alle Zellen richtige Toiletten erhielten. Übrigens befanden sich jetzt über einigen Waschbecken Spiegel – völlig undenkbar 1961. Die nahen Kirchenglocken waren von Anfang an das große Wunder. Wie der jüngere Aufsichtsbeamte sagte, gab es das in Hohenschönhausen nicht. Dort das schreckliche »U-Boot«; dort Zellen, in denen der Gefangene nur stehen konnte; dort wohl auch Kellerzellen. In der Magdalenenstraße hatten sie keine Kellerzellen gefunden, sagte er. »Abhörmöglichkeiten in den Zellen?« Auch dafür habe man keine Anhaltspunkte, wohl aber in den Vernehmerzimmern. Und das gab es auch, daß Gefangene von anderen ausgehorcht wurden. Der Blick vom Freistundengang auf die Spitzen der Kirchtürme war ein weiteres Wunder. Daran daß die Glaubenskirche uns so wunderbar


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nahe war, erinnerte mich G. K. in seinem Brief vom 14.1o.63 14.1o.63: 4.1o.63: Beiliegend ein Photo von er Glaubenskirche in Lichtenberg. Besonders die Türme sind wohl noch eine Erinnerung, die trotz allem für uns eine tröstliche ist. Der Herbst ganz besonders macht sich auch bei uns, ganz wie in London bei Mr. E., mit Ischias u.a. »schönen» Begleiterscheinungen bemerkbar. Aber alles ist zu ertragen mit Ihren schönen Worten, L. E., mit denen Sie mich einst begrüßten: Glaube, Hoffnung, Geduld.

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September, 1961 Der USamerikanische Schauspieler James Gandolfini wird in Westwood geboren.

11.9.61 .9.61 Gegen 18 Uhr wird mir meine Anklageschrift übergeben. Ich erhalte einen Schock, weil diese über Erwarten umfangreich ist. Beim öffnen des Kuverts lese ich, daß ich mit 4 weiteren Gefangenen verurteilt werden soll. Termin ist am 14.9.61. 13.09.61 3.09.61 Am späten Nachmittag werde ich nach unten zu Rechtsanwalt Ch. (meinem, Pflichtanwalt) geführt. Ich: »Herr Rechtsanwalt, ich mache mir Gedanken um zu hause. Meine Mutter ist 75, mein Vater wird bald 70.« – Ch.: »Wieso ist Ihre Mutter 75? Ich denke, Ihre Großmutter ist erst 78 Jahre!« – Ich: »Es ist meine zweite Mutter...!« – Ch.: »Ach so, ja! Ich las es ja im Protokoll...« Gegen Ende des Gesprächs bitte ich ihn, meinen Eltern zu schreiben, daß mein Glaube mir Kraft gibt. Schließlich teilt er mir mit: »Also, Herr B., morgen ist nun Ihr Termin. Ich sage Ihnen, Sie werden 2 Jahre bekommen.« Als ich ihn fassungslos ansehe und sage: »das ist doch zuviel!«, entgegnet er: „Sehen Sie, wenn Sie das morgen vor Gericht erfahren würden, würden Sie zusammenklappen. Und das darf doch nicht sein.« Nach einer kurzen Weile bestätigt er: »Ja, 2 Jahre. Etwa die Hälfte müssen Sie abmachen.« »Aber, Herr Rechtsanwalt, kann ich denn nicht Weihnachten zu Hause sein?!« – »Dieses Weihnachten wohl noch nicht. Nächstes Weihnachten vielleicht.« Nachdem der Anwalt gegangen war, wurde ich wieder meinem Vernehmer vorgeführt. »Na, wer war eben da?« – »Mein Rechtsanwalt, Herr Ch., er wird mich morgen vertreten.« – »Haben Sie Ihre Anklageschrift da? Kann ich mal sehen!« Er las sie mit Interesse. »Was sagt denn Ihr Rechtsanwalt?« – «Er sagt, es würden 2 Jahre werden. Das ist doch zuviel!« – «Na meinen Sie, Sie können unsere Gesetze ungestraft verletzen!« – »Aber 2 Jahre sind zuviel.« In der ersten Zeit war mir unvorstellbar, daß ich nicht schon »bald« wieder zu Hause sein würde. Worauf kann man sich in einer solchen Situation einstellen? Auf Tage? Auf ein, zwei Wochen? Oder, wenn sie ganz hart sind, ein paar Monate? Dann kam schon früh die Angst hinzu, sie würden mich gar nicht wieder nach Hause, d. h. nach West-Berlin, zurückgehen lassen. Wohl Haftentlassung, aber dableiben müssen in Ost-Berlin. In einer der Vernehmungen am 20. 8. kam es ungefähr so aus mir heraus: »...aber zu Weihnachten muß ich doch zu Hause sein.?« Darauf er: »Spätestens in einem halben Jahr haben wir den Friedensvertrag. Dann ist West-Berlin eine Freie Stadt, und Sie können nach Hause gehen.« Ich schüttelte hilflos den Kopf. 4.9.61 14.9.61 Terminbeginn gegen 8.30 Uhr. Fünf Angeklagte. 1.Strafsenat, Stadtgericht Berlin Mitte. Oberrichter G. und zwei Beisitzer. Staatsanwältin N. Oberrichter G: »Bischof Dibelius hat gesagt, die Atombombe wäre gar nicht so schlecht; je mehr Menschen durch sie stürben, desto mehr kämen eher in den Himmel! Was sagen Sie dazu?« – Ich: »Das kann ich nicht verstehen.« – Oberrichter G: »Das können Sie nicht verstehen! Es ist aber so! Was sagen Sie dazu?« – Ich: »Das finde Ich nicht richtig.« Die Staatsanwältin charakterisierte mich etwa so: der Angeklagte B. ist politisch verhetzt, er wollte den starken Mann spielen und glaubte, in Befreiungsmission zu handeln. Immer wieder wurde mir vor Gericht ironisch vor Augen gehalten, ich hätte jemanden aus der »unterdrückten Zone befreien« wollen. Ich hingegen versuchte meine Handlung als Freundschaftspflicht und persönliche Gefälligkeit hinzustellen. Im Schlußwort sagte ich: »Ich bekenne mich zu meiner Tat genauso wie der Angeklagte Ste. Ich bitte das Gericht


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um milde Beurteilung.« 15.9.61 Ebenfalls Termin. 18.9.61 Nachmittags Urteilsverkündung. Keiner der Angeklagten nahm das Urteil an. Wir 5 Angeklagten waren einander völlig unbekannt: 4 West-Berliner, 1 Ostdeutsche. Es ging um Flucht und Fluchthilfe, aber jeder Fall lag anders. Mein Freund W. S. trat in diesem Prozeß nicht in Erscheinung. Er hatte ein getrenntes Verfahren. 2. April 92 Sonntag, 12. Vorgestern waren Gisela und ich, wieder dank D‘s Vorbereitung und z.T. von ihm begleitet, zunächst in der Littenstraße. Vorher hatte ich geglaubt, diese Besuche würden nicht sehr kräftezehrend werden. Tatsächlich waren sie aber bedrückend, anstrengend und von großem Gewicht. Wir gingen zum Nebenhof, wo damals die Transporte aus der Magdalenenstraße hineinfuhren, dicht bis zu einem Aufgang, wo man die Seitentreppen hochging. Dieser Teil war damals völlig abgeschirmt. In dem Trakt, wo zu DDR-Zeiten die politischen Prozesse stattfanden, ist bereits viel umgestaltet worden. Es war aber doch vieles wiederzuerkennen: der Zellenraum, für wenige Minuten der Aufenthaltsort vor dem Prozeß; der große Verhandlungsraum, in dem meine »Zeugenaussage« sich abgespielt hatte; höchstwahrscheinlich befanden wir (uns dann genau in dem Raum, in dem im September 61 an drei Tagen der Prozeß durchgeführt wurde. Schlimm war jetzt das Hinaufgehen. Jede Stufe machte den Schritt schwerer. Ich fühlte mich gelähmt, alle beide empfanden wir es als sehr anstrengend. Verurteilt wurde ich wegen »Verleitung zum Verlassen der DDR«. Zwar lag tatsächlich nur versuchte Fluchthilfe von und zwar war sogar im Urteil selbst mehrmals lediglich von »Hilfe« die Rede, aber eine Art von Einheitfront von Gericht, Staatsanwältin und Pflichtanwalt war sich einig: zwei Jahre Gefängnis wegen »Verleitung«. Als Gefangener in der Magdalenenstraße hatte ich keine Chance, aus meiner Nicht-Annahme des Urteils juristisch etwas zu machen. Meine Eltern verdenkte ich es, daß sie nach vielen Recherchen jenen Ost-Berliner Rechtsanwalt mit der Berufung beauftragen konnten, der zuvor der Verteidiger meines Freundes W. S. gewesen war. Wie folgenden Notizen aus meinem Hafttagebuch zeigen, konnte ich zu diesem neuen Anwalt, Herrn Dr. P., volles Vertrauen haben. 22. oder 23.9.61 Rechtsanwalt Ch. besucht mich. Er meint von den 2 Jahren würde ich trotz Berufung nicht herunterkommen. Zuvor hatte zum ersten Mal Dr. P. mit mir sprechen können: wir müßten die Berufung versuchen, Verleitung läge nicht vor, höchstens Beihilfe. »Sie, Herr B., tun mir am meisten leid.« W. S. habe 8 Monate Gefängnis erhalten, das sei sehr günstig für ihn. Dr. P. besuchte mich auch später, wohl zwei oder drei Mal. Dabei erklärte er mir ganz offen: »Jetzt sehen Sie mal, wie es ist, wenn einer Unrecht leidet. Es ist schlimm, wenn sich ein Staat nicht mal an seine eigenen Gesetze hält.« Er teilte mir mit, er habe die Berufungschrift auch nach Hause gesandt. Die politische Handlung des Ostens – der Mauerbau – nannte er ganz offen eine Handlung von Schildbürgern. Herr Dr. P. hatte sehr großes Verständnis für meine Not und für meine Eltern. Er war tatsächlich von der Ungerechtigkeit mir gegenüber überzeugt. Also doch hell lodernder Zuspruch – Hoffnung auf ein gerechteres Urteil? Nur ein Strohfeuer? Für einen Gefangenen stirbt die Hoffnung nie. In unserer Zelle fühlten wir uns aufgebaut beim Lesen folgender Zeilen aus der Berufungsschrift meines neuen Anwalts: Dieser (=W. S.) war bereits fest entschlossen, mittels einen ihm nicht zustehenden Presonalausweises die DDR zu verlassen und hat andere, nämlich G. D. und den Angeklagten B., veranlaßt, ihm Hilfe zu leisten. Was B. dann unternahm, ist ein klarer Fall von Beihilfe zu der Republikflucht des S., wobei noch besonders erwähnt werden muß, daß B. von S. zu dieser Beihilfe angestiftet wurde... Der Angeklagte S. ist inzwischen rechtskräftig zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Aus einem Vergleich mit diesem Strafmaß ergibt sich, daß das gegen B. erkannte Urteil zu hoch ist. Auf jeden Fall wird die Strafe der Höhe nach gerügt. B. ist nach den nicht


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31.

Oktober, 196 Der neuseeländische Filmregisseur, Filmproduzent, Drehbuchautor und Schauspieler Peter Jackson wird in Pukerua Bay geboren.

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angefochtenen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz nur durch S. in die Straftat hineingerissen worden, was S. selber zugibt. Inzwischen weiß ich längst auch von meinem Freund W.S. selbst, daß er seine Fluchtabsicht mit Hilfe eines Personalausweises zugegeben hatte (»Ich habe mit Eberhard B. über meine Absicht zur Flucht gesprochen, aber ob ich dann wirklich rübergegangen wäre, wenn ich einen Ausweis bekommen hätte, weiß ich nicht.«, so etwa hatte er es dem Vernehmer gesagt.) Obwohl meine Eltern dann auch noch die Karte, die ich von W.S. am 18.8.61 erhalten hatte, als Beweismittel nach Ost-Berlin schickten und obwohl Dr. P. in einer Ergänzung der Berufungsschrift festhielt so hat in seinem Strafverfahren zugegeben, daß er zur Republikflucht fest entschlossen war und deshalb B. zu sich bat, damit er ihm aus Westberlin einen Ausweis eines West-Berliner Studenten besorge, blieb das Ost-Berliner Kammergericht bei der Entscheidung: 2 Jahre Gefängnis wegen Verleitung. Es ist schlimm, wie Dr.P. bei seinem ersten Besuch in der Magdalenenstraße mutig formuliert hatte, wenn sich ein Staat nicht mal an seine eigenen Gesetze hält. 21.10.61 Gegen 11 Uhr wird Herr K. aus der Zelle 112 geholt. Wir vermuteten, daß er auf Transport ging. Nachmittag: Ich wurde auf Zelle 113 verlegt. Dort waren D. K. und K. E. meine Mitgefangenen. Beide waren schon rechtskräftig verurteilt und warteten täglich auf ihren Transport. Vor allem mit D. K. habe ich verschiedene politische Gespräche, natürlich in aller Vorsicht, geführt. D. K. und K. L. erzählten mir, daß sie in ihrer Zelle gehört hatten, daß eines Abends ein Gefangener der Nebenzellen gerufen hätte: »Nieder mit Ulbricht,es lebe Brandt!« Kurz darauf sei der Gefangene aus der Zelle geschlossen und weggeführt worden.

1.11.61 Gegen 6 Uhr Das Wachpersonal gab Morgenkaffee und Brotschüsseln aus. Vor uns war Z. 112 an der Reihe. Wir hörten, daß die Wache die Essensklappe der Zelle wie üblich aufriß und kurz darauf fragte: «Was machen Sie denn da?« Daraufhin wurde ... Den ersten Brief von zu Hause: 15 Zeilen. Aus dem 1. Brief meiner Eltern: Lieber Eberhard! Es ist für uns sehr beruhigend in unseren Ängsten und Sorgen, daß uns Herr Dr. P. hin und wieder einen Gruß von Dir beistellen kann. Aber wir würden uns natürlich ganz besonders freuen, wenn Du selbst uns ein paar Zeilen schreiben dürftest, wie es Dir gesundheitlich geht. Auch wir haben Halt und Zuversicht gefunden. 27.11.61 Vom 1. bis 27.11. hatte ich wegen großer Schmerzen in der Wirbelsäule laut Arztanweisung »Liegeerlaubnis nach Bedarf«. Vormittags mein Transport nach Rummelsburg. Noch ein allerletzter Blick zurück mit Hilfe einer Tagebuchaufzeichnung vom April 1992: Es war gut, daß wir das Gebet nicht nur in der jetzigen Zelle 93 gebetet haben. Wir sind am Schluß ganz bewußt in den alten Raum und eigentlichen Zellenraum, Nr. 98 hineingegangen, um noch einmal zu lesen. Was hätte so ein gedrucktes Werk 1961 bedeutet! Vergleichbar Bonhoeffers »Von guten Mächten«. Es machte damals einen erheblichen Teil des Schreckens und der Isolation aus,daß niemand von uns irgendeine gedruckte Zeile bekam, abgesehen von der später ausgehändigten Anklageschrift. Daß ich im November den Brief von meinen Eltern bekam (natürlich hatte man die West-Berliner Briefmarke vorher abgerissen), daß ich den Brief behalten durfte, war enorm. 2. In Rummelsburg Das Hafttagebuch, nach meiner Heimkehr niedergeschrieben, hält auch fest, welche Begegnungen, welche Schikanen und Befürchtungen, welche großen und kleinen Hoffnungen mir damals wichtig waren. Wie im vorangehenden Teil sind diese alten Bruchstücke umgeben von jüngerem

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Oktober, 1961Die Wasserstoffbombe Zar wird in Nowaja Semlja gezündet. Die Detonation gilt bis heute als die größte je von Menschen verursachte Explosion.

10.

November, 1961 Das Übereinkommen über den Schutz des Bodensees gegen Verunreinigung tritt in Kraft

29.

November, 1961 Im Rahmen der Mission Mercury-Atlas 5 wird mit dem Schimpansen Enos an Bord ein Orbitalflug der NASA mit einer Atlas-Rakete gestartet. Nach zweimaliger Umkreisung der Erde wassert die Mercury-Kapsel mitsamt Tier erfolgreich.


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10.

Dezember, 1961 Rudolf Ludwig Mößbauer erforscht die Gammastrahlen. Der von ihm formulierte Mößbauer-Effekt ermöglicht feinste Energiedifferenzund Frequenzmessungen, mit denen Teile von Albert Einsteins Relativitätstheorie nachgewiesen werden können. Hofstadter hat den Schalenaufbau der Atomkerne erkannt und 1953 gezeigt, dass Protonen und Neutronen nicht elementar, sondern aus noch kleineren Teilchen aufgebaut sind.

Erinnerungsgestein, nämlich dem »therapeutischen« Besuch im Frühjahr 1992. Im Vergleich dazu ist das Hafttagebuch viel näher dran am Ort und Zeitpunkt des Geschehens. Manches Interessante habe ich aber im Frühjahr 1963 nicht niedergeschrieben, vermutlich weil meine Akzentsetzung damals eine andere war. So fehlen z. B. Hinweise auf die Propagandaansprache eines Politoffiziers am oder um den 13.8. 1962 zwecks Hervorhebung irgendeinen Weltraumfluges oder Hinweise auf die verborgene Nervosität des Gefängnispersonals während der Kuba-Krise im Herbst 1962. Der Winter 1962/63 war kalt und streng. Wohl überall im Osten mußte Energie gespart werden; das hieß für uns Gefangene: einige Wochen lang frühes Ausschalten der Zellenbeleuchtung und somit etwas längere Nachtruhe. Auch manche menschliche Geste dieses oder jenes VP-Angehörigen war und ist zu registrieren. Ich denke da an die aufmunternden Worte des »Sani« im Frühjahr 1962. An einem frühen Morgen Mitte 1962 kam bei allen Gefangenen der Station Dora in Haus 6 so etwas wie Jubel auf, die Zentrale hatte ihrem Lautsprecher-Kommando »Nachtruhe beenden!« eine Mitteilung hinzugefügt: in der vergangenen Nacht habe die deutsche Fußballnationalmannschaft hei der Weltmeisterschaft in Chile die Elf der CSSR geschlagen. Alle wußten: damit waren Sepp Herbergers Mannen eine Runde weitergekommen. So war für viele von uns dieser Tag gerettet. 27 27.11.61 Ich kam nach Haus 3 A, Zelle 23. Einzelhaft. Erinnerung am 10. April 1992 Gestern haben Gisela und ich Rummelsburg aufgesucht. Die Stufen hinunter zur Station A sind schrecklich. Da manches noch fast genauso dasteht wie 1961 – das Zimmer des Stationsleiters, die Gitter – ist alles unverändert schrecklich. Zum ersten Mal beteten wir gemeinsam den Text von Vikar Rickelhoff in Haus 3 A. Ganz ungestört. Links und rechts von uns die Zellengänge. In einem Abschlußbezirk. 28.11.61 Hundertster Tag der Inhaftierung. Ich durfte nach Hause schreiben. Erste »Seelenfilzung« durch Stationsmeister Haus 3 A. Durch ihn erfuhr ich dabei, daß »immer noch« junge Menschen in West-Berlin an der Grenze »provozierten«. Er wollte wissen, warum meine Eltern 1949 nach West-Berlin gezogen sind. Einmal im Monat durfte ich einen mit Bleistift geschriebenen Brief von 20 oder 30 Zeilen nach Hause schicken. Diese Briefe wurden ebenso wie die alle vier Wochen eintreffenden Briefe zensiert.

15. 5.12. 61 15.12. Zusammen mit D. F., einem etwa 23 Jahre alten Medizinstudenten aus Leipzig, katholisch-kirchlich eingestellt, verurteilt wegen Republikflucht zu 16 Monaten Gefängnis, komme ich nach Haus 6 D, in den »Saal« des Kommandos Wäscherei. D.P. hatte nach dem 13. 8. die Flucht in den Westen versucht, zunächst allein in einem Boot über die Ostsee, was mißlang dann in Berlin, schwimmend, wobei er festgenommen wurde. Ich konnte sein Urteil (oder seine Anklageschrift?) lesen. D. F. und ich verstanden uns gut. Er sagte immer wieder in vertaulichen Gesprächen, daß er nicht in Ostdeutschland bleiben könne und wolle; er wolle nur in Freiheit leben. Er war einer der sympathischsten Gefangenen: politisch zuverlässig und moralisch sauber (dies trifft nicht auf alle politischen Gefangenen zu). Besonders interessierte er sih für die angelsächsische Kultur. D. F. setzte sich sogar öffentlich – vor den Mitgefangenen – für mich ein, daß ich wegen meines Wirbelsäulenschadens keine schweren Essenskübel schleppen brauchte. 0. April 1992 992 Erinnerung am 10. Haus 6 D. Der große Schlaf- und Tages-Raum von damals hat sich n mehrere Unter-, Zwischen- und Vorräume verwandelt; die damaligen Wasch- und Toilettenanlagen sind noch wiederzuerkennen, wenn


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1961 – 1963

auch – allein schon durch die Verdrecktheit – enorm verändert. Was mir beim Beten der Meditation die Stimme stocken ließ: wie damals der schöne Blick auf die Stralauer Kirche, besonders an den klaren Wintertagen 61/ 62, und gar nicht weit dahinter das von so vielen ersehnte West-Berlin! Wie damals das große Gitter, vor dem einige von uns am Heiligen Abend 1961 961 kauerten. Während die VP iiber Lautsprecher J. S. Bachs »Jauchzet, frohlocket« übertrug, sangen die allermeisten Gefangenen der beiden in D untergebrachten Kommandos auf den Bänken schweinische Lieder oder starrten hilflos

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2.

Dezember, 1961 Revolutionsführer Fidel Castro erklärt sich in einer Rundfunkansprache zum Marxisten-Leninisten und proklamiert die Einführung des Kommunismus in Kuba.

vor sich hin. Ende Mai 1962 wurde ich plötzlich herausgeholt, sollte in den Gang gegenüber, rechts von der Treppe, gehen. In einem der ersten Räume übergab mir der Volkspolizist den Brief meines Vaters mit der Nachricht, daß meine Großmutter am 25. Mai gestorben war. Bald darauf mußte ein großer Teil unseres Kommandos weg, »auf Transsport«, darunter D.F.. Neue, tiefe Traurigkeit, wenn man sich angesichts dieser Eindrücke den Worten überläßt. ‚Wenn ich mich entziehen möchte, eigene Wege suche und gehe, dann warte, warte auf mich und nimm mich auf, wenn ich müde zu dir zurückkomme...‘ 16.12.61 Mein erster Arbeitstag in der Wäscherei, Abteilung Buchbinderei. Hier zusammenarbeiten mit vorbestraften Kriminellen, unter ihnen einem 4 oder 5 mal vorbestraften Heiratsschwindler. Der Chef des Kommandos Wäscherei war VP Meister Bü. Sein Name schien den älteren Gefangenen, die nicht zum ersten Mal in der Strafanstalt Rummelsburg waren, bekannt zu sein. Bü. war ein mittelgroßer Mann, streng und kalt. Jeden Morgen holte er sein Kommando von Haus 6 ab und führte es zur Wäscherei. Dort saß er in seinem kleinen Zimmer oder ging durch die Arbeitsräume. War die Arbeitszeit vorbei, führte er seine Kolonne in den Bau zurück. Antreten ließ immer ein Brigadier, ein beauftragter Gefangener, der jedes mal Meldung machen mußte. Erst dann wurde abmarschiert. In strammen Dreierreihen ging es »im Gleichschritt, marsch« zur Wäscherei und zurück. Alles mußte sehr diszipliniert und militärisch aussehen. Allerdings vermied der Meister Bü. den Begriff »militärisch«. Weil ich lasch und unsoldatisch ging, sprach er mich an, wir seien doch Sportler und müßten die Arme im Takt des Marschierens bewegen. Er machte es regelrecht vor. Es mißfiel ihm sehr, als ich sagte, ich könne das nicht. 0. April 1992 Erinnerung am 10. Der Eingang der Wäscherei, zuerst das Zimmer vor VP-Meister Bü. Die Waschtrommeln, die Duschanlage, die Wäschemangeln. Stufen hinauf und hinunter. Dunkelheit im Keller. Der Dachboden. Verschlossene Türen. Die damalige Buchbinderei? Die damalige Bücherei? Dort hinter einer neuen Wand? Restspuren auf dem Fußboden könnten auf die Stelle hinweisen, wo damals die Holzbalustrade der Bücherei war. Aber auch möglich, ‚daß sie doch etwas höher lag. Es wurde fast zu viel. Dann im Vorraum, ging das Lesen und Beten ruhiger. Beim Weggehen sagte Gisela draußen: »Einmal hast du gelesen, das da gar nicht steht: ›frei‹ Den Brief meiner Eltern vom 16.12. 61, gedacht zum Weihnachtsfest, erhielt ich am 14.1.62. Hieraus die wichtigsten Zeilen: Lieber Eberhard! Am 6.12. haben wir Deinen Brief vom 28.11. erhalten und damit das erste Lebenszeichen von Dir selbst. Wir werden das Weihnachtsfest still, aber in enger gemeinsamer Verbundenheit verbringen. Die beiden folgenden Briefe konnte ich freilich erst nach meiner Entlassung lesen. Der Zuspruch galt in erster Linie meinen Eltern, kam aber durch sie auch mir zugute. Den zuerst herangezogenen Brief hatte mein lieber Freund JO. an seinem Geburtstag meinem Vater zu dessen 69. Geburtstag geschrieben. Der danach zitierte einfühlsame Brief vom 3. Advent 61 kam von der Sekretärin des Englischen Seminars der FU, Frau I. K. – meinen Eltern zum Trost. 12.12. 61 Sehr verehrter, lieber Herr B.! Ich habe mich so darüber gefreut, daß Eberhard in seiner Lage noch an meinen Geburtstag gedacht hat. Es war für mich die schönste Geburtstagspost. Ich habe in diesem Jahr meinen Geburtstag nicht gefeiert. Wenn Eberhard nicht dabei ist, wäre es doch keine richtige Feier geworden.


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3. Advent 61 Sehr geehrter Herr B.! Über das weitere Schicksal Ihres Herrn Sohnes habe ich nichts gehört und es dürfte vermessen erscheinen, zu hoffen, daß er Ihnen zu diesem Weihnachtsfest im wahrsten Sinne des Wortes «wiedergeschenkt« wird. Gerade gestern bei unserer Weihnachtsfeier des Englischen Seminars gedachten wir all derer, die nicht unter uns weilen konnten. Es war wohl kaum einer – außer mir – dabei, der Eberhard B. mit einem guten Gedanken nahe sein

1.

Januar, 1962 Die Beatles machen die ersten Probeaufnahmen bei der Plattenfirma Decca und werden mit der Begründung abgelehnt, dass Gitarrengruppen nicht mehr modern seien.

konnte, da, soweit ich weiß, niemand etwas von seinem grausamen Schicksal ahnt. Ich dachte daran, wie furchtbar ihm in Rückerinnerung an vergangene Weihnachten gerade diese Zeit 199.1. 62: Lieber Eberhard! Und sein muß! Aus dem Brief meiner Eltern vom 9. 1. 62, erhalten am 19. haben wir nur nach und nach behutsam orientieren können, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Sie läßt Dich sehr herzlich wiedergrüßen. Auch Deinen Freunden haben wir Deine Grüße ebenso bestellt, den Schulkameraden durch JO., der Deiner in treuer Fürbitte gedenkt. Anfang Januar 62 Ein Major (in VP-Uniform) besucht mich in der Wäscherei. Allgemeine Fragen: was arbeiten Sie, wie geht es Ihnen, weshalb wurden Sie verurteilt, was machen Ihre Eltern? Ich betonte, daß meine Eltern mit meiner Tat nicht einverstanden waren. Major: »...und schuld daran ist Walter Ulbricht mit seiner Mauer?« – Ich: »Nein, ich habe meine Schuld eingesehen.« Bei der Einsicht »meiner Schuld« blieb ich bis zu meiner Entlassung. Zum Glück bemühte sich keiner der VP-Angehörigen um eine Erläuterung, was ich unter «meiner Schuld« verstand. Mit D. F. und später mit H. W. diskutierte ich ausführlich darüber. D. F. verstand mich zum Teil, H. W. teilt meine Ansicht in diesem Punkte widerstrebend. Mitte Februar 62

17.

Januar, 1962 Der kanadisch-US-amerikanische Schauspieler Jim Carrey wird in Ontario geboren.

Ich werde zu demselben Major (diesmal in Zivil) nach Haus 4 geholt. Diesmal sind zwei weitere Polizeiangehörige bei ihm. Man macht sich Notizen. Wieder die gleichen allgemeinen Fragen. Dann aber: Major: »Gehören Sie einer Gruppe, einem Verein an?« – Ich: »Nein.« – Major: »Kennen Sie eine Gruppe ostdeutscher Studenten?« – Ich: »Nein.« – Major: »Wissen Sie, wo jetzt Ihr Freund (W. S.) ist?« – Ich: »Nein.« – Major: »Welche Professoren hatten Sie?« Ich zählte meine Professoren der Anglistik, die Prüferin im Philosophicum und den Pädagogikprofessor auf. Nach den Geschichtsprofessoren fragten sie nicht. Major: »Waren Sie mal in England, wie lange?« Sodann: ob ich wieder dorthin fahren wollte. Dann: »Kennen Sie britische Soldaten, Kasernen in Westberlin?« – Ich: »Nein.« Wie stehen Sie zu England? / zu Amerika? / zu Frankreich?« Im großen und ganzen gab ich mich in allen „Seelenfilzungen“ einsilbig und war bescheiden-korrekt-reserviert. Der Major empfahl mir marxistische Lektüre. Ich trug ihm meine Wünsche hinsichtlich englischer Fachliteratur vor: englische Grammatik, altenglische Grammatik! Ich bat ihn, daß ich diese Bücher kaufen dürfe. Gleichzeitig sagte ich, daß ich deswegen schon einige Dienstzettel an den Stationsmeister geschrieben hatte, die unbeantwortet geblieben seien. Der Major versprach, er wolle sich erkundigen.

Ende Februar 62 erhielt ich die nächste Post von meinen Eltern; daraus der wichtigste Eindruck: Lieber Junge, wir haben den Eindruck, daß Du eine sehr schlinme Zeit überstanden hast und nun auch weiter durchhältst. März 62 Ich hatte einen neuen Dienstzettel wegen meiner Bitte um englische Bücher geschrieben und abgegeben. Eines Tages erschien einer der VP-Meister von Haus 6 in der Wäscherei. In Gefangenenkreisen lief er unter dem Namen »Student«. »Student«: »Sie haben einen Dienstzet-


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tel wegen Fachbücher geschrieben?« – Ich: »Ja, Herr Polizeimeister, ich habe um Englischbücher gebeten. Darf ich mir welche vom HO-Einkaufsgeld bestellen?« – »Student«: »Nein. Es finden schon genug Kurse hier statt.« – Ich: »Ich wollte die Bücher nur für mich.« – »Student«: »Wir in der Anstalt haben unsere eigenen Sicherheitsbestimmungen. Nein!«

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14.

Februar, 1962 Der österreichische Schauspieler Josef Hader wird in Waldhausen geboren.

März 62 Ein anderer Major in VP-Uniform ließ mich zu sich nach Haus 4 kommen. Die alten Fragen ,vor allem, ob ich Mitglied von Vereinen bin (»Nicht mal im Sportverein?«). Seit Mitte März 62 Teilnahme am Chor. Gefangene der Arbeitskommandos durften am Chor teilnehmen, sofern ihre Führung in Ordnung war. Chorleiter war bis Anfang Juli Vo. vom Kommando Entwurf. Die Teilnahme am Chor war eine gute Gelegenheit, andere Gefangene zu sprechen bzw. kennenzulernen: H.A., den ich schon kurz nach meiner Festnahme im Bahnhof Friedrichstraße gesehen hatte, H.-J. vd. Dieser, ein beinamputierter Medizinstudent der Humboldt-Universität, war wegen Hetze zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt worden; davon hatte man ihm 1 Jahr »geschenkt«. H.-J. Vö. Dieser ein beinamputierter Medizinstudent der Humboldt-Universität, war wegen Hetze zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt worden; davon hatte man ihm ein Jahr »geschenkt«. H.-J. Vö. nahm auch begeistert am evangelischen Gottesdienst teil. Im Aprilbrief meiner Eltern tauchte das verheißungsvolle Wort »Gnadengesuch« auf: Lieber Eberhard! Soeben komme ich von Omi, der ich Deine Grüße bestellt habe. Der Gedanke an Dich u. die Hoffnung auf Dich sind es, was sie aufrecht erhält. – Sieh zu, daß Dich weiter so führst, daß Du ein gutes Führungszeugnis, bekommst. Das ist wichting für das Gnadengesuch, das wir zu gegebener Zeit einreichen werden. Wir können uns in Deine äußere und innnre Lage sehr gut hineinversetzen, daher wünschen wir Dir u. auch uns allen, daß Du weiterhin behütet wirst und selbst tapfer durchhältst. Bitte schreibe uns jedes Mal, Wie es Dir gesundheitlich geht: in Deinem letzten Brief bist Du hierauf nicht eingegangen. Die Post von meinen Eltern in West-Berlin brauchte unterschiedlich lange; den nächsten Brief vom 13. 3. 5. 62 erhielt ich am 25. 5.; das war der Tag, an dem meine Großmutter sterben sollte. Der Brief vom 13. 3. 5. ließ schon Schlimmes befürchten. »Lieber Eberhard! Wir haben Deinen Brief vorn 25. 4. erhalten und uns gefreut, aus diesem etwas Näheres über Deinen gesundheitlichen Zustand zu hören. Offenbar bekommst Du Spritzen gegen Deine Rückenschmerzen? Wir hoffen nun doch, daß die allgemeine Paketsperre inzwischen aufgehoben oder soweit gelockert ist, daß Du Deinen Paketschein für Dein Geburtstagspaket zum 22. Juni erhalten und Deinen nächsten Brief an uns beilegen darfst. – Krauses und alle Deine Verwandten und Freunde denken ständig an Dich mit ihren Wünschen und Hoffnungen. Von Omi soll ich besonders herzlich grüßen. Es wird natürlich von Monat zu Monat schwerer, sie immer wieder zu trösten und ihr Mut zuzusprechen. Wir sind gesund und hoffen, daß der Tag Deiner Heimkehr nicht mehr allzu fern ist.«

21.

Februar, 1962 In einer neuen Hörspielreihe im Bayerischen Rundfunk kommt erstmals die Figur des Pumuckl vor.

Aus dem Brief meiner Eltern vom 30.5. 62: »Mein lieber Junge! Wir müssen Dir die traurige Mitteilung machen, daß Deine liebe, gute Omi am Freitag, 25. 5. morgens kurz vor 9 Uhr still und sanft eingeschlafen ist.« In Rummelsburg durfte man nur einmal im Monat Post bekommen, und zwar immer nur von demselben, festgelegten Absender. So konnte ich erst nach meiner Rückkehr im April 63 die Beileidsbriefe zum Tod meiner Großmutter lesen. Unter diesen Briefen auch der von meiner Tante H., den sie im Juni 1962 für mich geschrieben hatte: "Mein lieber Eberhard! Wann auch immer Du diesen Brief erhalten wirst, soll er Dir sagen, daß ich immer mit Sorge und Liebe an Dich dachte und Dich täglich in mein Abendgebet eingeschlossen habe. Ganz besonders vermißten wir alle Dich, wie Deine liebe Omi starb, ohne Dich nochmal wiederzusehen. Sie hat vor Jahren viel Leid durchgemacht und infolge ihren langer Krankheit wurden ihre Kräfte und besonders die Nerven verbraucht.«


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21.

Juni, 1962 Im Münchener Stadtteil Schwabing ereignen sich die Schwabinger Krawalle, Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei, die als Synonyme einer neuen rebellischen Jugendkultur und Vorbote der Studentenbewegung gesehen werden.

Juni 62 Erster Auftritt des Chors vor Mitgefangenen. Singen von Volksliedern. Ich sang außerdem noch im Sextett mit, welches zwei ausgesprochen ernste Lieder darbot: »Der Mond ist aufgegangen« einschließlich der letzten Strophe »So legt euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen nieder, ...verschon‘ uns Gott mit Strafen«, und, ebenfalls mehrstimmig, »Abend wird es wieder«. Zu meinem 24. Geburtstag am 22. Juni 62 schrieben mir meine Eltern einen Brief, in dem sie viele Grüße bestellten.Diesen Brief erhielt ich am 29. 6.: »Unser geliebte Kind! Heute endlich nach über 7 Wochen bangen Wartens erhielten wir wieder Nachricht von Dir. Wir haben uns über Deine Betrachtungen in Deinem letzten Brief wirklich sehr gefreut, u. wir können nur hoffen u. wünschen, daß die schwere Zeit für uns alle letzten Endes zum Guten auslaufen möge. Mögest Du den Halt und die Zuversicht weiterhin erfahren u. festhalten! Daß Dir hierfür immer von neuem die Kraft geschenkt werde, ist unser Herzenswunsch für Dich. Es schließen sich an alle Deine Verwandten, Freunde und Bekannten. Von Krauses, Höners u. JO. sollen wir das besonders bestellen.« Die Lasten in der Zeit des Gefangenendaseins waren vielfältig von einer ganz schweren Belastung muß ich nun berichten. Sie hing damit zusammen, daß ich bedrängt, verängstigt und eingeschüchtert in den Verhören bei der Staatssicherheit auch etwas über die allerersten Fluchtgespräche am 13. 8. 61 bekanntgab. Völlig übermüdet und hilflos, aber auch mit dem Gedanken, meinen Freund W. S. zu entlasten, ließ ich den Namen B. fallen. In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten kreisten meine Gedanken stundenlang um die Frage: »wie kann ich B. eine Nachricht zukommen lassen, so daß er gewarnt ist und um Gottes Willen nicht durch die Zone fährt.!« Es dauerte lange, bis jemand im Kommando Wäscherei auftauchte, dem ich Vertrauen schenken konnte und der voraussichtlich bald nach West-Berlin entlassen würde. Schließlich fand ich diesen Boten in G. G., genannt Fiedchen, einem ganz zuverlässigen Kumpel. Ich bat ihn inständig: »Geh nach Hause zu meinen Eltern, sag Bescheid!« In ihren nächsten Brief ließen mir meine Eltern die verklausulierte, erlösende Nachricht zukommen: Lieber Eberhard! Wir freuen uns, daß Du Dein Geburtsstagpaket rechtzeitig bekommen hast. Der Tag selbst war auch für uns in der Erinnerung an frühere Zeiten sehr schwer. Zu unserm Trost besuchte uns an diesem Tage Fräulein Fiedchen, so daß wir etwas aufgemuntert wurden. Bis in den April 1992 verfolgten mich die mit dieser »Episode« zusammenhängenden Qualen. Da rief ich B. einfach noch einmal an und wollte hören, ob nun wirklich alles gut sei. Er sagte: »Aber ja, Eberhard. Wir denken gern an Euch. Es ist alles gut.«

Anfang Juli 62 Ich habe eine Sprechstunde mit Herrn Dr. P. in Gegenwart eines VP-Meisters von Haus 3. Dr. P. teilt mir u.a. mit, daß ein Gnadengesuch für mich eingereicht worden sei. Über meinen Freund W.S. sagt er: »Er ist schon lange draußen.« Herr Dr. P. macht mir große Hoffnung: »Bis Weihnachten sind Sie lange draußen!« 20.8.62 Der Stationsleiter von Haus 6 D führt ein »Erziehungsgespräch« mit mir, in dessen Verlauf er mir mitteilt, daß die Anstalt für mich ein Gnadengesuch gem. § 346 StPO eingereicht habe. Er selbst hoffe, daß es Erfolg habe. Daraufhin mache ich mir im September von Tag zu Tag große Hoffnungen auf Entlassung. Ende August 62 Das Kommando Wäscherei wird von Haus 6 D nach Haus 2 C verlegt.

0. April 1992 Erinnerung am 10. Das Leben unseres Meditationsetextes wurde dann wohl noch ruhiger in Haus 2 C. Welche Zellen waren es damals? Die alten Zellennummern stimmen mit den jetzigen nicht überein. Wo die Nummer 48 und 52 damals waren, ist aber nicht sehr wichtig . Der Gang jetzt halbdunkel, damals sicher grell


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erleuchtet. Als Gisela nach Namen fragte, tauchte einiges wieder auf; die Zellenzusammensetzung in 2 C war jeweils schlimm. Es war eine neue Art von Ausweglosigkeit in diesen bei den Zellen 48 und 52: nicht das eingeengte Einzeldasein von 3 A, nicht die lähmende Gruppe von 6 D. Hier in 2 C, egal in welcher Zelle, dominierte mehr und mehr und jeden Tag heftiger das Wütende, das Trickreiche, das Häßliche, kurz das kriminelle Element. Natürlich gab es aber auch Kameradschaftlichkeit und sogar Mitgefühl. Für mich wurden jedoch die Tage ab Herbst 62 zu einer neuen Geduldsprobe. Als Gisela nach Namen fragte, tauchte K.K. wieder auf, dieser arme,verzweifelte, biedere Handwerker aus Prenzlauer Berg. Und das waren seine Worte: »Eberhard, sie haben mich zu sehr gekränkt! 5 Monate!« K.K. war ein älterer Mitgefangener, dem man in seinem Betrieb böse mitgespielt hatte. Er konnte auf humorvolle Weise erzählen, was er sich hatte zu Schulden kommen lassen. Wofür hatte man ihm 5 Monate Gefängnis aufgebrummt? Er hatte ein Liedchen gesungen: »In Berlin hat Ulbricht eine Mauer hingemacht, da hat vor fünfzich Jahren noch kein Mensch dran gedacht.« Und der andere Vorfall hatte sich beim Betriebsfest ereignet, was er so schilderte: er sei auf Toilette gegangen, es sei aber von innen abgeschlossen gewesen. Da hätte er gesagt «sitzt einer druff – SED – sitzt einer druff.« Jedesmal, wenn er das leidlich humorvoll erzählt hatte, kam zum Schluß »5 Monate!« Man hatte ihn so gekränkt. Seine humorvolle Berliner Art kommt wohl am besten in einem seiner Briefe zum Ausdruck: »Ach, lieber Eberhard, es war eine schreckliche Zeit; weißt Du, lieber Eberhard, so humorvoll bin ich gar nicht. Aber man macht mal einen kleinen Scherz, und dann vergißt man für kurze Zeit alles, und andere auch. Ein bißchen Glaube an Gott stärkt einen auch in dunklen Tagen, und man erträgt vieles leichter. Ich arbeite wieder in VEB ›Rote Sohle‹ und schwenke den Schusterhammer mit der Losung: ›du bist nichts, dein Soll ist alles‹ und bin immer darauf bedacht, mein Plansoll zu erfüllen. Ja, heute geht es mir gut, früher ging es mir besser, es wäre gut, wenn es mir wieder besser ginge.« Anfang November 62 Ich darf mir eine englische Grammatik kaufen, die nach der Entlassung in der Anstalt bleibt. Meine Eltern warteten ebenso wie ich händeringend auf eine positive Entscheidung nach dem Gnadengesuch. In ihrem Brief vom 15. 5.11.62 stand: »Lieber Eberhard! Es wäre ja wunderschön, wenn Du am 13.De15.11.62 zember zum 70. Geburtstag Deines Vaters wieder zu Hause sein könntest oder zu Weihnachten...« Dezember 62 Nachdem ich immer noch nicht entlassen war und als Weihnachten immer näher rückte, wagte ich einen eigenen Vorstoß. ich ging zweimal zum Stationsleiter und fragte ihn sehr höflich nach dem Ergebnis des Gnadengesuchs vom August 62. Mein zweites Gespräch mit dem VP-Meister hörte sich wie folgt an: Ich: »Herr Polizeimeister, darf ich Sie mal kurz sprechen?« – VPM: »Was wollen Sie? – Ich: »Im August wurde für mich ein Gnadengesuch gemäß § 346 wegen vorzeitiger Entlassung eingereicht. Ich möchte mal fragen, ob bereits eine Ablehnung oder Zustimmung vorliegt.« – VPM: »Woher wissen Sie denn eigentlich, daß für Sie was eingereicht sein soll?« – Ich: »Vom Stationsleiter D in Haus 6.« – VPM:(kopfschüttelnd meine Akte hervorziehend) »Bei mir steht hier nichts davon. Warum wollen Sie denn das überhaupt wissen?« – Ich: »Na, ich mache mir Gedanken. Meine Fltern sind alt, Vater wird jetzt 70, und zu Weihnachten hofft doch jeder.« – VPM:»Bei mir steht hier nichts. Sie sind bei mir in ein Wochen dran.« Den teilweise wiedergegebenen Brief 15. 5.12.62 erhielt ich kurz vor Weihnachten: »Lieber Eberhard! Eigentlich hoffen meiner Eltern vom 15.12.62 wir aber immer noch, daß Du selbst wieder zu Weihnachten zu Hause sein kannst! Aber wenn es anders beschlossen ist, so mögest Du auch dieses zweite Weihnachten mit innerem Frieden feiern, der ja wertvoller ist als alle Geschenke. In jeder Hinsicht wirst Du wohl hoffnungsvoller verleben, durch die schwere Zeit gefestigt. Die Glocken über Berlin werdet Ihr wohl auch hören.«

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4.1.. 63 4. Ich werde gegen 15 Uhr nach Haus 4 gebracht, wo mich ein Hauptmann in VP-Uniform erwartet. Er führt mit mir ein zweistündiges Frage-und-Antwort-Spiel durch, wobei die Atmosphäre korrekt-freundlich ist. Zu Beginn interessiert ihn: »Haben Sie von sich aus gehandelt oder im Auftrag der westlichen Besatzungsmächte? CIC oder so?« – »Nein, ganz privat, das andere hätte bei mir auch gar keinen Zweck!« »Sie Wissen ja, daß auch der englische Geheimdienst interessiert ist, uns zu schaden.« – »Ich habe allein gehandelt.« Das Gespräch wandte sich dann anderen Themen zu: Eigentumbegriff im Kapitalismus, Berlin-Frage, Fluchthilfe. Zum Schluß zeigt sich der Hauptmann aufgeschlossen für meine Hauptfrage, wann ich denn endlich vorzeitig entlassen werde. Er machte sich Notizen; ja, er wolle sich bei der Staatsanwaltschaft erkundigen. In etwa 14 Tagen werde er mir unterhalten und mir dann Bescheid geben. Ich war erleichtert.

17.

Februar, 1963 Der US-amerikanische Basketballspieler Michael Jordan wird in Brooklyn geboren.

Mitte Januar 63 Eines Tages suchte der Anstaltsleiter (Major) die Gefangenenbücherei, meinen damäligen Arbeitsplatz, auf. Er unterhielt sich in Gegenwart des VP-Meisters Hol. längere Zeit mit mir. Gegen Ende des Gesprächs fragte er mich, wie ich meine Führung einschätze. Ich: »Ich habe mich immer um korrekte Führung bemüht und um gute Arbeit.« Major (zu Hol. gewendet): »Stimmt das, Genosse Meister?« – Hol.: »Ja, die Gefangenen der Bücherei arbeiten alle gut.« – Ich: »Im August 62 wurde ich von der Anstalt für eine vorzeitige Entlassung vorgeschlagen.« Als ich der Major wunderte, daß ich noch keinerlei Bescheid darüber erhalten hatte, schaltete sich Hol. ein: »Eine vorzeitige Entlassung sei damals abgelehnt worden, denn man hätte an einer ›Kleinigkeit‹ etwas auszusetzen gehabt. Die Anstalt sei beauftragt worden, nach 2 Monaten erneut einzureichen.« Der Major zeigte sich abermals befremdet, daß ich seit August nicht erneut eingereicht worden sei,

27.

März, 1963 Der US-amerikanische Regisseur Quentin Tarantino wird in Knoxville geboren.

trotz der Aufforderung durch die Staatsanwaltschaft. Er beauftragte den VPMstr. Hol., sich um die Angelegenheit zu kümmern und ihm dann Bericht zu geben. Bald darauf rief mich VPMstr. Hol. zu sich. Er hätte sich erkundigt, ja, im August 62 sei eingereicht worden. Die Ablehnung durch die Staatsanwaltschaft sei erfolgt wegen meiner »zu großen Intensität« bei der Tat. Der VPMstr. stellte ein baldiges Gesuch in Aussicht. Etwa zu dieser Zeit machten mir meine Eltern brieflich mit folgenden Worten Mut: »Lieber Eberhard! Nun bleibt die Hauptsache, daß Du jetzt nicht die Geduld verlierst u. daß Du gesund bleibst. Denn das ist nunmehr wesentlich näher gerückt.« Ende Januar 63 VPMstr. Ro. und VPMstr. Bü. führen eine «Seelenfilzung« durch. In deren Verlauf gebe ich mich betont Als Pazifist zu erkennen. Zu heftigen Auseinandersetzungen kommt es, als ich es ablehne, »Friedenkämpfer« zu sein, und dabei bleibe, daß der Pazifismus für mich maßgebend ist. Als ich erkläre, in Westdeutschland gebe es ein Kriegsdienstverweigerungsgesetz, rufen die VP-Meister: Das stimmt nicht! Ich bleibe bei meiner Aussage und bekräftige sie. VPMstr. Bü. verläßt das Zimmer und holt als Diskussionsverstärkung Oberleutnant Polit / Kultur. Auch in seiner Gegenwart bleibe ich dabei: Pazifismus ja! Es gibt im Westen Kriegsdienstverweigerung, wenn 1) ein naher Familienangehöriger im Weltkrieg getötet wurde, 2) eine fundierte ethische Einstellung gegen Kriegsdienst vorhanden. Die »Seelenfilzung« wird abgebrochen, da das Kommando zum Mittagessen muß. VPMstr. Bü. sagt zu mir, wir müßten noch viel diskutieren, denn in mir seien viele Unklarheiten. Gegenüber verschiedenen Mitgefangenen äußere ich Hoffnungslosigkeit auf vorzeitige Entlassung. In der folgenden Zeit führt VPMstr. Bü. mit mir verschiedene Gespräche über den Pazifismus. Sie führen zu keiner Annäherung der Standpunkte. In den von VPMstr. Bü. eingeführten »Brigadebesprechungen« mußte ich nun Protokoll führen. Hier wurden auch politische Fragen, vor allem der VI. Parteitag der SED erörtert. VPMstr. Bü. besprach sodann die »West-Berliner Frage«, dagegen vermerkte ich im Schreibmaschinenprotokoll jedesmal nur »Berliner Frage« bzw. etwas ähnliches. Eines Tages


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kritisierte VPMstr. Bü. meine Protokolle: ich solle das schreiben, was auch tatsächlich gesagt worden sei. Außerdem versuchten die beiden Kdo-Führer im Jan. / Februar 63, mich zur Denunziation zu verleiten. Als einmal anläßlich eines Polit-Vortrags im Kinosaal von einem Gefangenen ein ironische Einwand gemacht wurde, wurde ich einige Tage darauf von Bü. in Gegenwart des Oberleutnants Polit/Kultur gefragt, ob

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28.

März, 1963 Alfred Hitchcocks Film Die Vögel läuft in den Kinos der USA an.

ich den»Störenfried« nennen könne. Ich antwortete,daß ich diesen nicht kenne. Der Höhepunkt der Kulturveranstaltungen – von der Anstaltleitung natürlich nicht so geplant! – war der Film, der uns alle aufgewühlt hat: der Propagandafilm »Schaut auf diese Stadt«. Dieser Anti-Westberlin-Film hatte bei uns Gefangenen genau die gegenteilige Wirkung. Alles in diesem Film machte uns irgendwie Hoffnung: die amerikansichen Rhythmen, die Bilder vom Ku‘Damm bei Nacht, die Worte Ernst Reuters. Mein Rechtsanwalt Dr. P. konnte schließlich am 19. 3. 63 meinem Vater folgendes mitteilen: «In der Angelegenheit Ihres Herrn Sohnes ist nunmehr meinem Gnadengesuch vom 1. Februar 1963 mit der Maßgabe entsprochen worden, daß die Haftentlassung zum 23. April 1963 erfolgt. Ihr Herr Sohn wird also in den Abendstunden zu Hause eintreffen. Ich kann Ihnen zur Zeit noch nicht sagen, über welchen Kontrollpunkt er entlassen wird.« 6.4.63 J.R., der im Kommando Effekten arbeitete, teilt mir mit: »am 23.4. wirst du entlassen!« 23.4.63 Oberleutnant Vollzug verabschiedet sich von mir. Die Anstalt habe meine vorzeitige Entlassung befürwortet, »obwohl Sie mit vielem von uns nicht einverstanden sind.« Die Entlassung erfolgte über den Kontrollpunkt Oberbaumbrücke.



Tagebuch No –4 1990

Informationen zum Verfasser

Titel Umfragetagebuch Gattung Tagebuch Ort der Niederschrift Nowgorod Zeit der Niederschrift 1990 Bände 1 Umfang ohne Zählung

Form des Textes Transkription Schriftart Maschinenschrift Name Anonym Themen Schule / Russischkurs / Reise nach Mittelasien / Alltag an einer russischen Universität / Politik / Vergleich DDR – BRD / Politische Wende in der DDR

Ort des Geschehens Nowgorod / Mittelasien Lebensspanne 22 Zeitspanne 1990 / 09 / 07 – 1990 / 12 / 06 Thema Verhätnisse an einer russischen Universität / Alltag in der Sowjetuninion Vertragsbedingungen Schenkung


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31.

August, 1990 Auf dem Weg zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wird in Berlin der Einigungsvertrag unterzeichnet.

Freitag, 31 31.8.90 .8.90 Heute geht‘s nun los. So richtig kann ich nicht dran glauben. Ein 1/4 Jahr wird‘s werden. Was ich alles vergessen habe, ist halt nicht da. Mal sehen, wie‘s so wird. Aktion Nr. 1 glücklich und zufrieden überstanden! Da ja die werten Damen und Herren unserer Dresdner Bank nicht gerade freundliche Leute sind und obendrein keine Ahnung haben, geht ab jetzt einfach zur Konkurrenz. Zwar konnte mir in der Genossenschaftsbank nicht geholfen werden, ich wurde aber als Mensch behandelt! Nichts von wegen, »das ham‘ wa sowieso nicht«! Sind wir extra noch nach WB gefahren. Kein Vergleich! Ich kann zwar übertriebene Freundlichkeit nicht ausstehen, doch die waren von sich aus einfach freundlich. Die Sache mit dem Geld in der SU wäre geklärt. Nic’ht geklärt dagegen ist die Sache mit Ina. Da ich alles bis zum letzten Tag aufgehoben hab‘, blieb mir ja nun keine Zeit mehr zum Besuchen. Hoffentlich ist Ina nicht so sauer. Das Päckchen werd‘ ich im Auto packen. Ja, ja, alles auf den letzten Pfiff. Es war schon mal besser damit. Überhaupt muß ich wieder konsequenter werden.

.9.90 Samstag, 1.9.90 Wir haben uns nun glücklich in die Schlafkojen eingefädelt. 0.17 ging‘s los. Ich freu‘ mich schon aufs Schlafen. Man schläft so gut im Zug. Meinetwegen könnte von Berlin nach KMS jedesmal ein Schlafwagen fahren. Eine klasse Art zu reisen. Bloß bißchen ungünstig heute für mich, wenn‘s Kramzeug nicht wär! Hoffentlich gibt‘s einigermaßen Wasser. Damals nach Moskau war‘s nicht so besonders. Aber der Tee, auf den freu‘ ich mich auch schon! Geschlafen und schon sieht die Welt wieder freundlich aus. Gestern gab‘s ja einen feuchten Abschied. Ein mächtiges Gewitter zog auf. Man hat‘s auch noch in der Halle ziemlich imposant gefunden. Traurig aber war, erst neu gemacht und doch regnete, ach es stürtzte mehr, auf die Gleise! Hoffentlich sind meine Leute gut zu Hause angekommen und nicht geradewegs ins Unwetter hinein! Wir konnten es natürlich dann nicht abwarten und sind über die Gleise hinweg in den Zug gemacht. Man hatte ja auch bloß fünf Minuten warten brauchen, dann wäre unser Wagen am Bahnsteig erschienen und es gäbe ein bequemes Ein- und Aussteigen. Warum einfach, wenn‘s auch kompliziert geht!? Wozu auch?! Unser Quartier für die nächsten ca. 37 h: Wagen 11, Abteil 29 – 32. Gleich hinter der Lok. Wir sind acht Mennekichen: Hannes, Theo, Erich, Carl, Jörn und wir drei. Naja, wir zwei Mädels werden die Sache schon schaukeln! Keine Probleme an der Grenze! Brest, diesmal am hellen Tage. Eine Demse! Wir sind raus. Unser Wagenbetreuer hat uns den Vorschlag gemacht. Immerhin sind zwei h Aufenthalt hier. Komisch ist bloß, hier wird schon nach Moskauer Zeit gerechnet. Kann ich gleich die Uhr umstellen. Morgen früh sind wir. sowieso in Moskau! Brest bei herrlichem Sonnenschein, fast 30 °C. Und ich hab‘ meine Pantalon an!!! Wieder einmal kam die deutsche Mentalität hervor, dieses oft überhebliche Gehabe: Ach, die haben auch was zum Anziehen?! Na gut, einige waren noch nie in der SU. Aber trotzdem! Allerdings muß ich sagen ich war auch ein bißchen baff, den Hosenrock der Renner zur Zeit, gleich zweimal auf der Straße zu sehen. Eine herrlich rekonstruierte russisch-orthodoxe Kirche machte den krassen unterschied zur allgemeinen Bausubstanz überdeutlich. Eine herrlich geputzte Kirche, kein Kirchlein, sondern recht imposant und davor ein Bettler in Lumpen. Einen krasseren Widerspruch kann es für mich nicht geben. Erstmalig, daß ich in der SU diesem Symbol der Armut begegne! Der Zug rast gen Moskau, 17.50 ab Brest. Mit ein paar zusätzlichen Waggons nebst ((Freifeld)). Ich hab‘ allerdings das Gefühl, als ob die neuen Untergestelle nicht richtig fest wären. Es rumpelt in einer Tour. Hoffentlich kann man dabei richtig schlafen!!! Vorhin in Brest lief uns das Wasser gewaltig im Munde zusammen. Melonen wurden verfrachtet. Hm! Ich darf gar nicht mehr dran denken. Dafür hab‘ ich ein Moskauer Eis verschnabuliert! Hm, richtiges Eis, nicht so‘n süßes Schöllergelumpe und wie sie nochso heißen! Morgen geht‘s früh raus. 6.53 ist Ankunft in Moskau. Ich freu‘ mich drauf so lange, ich muß direkt mal nachrechnen, vier Jahre sind‘s schon. Ja, meinen 18. Geburtstag hab‘ ich in Moskau gefeiert. »Moskau, trotz Deiner vielen recht häßlichen Gesichter, die ich bei Dir gesehen hab‘, Moskau, Du gefällst mir!«


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Sonntag, 2.9.90 Ankunft in Moskau, uns empfing eine ziemliche Kühle, die sich auch im Laufe des Tages nicht verzog. Nieselregen machte Moskau nicht gerade freundlicher! Endlich, nachdem ich schon, na so knapp einen Monat schon insgesamt in Moskau war, jetzt endlich bin ich mal in die Basiliuskathedrale gekommen. Ganz fertig ist sie immer noch nicht rekonstruiert, auf jeden Fall nicht mehr so total eingerüstet wie

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August, 1990 Das Wacken Open Air, später Europas größtes Metal-Festival, findet zum ersten Mal statt.

vor vier Jahren. Schade! Ich habe vorher eigentlich noch nicht von den Leuten gehört, Mensch ich hab‘ den Namen vergesse! Na, auf jeden Fall existiert noch ((kyrillisch)), eine Zeltstadt. Zeltstadt ist noch viel zu hochtrabend! Kleine Hüttchen, für eine Person knapp zum Liegen ausreichend, aus Pappe, Wellblech, Folie zusammengeschustert. Davor auf allen möglichen Papierbahnen die Lebensgeschichte der Leute – Kinder, Jugendliche, viele alte Leute aufgezeichnet. Es wiederholen sich die Schicksale: keine Arbeit, keine Wohnung... Die Leute leben von den Almosen, die sie bekommen. Noch ist die Zahl derjenigen, die auf der Straße leben, gering. Die Dunkelziffer liegt bestimmt viel höher. Wenn ich an den Winter denke, Pappe hält doch keine nasse Kälte ab! In den vier Jahren hat sich mächtig viel getan, leider sind mehr Rückstände bis jetzt für mich deutlicher geworden, denn statt einem Vorwärtskommen. Die uns erwarteten Lebensmittelmarken gehören dazu. Allerdings konnte der Platz für die Zeltstadt ja nicht besser gewählt sein. Direkt vor‘m noblen Hotel ((kyrillisch))! Drin spürten wir den krassen Gegensatz recht deutlich. Wie sonst konnte ein Kellner 5 : 1 schwarz DMs tauschen?! Auf der einen Seite ist das Geld da, auf der anderen fehlt‘s total! Das hätte ich wirklich nicht erwartet. Auch mit dem offiziellen Umtauschkurs werden wir hier wie die Könige leben können. Eines hatten wir allerdings hier in Moskau gelernt. Zeig‘, daß du Ausländer bist, dann kommst du in ein Restaurant. Mit Russisch sind wir gleich gegen den Baum gelaufen. Beim nächsten Restaurant ging‘s dann nur in Englisch weiter. Für mich unvorstellbar, total leer, aber die Einheimischen können nicht rein. Dafür wurden wir auch tüchtig über‘s Ohr gehauen. Ein zusammengestelltes Menü für 40,- Rubel pro Nase. Ohne vorher Einsicht in die Karte nehmen zu können, ohne Rechnung. Relation: früher waren das 120,- M! Nie wieder! Ein bißchen muß man sich schon an die Relation halten, vor allem zum hiesigen Einkommen von rund 150,- R. Das ist schon nicht wenig im Allgemeinen. Das war uns auch ’ne Lehre! Mich hat mehr erschüttert, was alles aufgetischt wurde. Speziell jetzt mal an Wurstsorten, Ich brauch‘ bloß mal an unseren Einkauf denken, eine Wurstsorte, mehr nicht! Da kann ich auch die Schlange vor‘m McDonalds-Laden verstehen. Allerdings wäre das nun nicht so mein Fall. Wir lernen immer mehr die russische Mentalität kennen. Unter anderem, wozu sich aufregen, immer schön ruhig bleiben. Man hat ja Zeit, Geduld ist angesagt. Es dauert so seine Zeit, bis wir unsere Flugkarten in ((kyrillisch))-Tickets umtauschen können! Leider hat der Flughafen hier nicht gerade viel zur Zerstreuung! Die 2. Lektion: Jeder, der ein bißchen »Macht« besitzt, läßt es die anderen spüren! Es ging kein Weg hinein, die Umtauschgebühren für die Flugkarten in Rubel zu zahlen, auch Schecks wollte Madam nicht annehmen. Entweder in bar und DM oder kein Flug weiter nach Nowo! Klasse, Bargelddepot ist nicht gerade hoch angelegt, wenn das jetzt beim Übergewicht weitergeht... 4,- DM pro Kilo mehr! Der Rückweg ist »versperrt«. Wir sitzen nun glücklich im Transitraum und erwarten unsere persönliche Abfertigung. Dirk, einziger von sechs übriggebliebenen Direktstudenten des zweiten ((Freifeld)), ist zu uns gestoßen. Da haben wir ja gleich einen Begleiter, der sich in Nowo bestens auskennt. Die ersten Infos haben wir uns schon eingeholt. Mal sehen, wie die »Welt« in natura aussieht. Unser Flug 23.40 wird aufgerufen, die letzte Etappe in Angriff genommen. Morgen früh sind wir schlauer. Wer weiß, was uns, 6 h Zeitverschiebung von zu Hause, so alles erwartet! Montag, 3.9.90 Das war ein Tag, Strapaze hoch 3! Doch mal ein bißchen der Reihe nach: Ein herrlicher Nachtflug erwartete uns, da wir Intourist-Reisende waren, durften wir vor und in den vorderen Teil der Maschine steigen. Die Plätze schon festgelegt. Ich hab‘ einen Fensterplatz ergattert. Theo konnte auch


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ganz gut noch rausgucken. Ich bin noch nie bei Nacht geflogen. Zum Glück war klare Sicht und wir konnten unter uns Moskau bei Nacht in Augenschein nehmen. Gorki war noch einmal solch ein herrlicher Anblick. »Der große Wagen« war mein ständiger Begleiter am Fenster. Die andern konnten dagegen den Mond betrachten. Wir flogen ja direkt gen Sonnenaufgang und den wollte ich auf keinen Fall verpassen. Also, kein Schlaf. Unser Bemühen, wach zu bleiben, wurde auch belohnt. Doch leider viel zu kurz, da Nowo in Sicht war. Wieder wurde, extra für uns Intouristen, eine Extrawurst gebraten. Ein Extrabus brachte uns, total unterbelegt an besetzten Plätzen, die andern mußten warten, bis ihr Bus nochmal kam, ins Flughafengebäude, wo uns schon drei Direkti, zur tatkräftigen Hilfe bereit, empfangen. Aber erst einmal hieß es wieder warten. Der fehlende Schlaf machte sich bemerkbar. Doch es sollte für uns zwei, Karen und mich, noch sehr lange dauern, bis ein Bett in Aussicht stand. Erst einmal wurden wir samt Gepäck in den ((kyrillisch))-eigenen Bus verfrachtet. Ein Wunder, daß der das alles ausgehalten hat! Dann ging‘s los. Wie der Zustand des Kleinbusses so auch der Zustand der Straßen. Schlaglöcher sind keine Eintagsfliegen. Der erste Eindruck war ziemlich niederschmetternd, reichlich grau und alles mehr an Baustelle erinnernd. Im WH ging‘s weiter. Ich hab‘ zwar schon Erfahrung mit sowjetischen WHen, doch wurden meine Erwartungen bei weitem »übertroffen«. Verglaste Flurscheiben sehr selten, also Dauerzug, aufgerissener Fußbodenbelag und aus der Wand hängende Elektroleitung. Bei der Anmeldung im ((kyrillisch)) konnten wir das gleiche im Institut beobachten. Zwar nicht so extrem, doch ist es zum Beispiel angeraten, beim Treppensteigen die Treppe auch wirklich im Auge zu behalten. Jeder Stufenabsatz scheint ein Einzelstück zu sein, unterschiedlich in Höhe und Fasson. ... Wir können im »FDJ-Zi.« übernachten, zwar auf dem Fußboden. Doch endlich schlafen können! Dienstag, 4.9.90

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Wunderbar geschlafen, wahrscheinlich viel besser wie unsere Jungs in ihren »Hängematten«. Bin ja gespannt, heut soll ich meine ((kyrillisch)) kennenlernen. Olga Michalowna, sie ist ein pa-

Am 6.September, 1990 stirbt der US-amerikanische Musiker Tom Fogerty an einem Atemstillstand.

tenter Kerl. Spricht mit mir deutsch, ich russisch. Wir haben, besser gesagt, Fritz hat sich noch ’ne ganze Weile mit unserem ((kyrillisch))-Leiter unterhalten. Also verstehen tu‘ ich das Russisch einigermaßen (wenn ich nicht grad selber angesprochen werde), aber reden! Eigentlich ganz interessant, was sich einige unter unserer Währungsunion vorstellen. Das ging mehr ins unbegrenzte Tauschen. Man kann nicht sagen, daß die Leute hier nicht unterrichtet wären, von dem was unter anderem bei uns passiert. Doch haben sie manchmal recht eigene Vorstellungen davon. Einen Vorblick auf den Winter haben wir gleich noch mit erhalten. Bloß gut, daß wir im tiefsten sibirischen Winter schon wieder zu Hause weilen. Ist wohl nicht grade angenehm, in voller Pelzmontur zu arbeiten. Bis jetzt uns ja das Wetter mächtig hold! Stadtbummel, im Zentrum sieht es nun doch noch nach Stadt aus. Wir haben sogar gleich ein paar Flecken mit Grün gefunden. Kulturmäßig kann noch einiges unternommen werden. Bei gleich zwei Theatern, darunter ein Opern-Ballett-Theater, sollte doch ein bißchen Abwechslung drin sein. Man muß sich eben selber umgucken und nicht nur das für bare Münze nehmen, was die andern einem erzählen!

Mittwoch, 5.9.90 Verhungern tut man hier beim besten Willen nicht. In der ((kyrillisch)) gibt‘s generell ein ganzes Menü, das ist mir zuviel! Wir werden noch kugelrund wiederkommen. Bei dem süßen Gelumpe. Was zudem leider auch noch so gut schmeckt... Hoffentlich gibt‘s hier irgendwo ’ne Turnhalle! Donnerstag, 6.9.90 Hoch lebe der Papierkrieg! Wenn wir uns irgendwo in einer Bibo anmelden wollen, muß erst ein ((kyrillisch)) ausgeschrieben werden, daß wir das brauchen! (Daß wir uns Bücher ausleihen müssen


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September, 1990 Die Basilika Notre-Dame de la Paix in Yamoussoukro, Elfenbeinküste, die größte christliche Kirche der Welt, wird geweiht.

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zum Arbeiten!) Eines reicht ja nun auch nicht für alle Bibos. Schön für jede ein ((kyrillisch))! Und so einfach mit Raussuchen, Gott bewahre! Man muß schon vorher genau wissen, was man haben will. Schön, es gibt Kataloge, doch muß ich manchmal ganz einfach reinlesen, um zu wissen, brauch‘ ich‘s oder nicht! Ru bei »uns« im Zimmer fing gleich ganz lustig an. Ein Märchen mußte nacherzählt werden. Zum Glück keine allzu schwere Aufgabe. Theo hat‘s ein bißchen erwischt, er mimte den Erzähler und durfte sich dementsprechend reichlich oft äußern. Langsam wird man also wieder ans Russische gewöhnt. Mir hätte der einmonatige Intensivkurs echt gut getan. Eine Menge Vokabeln hab‘ ich vergessen. Doch so richtig aufnahmefähig bin ich immer noch nicht. Zum einen Ohr hinein, zum anderen wieder raus. Mein Kopf fühlt sich mehr wie ein luftleerer Raum an. Hoffentlich ändert sich das noch! Mensch, hätte ich mir bloß was zum Schreiben oder Lesen mitgenommen! Jetzt haben wir 1 1/2 h auf dem »Postamt« gewartet, ohne jegliches Ergebnis! Eigentlich war‘s ja Quatsch in KMS anzurufen, doch irgendwie hat Fritz schon recht. Wer weiß, wie sich unser »lieber« Professor Henk hat, wenn er erfährt, daß Fritz ’ne ganz andere Aufgabe macht. Ein bißchen pingelig ist er ja, zu pingelig! Ich könnte mir zwar nicht vorstellen, daß man etwas gegen diese Aufgabe haben könnte, doch abwarten. Morgen startet der nächste Versuch. Diesmal bin ich dann besser ausgerüstet! Mein Telefonat mit der Olga hat bestens geklappt. Hoffentlich bleibt das auch so. Unsere Verbindung wird wohl mehr in Telefongespräche laufen. So, der Mensch ist wieder zufrieden. Er ist satt und fühlt sich rundum wohl und zufrieden! Mit Gästen mit einen, vor allem mit diesem einen, schmeckts immer bestens. Dirk konnte unser Puddingangebot einfach nicht ausschlagen. Ich seh‘ uns schon nach Hause rollen! »Opi« rennt schon regelmäßig gen Ob, damit seine Hose wieder besser zugeht. Wir müssen ungeachtet dessen aber noch ((kyrillisch)) mit ((kyrillisch)) probieren. Soll kein Vergleich zu den jetzt so zahlreich im Sortiment vorhandenen Joghurten sein! PS: Kein Glück mit einem Zimmer für uns.

Freitag, 7.9. 90 Wir sind nun vollständig integriert. Haben heute unsere Lebensmittelmarken bekommen! Zucker, Butter, Fleisch / Wurst. Bis auf Zucker (Einweckzeit) ist alles eigentlich reichlich vorhanden. Na ja, die Wurst und das Fleisch, das sieht alles nicht gerade appetitlich aus! In den Kooperativläden soll es ein gutes Angebot geben, bloß eben teuer. Für uns ist das bei unserem jetzigen Kurs kein Problem. Schwarztausch, da bezahlt man ja fast gar nichts mehr für einige Sachen. Doch mich ärgert das ungemein! Gerade Theo und Carl sind da die größten drin! 1: 10, wer hat denn von uns so hoch getauscht? Auch bei 1 : 5 ist das für mich schon horrende! Alles mehr oder weniger spottbillig Die sollten gefälligst mal von ihrem hohen Roß absteigen! Sie sind halt was besseres. War‘n noch nie hier, kennen sich in der Mentalität nicht aus und aburteilen dann alles auf den ersten Blick. Klar, hier sind mehr oder weniger hundsmiserable Zustände. Da hab‘ ich doch aber noch lange kein Recht, auf die andern herabzugucken! Ich hab‘ versucht, ihnen ein bißchen von dem begreiflich zu machen. Ich glaube aber nicht, daß es lange vorhält. Für mich ist das einfach die oft beobachtete deutsche Überheblichkeit im Ausland. Telefonat hat geklappt! Warten Telegramm ab. Samstag, 8.9.90 Schreck am Wochenende! Kein Brot mehr in den Läden! Hoffentlich ist das bloß eine Eintagsfliege und bloß auf den Ramschverkauf zurückzuführen. So werden oft künstliche Defizite eingeführt. Leider ist die Situation in Moskau, Leningrad und Kiew doch recht prekär. Ich hab‘ leider nicht alles von der Nachrichtensendung dazu verstanden. Auf jeden Fall wird wohl kontinuierlich durchgearbeitet. Aber ’ne tolle Sache an sich ist das hier schon, die Lebensmittelgeschäfte haben auch am Wochenende auf. So ist eigentlich immer frisches Brot da. Bis jetzt ist auch nie Brot irgendwie hart geworden, weil nichts auf »Vorrat« gekauft wurde. Neueste Nachricht: Diese Nacht werden wir in richtigen Betten schlafen! Jens hat uns sein Zimmer zum Schlafen angeboten!


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Sonntag, 9.9.90 Heute hat‘s mit unserer Abfahrt geklappt. Es fehlten zwar Hannes und Erich, doch war‘s auch so ganz toll! Auf der ((kyrillisch)) war‘s anfangs recht kalt, doch kam glücklicherweise bald die Sonne raus und es wurde ganz angenehm warm. Unser erstes Ziel war ((Freifeld)), mehr oder weniger, eine große »Laubenpieperkolonie« von Nowo-Einwohnern. Es erinnerte alles ein bißchen an eine Märchenkulisse. Viele Holzhäuser noch mit alten russischen Elementen verziert und bunt (viel blau) angestrichen. Herrlicher Anblick! Zum Glück war‘s auch dann nicht mehr so kalt. Beim Durchstreifen der Kolonie sprach uns eine Frau an, es ging dann so weit, daß wir bei ihr im Garten saßen und sämtliche hausgemachte ((kyrillisch)) probierten. Die Gastfreundlichkeit ist hier einfach umwerfend. Wo wird man bei uns so mir nichts, dir nichts schnell mal in den Garten gebeten. Wir hatten eigentlich nichts, was wir als Dankeschön geben konnten und doch wurde die Einladung an uns ausgesprochen. Sie hatte einfach Freude daran, sich mit den Menschen zu unterhalten. So richtig wie eine

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September, 1990 Auf dem Weg zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wird in Moskau der Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet.

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September, 1990 Der Palast der Republik wird wegen Asbestbelastung geschlossen.

liebe ((kyrillisch)). Es ist allerdings auch erstaunlich, wie viele Leute schon erzählt haben, daß sie für ein paar Jahre bei uns gelebt haben. Alles in allem denken sie gern an die Zeit zurück. ((kyrillisch)), die Bäreninsel. Mehr ’ne Dschungelinsel! Unser »Wunsch« erstreckte sich darin, in Anbetracht der stark bemessenen Zeit, die Insel »nur« entlang ihres schmalen Mitteldurchmessers zu durchwandern. Nur ist gut gesagt, denn Pfade existieren nur wenige und wir mußten ausgerechnet, wenn vorhanden, spezielle »Beerensucherpfädchen» langstiefeln. So stell ich mir den Dschungel vor, allerdings elastischer und nicht so dornig. Dank Theos unvergleichlichen Gespürsinns für wirkliche Trampelpfade kamen wir echt gut auf der anderen Seite an. Eine herrliche Stille und ein toller Anblick. Hier lohnt es sich echt, mal ’ne Nacht zu verbringen, am Lagerfeuer verweilen... Schade, daß es jetzt schon zu kalt ist. Wir hätten ’ne Woche früher kommen sollen! Der Tag an der frischen Luft tat echt gut! Die Nowo-Stadtluft ist manchmal echt zum Schneiden. Man muß öfters mal raus zum Entschlacken! Montag, 10.9.90 0.9.90 Na der Tag ging ganz schön drunter und drüber. Auf jeden Fall ist‘s günstig, früh Milch und Brot zu kaufen. Die Geschäfte sind annehmbar leer und auch die Straßen noch nicht so bevölkert. Na ja, das Leben beginnt hier erst später so richtig, doch dafür bis tief in die Nacht hineien. Man muss sich erst so richtig daran gewöhnen, doch bestimmt bekommt man bald reichliches Schlafdefizit! War in der Bibo gewesen, total unfreundlich unten beim Bestellen der Bücher. Woher soll ich denn wissen, daß dem mit Bleistift geschriebenes Kürzel eine dermaßene Bedeutung beigemessen wird. War nirgends ersichtlich! Dafür hatte man uns doch diese grünen ((kyrillisch)) gegeben. Grün für geenhorn! Zum Glück sind nicht mehr alle so. Im Lesesaal oben scheint ein freundlicherer Umgang gang und gebe zu sein! ein Glück, sonst verginge mir regelrecht das Arbeiten in der Bibo, zumal ich darauf angewiesen bin! Dienstag, 11.9.90 .9.90 Diesmal lief‘s doch schon viel besser in der Bibo. Meine »freundliche gute Fee» war wieder da und es gab absolut keine Probleme. Sie gab sich auch viel Mühe, mir alles verständlich zu machen. Allerdings befällt mich so um 2.00 eine dermaßene Müdigkeit, daß ich einfach aufhören muß. Na ja, gings halt eben zu ’ner kleinen Stadtexkursion. Hm, das tiefgefrorene Eis ((kyrillisch)), das schmeckt!!! Ich werd‘ noch kugelrund! Vor allem, ich muß einfach alles durchprobieren. Und die ((kyrillisch)) schmecken auch nicht schlecht, nur zu süß. Überhaupt wird hier sehr süß gegessen. Das erklärt auch das momentane Zuckerdefizit, wird alles zum Einwecken verbraucht. Mittwoch, 12.9.90 2.9.90 »((kyrillisch)),((kyrillisch)),((kyrillisch))«, ein amerikanischer Film in Englisch mit russischer Darüberübersetzung. Das schärfste ist allerdings, nur eine Frau spricht sämtliche Rollen und ohne


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jegliche Betonung. Es war ein »wertvolles« Kulturerlebnis. Bei uns würden die Leute streiken. Was da so alles an Ausdruck verloren geht?! Na gut, der Film ist eigentlich nur zum Berieseln gedacht. Doch ich glaub‘ nicht, daß das nur einer Ausnahme ist! Das muß man sich auch mal vorstellen, ein schreit ängstlich »Mama!« und dann kommt die trockene Übersetzung »Mama«. Gerade so als ob jemand beiläufig sagt, »der Bus kommt«. Also da war ich mächtig geschockt. Von Polen her kannte ich das schon. Doch hatte ich eigentlich hier ’ne richtige Synchronisation erwartet! 3.9.90 Donnerstag, 13.9.90 Ich bin mal gespannt, wann das mit unserm Bett klappt! Langsam vergeht mir jegliche Lust am Umziehen. Karen möchte wohl sofort, bloß weitergedacht hat sie dabei noch nicht. Entweder ganz, dann müssen wir auch unten essen oder lieber gar nicht. Vor allem, wenn ihr etwas nicht paßt, dann geht sie hoch. Sie ist in der Hinsicht fein raus. Ich werd‘ mich wohl die meiste Zeit in der Bibo rumschlagen. Der Lesesaal ist echt o.k., vor allem wirklich Ruhe, nicht wie in der Uni, also dort ist wirklich kein effektives Arbeiten möglich. Heute beim Mittagessen gab‘s ne »tolle«Nachricht. Jugendradio DT 64 soll eingestellt werden. Mich macht das so fertig, daß unsere Sachen alle in den Dreck getreten werden. Verdammt noch mal, mit welchem Recht? Der Mensch an sich ist im Kapitalismus völlig gleichgültig. Er existiert nur als Konsument, Leistungsproduzent! Seine anderen Bedürfnisse, wie Kollegialität, Freundschaft, Natürlichkeit und reges politisches Interesse hat einfach hier nichts zu suchen! Es wird einem alles weggenommen, ob die Herren, die so etwas, natürlich im Namen der freien Marktwirtschaft, was öfters mal nach Korruption und Sabotage von DDR-Objekten riecht, arrangieren, ob die überhaupt noch Menschen sind? Klar, natürlich, aber die sind etwas besseres. Die besitzen soviel Geld, daß sie aus der Enge entfliehen können. Vorerst. Aber Freundschaft und wirklicher Zusammenhalt wie er bei uns noch existiert, kann nicht mit Geld gekauft werden. Gerade bei uns Studenten tritt das für mich echt deutlich zu Tage. So was wie Geburtstagsfeten im WH oder einfach mal ’nen gemütliches Beisammensein, das gibt‘s alles nicht. Jeder ist da Einzelkämpfer, die Ellenbogen werden tüchtig gebraucht. Tscha, und »Klassikerprotokoll» oder mal mitschreiben in der Vorlesung, wenn, dann nur gegen Geld. Und das macht mich fertig. Hinzu kommt, man muß regelrecht aufmotzen. Immer nur so tun als ob, um überhaupt ’ne Chance zu haben. Klar muß aber auch sein, ein gewisser Grad an Wissen gehört dazu, unbedingt! Aber, auf welche Art und Weise ich das Wissen mir aneignen muß?! Mehr Schein als Sein-Philosophie. Das engt mich ungemein ein, ist nun aber die »Freiheit». Na danke, ich kann nicht verstehen, wie manche nur alles hochleben lassen können, ohne die Wirklichkeit mit wahrzunehmen. Verdammt noch mal, die BRD hat nicht das optimale System erfunden! Dort gibt‘s genug Fehler. Warum soll ich mit »Hurra-Gebrüll» den »Bafög» hochleben lassen? Nur weil er in der BRD praktiziert wird? In Schweden wurde er wieder abgeschafft! Es gibt da keine Gerechtigkeit, wer Geld hat, kann sich eher leisten zu studieren! Vor allem ist man wieder einmal von den Eltern abhängig. Und nicht umsonst dauert das Studieren so lange, zwischen den Semestern ist wohl generell mindestens ein Monat Pause. Zum Geldverdienen! – Schluß für heute! Freitag, 14.9.90 4.9.90 Gestern hatte ich echt die Schnauze voll, dabei war es dann doch noch ein schöner Tag. Mit unserer neuen »Ru-Tante» ging‘s auf Exkursion zu sämtlichen vorhandenen Touristbüros. Schade, so richtig Konkretes ist nicht dabei herausgekommen. Hoffentlich klappt es noch mit Mittelasien. Wär schon ne starke Sache ! Samarkand, Buchara, Chiwa... Eben ging mit Ina ein Gruß in die Heimat ab. Von wegen Praktikum hier! Nur gereist sind se alle Mann! Muß herrliche Ecken hier geben. Hat uns von Irkutsk vorgeschwärmt, vielleicht können wir das auch noch mit in unsere Route reinnehmen!

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Samstag, 15.9.90 5.9.90 »Nicht arbeiten!«, echt Klasse, wenn einem solch ein Schild empfängt. Der ganze Tag ist irgendwie verpfuscht. Hm, gezuckerte Kondensmilch karamelisiert. Das ist ein Genuß! Doch leider Defizit! 6.9.90 Sonntag, 16.9.90 Bin hundemüde und leidlich wieder erwärmt! Ein nicht gerade geglückter Ausflug zum Obmeer, mit anschließender Hektik, um noch rechtzeitig zurecht zum Ballett zu kommen. Aber das Ballett war echt Klasse. Nach anfänglichen technischen Problemen lief alles wie geschmiert. Klasse! Hier existiert ein ganz anderes Verhältnis zur Kultur. Mehr so etwas, wie Alltägliches. Das, was ganz einfach zum Leben dazugehört! Nicht ein Luxusobjekt, wie Kultur demnächst für uns wird. Das »Alltägliche« schlägt sich aber leider auch in der Kleidung nieder. Da wird sogar mit Arbeitskleidung ins Theater gegangen. Na ja, das find‘ ich nun wieder nicht so besonders. Man drückt doch mit seiner Kleidung doch etwas aus. Irgendwie doch auch ein Verhältnis zu den Schauspielern. Doch das ist hier ein sehr herzliches, das sind eben ihre Schauspieler, Tänzer! 7.9.90 Montag, 17.9.90 Der Markt! Hm, ich darf gar nicht mehr daran denken, was es da alles gab. Alles, was man sich an Obst zu dieser Jahreszeit vorstellen kann. Aber auch echt teuer für die Leute. Man muß für die Preise immer ein Verhältnis zum Einkommen sehen. Was sind 150,- Rubel? Aber trotzdem, das Geld ist zum Großteil vorhanden. Es wurde recht viel gekauft. Unsere zwei Spezis in dieser Hinsicht stehen natürlich über den Dingen. Rechnen generell mit dem maximalen Schwarzmarktkurs von 1 : 10, kommen sich dabei noch sonst wie klug vor. Dabei hat nicht einer von ihnen so hoch getauscht. Sie können sich es aber auch halt so leisten, mitgroßer Geste 50,- Rubel auf dem Markt auszugeben. Leider kann man dieser Überheblichkeit nicht beikommen. Sind ansonsten echt nette Kerle, aber bei der Sache steh‘ ich auf Kriegsfuß mit beiden. Und nicht nur hier geht das Rumgepranze langsam auf den Wecker. Wenn nur noch der Tauschkurs ein Gespräch bestimmt, wird‘s langsam langweilig. Leider haben sich unsere Gespräche zu Hause auch schon in diese Richtung entwickelt. Wer hat was, wo und wie billig erstanden! Thema Geld, ein Kreislauf, nach fünf Minuten waren wir nach anfänglichem Vorhaben, darüber nicht zu sprechen, wieder an dem Punkt angekommen. Schade, schon der erste negative Einfluß auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Das hab‘ ich nämlich drüben schon mal festgestellt. Die jungen Leute haben untereinander oft gar keinen Gesprächsstoff mehr. Hier dagegen ist es, infolge der konstanten Preise, nicht so, daß Geld der Mittelpunkt aller Gespräche ist. Vielmehr bestimmt unter anderem gerade die politische Lage in der Welt sehr den Gesprächsstoff. Muß mal einschränkend sagen, bezieht sich auf unsere Gespräche untereinander und vor allem mit den Arabern. Fritz‘ neue Nachbarn kommen aus Syrien und Israel. Gerade im Zusammenhang mit dem Irak kommen Vorstellungen zu Tage, die wir mit unserer europäischen Logik nicht voll verstehen können. Unter anderem ist mir ihre Einstellung zu Hitler nicht verständlich. Für Hitler können sich viele Araber wohl sehr begeistern. Er ist ein kluger Mann! So mir nichts, dir nichts hatte er etliche Länder okkupiert! Die Tatsache zählt! Die Menschheitsverbrechen werden gar nicht weiter betrachtet. Die Tatsache alleine, daß es Hitler geschafft hat, auf einen Streich, sich seine Nachbarländer einzuverleiben, die zählt! Arabien muß wohl früher ein einziger mächtiger Staat gewesen sein. Jetzt ist es aufgesplittert auf knapp ein Dutzend Länder wohl. Nächstes Problem, warum mischt sich da einfach die USA ein? Was soll das, es ist ein arabisches Problem! Mit welchem Recht? Dem Recht der Vormachtstellung, begründet aus dem Ausgang des zweiten Weltkrieges? Das müßte nun auch langsam mal überdacht werden, mit welchem Recht gibt es eine handvoll Vetoberechtigte in der UNO? So konnten schon einige Beschlüsse nicht durchgesetzt werden, weil (häufig) die USA als einzige Veto einlegte! Wo ist dort Gerechtigkeit? ... Fragen über Fragen! Ist echt spät heut geworden. Doch mich

Nobelpreis Literatur 1990 für Octavio Paz in Würdigung seiner leidenschaftlichen Dichtung mit weiten Horizonten, geprägt von sinnlicher Intelligenz und humanistischer Integrität.


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hat vor allem die Begeisterung für Hitler erschreckt! Wenn die Mehrheit so denkt, na dann »Prost Mahlzeit«, das kann echt »heiter« werden. Zumal die andere Seite, sprich, das restliche westliche Rüstungsmonopol sich jetzt dem Nord-Süd-Konflikt zuwendet und tüchtig schürt und ausnutzt. So werden eben die Neuausgaben und Mehrausgaben für den Rüstungshaushalt damit erklärt, daß man der drohenden Gefahr von den Entwicklungsländern ausgehend, gewappnet entgegentreten muß. Ich stell‘ dabei nur einmal die Frage in den Raum, woher haben denn die Entwicklungsländer ihre ganzen Waffen??? Daß diese Politik schon Früchte trägt, ist unter anderem auch schon bei Hannes zu beobachten. Ich möchte mal gerne wissen, wie er früher zu der Sache »Aufrüstung / Wettrüsten notwendig oder nicht« stand. Jetzt ist er voll auf Kurs, »Na hör‘ mal wenn da jedem Buschking plötzlich einfällt, ich brauch‘ ein bißchen mehr Platz und hab‘ jetzt Lust, die ›Welt‹ zu beherrschen, dann baut der sich so‘n Ding und wir stehen da.« Aber mit welchem Recht hat dann die amerikanische Seite die Atombombe? Man braucht bloß einmal an den ungerechtfertigten zweimaligen Einsatz zurückdenken. Wenn das so weitergeht, steht einem erneuten dritten Einsatz nichts mehr im Wege! 8.9.90 Dienstag, 18.9.90 Ich hatte heute einen herrlichen Traum! Hängt bestimmt mit der gestrigen Bettenaktion zusammen. Hab‘ ich ja noch gar nicht weiter berichtet! Das ist ja hier auch so ein großes Problem. Im Durchschnitt warten se hier wohl 10 – 15 Jahre auf eine Wohnung. Zudem sieht es oft so aus, daß viele hier in Nowo ihren Arbeitsplatz bekommen, aber oft von weiter weg her sind. Wo also wohnen? Da bleiben viele einfach im WH, schwarz. Mit Beziehung geht‘s ganz gut. Deshalb werden schon die Küchen zum Wohnen genutzt. Weiter. Verhütungsmittel weitgehend unbekannt, sehr teuer. Aufklärungsarbeit wird erst hier untereinander betrieben. Deshalb sieht man nun sehr viele junge Paare mit Kind. Denn Kind ist ein Heiratsgrund! Die kleinen Wurstels »hängen« oft ohne jegliche Aufsicht in den Zimmern rum. Dirk erzählte das. So was wie ein gegenseitiges Aufpassen von einem Elternpaar auf ’ne kleine Gruppe von Kindern klappte nicht. Einen Kindergarten muß es allerdings auch geben. Alles in allem sind die Zimmer hier total überbelegt, nicht so wie bei uns, daß es nur für ein Studienjahr ist, sondern generell. Bei den Ausländern macht man ’ne Ausnahme. Dort sind die Zimmer in normaler Stärke belegt. Im Prinzip gibt‘s ein einziges Geschiebe der freien Bettenplätze. Der Dorett ist es zum Beispiel schon passiert, daß sie sich nach dem Sommer ausquartiert sah. Man hatte einfach die Tür aufgebrochen und das Zimmer regelrecht besetzt. Sobald irgendwo ein Zimmer frei ist, besetzen. Wer weiß, wie das dann bei uns ist. Vielleicht bekommen wir dann in KMS auch keinen WH-Platz mehr oder es werden vier in ein Zimmer einquartiert. Ich graue mich schon vor den westdeutschen Studienbedingungen. Alles überfüllt und nur noch Ellenbogen. Unsere Generation mußte versuchen, solche Sachen wie Kollegialität, Freundschaft, Hilfe untereinander (uneigennützig!) zu bewahren und weiterzugeben. Sonst verliert die Menschheit immer mehr davon. Japan ist dafür ein Extrembeispiel. Schon im Kindergarten beginnt der Leistungsdruck. Deshalb ist die hohe Selbstmordrate unter den Jugendlichen mehr oder weniger »verständlich«. Die ganze bisher unterdrückte Kriminalität wird im allgemeinen einen tüchtigen Aufschwung erzielen. Hier wurde uns immer ans Herz gelegt, ja nicht allein abends auf die Straße zu gehen! Ich werd‘s lieber beherzigen! 9.9.90 Mittwoch, 19.9.90 Nachfragen! Irak sieht Einsatz der Atombombe vor?! (Info aus Ru-Lektion) »Klasse« Stimmung! Jetzt haben wir zwar endlich unser Zimmer, doch nichts wie Ärgernisse. Man ist einfach zu gutgläubig! Die wollten uns doch tatsächlich wieder raussetzen! Kamen erst heute zu Karen fragen, ob‘s uns was ausmacht, zu fünft zu wohnen und stellen uns dann vor die Tatsache, hier wohnen schon vier! Mit den hiesigen »Sitten und Bräuchen« komm‘ ich noch nicht ganz klar. Da fehlt vor allem noch Ru zur Verteidigung. Karen kann sich da ausheulen, ich hab‘ keinen und muß das so

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packen! Deshalb laß ich mich nicht hängen, sonst komm‘ ich nicht wieder hoch. In so ’ner Sache kann Karen mir absolut nicht helfen, sagen wir mal, konnte sie nicht. In letzter Zeit gab‘s bei ihr des öfteren mal ’nen »Seelischen«. Vielleicht weiß sie jetzt genau, wie einem dabei zumute sein kann! Jetzt gibt‘s nicht nur ein Schulterzucken. Jetzt wohnen wir also zu sechst plus Katze! Donnerstag, 20.9.90 Ein Monstrum von Wecker holte uns heute früh aus dem Schlaf. Wer da ruhig liegen bleiben konnte, den bewundere ich! Es machte aber niemand so recht Anstalten, sich zu erheben. Also werden wir des weiteren oben essen. Ausflug auf dem Ob! Das ((kyrillisch)) organisiert jedes Jahr für seine ausländischen Studenten eine Fahrt auf dem Ob mit buntem »Programm«. Da ist der Deutsche oft fehl am Platze. Ich hab‘ selten mal erlebt, daß wir so ohne weiteres aus uns herauskommen und mitmachen. Es ist immer irgendwie eine Distanz da, ein Abwarten und von oben Betrachten. Schade, wenn man so miterlebt, daß es auch ganz anders gehen kann. Da wird eben mitgeklatscht, dem einen zum Aufmuntern, damit er sich überhaupt erst traut, was vorzuführen, dem andern als Dankeschön trotz Versprecher und Stocken! Ist ja schließlich nicht jedermanns Sache, vor Publikum sich zu schaffen. Im kleinen Kreis geht‘s doch bei uns auch! Na ja, oh, die Spielchen kamen uns ein bißchen albern vor, war es aber doch ein Grund dafür, einfach – na man kann wirklich fast sagen – »eingeschnappte Leberwurst« zu spielen und abzuhauen? Ich weiß auch nicht, ich fühl‘ mich da immer ein bißchen in der Zwickmühle. Auf der einen Seite kann ich dem »Spieltreiben« nicht doll was abgewinnen, auf der anderen Seite muß ich doch als Gast in ’nem fremden Land ein bißchen zurückstecken. Kann doch schließlich niemand verlangen, daß sich eine Mentalität auf die Gastmentalität total umstellt! Wohl aber anders herum! Der Ralf aus dem zweiten Kurs wohl, wurde gebeten, etwas über unser Land zu erzählen. Tut mir leid, aber es war nun mal seine Meinung. Die kann man ja wohl schlecht mit seiner gegenteiligen persönlichen Meinung als absurdum abtun. Ich weiß wirklich nicht, warum können unsre Jungs nicht mal ’ne andre Meinung als ihre eigene akzeptieren?! Er empfindet nun mal so, daß »sein Land am 3. Oktober zu Grabe getragen wird«. Die Gesichter dabei; »So ein Stuß« war noch nicht die mildeste Äußerung! Ich fand seine Aussagen ganz interessant, mit allem geh‘ ich nun auch nicht konform, doch so aus den Fingern gesaugt, ist es nun auch nicht! Beispiel: »Früher waren wir ein Land ohne Demokratie mit Arbeit für jeden, jetzt werden wir die bürgerliche Demokratie der BRD übernehmen und stehen ohne Arbeit auf der Straße sinngemäß.« Au man, ich mußte die Herrlichkeiten erst einmal an die soviel und hoch gepriesene Meinungsfreiheit erinnern. Dann waren se wenigstens ruhig. Früher war‘s so, daß auch nur eine Meinung gefragt war und wenn heute jemand mal ein bißchen objektiver ist und auch die Fehler am bürgerlichen System der BRD benennt, diese nicht in den Himmel hebt, sondern nur Vergleiche zu anderen kapitalistischen Ländern zieht, dann wird man schon schief angesehen. Ein paarmal hab‘ ich es allerdings schon geschafft, Theo zum Schweigen zu bringen. Vielleicht denkt er dann mal gründlicher nach! Für viele ist das BRD-System nun das Paradies ohne Fehl und Tadel. Diese Leute tun mir leid, haben früher schon nicht nachgedacht und jetzt auch nicht. Da haben es solche Politiker wie Kohl leicht, die Massen zu beeinflussen. Wenn nicht weiter als bis vor die Haustür gedacht wird. Wie war denn das damals? Kohl akzeptiert nur die Beschlüsse des »Runden Tisches«, nicht die der Modrow-Regierung (Wer hätte es auch von ihm erwartet!). Komisch, der »Runde Tisch« beschloß, daß sich die Westpolitiker nicht in unseren Wahlkampf reinhängen. Und was macht Kohl...? Ich verstehe einfach nicht, daß die Leute nicht sehen, wie sie kraß ausgedrückt – veralbert werden! Ich bemühe mich ja wenigstens ein bißchen objektiv zu bleiben, ’ne andere Meinung auch zu akzeptieren, ohne den andern gleich voll zu überzeugen zu wollen. Doch das gleiche verlange ich eigentlich auch von meinen Gesprächspartnern. Da geht‘s mit Fritz recht gut, mit Karen nicht besonders. Sie hat zum Beispiel noch nie mal gesagt »Hast recht, überzeugt«. Das macht mich manchmal regelrecht fertig. Ich merk‘ schon, es kommt bestimmt die Phase,


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wo wir uns gegenseitig ein bißchen über werden. Dann fallen einem die Schwächen des anderen besonders auf und stören einen. Da hab‘ ich ein gutes Mittel; Ungerechtfertigkeiten einfach unterschlucken. Der andere kann ja schließlich nicht für deine schlechte Laune. Ich bin allerdings dann nicht sehr gesprächig, die andere Seite der Medaille! PS: Ob Dirk morgen mit zu »Madame Butterfly« kommt? Freitag 21.9.90 2 .9.90 Theater, herrlich! Leider mußte mir Hannes meine Freude wieder trüben. Wir hatten erzählt, und das weiß er ja schließlich auch selber, daß das Theater noch rekonstruiert wird. Innen sei es zur Hälfte gemacht, der Zuschauersaal muß noch (Decke unbedingt), doch ansonsten sehr schön hergerichtet! Hannes kommt in den Zuschauerraum, Bemerkungen zustimmender Art fallen. Fritz weist auf die Mängel hin, was noch alles zu machen wäre (Decke, neue Bemalung, Figuren säubern...). Schon fallen abfällige Bemerkungen. »Provinztheater«, man merke es! Tut mir leid, dieser Meinungswandel ist mir zu hoch! Zumal sich alles noch in Arbeit befindet! Klar, wenn man Berliner ist, kennt man nur die besten Theater und Ensembles. Aber wieso denn? Es wurde ja auch alles dahinein gesteckt! Kann ich mir dann einfach so auf den Fakt allein, daß ich da wohne, was einbilden? Ganz schön hoch zu »Roß« noch! Mir hat‘s ganz gut gefallen, es waren auch wirklich gute Stimmen darunter. Bloß lustig hört sich manches im Russischen an. Die Bühnenbilder waren echt Klasse. Nicht so besonders fand ich die aufgestellten Mikrophone. Schade, so kamen die Stimmen nicht so zur Geltung.Das find‘ ich ja gerade immer so toll an Opern, Operetten. Was die Stimmen für einen Klang, nein »Gewalt« haben. Dringen bis in die letzte Reihe hinter. Damit bin ich ja zu Hause verwöhnt worden. Viele Gastsolisten aus Berlin waren an unserem Theater. In C. sah‘s ja damit wirklich mau aus! Mal sehen, wir wollen noch des öfteren die für uns billige Kultur ausnutzen! Zu Hause kann man‘s sich dann nicht mehr leisten! Samstag, 22.9.90 Es hat geklappt! Ein Brief ging wieder mit in die Heimat. Der Ralf fliegt heute abend. Wohnen tut er gar nicht weit von zu Hause! Bei L. !!! Ende Oktober rechne ich mit Post. Hoffentlich kommt se bald!!! Nach dem Brief an Dirk (12 Tage) hat man Hoffnung! Daß die Aktion zustande kam, hab‘ ich eigentlich Dirk zu verdanken. Er sollte mir eigentlich nur sagen, wo derjenige wohnt, der weiß, wo der Ralf zu erreichen ist. Allerdings war ich noch nicht in den WHen vom ((kyrillisch)). Hat den Hannes davon überzeugt, daß er mich doch einfach dorthin begleitet. »Früh« um 11.00! Zum Glück hat alles geklappt!!! Warm werden ohne Russischkenntnisse ist gar nicht so leicht. Aber man muß einfach seinen inneren Schweinehund überwinden und die Leute ansprechen. Ist ja allgemein mein Problem. Obwohl ich schon Fortschritte gemacht habe. Wenn ich so an den Anfang zurückdenke... Die Traute hab‘ ich allerdings nun doch noch nicht. Ich weiß nicht, ob ich vor einer zustimmenden oder verneinenden Antwort mehr Bammel hätte. Aber einen Menschen ohne Fehler und Schwächen gibt‘s zum Glück nicht! Ich nehm‘ mir ja schon vor, ein bißchen auszugleichen. Doch ich bin nun mal ich! Geändert hab‘ ich mich schon, nicht nur zum Positiven! Das fällt mir manchmal aus heitrem Himmel auf. Bloß gut, daß es mir auch noch auffällt! Selbstkritik ist hart, muß aber sein. Sonst landet man bei sich selbst auf dem falschen Dampfer. Man braucht allerdings auch mal ein Erfolgserlebnis. Wenn einem aber niemand bestätigt, daß man eine Sache gut gemacht hat, muß man sich, mehr oder weniger, einreden, daß man es doch ganz gut macht. Training zum Beispiel. Wenn Gaby nur rummeckert, bin ich total engstirnig manchmal. Ich bild‘ mir vor allem ein, ich mach‘ es viel besser, wie sie es sieht. Bloß, wenn man mal genau überlegt, sie sieht es ja, ich nicht! Fällt schwer, das einzusehen. Man gibt sich ja alle Mühe! PS: Nachtschränke bekommen! Sonntag, 23.9.90 Ein bißchen Warmschreiben tut not! Mann, war das heute kalt, unausgeschlafen und dann in der Kälte auf den Schwarzmarkt. Man hätte es wie Hannes machen sollen. Der war heute morgen nicht aus


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dem Bett zu kriegen! Ein Erlebnis war es allemal. Schon allein die Straßenbahn / Busfahrt! Man glaubt nicht, was alles so in eine Bahn hineinpaßt. Da ist unser Berufsverkehr zu Hause echt human dagegen! Nicht schlecht gestaunt hab‘ ich über die Kooperativenfahrzeuge! Eine Bahn vor uns hüpfte aus den Schienen. Sofort war eine Art Ersatzverkehr da. Allerdings über zehnmal so teuer wie die Bahn. Der Bus fuhr aber dann durch. Rückzugs ging‘s dann sogar nonstop bis zu unserer Metrostation, doch schon für einen Rubel. Für hiesige Verhältnisse echt teuer (Metro 0,05 R, Bahn 0,03, Bus 0,06, Trolly 0,05). Die Straßen sind auch ’ne Pracht, ich hab‘ gestaunt, daß wir kein Teil verloren haben! Selbst durch den vollgerammelten Bus drängelt sich noch eine Matrone (paßt wirklich) durch die Massen und sammelt das Fahrgeld ein. Überhaupt wird viel kontrolliert! Sieht man bei uns immer an der ((kyrillisch)). Entsprechend der Anzahl der Kontrolleure werden eben nur so viele Türen geöffnet. Geht auch ruckzuck. Bis auf Streitfälle, wie es sie überall gibt. Mann, ich werd‘ langsam müde! Liegt bestimmt an gestern. Nach dem mehr mäßigen abendlichen Zusammensitzen oben in der 708 hab‘ ich den Schlüssel vom »Bastelzimmer« noch bei Dirk vorbeigebracht. Bin dann dort noch ein Weilchen hängengeblieben. War schön! Ein bißchen ruhig und mal über andere Sachen wurde gesprochen. Die WH-Verhältnisse, überhaupt das Leben der Auslandsstudenten hier. Tat gut! Ich hätte vom Prinzip her noch ewig quatschen können. Na ja, liegt halt an Dirk. Wenn der mir nicht so sympathisch wäre... Schon wieder recht spät geworden! Doch mit Pelmini klingt ein Tag schmackhaft aus. Montag, 24.9.90 Jetzt kam es zum ersten Ausbruch des angespannten Verhältnisses zwischen uns dreien. Eigentlich wegen Nichtigkeiten. Zum Glück war‘s ein Ausbruch und danach war die Luft wieder klar! So müßte es immer sein, tat gut, vorbei und das Leben geht weiter, ohne dauernd darauf rumzuhacken! Erster Brief von zu Hause! Leider der zweite zuerst und nur mit »schlechten« Nachrichten ( – möglich irgendetwas zu schicken laut Post 4 M Lizenzpaket). Hab‘ mich mit Fritz noch in die Haare bekommen deswegen; was geht ihn an, was meine Leute schreiben?! »Ich will wissen, was es Neues gibt! ... Was, weiter nichts?« Hätte ja selber die Adresse zu Hause lassen können! Mich interessiert das andere auch, doch was kann ich dafür, wenn der zweite Brief zuerst ankommt! Ich freu‘ mich jedenfalls, daß überhaupt was ankommt! Wenn‘s auch 20 Tage dauert! Dienstag, 25.9.90 Gestern wurde es noch ziemlich lang, ich wollte eigentlich noch ein bißchen schreiben. Doch wurde es ein Quasselabend, da noch ein Aspirant den Raum nutzen wollte. Mal wieder jemand, der nicht alles verdammt, was früher war. Tut gut, so ’ne Meinung zu hören. Sie hatten hier viel unternommen. Der Singeklub muß sehr aktiv gewesen sein. Auch ein bißchen kritischer, wie hier üblich war. Jetzt ist es leider nicht mehr so, alles eingeschlafen. Dafür werden die meisten jetzt in ihrem Computerkabinett zu finden sein. Früher wurden die Teilis auch mehr einbezogen in die gemeinsamen Unternehmungen. Die Erfahrungen waren allerdings nicht immer die besten! So hat das alles nachgelassen und bei uns ist fast gar nichts zu spüren. Allerdings ohne ihre anfängliche Hilfe wären wir gar nicht zurechtgekommen. Vielleicht muß man auch erst ein bißchen mehr warm werden. Die meisten Veranstaltungen haben die andern schon gesehen, so daß es kaum möglich ist, mal etwas gemeinsam zu unternehmen. Trotzdem, man kann immer kommen, wenn man ein Anliegen hat. Jetzt liegt es nur noch an uns, daraus mehr zu machen! Man o man! »Die Welt» kannste auch vergessen! Freut man sich, endlich mal ’ne deutsche Zeitung zu lesen und dann ist es ’ne total rechte! Die Lesermeinungen gingen mir ganz schön gegen den Kragen. »Deutschland wird nur dann ohne Lügen als einig Deutschland in die Geschichte eingehen, wenn auch die Länder Pommerns ... dazugehören.« Wenn ich das immer höre, könnte ich ausrasten. Mit welchem Recht werden diese Gebiete wiederverlangt? Die Aufteilung ist nun mal ein Ergebnis des zweiten Weltkrieges. Und die Grenzen, die jetzigen sind


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nicht etwa so, weil Deutschland den Krieg verloren hat, sondern überhaupt begonnen hat! Ist für mich wichtig‚ der Fakt! Wenn‘s ganz genau ginge, müßte ja Italien Gebiete von uns abverlangen. Das RömiFriedensnobelpreis 1990 für Michail Gorbatschow für seine führende Rolle in dem Friedensprozess, der heute wichtige Teile der internationalen Gemeinschaft charakterisiert.

sche Reich dehnte sich nun mal ziemlich weit aus! Warum nicht? Mit welchem Recht die Deutschen fordern? Mir geht das ganze Deutschgehabe ziemlich nahe. Dieses übertriebene Nationalbewußtsein führte schon mal zu einem Krieg! Ich hab‘ regelrechten Bammel davor, wenn sich das alles noch weiter ausdehnt. Und das ist leider abzusehen. Ich kann einfach nicht verstehen, wie man zum Beispiel die Republikaner so ohne weiteres akzeptieren kann als Partei. Ich denke, es existiert trotz allem ein Gesetz, das menschenfreundlich also jetzt muß ich langsam aufhören, mit meinem Schreiben wird‘s immer schlechter. Ist auch gar nicht so einfach, bei einer russischen Unterhaltung weiter deutsch zu schreiben! Es sollte so heißen: Ein Gesetz, nach dem Parteien mit verfassungsfeindlichen und allgemein menschenfeindlichen Zielen verboten werden. Das könnte man doch leicht den Republikanern nachweisen. Radikalismus ist links wie rechts gefährlich. Da müßte man streng durchgreifen, gesetzmäßig! Mittwoch, 26.9.90 »Design USA«, ich staune, echt gute Ausstellungen sind hier in Nowo zu sehen. Die chinesische Ausstellung und jetzt diese, echt gut! Fritz übertreibt zwar ein bißchen mit seinem »Nichts Neues«, doch war es nur eine Ausstellung echt zum Design, nicht zu den neuesten Entwicklungstendenzen in Wissenschaft und Technik. Ich fand die Bügeleisen echt lustig! Doch muß ich sagen, viel hab‘ ich nicht von der Ausstellung mitbekommen. Ich hab‘ mir mehr die Leute so angesehen. Das ist immer am interessantesten! Zu den Standbetreuern kam schnell Kontakt zustande, ich muß sagen, einige konnten auch sehr gut russisch. Hört sich lustig an russisch mit amerikanischem Akzent! Leider hab‘ ich die Fragen nicht immer verstanden, doch ging es oft auch allgemein um Fragen des Lebens in den USA. Da fällt mir grade noch was zur Problematik Irak-USA ein. Über 40 % der Amerikaner wären für einen Atomschlag gegen Irak! Erschreckend! Dritter Weltkrieg steht nahe vor der Tür! Neuigkeiten von zu Hause! Ein ((kyrillisch))-Mensch ist auf Arbeitsbesuch bei uns! Hat ein klein bißchen so von den neuesten Ereignissen zu Hause erzählt! Bei den Bauern hat sich die Absatzfrage für dieses Jahr geklärt. Aber nur für dieses. Keine Dauerlösung. Ist für mich auch solch ein Widerspruch, auf der einen Seite der Welt entsteht ein derartiger Butter- und Milchberg, der vergammelt, auf der anderen Seite verhungern die Kinder, weil nicht genügend Nahrung da ist! Ein Widerspruch, vom menschlichen Standpunkt, der nicht sein bräuchte! Bloß, das Menschliche ist ja nicht so wichtig, wichtiger ist das Geld.

Donnerstag, 27.9.90 Konzert, Orgel. War ganz interessant, eine Mischung aus Klassik und Modernem. Freitag, 28.9.90 Mann, das sowjetische Medizinwesen möchte ich wirklich nicht näher kennenlernen. Besser gesagt, ausprobieren! Um schwimmen zu können, braucht man einen ärztlichen Tauglichkeitsschein. Die Tauglichkeitsuntersuchung besteht darin, das Spiel »Zeigt her Eure Füße...« zu spielen! Hat man Füße, dann ist man auch tauglich! Wir dürfen also schwimmen, haben ja auch beide Füße dran! PS: Kramzeug macht mir zu schaffen, ziemlich dolle! Samstag, 29.9.90 Aktion Umzug ist angesagt. Sind echt nette Mädels. Die eine wohnt zwar nicht hier, aber spricht ein deutliches Russisch. Ein ganz anderer Empfang als in der 408! Das »((kyrillisch))« mußte noch auseinandermontiert werden. Diesmal haben Fritz und Jens es alleine gemacht. Es wäre mir auch ein bißchen peinlich gewesen, Dirk noch einmal drum zu bitten. Hätte aber bestimmt mitgeholfen. Wir haben dann noch ’ne Weile gequasselt. Hat uns nachher eingeladen. Ich freu‘ mich drauf!


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Sonntag, 30.9.90 Ich sitz nun hier auf meinem neuen (dem vierten wohl) Bett. Man kann doch fast behaupten, was lange währt, wird gut. Hier ist es wirklich sauber und ordentlich. Schön ruhig, da auf der anderen Seite und die Mädels irgendwie freundlicher! Hab‘ vorhin gleich mal mit beim Strickheft »übersetzt«. Mehr oder weniger vorgemacht. Macht aber echt Spaß. Der gleiche Arbeitsgang, aber unterschiedliche Sprachen und man versteht sich trotzdem ganz einwandfrei! Hier lernen wir bestimmt ein bißchen Russisch, Englisch gleich noch mit! Früh hatte mich die Maria gleich gefragt, ob ich was geträumt hätte. Das ginge ja dann im neuen Bett in Erfüllung! Es war auch ein schöner Traum, leider ist das das einzige, was ich noch so von ihm weiß.

2.

Oktober, 1990 Von Uganda aus beginnt die von Tutsi-Flüchtlingen gegründete Ruandische Patriotische Front mit einer Invasion in Ruanda, um die von Hutus geführte Regierung zu stürzen.

12.

Oktober, 1990 Wolfgang Schäuble, deutscher Bundesminister des Innern, wird bei einem Schussattentat schwer verletzt.

0.90 Montag, 1.10.90 Bin ich doch gestern abend nicht mehr zum Schreiben gekommen. Karen war einfach weggegangen und da haben wir drei, mehr oder weniger, ein bißchen gequatscht. Ging zwar beschwerlich, doch es ging! Aber noch mal zum Samstag! Erst einmal »mußte« ich noch den Schluß des Waschtages miterleben. Einer arbeitet, drei stehen im Wege rum. Sah im Zimmer dann wieder echt lustig aus. Leider kam mein »Angebot« des Mitwaschens ein bißchen zu spät! Zwei Jeansjacken schafft die Maschine nicht! Schade, dabei war die Jacke am anderen Morgen wieder trocken! Dann ging‘s über zum gemütlichen Teil, Wodka aus ’ner Bierflasche (so ist die Originalabfüllung) mit Tee. Also pur hätte ich das Zeug nicht getrunken! Komisch, wenn ich an die ersten gemeinsamen Quasselabende im ersten Studienjahr denke, drehte sich das Thema meistens immer um die Armee. Es war echt mal wieder angenehm, von solchen Geschichten erzählt zu bekommen. Im Nachhinein war die Armee, so hört sich das jetzt an, ein wahrer ((Freifeld))haufen. Von was für Sachen unsere Jungs so erzählen, das können die jetzigen Armisten gar nicht erleben! Mit Abstand sieht alles viel besser aus! Ist ja allgemein so. Leider blieb es nicht bei einem gemütlichen Gespräch. Es wurde, nachdem der Rest eingetrudelt war, zu einer heftigen »Agit-Prop-Veranstaltung«. Erschreckend mit welcher Selbstverständlichkeit über das Thema Nord-Süd-Konflikt geurteilt wird. Theo ist nicht gerade fein, entweder sie finden sich in ihr »Schicksal«, haben also nicht aufzumucken oder sie werden einfach an die Wand gestellt. Theo hatte zwar schon ganz schön was intus, doch sagt man, Betrunkene sagen die Wahrheit. Man merkt es schon im nüchternen Zustand, daß mit ihm schwer zu diskutieren ist. Er kann absolut nicht objektiv werden, irgendwie muß er seine innere Zerrissenheit und Wut abreagieren. So kommt es mir vor, dauernd macht er auf Fritz rum, die Bemerkungen über die PDS kann er sich echt sparen. Da ist nur Haß zu spüren. Dabei war er selber mal SED-Mitglied und schon dort sehr widerspruchsvoll in seinen Handlungen. Auf der einen Seite »rote Schweine«, auf der anderen »Das können wir doch nicht machen, an der FDJ-Aktivtagung muß schon jemand teilnehmen«. Also wie ich den Theo einschätzen soll, weiß ich wirklich nicht. So was von widersprüchlich! Auch Hannes war gestern nicht zu bremsen, weder in seiner Lautstärke noch in seinen Äußerungen. Als wir dann aufbrachen, platzte Erich der Kragen. Das haben wir nur noch durch die geschlossene Tür verfolgt. War vielleicht auch besser so. Dadurch war‘s nicht ganz so schön wie am Anfang. Wurden allerdings noch ganz liebenswürdig vom Hausherrn zur Tür geleitet. War echt lieb von ihm! Allerdings mußten wir unsere neuen Zimmerkumpaninnen rausklopfen. Tat mir ja echt leid. Haben aber anderntags toll gefrühstückt. Zum Glück wurde die Sommerzeit ja zurückgestellt. Da gab‘s ’ne Stunde mehr zum Schlafen! Ein Glück. Ja und gestern ging‘s ja noch ins Ballett. »((kyrillisch))« kam leider nicht, dafür »((kyrillisch))«. War auch nicht schlecht. Was mich ja am meisten gefreut hatte, war, daß Dirk mitkam. Im Gegensatz zu uns arbeitet er ja noch abends recht viel. Na ja, wenn man auch als einziger alleine ein Philo-Seminar bestreiten muß. Schönen Dank auch! Wär nicht grad meine Welt! PS: Neueste Nachrichten, es muß ein neues Wahlgesetz beschlossen werden. Das angestrebte verstößt, laut Richterbeschluß, einstimmig gegen das Grundgesetz! Ansonsten, immer noch keine Post wieder! Heute in


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Russisch ging‘s gen »Mauer«. Hier in Nowo, am zentralen Platz gelegen, stehen die tollsten Losungen. Für uns ist es nicht ganz einfach, sie zu verstehen. Unter anderem ging‘s um Studenten. Diese werden im allgemeinen als sehr apathisch, politisch desinteressiert charakterisiert. Oder: Gegensatz zwischen »entwickeltem Sozialismus« und »faulendem Kapitalismus« – nehmen wir doch ein bißchen vom Faulen! – (Keine Lust mehr weiter, muß noch Briefe schreiben und ein bißchen übersetzen!) Dienstag, 2.10.90 2. 0.90 Na, heute ging bisher alles schief, nichts hat geklappt! Mal sehen, was der Tag noch so bringt! Mittwoch, 3.10.90 3. 0.90 Der Tag, den wir »alle« so herbeigesehnt haben. Irgendwie bin ich doch froh, jetzt nicht zu Hause zu sein. So aus der Ferne geht‘s einem nicht so nahe, weder im schlechten noch im guten Sinne! Man muß sich morgen mal ’ne Zeitung zulegen. Bei uns hier ist ja auch »groß ((Freifeld))« angesagt. Na ja, auf Krampf wird‘s nie besonders. Ich hab‘ da schon meine Befürchtungen! Am besten wird‘s, wenn‘s einfach aus der Stimmung heraus »kommt«. Exkursion durch Nowo ! Mann, wenn wenigstens mal in den Wohngebieten was gemacht werden würde! Es könnte alles viel besser aussehen! Dirk wurden heute seine, zwei Monate erst alten, Schuhe geklaut! Klasse! Ihre Tür besitzt kein Schnappschloß, nun ging‘s los, Schloßsuche. Bin mal mitgezogen. Hat auch echt Spaß gemacht! Ich mag ihn schon sehr! Ja, ja,... Gestern abend ging‘s ja an der Tür weiter mit dem Erzählen, wurde zwar reichlich kalt, war aber trotzdem schön. Ich kann mir nicht helfen, die »Phase« des ersten Verliebtseins ist irgendwie die schönste. Später droht vieles im Alltag unterzugehen. Das macht für mich mal ’ne gute Ehe aus, daß man sich wie am Anfang der Beziehung überraschen, aneinander erfreuen und vielleicht noch am andern etwas Neues entdecken kann... 4. 0.90 Donnerstag, 4.10.90 Wie erwartet wurde es gestern ein ziemlicher »Zwang«. Die Entfernung nach zu Hause macht doch ganz schön was aus. Da kann ich nun die Direktlis echt verstehen, sie geht das alles nicht so an. 6 h Zeitunterschied und tausende Kilometer trennen halt ganz schön. Vor allem, man lebt ja nun hier! Für die kurze Zeit, wie die meisten nach Hause fahren, – jetzt ist der Faden weg! Russisches Geschnatter, Elvis im Radio und »Enterprise« auf dem Videokanal ein paar Einflüsse zu viel, die da auf mich einströmen! Es sollte darauf hinauslaufen, daß die Zeit, die sie zu Hause verbringen, die Zeit in der SU nicht aufwiegt. Schade, es »läuft« grade ’nen interessanter Beitrag im Radio! Geld – Mark, früher und heute – DDR-Mark und D-Mark, leider verstehe ich nicht viel, das Gemurmel vor der Tür übertönt noch dazu vieles. Schade, ich hab‘ mich zu spät zum Zuhören entschlossen. Aber, es macht Spaß, ’ne Fremdssprache zu sprechen. Es geht nun langsam vorwärts! Maria fragte mich eben etwas und ich antwortete ohne groß überlegen zu müssen. Fetzt schon. Müßte allerdings noch ’ne Masse Vokabeln dazulernen beziehungsweise wieder lernen. Deprimierend, wieviel man schon wieder verlernt hat. Vor allem muß man das ganze Fremdsprachenlernen ganz anders aufziehen. Die Umgangssprache unterscheidet sich ja wesentlich von dem, was man so allgemein in der Schule lernt. Langsam, ganz langsam geht‘s ja vorwärts, wenn ich nicht so faul wäre, würde es wesentlich schneller klappen. Also, großes »Vornehmen« angesagt! Leider hat mein Durchhaltevermögen im Laufe der KMS-Zeit ziemlich nachgelassen. Halt alles eine Willensfrage. Der Anfang muß bloß gemacht werden beziehungsweise sich nicht nur auf den ersten Ergebissen ausgeruht werden. Also, Ehrenwort, ich fang noch heute damit an. Ein bißchen russisch, dann davon mit englischen Vokabeln erholen. Muß ich an »Die neue Oma aus Budapest« denken, da hat der »Hauptheld« gleich drei Sprachen auf einmal angefangen zu lernen, rumänisch, tschechisch und polnisch. Warum soll‘s dann nicht mit zwei Sprachen nebst Vorkenntnissen klappen. Es läuft schon ganz gut in der Bibo. Doch leider treten des

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Oktober, 1990 Evander Holyfield gewinnt seinen Boxkampf und Weltmeistertitel im Schwergewicht gegen James Douglas im The Mirage, Las Vegas, durch K.o.


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Oktober, 1990 Die Internet Movie Database (IMDb) wird gegründet, jedoch erst ab 1994 erscheint sie im World Wide Web.

öfteren Phasen auf, wo man nicht so recht vom Fleck kommt. Da wär‘ mal ne andre Sprache angebracht. Hab‘ aber leider nur englische Literatur zur Verfügung! Übrigens, fällt mir gerade so ein. Die Kaufgewohnheiten hier, die sind mir noch so richtig intus. Hab‘ ich früher generell so gemacht, erst mal gucken, was jeder so im Korb hat. Diese Methode muß hier wieder angewandt werden. Nur so kommt man zu etwas. Also kann ich noch drei Monate altvertraute Gewohnheiten »pflegen«. Dann heißt es wieder, sich umstellen, sich nicht von dem Überangebot erschlagen lassen! Durch die Reklame ist man ja schon vorprogrammiert. Man braucht das Zeug zum Beispiel noch nie gekostet zu haben, man hat‘s unbewußt durch die Reklame aufgenommen, man hat schon mal davon gehört und schon greift man doch eher zu dem »Bekannten« als zu dem unbekannten gleichen Erzeugnis. Zum Ausprobieren ist ja oft nicht immer das Geld da. Hier kann ich mir das Ausprobieren noch leisten. Hm, hab‘ schon viele leckere Sachen gekostet. Wir schweigen lieber über dieses Kapitel der »Freßsucht«, wir warten lieber das Ergebnis ab! So und nun muß ich mich endlich mal hiervon loseisen. Sonst wird‘s nichts mehr mit dem großen »Vorhaben«. Irgendwie fühlt man sich ein bißchen mehr verpflichtet, wenn man‘s sich selber so per Tagebuch verordnet. Man wird halt täglich dran erinnert! Freitag, 5.10.90 5. 0.90 Dabei blieb es leider auch, beim Erinnern! Es ging nämlich mit Englisch weiter. Ich hatte Maria zugesagt, öfters mal mit Englisch zu üben. Na, da haben wir einfach mal ein bißchen drauf los gequasselt. Mann, oh, Mann, es ist gar nicht so einfach, auf einmal englisch zu sprechen. Es ging in russisch direkt besser. Ist aber nur ’ne Gewöhnungsfrage! Dann hatten wir noch lieben Besuch, dadurch wurde es nun wirklich nichts mehr mit Arbeiten! Heute hat ich dann auch die Nase ziemlich voll vom Arbeiten. Keine Lust mehr. Zumal wir noch ins ((kyrillisch)) wollten. War leider nicht der erhoffte Erfolg!

6. 0.90 Sonntag, falsch! Heute ist erst Samstag, 6.10.90 Tscha, eigentlich »sollte« ich ja heute abend nicht hier sitzen. ((Freifeld)) stand ja auf dem Plan! Planen darf man hier aber lieber nichts. Hält sich sowieso keiner dran, da fährt eben mal keine Raketa! Pech für Kuh Elsa! Bus ging auch nicht, der Tag irgendwie hinüber. Hab‘ ihn mehr oder weniger ja nur vergammelt. Ein bißchen gepennt, hatte noch ein wenig Nachholebedarf von gestern abend. Aus ’ner Kostprobe wurde ein ganzer Quasselabend. Allerdings bestand der erste Teil meinerseits nur aus zuhören. Hannes schafft es, mich regelrecht »besoffen« zu quatschen. Den Gedanken kann ich einfach nicht halten dabei. Irgendwie hab‘ ich auch das Gefühl, er ist schwer zu packen, weil er mehrere Möglichkeiten offen läßt. Ich kann das gar nicht beschreiben, bei einem Gedanken weil noch ein Wust von anderen Gedanken auf einen einströmen. Und trotzdem bin ich manchmal der festen Überzeugung, das ist nicht so, wie er es nur sieht. Irgendwie wird eine Art des »Denkens« Jetzt durch ’ne andere bloß abgelöst. Allerdings genauso beengt. Hannes kann nicht verstehen, daß nur das Leben, das durch die bestehende Gesellschaft durchaus bestimmt wird, nicht zusagt. Eben ein »gutes Werk« getan. Der Slowa kommt im Januar zu uns an die Uni. Bis jetzt ist ja alles klar, Bedingung nur: muß verständlich deutsch können, besser gesagt, muß deutsch verstehen. Und allgemein sah es ja bisher recht mies mit den Deutschkenntnissen hier aus. Jedenfalls darf ich nicht an Moskau und diesen »Tag der deutschen Sprache« denken. Da kann ein Schüler der 5. Klasse schon mehr russisch, wie diese Mädels deutsch konnten! Na, was ich eigentlich sagen wollte, wir haben dem Slowa eine Kassette deutsch besprochen. Man muß ’ne Sprache auch hören, nicht nur trocken vom Buch erlernen. Vor allem muß man sich an die Sprechgeschwindigkeit gewöhnen. Es hilft wirklich nicht, extrem langsam zu sprechen. Am besten im normalen Tempo und schwierige Wörter umschreiben. So erweitert man seinen Wortschatz doch ungemein und lernt nebenbei noch richtig zuzuhören. – Jetzt bin ich schon wieder gestört worden. Und dabei hab‘ ich kein gutes Gefühl. Ich befürchte, der Jens macht sich irgendwelche unberechtigte Hoffnungen. Mir ist so gar nicht wohl dabei, wenn wir zu der Hochzeit


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seiner Schwester fahren sollen. Vor allem, weil es vorher so ein Hin und Her war. Erst mehr oder weniger ja, dann ’ne deutliche Absage und nun auf einmal, für uns drei ist‘s doch noch möglich. Ach Mensch, ’ne blöde Situation. Ich bin mir aber keiner »Schuld« bewußt. Unsere Mentalität ist ja in dieser Hinsicht doch ein bißchen anders. Offener! Obwohl, es kommt hier sehr auf die Leute drauf an. Trotz allem, man merkt ’nen Unterschied. Bei uns macht sich keiner was draus, sich umzuziehen, wenn jemand mit dem Rücken zu einem steht. Beispiel. So ist es auch in den Gesprächen. Viel offener in persönlichen Dingen. Das kann einem aber auch zum Verhängnis werden... Weiter geht‘s heute nicht, obwohl ich echt noch Meinung zum Schreiben hätte. Schade, »Bettruhe« ist angesagt. Wir haben noch einen Schlafgast bekommen. Wird ein bißchen enger nun werden. Macht aber

Nobelpreis Physik 1990 für Jerome I. Friedman und Henry W. Kendall und Richard E. Taylor für ihre bahnbrechenden Untersuchungen der tiefinelastischen Elektronenstreuung an Protonen und gebundenen Neutronen, die von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des Quarkmodells der Teilchenphysik war.

nichts! PS: Post ist eingetrudelt. Meine Leute haben doch tatsächlich schon am 13.9. meine erste Post bekommen! Allerdings dauerte ihr Brief über 20 Tage! Und heute kam von Kirstin ein Brief über Umwege bei mir an. Echt fetzig, doch leider mit ’ner schlechten Nachricht, Volltreffer in PMT! Das ist nun so‘n Ding für sich für mich. Mit »Augenzudrücken« ist der fehlende Punkt gesichert oder aber Nachprüfung. Der Monat zum Entscheiden ist ja schon um. Ach Mensch, daß es so hier wird, hab‘ ich nicht geahnt. Bei mir war zwar die Puste regelrecht alle, doch... Schiete! Ich würde lieber die mündliche Prüfung noch machen. Aber, wer weiß ob‘s nicht ein dermaßener Reinfall wird. Ich und mündliche Prüfung. Überhaupt hab‘ ich zur Zeit das Gefühl, ich kann gar nichts. Dieser Zustand hält nun schon ’ne ganze Weile an. Es ist nicht leicht, sich immer nur alleine durchzuwurschteln. Wenn‘s da jemanden gibt, der einem auch mal Mut zuspricht, einfach hilft ohne zu fragen, dann läßt sich ’ne Schwierigkeit leichter meistern. Mist, jetzt wird mir das erst so richtig »klar« alles. Dieser Leistungsdruck ist eines, was mich fertig machen könnte. Nicht Leistung fordern an sich, sondern besser sein als jeder andere um jeden Preis. Ich hab‘ Angst, allein bleib‘ ich da auf jeden Fall auf der Strecke. Sonntag, 7.10.90 7. 0.90 Tscha, heute ist Feiertag, in der SU wohlgemerkt. Bei uns ist‘s nun damit vorbei. Und dabei fällt mir ein, gestern hatte unser Mamachen Geburtstag! Mann, die Entfernung läßt so einiges untergehen. Ich muß aber sagen, Heimweh oder so, hab ich nicht! Man kann sich schon eingewöhnen. Allerdings, der Tag heute war total »bescheuert«, mir ging‘s nämlich reichlich bescheuert. Ist jetzt immer noch nicht besser, hoffentlich hab‘ ich mir nicht irgendwas weggeholt! Mit dem hiesigen Gesundheits – so, am Tisch läßt es sich doch ein wenig besser schreiben – , ja mit dem hiesigen Gesundheitswesen möchte ich wirklich keine Bekanntschaft schließen! Fritz hat erzählt, die Lehrer erhalten Teuerungszuschlag, wer weiß, wie es jetzt zu Hause so aussieht. Papi hat‘s bestimmt nicht grade leicht. Springer, Spät- und Nachtschicht in einer Woche, Mann, wie soll das ein Körper verkraften! Jetzt ist man aber noch froh, überhaupt arbeiten zu können! Wieder diese Furcht, Furcht unterzugehen. Früher wußte ich auch nicht genau, was wird. Eines war aber sicher, auf der Strecke bleiben tu ich nicht. Aber jetzt? Meinungsfreiheit hin und Meinungsfreiheit her. Wenn man nicht die entsprechende Meinung vorzuweisen hat, die jetzt »herrscht«, wird man schief angesehen. Wo sind eigentlich alle meine Freiheiten, ich spüre erst mal überdeutlich die ganzen neuen Zwänge. Zum Ausnutzen der »Freiheiten« ist größtenteils Geld notwendig. Montag, 8.10.90 8. 0.90 Bin gestern nicht mehr zum Schreiben gekommen, lief dann alles ein bißchen hektisch noch ab. ((kyrillisch)) und die Hochzeit. Hätte gleich ablehnen sollen. Wie es jetzt aussieht, geht mir der Montag auch wieder verloren. Klasse! Karen macht sich da keine Gedanken, brauch‘ sie auch nicht. Ihre Aufgabe wird erst im Nachhinein formuliert! Ich hab‘ das Gefühl, ich schaffs nicht!


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Dienstag, 9.10.90 9. 0.90 Mit dem Zettel für‘s Dekanat ging alles klar! Bleibt heut‘ noch der »Deutschklub« übrig. Wer weiß, als was sich der erweist! Mittwoch, 10.10.90 0.90 Schlechtes Gewissen! Ich hab‘ mich immer noch nicht bei Kerstin gemeldet. Morgen muß es werden, komme was will! Irgendwie werd‘ ich die Sache mit dem Telegramm schon schaukeln. Und dann muß die Sache mit dem Sport endlich perfekt gemacht werden. Ich merke es jetzt, die letzten kleinen Betätigungen – Gymnastik im Club haben schon noch was bewirkt. Langsam setzt die Nichtbetätigung ihr »Fett« an den Oberschenkeln an. Insgesamt fühl‘ ich mich so ohne jegliche sportliche Betätigung nicht so recht wohl. Es fehlt ein Ausgleich! Den ganzen Tag nur in der Bibo, kulturell auch »bloß« geistige Kost, ziemlich einseitig! Gestern! im Deutschklub, war für mich am Interessantesten, was ein Ausländer so interessant findet. Ich muß sagen, die Chemikerin sprach sehr gut deutsch! Wenn wir nach vier Monaten auch so gut russisch könnten, wär‘s Klasse! Bloß, es liegt an jedem selber! Der innere Schweinehund muß bloß des öfteren mal überwunden werden. Es geht ja! Aber die genannte Hemmschwelle beim Sprechen ist halt auch bei mir. Nicht so einfach, sie abzubauen. Klasse fand ich gestern ihre Bemerkung zu dem unbürokratischen Weg, sich bei einer Bibo anzumelden. Kein Vergleich zu dem Papierkrieg hier, wo man vorher noch ’nen Papierchen mit Stempel und Namen verbindet, daß wir doch gewillt sind, Mitglieder dieser beim Namen genannten Bibo zu werden. Ich hab‘ es also nicht nur so umständlich empfunden! Da kam mir ihr Schwärmen so gerade recht. Ich laß es auch, in Anbetracht der täglichen 2 h Fahrzeit nach und von ((kyrillisch)) sein, mich an der dortigen Bibo anzumelden. Zumal meine Arbeitszeit sich nun günstiger gestaltet, täglich von 9 – 21.00 und am Wochenende von 10 – 18.00! Klasse, da wird wenigstens ein bißchen, muß auch. Muß mich dann aber noch mit Äpfeln versorgen. Sonst ist‘s ja nicht auszuhalten! Aber ich bin wieder vom Thema abgekommen! Für mich war auch ihre Begeisterung für die Kultur an sich sehr interessant. Ich finde, hier haben sie sehr viele Möglichkeiten an Theater, Museen, Ballett... Doch dafür fehlt hier die andere Seite, Disco, Nachtbar... Ich ließ mich dermaßen von den Museen begeistern, war echt Klasse. Eine andere Einstellung zur Kultur ist ja allgemein schon zu verzeichnen, mehr wie Alltag hier. Find‘ ich zwar auch nicht ganz so gut, aber es kann sich Jeder Kultur leisten! Die Busse hatten es ihr, neben den sämtlichen Automaten, echt angetan. Na, wenn ich hier die Transportmittel (Bus zu sagen, wäre nicht direkt den Tatsachen entsprechend) so sehe, kann ich verstehen. Mir reicht die heutige Fahrt nach ((kyrillisch)) vollkommen! Aber, so einen richtigen Sinn in diesen Zusammenkünften des »Deutschklubs« kann ich nicht sehen. Das läuft mehr nach ’ner Art Unterricht an dem einen Tag und an dem anderen wie Kino ab. Ein paar wenige können wohl »richtig« deutsch sprechen. Viel hat man ja nun leider nicht mitbekommen. Mal sehen, wie es bei unserem nächsten Zusammentreffen geht. Da soll

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Am 14. Oktober, 1990 stirbt der US-amerikanische Musiker und Komponist Leonard Bernstein an einem Herzversagen.

mehr an sich erzählt werden. Heute, in der Mineralsammlung, war‘s echt Klasse. Eine ganze tolle Führung in deutsch und interessante Ausstellungsstücke. Ich könnte jetzt noch von diesem einen Stein, ((kyrillisch)) oder so ähnlich, schwärmen. Ein kräftiges Lila, stach so richtig heraus. Hm! Wenn ich mir das so überlege, wir sind aus der DDR ausgereist und zurück fahren wir in die BRD. Komisch, aber noch nicht faßbar. Für mich wird‘s noch ’ne ganze Weile die DDR geben. Zuviel hängt von mir daran, ich hab‘ mich nun mal in meiner Heimat sehr wohlgefühlt. Klar, Probleme gab‘s auch, bloß wo gibt es die nicht! Hier ist man reichlich abgeschirmt, gut zum langsamen Eingewöhnen. Unterschiede wird‘s ’ne Weile noch geben, nicht nur vom technischen Niveau, von der Bezahlung, den Preisen her, auch ganz einfach von den Lebensgewohnheiten her. Da ging drüben infolge sich immer mehr steigendem Leistungsdruck vieles schon verloren. Was mich auch irgendwie ein bißchen geärgert, na ja, nicht so an sich geärgert, aber doch ein bißchen gewurmt hat, war, daß bei Geschenken alles nur noch gekauft wird, am besten noch gleich im Geschäft einwickeln lassen und beim Geburtstagskind


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abliefern. Selten ist ein bißchen »Eigeninitiative« zu beobachten! Schade, ich finde, grad das bißchen Selbst-Handanlegen wertet ein gekauftes Geschenk ungemein auf. Es verlangt niemand, »sinnvolle« Geschenke selbst herzustellen, aber irgendwie wird sonst das Schenken an sich automatisiert. Das merkt man für zu Hause selber. Es wurde mitunter viel zu viel verschenkt! Man konnte sich schon fast nicht mehr so richtig freuen. Und dann kam von irgendwoher auf einmal ein kleines originelles Geschenk, nichts groß wertvolles, doch mit Ideen und Phantasie und viel Liebe ausgesucht und verpackt! Ach, ich überleg‘ schon jetzt, was ich so alles mitnehmen möchte. Mir selber macht‘s ja nun auch noch unheimlich viel Spaß, zu verschenken. Ich werd‘ von hier aber nur typische Sachen mitbringen. So zum Beispiel diese Zedernkerne. Ein kleines Mitbringsel schon für einen wie Tom oder auch Clara, Kirstin. Einfach nur so, daß man an den anderen gedacht hat. Ich hab‘ mich auch sehr über das gefreut, was Fritz und Karen mir geschenkt hatten. Es war zwar ein Kinderbuch, doch sehr gut gewählt. Für mich ein durchaus sehr wertvolles Geschenk! Da kann man innerhalb unserer Semi-Gruppe wirklich nicht »klagen«. Die Leute lassen sich allesamt was einfallen! Dabei fällt mir ein, wir haben ja hier noch zwei Geburtstagskinder! Erich hat irgendwann und Dieter wird am 10.12. 22 Jahre alt. Da möchte man sich schon noch was Originelles einfallen lassen! Fragt sich erst einmal bloß, was! Ein bißchen Zeit ist ja noch. Doch so richtig kennt man sich noch nicht. Aber ohne ..., nee! Donnerstag, 11.10.90 0.90 1 h Spaziergang! Das ist bei unserem, na ich glaube es ist schon der vierte Anlauf zum Sporttreiben, rausgekommen. Die Halle war natürlich belegt. Marc hat uns vergessen. Wir haben‘s aber nun sicher, dort ist nichts mit Turnen! Also bleibt nur noch Erich als Alternative. Bezugnehmend auf unsere anstehende Reise meinte Marc nur, daß sie früher echte Probleme, schon nur mal am Wochenende weg, bekommen hätten. Nicht etwa in dem Sinne von »oben«, nein! Die älteren Studienjahre hätten diese »Verfehlung« nach Moskau weitergeleitet! Das muß man sich einmal überlegen! Sind nur eine kleine Truppe und dann solch ein gegenseitiges Mißtrauen, Vertrauensbruch! Diese Leute sind für mich die wirklichen Karrieristen, keine von einer Sache überzeugte Leute! Freitag, 12.10.90 0.90 Gestern abend wurde es noch echt gemütlich, mit selbstangesetzten Wein und ’ne lustige Gesellschaft. Wieder zwei neue Gesichter kennengelernt. In dem Zusammenhang, heute soll ja der aus der Botschaft eintrudeln, das heißt, da ist‘s ja nun schon. Für die Leute in der Botschaft sieht‘s ja nun auch nicht grade rosig aus. Die wenigsten werden bleiben können, zwei Botschaften sind auch zuviel und auch die genossene »rote« Ausbildung kann man schlecht die Interessen der jetzigen Machthaber vertreten. Wenige Ausnahmen, unter anderem vorerst wohl auch diese beiden Herren in Moskau, können weiter arbeiten. Auf dem Gebiet der Studentenbetreuung hat ja die bundesdeutsche Botschaft keine Ahnung. Allerdings, lange haben sie ihre Arbeit nicht. Direktstudium wird, entsprechend bundesdeutschem Bildungswesen, nicht mehr im Ausland existieren. Nur Teilstudium, so ein Jahr lang etwa. So etwas würde mich dann auch noch einmal reizen! Ein direktes Wunschland hätte ich noch nicht, von den Sprachvoraussetzungen kämen eigentlich nur englischsprachige Länder in Betracht. So mit null Ahnung von einer Sprache in ein fremdes Land, das liegt mir gar nicht. Dafür ist man irgendwie viel zu behütet aufgewachsen. Man ist die »Ellenbogengesellschaft« noch nicht gewöhnt. Muß sich aber schnellstens anpassen, sonst geht man nicht nur baden, sondern regelrecht unter. Marktwirtschaft! Hier wird ja auch viel von Marktwirtschaft geredet, es existiert auch ein Programm »500 Tage«. Danach soll‘s dann echt aufwärts gehen. Fraglich ist bloß, ob dieses Konzept durchzuhalten ist. Bis jetzt ist es nämlich auf die RSFSR beschränkt. Und wenn es, wie Fritz sagte, geplant ist, eine »neue« Währung aufzubauen, ginge das nicht, weil ja der Rubel noch Landeswährung ist. Noch ist die UdSSR ein Land.


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Samstag, 13. 13.10.90 3.10.90 0.90 Anknüpfend an gestern, muß ich sagen, es sieht echt mau hier aus. Ich hab‘ mich heute mal mit Maria unterhalten. Sie hat gerade Waffeln gemacht. Thema: Defizit, besonders, warum gibt es keinen Zucker zu kaufen? Bei ihr zu Hause, im Sommer, gab‘s noch Zucker. Rhyschkow: Einführung der Marktwirtschaft Preise ... und das Ergebnis: Hamsterkäufe. Gleiches Erscheinungsbild wie früher bei uns. Tscha, vor Jahren gab‘s mit so etwas keine Probleme, wie sagte sie, unter Breschnew gab‘s alles, aber jetzt, nachdem Gorbatschow an der Macht ist... Tscha, das Volk kann beziehungsweise mißt seine Führung an dem, was es täglich »auszustehen« hat. Und das ist jetzt nicht grade wenig! Die Aggressivität untereinander wächst, die Gleichgültigkeit aber auch. Wie läßt es sich sonst erklären, daß, wenn eine alte Frau auf der Rolltreppe nach hinten stürzt, das Mädel vor mir keine Anstalten zur Hilfe macht, beide Hände frei! Und ich mich mit Beutel an ihr vorbei drängeln muß, um zu helfen. Das hat mich echt fertig gemacht. Die Frau wäre, alleine mit ihr auf der Treppe, verloren gewesen! Ziemlich niederschmetternd war auch der gestrige Film »((kyrillisch))«. Noch niederschmetternder als die Bilder ist für mich der geringe Zuspruch. Das Kino war nicht einmal halb voll und das bei diesem Film! Die Leute verkonsumieren mir hier viel zu viele Videos und das ohne jegliche Auswahl. Die reinsten Horror- und Pornofilme werden en gros verkonsumiert. Diese »Anleitung« und die Probleme im täglichen Leben... Das Ergebnis war unter anderem im Film zu sehen. Wahnsinn! Ich hab‘ nicht viel verstanden, doch viele Bilder sprachen für sich alleine! Die Mordopfer sahen oft wie, ich weiß nicht wie ich‘s beschreiben soll. Die Wut, die in den Menschen sitzt, die Aggressivität wurde an den Leichen sichtbar. Einige Täter mußten vor der Kamera ihre Tat schildern. Als wenn sie von einem Ausflug berichten! Selten ’ne Regung, ein Schlucken! Viele haben ihr Leben eigentlich noch vor sich! In diesem Zusammenhang darf ich nicht an zu Hause denken. Dort ist die öffentliche Kriminalität auch sprunghaft gestiegen (siehe Banküberfall in Chemnitz – Mensch, an so etwas hätte ich nie im Leben geglaubt, auf unserm Gebiet ist so etwas möglich). Klasse war echt der Vergleich zwischen der Allunionsausstellung (den Errungenschaften der sowjetischen Volkswirtschaft) und einer Einkaufsstraße in der BRD (um die Ergebnisse der Wirtschaft der BRD zu »besichtigen«, braucht man keine Eintrittskarte kaufen!). Echt Spitze gemacht! Wir haben jedenfalls gelacht. Für die Einheimischen nun wirklich kein Grund zum Lachen, eher zum »Heulen«. Geschenke zur Hochzeit gibt‘s in ’nem Extraladen, dort ist nur mit Bescheinigung der Eheschließung beziehungsweise mit Einladung zur Hochzeit ein Einkauf möglich! Ansonsten, die Geschäfte sind leer. Wenn es mal etwas gibt, dann bilden sich sofort Schlangen, die kein Ende zu nehmen scheinen. Beispiel Konfekt! Ich hab‘ doch jetzt wirklich einmal russisches Konfekt erstanden! Vor sechs Jahren ca., da konnte ich mir die Sorten aussuchen! Ich muß mal jetzt dieses Beispiel anführen, da man als »Tourist« (auch beim Lehrlingsaustausch hat man nicht unbedingt alles erlebt!) nicht viel zum Vergleichen hat. Hinter die Kulissen geguckt, sieht‘s oft noch weitaus schlimmer aus. Klar, man kann sich an vieles gewöhnen. Wir haben uns hier schon an einiges gewöhnt. Doch, für mich ist ein Ende in Sicht, das ist der große Unterschied! Für mich sieht die ganze Situation nach‘ Monaten wieder ganz anders aus. Ich muß nicht hier leben! Und dann soll wohl in – ((kyrillisch)) eine »Abgabe« zu den »500 Tagen« gestanden haben. Also, daß das Programm nicht realisierbar ist. Das ist bestimmt für manche ein regelrechter Schlag ins Gesicht. Viele bauen auf dieses Programm. Bei Dirk im Block werden schon jetzt die verbleibenden Tage bis zum »besseren Ende« gezählt. Die Leute stecken ihre ganze Hoffnung hinein. Diese wird nun jetzt schon, aber besser jetzt wie erst hinterher, enttäuscht! Bloß, muß das sein? Man könnteso vieles ändern, was schon mit wenig Aufwand einen spürbaren Aufschwung brächte! Wie sagte die Chemikerin? Hier bin ich nun schon einen Monat (((kyrillisch))), ich hab‘ das Gefühl, noch nichts geschafft zu haben. In der BRD hab‘ ich nach zwei Wochen eine Arbeit fertig abgeschlossen. Ein kleiner Schritt! Doch auch die kleinen müssen erst einmal gemacht werden.


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Sonntag, 14. 14.10.90 4.10.90 0.90 Mensch, heute sind ja Länderwahlen! So weit ab vom Schuß, man vergißt total, was zu Hause so ansteht. Bin ja gespannt was dabei rauskommt. Muttchen wollte ja wieder mithelfen, diesmal wohl direkt im Wahlkomitee. Mal sehen, vielleicht erfahr‘ ich schon in 12 Tagen Immerhin besteht ja die Möglichkeit, daß der Brief nur so lange braucht! Immer Optimist bleiben! wie‘s so ablief! Ist auch schon komisch irgendwie, bei den zwei wichtigsten Wahlen ist man nicht mit dabei. Vielleicht gibt‘s

Nobelpreis Chemie 1990 für Elias James Corey für seine Formulierung wichtiger Theorien und Entwicklungen von Methoden organischer Synthese (Retrosynthese).

aber für uns die Möglichkeit der Briefwahl. Das neue Wahlgesetz lautet ja nun nachdem das andere für verfassungsfeindlich erklärt wurde (!) – daß die 5 % – Klausel getrennt auf die zwei deutschen Gebiete angewandt wird. Damit sind allerdings die Listenverbindungen gestorben. Ich bin echt gespannt, was der 2.12. bringt! Hoffentlich wird Kohl abgesägt. Der Mann ist mir so unsympathisch! Ich verstehe nicht, wie manche Leute ihn anhimmeln können, zumal er ganz offensichtlich lügt! Ich brauch‘ bloß dran zu denken, unter der Modrow-Regierung hörte man nur von ihm: »Ich akzeptierte nur die Beschlüsse des Runden Tisches.« Der »Runde Tisch« beschloß, daß kein westdeutscher Politiker in unseren Wahlkampf eingreifen darf. Und was macht der liebe Herr Kohl? Er reist von einer Kampagne zur anderen! Auch hat er sonst noch so einiges vom Stapel gelassen, was einem zu denken hätte geben können. Wir können jetzt erst mal nur abwarten. Ich kann auch nicht einschätzen, inwieweit er Sympathien gewonnen und verloren hat. Man erfährt hier zu wenig beziehungsweise man versteht immer noch zu wenig russisch. Eins hatten wir ja nun erfahren, DT 64 existiert weiter! Ein Glück, sogar Muttchen hat sich darüber aufgeregt, daß se die Frequenzen einfach an den Rias aufgeben sollen, obwohl sie den Sender gar nicht weiter hört. Hoffentlich ist die Entscheidung endgültig, nicht das mal heimlich dem Sender das Wasser abgezogen wird. Theo hätt‘ ich aber nehmen können, von wegen »so‘n Mist. Roter Scheißsender« und so in einer Tour. Wenn ihm Rias lieber ist, bitte. Das heißt aber noch lange nicht, daß der Sender auch besser ist! Ich finde, und da stehe ich nicht alleine mit meiner Meinung, daß der Rias ein ziemlich einseitiges Programm sendet. Unter anderem mehr oder weniger nur eine Musikrichtung. Bei DT 64 gefällt mir oft die Musik so zwischendurch nicht. Ich erwische meist Hartrock. Doch die einzelnen Beiträge sind echt klasse, abwechslungsreich und interessant gemacht! Dagegen kommt kaum ein anderer Sender gegen an! Unser DDR1 hat in der Hinsicht auch einen Riesenschritt noch mal nach vorne gemacht. Ob der Sender noch existiert? Mir hat‘s echt imponiert, daß bis in den Sommer hinein unter diesem Namen gesendet wurde. Ich hab‘ ihn gern gehört, und das, was man als Zuhörer zum Erhalt des Senders tun konnte, getan. Viele sagen, so etwas nützt doch nichts. Ich finde aber, man muß die kleinsten Möglichkeiten ausnutzen, um etwas zu erreichen. Irgendwo muß man ja schließlich beginnen. Und wenn es viele so machen, wird durchaus aus so ’ner Briefaktion eine Kraft, die nicht so einfach übergangen werden kann. Vor allem, welche Mittel hab‘ ich denn sonst noch so, mich zu wehren? 15. 5.10.90 0.90 Montag, 15.10.90 Eigentlich müßte ich ja übersetzen oder Briefe schreiben. Hab‘ aber absolut so keine Meinung. Träum‘ viel lieber erst mal in den Tag. War auch gestern einfach zu schön. Mach‘ ich eben halt gerne, bestimmte Begebenheiten an meinem »geistigen Auge« noch einmal vorbei ziehen zu lassen. Man lebt ja nur einmal und für mich gehört zum Leben nicht nur die Arbeit. Die vielen kleinen schönen Dinge des Alltags müssen einfach sein. Sonst würd‘ ich eingehen wie eine Primel. Obwohl, die Primel ist eine sehr widerstandsfähige Pflanze. Ich brauche da bloß an die von Karen denken! Echt Spitze, wie oft hatte sie die Blätter schon hängen lassen, immer wieder aufgerichtet! ’ne Primel als »Vorbild«, warum nicht? Mir gefallen sowieso oft »einfache« Gartenblumen besser, wie sämtliche Hochzüchtungen »edler« Sorten.


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Dienstag, 16.10.90 0.90 Ich hab‘ gar nicht so die rechte Meinung, gen Mittelasien zu fliegen. Irgendwie kommt noch keine rechte Freude auf. Komisch! Mir werden schon jetzt Maria, Nadja und Dirk fehlen. Wie schnell man sich doch in entsprechender Umgebung eingewöhnen kann. Der erste Monat, Mann, nicht hier nicht dort heimisch. Und jetzt? Morgen früh, spätestens, geht‘s aber mit dem Reisefieber los. Ohne geht‘s nun mal nicht. Wenn‘s nicht so wäre, wär‘s irgendwie traurig. Jetzt geht‘s mir gleich wieder ein bißchen besser. Dirk war eben hier. Wollte nichts besonderes, aber ich hab‘ gleich ein bißchen bessere Laune. Die Ärgerei mit Karen ist dadurch fast überwunden. Eh‘ sie so aus dem Knick kommt, einfach unbegreiflich! Wie kann ein Mensch nur so lange rummehren? ’ne Stunde kann ich mir noch ans Bein hängen, das ist gewiß. Bloß, ob ’ne Stunde ausreicht? Mittwoch, 17. 7.10.90 0.90 17.10.90 Mittelasien! Es ist schon ein anderes Fluidum, obwohl wir hier in ’ner »Großstadt« sind. Auffallend war für mich, hier ist es wesentlich sauberer. Ganz Klasse haben se hier ihre Neubauviertel gestaltet. Es sind zwar auch Betonklötzer, doch mit einheimischen Formen und Ornamenten hochgezogen. Halt auch an den Neubauten noch Mittelasien ersichtlich. Die Flächen ringsum sind im Allgemeinen auch besser in Schuß. Und, hier scheint noch die Sonne. Heute früh in Nowo lag der erste Schnee! Das muß man sich mal überlegen! Schnee, und hier fangen die ersten Bäume gerade an, sich ein gelbes/buntes Blätterkleid zuzulegen. Drei Flugstunden von Nowo entfernt! Ich weiß nicht, heute im Flugzeug und schon vorher das richtige Reisefieber wollte gar nicht aufkommen. Den Flug hab‘ ich mehr oder weniger verdöst. Für uns heißt es ja jetzt »Urlaub«, wahrscheinlich fällt da erst mal die Anpassung weg und übrig bleibt nur das große Schlafdefizit. Das macht sich erst mal mächtig bemerkbar. Bin irgendwie reichlich lustlos. Eine Nacht überschlafen und schon sieht die Welt ja wieder besser aus. Morgen geht‘s ja auf große Stadtrundfahrt! Im Allgemeinen bin ich vom Hotel sehr überrascht worden. Kein Vergleich zu dem damals in Leningrad! Ein bißchen ist man zwar immer noch zweite Klasse – haben ja schließlich »bloß« Rubel bezahlt doch gibt‘s schon noch genug Bevorteilungen gegenüber dem »gemeinen« Volk. Beispiel Flughafen, extra für Intourist-Reisende ein ganzer Bus. Wenn auch nur ein Intouristreisender unter den Passagieren ist, wird er extra mit diesem Bus, und nur alleine, abgeholt. Der Rest darf sich in die anderen Busse drängeln! Donnerstag, 18.10.90 0.90 Da denkt man nun, man fährt in den Spätsommer, ja Hustekuchen. In Chabarowsk ist es noch wärmer wie hier! Verregnet ist Mittelasien auch nicht gerade reizvoll und schon gar nicht, wenn man den halben Tag auf dem Flughafen zubringt, nur um sein Flugticket umzubestellen. Was da so von guten Bekannten noch so zwischendurch reingereicht wurde, ist unklar. Fritz hat sogar noch was »besseres« gesehen. Normalerweise werden bei Umbuchungen beziehungsweise Buchungen wohl keine Pässe gebraucht. In den über den Tisch gewanderten Pässen war jedesmal ein kleiner Obulus für die Damen von Intourist enthalten. Da lief dann die Sache. – Ziemlich viel Bestechung, auf allen Ebenen! Ich glaube, noch schlimmer wie bei uns damals.

19. 9.10.90 0.90 Freitag, 19.10.90 Schock am frühen Morgen! Nachdem es gestern nun fast den gesamten Tag geregnet hat und es ziemlich kühle wurde, erwartete uns ein herrliches Panorama am Fenster. Die Sonne scheint und auf den Bäumen liegt Schnee. Schnee!!! Schnee in Mittelasien, dabei sind die Mehrzahl der Bäume noch grün! Bis um 12.00 hatte es die Sonne noch nicht geschafft, alles wegzutauen. Ist für mich ein bißchen unfaßbar, in Mittelasien schneit es, vor einer Woche waren noch 25° C+! Na ja, ha-


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ben wir eben die richtige Einstimmung für Nowo. Irgendwie bin ich richtig zerschlagen. Unser Fußmarsch an der Straße entlang, hat mich ganz schön mitgenommen. Dabei war es echt mal faszinierend in das eigentliche Taschkent »hineinzuriechen«. Zu riechen gab‘s so allerlei, die Gasleitung führte über ’ne Art Wäschepfähle, die Straße entlang. Die Höfe an sich sind von der Straße nicht einsehbar, alles vermauert. Es ist anzunehmen, daß es dort echt sauber und ordentlich aussieht, was nicht immer von allen Ecken und Enden zu sagen ist. Im Prinzip war‘s wohl von uns auch ziemlich gewagt, einfach dort hinzugehen. Empfohlen wird‘s keinem Touristen. Und schon gar keinem Russen. Manchmal spürt man‘s doch ein bißchen, daß unter anderem russisch nicht gern gehört wird. In Taschkent war schon so einiges los. Man kann nur hoffen, daß sich der Völkerkonflikt wirklich löst.

Samstag, 20.10.90 20. 0.90 Samarkand! Märchenhaft! Zwar im Touristenexpreß von einer Sehenswürdigkeit zur anderen, doch unbeschreiblich schön! Schon allein die Bustour ca. 4 – 4 1/2 h Fahrt, immerhin sind 300 bis 400 km. Und 1 h Zeitverschiebung! Im samarkander Gebiet geht‘s unter anderem durch Bergschluchten. Das sieht irgendwie künstlich aus, so wie aufgeschüttet. Sind aber natürlich, ’nen ganz eigentümlicher Anblick, sehr beeindruckend, wenn sich zu beiden Seiten diese »Berge« erheben. Dolle hoch sind se nicht. Auf jeden Fall ist ein deutlicher Unterschied zwischen Samarkand und Taschkent zu spüren. Taschkent ist ziemlich jung, bei dem Erdbeben wurde so allerlei Altes zerstört. In Samarkand ist noch sehr viel alte Architektur erhalten geblieben und zum Teil sehr gut restauriert. Ich muß auch sagen, ich hab‘ den Eindruck, hier ist es sauberer wie in Taschkent. Die alten Gassen wirken nicht so heruntergekommen! Allerdings habe ich hier zu spüren bekommen, daß es nicht immer günstig ist, russisch zu können. Sonst hätte ich vielleicht den Stoff bekommen. Karen hat ihn ja auch kaufen können. Mensch, wer weiß, ob mein »Traum« von einer Nationaltracht noch in Erfüllung geht. Aber Samarkand hat mich echt begeistert, trotz des »Touristenexpresses« bin ich der Meinung, der erste Eindruck trügt nicht und ich könnte mich, auch die alten Gassen kennend, sehr für diese Stadt begeistern. Mal sehen, was uns in Buchara erwartet. Schade, daß es keine guten Bildbände gibt. Leider nur von Chiwa und dort war ich nicht und komme auch nicht mehr dort hin! 2 0.90 Sonntag, 21.10.90 Heute ist leider unser letzter Tag in Taschkent. Man fühlt sich schon richtig zu Hause hier. Das Beste war aber heute unser Einkauf! Leider ging ich dabei leer aus. Doch dafür haben unsere Jungs, ihre heißbegehrten ((kyrillisch))! Tscha und das haben sie mehr oder weniger mir und dann noch dem Erich zu verdanken! Ich wollte ja noch Rosinen und Kerne erstehen, aber unser geplanter sonntäglicher Basarausflug war auf einmal nicht mehr aktuell. Erich wollte noch ins indische Kunsthaus, auf gut Glück. Da hab‘ ich mich gleich angeschlossen, es liegt nämlich in der Nähe des Basares! Tscha, und wie es sonntags nun einmal üblich ist, es war zu!!! Also stand einem Abstecher zum Basar nichts entgegen! Und was sehen wir dort? Ein junger Mann probiert seinen gerade gekauften ((kyrillisch)) an! Also nichts wie auf und gesucht. Tscha, wir wurden fündig!!! Ich hätte gleich einen kaufen sollen! Jetzt ärgere ich mich, wer weiß, ob ich noch mal welche zu sehen bekomme! Da hätte ich wenigstens was für Papi zu Weihnachten! Na ja... Es war auf jeden Fall echt lustig. Unsere Jungs haben sich teilweise wie kleine Kinder gefreut. Da laufen also demnächst hier paar Usbeken im Chemnitzer WH rum. Ich hab‘ mir eine dieser Hosen geleistet. Schön bequem, denn vom Bund her könnte ich Karen noch mit hineinnehmen. Und die Hose nicht nur für so, die wird auch angezogen. Da gibt‘s nichts! Ja und dann hat man sich mal richtig oben auf gefühlt. Aktion Fernsehturm, die 1/2 h, die man früher hinbestellt wird, braucht man auch. Wie üblich für den bürokratischen Papierberg! Auf jeden Fall kam eine bundesdeutsche Reisegruppe und da gab‘s dann Trubel. Die Namensliste mußte noch


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in Russisch geschrieben werden und das mußte natürlich der Dolmetscher ein ganz junger Spund erledigen. In der Zwischenzeit ging‘s ans Bezahlen und da waren zur Klärung unsere Ru-Kenntnisse echt gefragt. Das Beste war dann, die »Exkursions«leiterin wurde gebeten, in Abschnitten zu reden, damit eine Simultanübersetzung möglich ist. Und was meinte sie dazu? Ob denn das nötig wäre, wir verstünden doch ganz gut russisch! Das war mal ein innerer Vorbeimarsch für mich. Denn oft sind die deutschen und vor allem die westdeutschen Touristen nicht gerade meine »Busenfreunde«, oft ziemlich überheblich und »großer Mann« spielen. Das was ich bisher erlebte, gehörte in diese Kategorie. Wo ich ja echt lachen mußte, was wir zahlen in Rubel und wohnen in einem echt tollen Hotel und unsere Valutazahler sind, man kann echt unser WH als Vorbild dazu nehmen, in einem Hotel mit ständiger Warmwasserberieselung zum Beispiel untergebracht. Da mußte ich echt schmunzeln, beim Essen haben se wie die siebenköpfigen Raupen/Schlangen zugeschlagen, das erste vernünftige Essen, seit Tagen und ich fand‘s nicht grade besonders! Und das alles nur für Rubel! Allerdings war die Bedienung im Fernsehturm oben saumäßig. So etwas von mitropaähnlichen Zuständen, einfach unverständlich. Dann wird man noch angefahren, daß vielen die Plätze gefälligst zu räumen hat! Ne, das hätte ich wirklich nicht erwartet. Wahrscheinlich muß man aber immer mal ’nen Dämpfer bekommen, damit man merkt, was man ist, nämlich nur ein »dummer kleiner Tourist«. Montag, 22.10.90 22. 0.90 Auf nach Buchara, Abenteuer Flug! Eine AN 24 laut fachmännischer Begutachtung unserer Jungs – ist Nobelpreis Medizin 1990 für Joseph E. Murray und E. Donnall Thomas für ihre Einführung der Methode der Übertragung von Gewebe und Organen als klinische Behandlungspraxis in die Humanmedizin.

unser nächstes Maschinchen. »Maschinchen« ist der richtige Ausdruck. So ein lüttes Ding! Mit Propeller, das gibt dann noch die richtige Geräuschkulisse. Einen Vorteil hat die Maschine, sie fliegt recht niedrig, und so konnte man herrlich alles beobachten. In der Hinsicht konnte man den Flug so richtig genießen. Aber hier ein öffentliches Transportmittel in Anspruch zu nehmen, ist immer ein echtes Erlebnis. Man staunt bloß, wie viele Menschen in einem Trolley Platz haben. Und, man kommt auch immer an seiner gewünschten Haltestelle raus. Zwar etwas geknautscht, aber immerhin! Mit dem Hotel haben wir auch wieder echtes Glück gehabt. Schöne Zimmer, gutes Essen. Diesmal bestellen wir uns alles selber. Macht mehr Spaß, wie wenn man nur das Menü vorgesetzt bekommt. Echt Klasse war dann unsere Stadtrundfahrt. Für uns acht Männeken stand sehr gut deutschsprechende Reiseleiterin und eine Art Barkas zur Verfügung. Richtige individuelle Reisegestaltung. Aber leider muß ich immer noch des öfteren ein gewisses Örtchen benutzen. Karen geht‘s aber genauso und unsere »Duftnoten«, die wir hinterlassen, gleichen sich sehr auffallend. Hoffentlich wird‘s nicht so wie bei Hannes.

23. 0.90 Dienstag, 23.10.90 Hoffentlich bereue ich es nicht! Ich hab‘ mir für 120,- Rubel ’ne((kyrillisch)) geleistet! Mit Goldbestickung (Goldfaden), aber immerhin 120,- Rubel! Na ja, wenn ich rechne, daß ich 1 : 6 getauscht habe, kommt se 20,- M. Und dafür geht‘s so einigermaßen noch. Ein bißchen hab‘ ich aber doch noch ein flaues Gefühl in der Magengegend. Lohnt sich diese Ausgabe, ohne den Stoff zu haben? Mir schwebt ja so‘n »Kostüm« vor, doch lohnt es sich wirklich? Karen will mir ja ihren Stoff geben, aber das möchte ich nicht so recht. Ihr gefällt der nämlich selber sehr gut! Aktion Kleid/Stoff zum glücklichen Ende geführt! Dank Erich/Carl. In ’nem staatlichen Geschäft hing noch ein Kleid aus diesem Stoff! Leider ist die Qualität des Stoffes nicht grad‘ besonders, aber ich nehm‘ dadurch Karen nicht die Freude an ihrem gekauften! Nun ist alles vollständig (fast!), Hose, Kleid, ((kyrillisch)). Fehlen tun noch die Schlappen, bloß, die ich gesehen hab‘, gefallen mir nicht so gut. In der Goldstickerei, die wir besichtigt hatten, standen auch bloß weinrote und lilane. Ich würde aber gern ein Paar blaue haben. Passend zur Hose wenigstens. Im Stoff ist ja (leider mein großer Irrtum) kein »Blau« gewesen. Ich hätte in Taschkent lieber die andere Hose nehmen sollen, das war die Farbe! Es geht aber auch so, mußte natürlich gleich noch anprobiert werden! ’ne Nummer zu groß! Also nähen. Mal sehen, vielleicht fang‘ ich noch


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in Nowo damit an. Doch Nowo liegt noch in weiter Ferne, obwohl es morgen erst einmal gen Heimat geht. Ja, hier in Buchara ging‘s mit den Plätzen in zehn Minuten, dann war alles geklärt. Taschkent...? Mittwoch, 24.10.90 24. 0.90 Wir haben einen Glücksdrachen! Hurra! Wenigstens ein schönes kleines Mitbringsel fürs Brautpaar! Na, das war heute ein Tag! Früh ging‘s raus gen Flughafen. Dabei hab‘ ich leider irgendwo meinen Stein vom Armreif verloren. Schade! Bei Intourist auf dem Flughafen war noch keiner da und dabei sollten wir extra um 7.00 Ortszeit erscheinen! Da wir nur zu zweit waren, machten sie sich nicht viel Mühe. Unser Gepäck haben wir, ganz dem »gemeinen Fußvolk«, selbst verladen. Allerdings bin ich erst mal vorne reingeklettert, da niemand das Gepäck weiterreichte und ich dadurch meine Kraxe nicht sicher unterbringen konnte. Wurde natürlich gleich ausgenutzt und ich kam mir vor wie ein Transportarbeiter. Beim Ausladen sollte ich wieder das gleiche Spiel mitspielen und die mir das sagten, waren ausgerechnet jungsche Kerle! Da hab ich gestreikt und siehe, es ging auch anders! In Taschkent »genossen« wir wieder die Fürsorge von Intourist, elende Warterei und ein Bürokratismus hoch drei! Da mußten wir, aufgrund unseres Handgepäcks noch nachzahlen! Es hielt sich zwar rubelmäßig in Grenzen, doch beschissen hat se uns doch! Vonwegen 37 kg ((kyrillisch)), einfach zehn Kilo noch draufgeschlagen! Na ja, wenn‘s nicht so knapp mit der Zeit gewesen wäre, und wir nicht solch einen günstigen Kurs gehabt hätten, wär‘s anders verlaufen. So waren wir froh, ins Flugzeug zu kommen! Einen herrlichen Überflug über Taschkent! Fernsehturm, Hotel, »unsere« Ecke, man konnte alles recht gut ausmachen! In Nowo war es leider schon duster. Da hat man nicht viel sehen können, doch die Krönung des Tages war wieder einmal der innerstädtische Transport. Ich »lebe« zum Glück noch, aber ich kann mir durchaus vorstellen, daß bei dem Gedränge es schon so einige Verletzungen, sprich Quetschungen, geben kam. 1/4 11.00 nachts waren wir dann glücklich in unserem trauten Heim. Maria hat gleich wieder ganz lieb Abendbrot aufgetischt. Erst mal Erholung, ganz wie bei Muttern, aber bei den Weintrauben haben se beide dann tüchtig mit zugelangt! Na ja, wo wir weg waren, war das erste Mal Schnee angesagt! Sind wir recht weggeflogen. Noch mal ein bißchen die Sonne genießen. Es war ganz einfach, bin einfach hin und hab‘ ihm den Buddha und den Wein in die »Hand« gedrückt. Vorher hab‘ ich mir doch einen dermaßenen Kopf gemacht. Na ja, mach‘ ich mir ja immer. Donnerstag, 25.10.90 25. 0.90 Diesmal wurd‘ ich ja lieb verabschiedet! Ganz überraschend. Bin nämlich früh, wie üblich, wenn ein Päckel abzuholen ist, gen Post gestürmt. Und da wurde mir auf einmal ein deutsches »Guten Morgen« gewünscht! Nun ist er heute zu spät gekommen! Mensch, ich hätte nicht gedacht, daß mal wirklich ein Auto anhält und uns mitnimmt. Allerdings will ich nicht wissen, wieviel dafür geblecht wurde! Dran beteiligen konnten wir uns auch nicht, da waren se »stur«. Nun das erste Mal als ganz normales Fußvolk reisen. Wenn man sich auskennt ist es auch erträglich, unser erster Eindruck. Mein zweiter war, im Flugzeug sind die Toiletten doch sehr komfortabel und recht geräumig. Mein Glück, denn aufgrund der monatlichen Unannehmlichkeiten und einem noch nicht beruhigten Stuhlgang mußte ich den Flugzeugkomfort des öfteren in Anspruch nehmen. Freitag, 26.10.90 26. 0.90 Eine Nacht zu dritt! Man merkt allerdings auch an Ausstattung und Umfeld, daß sie nicht die Leute sind, die die Rubels nur so durch die Hände flattern lassen können. Chabarowsk, wesentlich angenehmer als Nowo. Doch für uns ein ziemlicher Temperaturschock. Tscha, Mittelasien war noch reichlich sommerlich... Aber wir haben eine schöne Stadttour gemacht, war echt gut. Am Amur muß es im Sommer herrlich sein! Jetzt geht‘s ab gen ((kyrillisch)) »bei« Ch. Nur 3 h mit ’nem Zug! Diese Entfernungen hier...


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Sonnabend, 27.10.90 27. 0.90 Also, das übemehm‘ ich für die Reichsbahn, das laß ich mir echt gefallen. 3 h Zugfahrt im Liegen. Man kann wunderbar vor sich hinduseln oder schlafen. Mensch, jedesmal bis KMS?! Ich hätte nichts dagegen! Wir wurden gleich von der ganzen Familie am Bahnhof erwartet. Oma und Hund ((kyrillisch)) warteten schon mit dem Essen zu Hause. Die Oma hat scheinbar dort den ganzen Haushalt geschmissen. Jetzt heißt es erst einmal auf zur Stadterkundung! Dann steigt die Hochzeit, bin ja auf das »Vorspiel« gespannt! Sonntag, 28.10.90 28. 0.90 ’ne ((kyrillisch)) kann ganz schön anstrengend sein. Erst mal ging‘s ja auf Exkursion. Jens‘ Städtchen ist schon ein Fleckchen für sich. Mir hatte seine Schule echt gut gefallen. Schön bunt und kinderfreundlich. Samstag ist wohl an sich kein Unterricht, sondern so etwas wie Spielstunden. Die Unterstufe war voll besetzt. In diese Schule geht man bestimmt gern. Hauptzweck, das ((kyrillisch)), haben wir nach langem Suchen auch gefunden. Die Einwohner bekamen‘s dann auch gleich noch zu hören. Anfangs fiel es uns nicht grade leicht, warm zu werden. Doch die Tante aus Chabarowsk hat schon dafür gesorgt, daß wir richtig dazugehören. Als erstes hieß es ein Liedchen trällern. Hoffentlich hat‘s sich nicht allzu schrill und schief angehört. Ging dann »Schlag auf Schlag« mit den »Attraktionen« weiter. Man merkt beim Feiern wieder einmal die unterschiedlichen Mentalitäten. Hier tanzten auch die Omas alle möglichen Lieder mit. War lustig! Zu Hause bei Jens ging‘s dann erst so richtig los beziehungsweise weiter. Ein Geschnatter! Da wurden, wie überall, die Kindergartengeschichten von Mutter und Tante herausgekramt. Schön! Das war für uns auch ein Ru-Kurs ohnegleichen! Herrlich, wenn man die Leute so alle versteht. 29. 0.90 Montag, 29.10.90 Tscha, gestern der Hochzeit zweiter Akt war nicht ganz so schön. Doch haben wir unser schauspielerisches Talent noch einmal unter Beweis gestellt. Zigeunertanz war angesagt! Gar nicht meine Welt, irgendwie im Mittelpunkt zu stehen. Was soll‘s, »überlebt« hab‘ ich‘s!!! Bei Karen sah‘s »Überleben« gestern nacht nicht grad besonders aus. Ein paarmal hat sie mit ’nem Löwen »telefonieren« müssen. Zur Zeit geht‘s ihr schon besser. Hoffentlich hält sie bis nach Hause durch! Nowo: Schnee, -7 ° C. Und keiner war da, schade! Na ja, wir hatten ja auch Verspätung! Dadurch Erlebnis Bus! Bei Maria gab‘s gleich wieder ein Abendbrot, da macht es Spaß, nach Hause zu kommen! Schade, Dirk war nicht da! 30. 0.90 Dienstag, 30.10.90 Nach zweimonatigem Hiersein, hab‘ ich heute nun endlich einmal das ((kyrillisch)) kennengelernt. Und Nowo ein bißchen genauer. Zwar nicht unbedingt schönere Ecken und Flecken der Stadt, doch immerhin ein paar neue Geschäfte, wo es etwas geben könnte. Die Versorgungslage ist irgendwie ein bißchen mieserer geworden. Ich täusch‘ mich vielleicht? 3 0.90 Mittwoch, 31.10.90 Ich weiß nicht so recht, wie ich mich entscheiden soll. Bei Andre war das anders, da ging‘s ratz-batz. Hierbei hab‘ ich viel mehr »Angst«. Angst in dem Sinne, daß es schief gehen könnte. Irgendwie steckt die »Sache« mit Andre noch ziemlich tief obwohl‘s doch nun schon über ein Jahr her ist. Ich hab‘ ganz einfach Angst vor einer erneuten Enttäuschung. Aber immerhin bin ich nun endlich wieder soweit, daß ich mich für jemand andern interessiere. Aber, ich vergleiche noch immer. Ob das gut ist, ich bezweifel es. Wahrscheinlich kam Andre meinem Wunschbild ziemlich nahe. Wunschbild jetzt nicht von Äußerlichkeiten oder dergleichen her. Sagen wir mal so, was Haarfarbe ... betrifft. Ich hab‘ aber schon mal festgestellt, daß ich mir zum Beispiel ziemlich genau die Hände ansehe. Und den Mund/


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Lippen zum Beispiel. Warum, das weiß ich nicht so richtig. Man überlegt aber immer dabei – nun immer nun nicht – ja, von diesen Händen würd‘ ich Zärtlichkeiten gern annehmen. Komisch, aber das ist mir irgendwie wichtig. Im Moment hab‘ ich auch ein großes Zärtlichkeitsbedürfnis. Menschlich. Es bringt mich jetzt aber in reichliche Konflikte, was zeitlicher ist. Da wird erst mal wieder alles andere

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26.

November, 1990 Die Shanghaier Börse wird gegründet.

nebensächlich, bis jetzt die Zeit, ich seh‘ sonst echt schwarz für‘s Ingenieurpraktikum. Meine Motivation dafür war schon von Anfang an nicht grade groß. Ich seh‘ einfach kein Land bei der Sache!

Donnerstag, 1.11.90 .90 Gestern wurde es mal wieder reichlich spät, war aber dafür sehr schön. Doch, bestimmt ist es nicht grade einfach mit mir. Vor allem muß ich aufpassen, daß ich nicht wieder in »Unaktivität« verfalle und mich nur nach einem richte. Vor allem ’ne eindeutige Meinung haben. Nicht nur Schulterzucken beziehungsweise mir egal, sondern: »Ich würd‘ gern noch weiter...«! Freitag, 2.11.90 2. .90 Na ja, nun ist es »offiziell«. Ein blödes Wort! Ganz anders wie damals bei Andre. Ich hab‘ bloß Angst, daß es nicht soviel ist, wie es sein sollte! Ich glaub‘, diesmal brauch‘ ich viel Zeit. Ob Dirk das versteht? Ich hoff‘s ja, sonst wär‘s schade. Täte mir sehr leid! Aber, ich kenn mich zur Zeit in meinen Gefühlen absolut nicht aus. 3. .90 Samstag 3.11.90 Heute gut was geschafft. Mann, ich hätte gar nicht gedacht, daß es so gut auf einmal wieder läuft! So muß es auch weitergehen, dann kann ich endlich wieder auf die Zeitschriften umsteigen. Da steht mir nämlich noch so einiges bevor! 4. .90 Sonntag, 4.11.90 Die Eintragungen werden jetzt auch immer kürzer, die Zeit wird irgendwie kanpp. Man möchte ja auch zu zweit noch was unternehmen. Oft hält man sich aber auch gegenseitig von der Arbeit ab und das geht mit Dirk viel zu gut. Doch dafür muß er dann heute noch ’ne Nachtschicht ranhängen. Nicht grade Sinn und Zweck der Sache. Vor allem heißt es dann morgen früh um 8.00 wieder raus! Das schlechte Gewissen drückt schon. Mir fällt ja schließlich das »frühe« Aufstehen auch schwer. Mensch, wenn ich dran denke, um 8.00 Uhr ist früh, zu Hause heißt es, 2h früher raus. Ach, ich darf noch gar nicht dran denken. Hier hinten ist man so richtig weit ab vom Schuß. Hab‘ ich gemerkt heute, beim Schreiben. Theo brachte allerdings die tolle Nachricht vom Stip mit: 130,- DM (80,- Grund + 50,- sozial), der Rest entsprechend Einkommen der Eltern. Ich bin dann bloß auf die Einkommensgrenzen gespannt. Ich hab‘ keine Lust, meinen Leuten auf der Tasche zu liegen. Wird an sich noch schwer genug werden. Wer weiß, wie lange sie noch Arbeit haben! Irgendwer hat jetzt mal erzählt, daß eine Rentenerhöhung geplant ist. An sich schöne Sache, nur es ist nicht für alle! Die »westdeutschen« Rentner haben Anspruch darauf, unsere nicht! Ich glaube, da wird‘s wieder so einiges an Straßenaktionen geben. In Leipzig leben die Montagsdemos wieder auf. Überhaupt, wenn ich an die zuletzt eingengangene Post denke, muß ich regelrecht schmunzeln. Kurz vorm 3.10. geschrieben, wird nicht grade in »lobenden Tönen« von dem Ereignis der deutschen Geschichte gesprochen. Viel mehr in die Richtung: »Hoffentlich knall‘n se nicht so laut, ich möchte wenigstens schön durch- und ausschlafen...«. Im allgemeinen recht nachdenkliche und zurückhaltende Zeilen. Ich kann mir das auch gar nicht so richtig vorstellen. Wir reisen in die BRD ein, in »meine (?) Heimat«! Zumal, wenn ich die Ergebnisse der Kommunalwahlen sehe, hab ich Bammel vor der Wahl am 3.12.! Nur im Land Brandenburg (ein Glück da wohn ich) hat die SPD die führende Position. Sonst nur die CDU wohl. Richtig deprimie-


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rend. Wenn Kohl dann auch noch die gesamtdeutschen Wahlen gewinnt, kommt er gar nicht mehr von der Wolke runter auf die Erde. Ich bin ja gespannt, was sich so auf dem Sektor Bildungswesen, speziell jetzt an unserer Uni dadurch geändert hat. Vielleicht kommt morgen endlich wieder Post!!! Montag, 5.11.90 5. .90 Mann, Schock am frühen Morgen. Meine waren schon aussortiert! Hab‘ sie aber zum Glück alle wieder! Der sibirische Winter hat sich angeküdigt! Gestern abend ein Spaziergang bei -14 C!!! Das beißt vielleicht im Gesichte. Ich hatte ’ne Thermohose an, doch kam es mir absolut nicht so vor! Eiskalt! Wenn dann erst mal -20 C werden, was soll dann werden? PS: Mittlerweile fliegen zwei Vögel im Lesesaal rum, ’ne Meise und ein dicker kleiner Spatz. Scheinen sich recht wohl zu fühlen, erkunden nämlich erst die Pflanzen, Bänke, Regale. 6. .90 Dienstag, 6.11.90 Eben meine persönliche Bibliothekarin mal wieder gesehen. Schön, man kann sich mit ihr gut unterhalten. Aber, irgendwie steckt mir ’ne Erkältung in den Knochen. Es geht alles nicht so vorwärts, wie ich will! Vowärts geht‘s mit dem sibirischen Winter. Gestern hab‘ ich im Endeffekt schon eins meiner schärfsten Geschütze aufgefahren, meine Skihose. Dafür war mir aber auch schön warm. Die Jungs sahen auch Spitze aus. Carl mit ((kyrillisch)) und Jacke drüber nebst Schapka. Ein Bild für die Götter. Bloß, Antje sagte, heute solle -25C werden. Zum Glück sind‘s noch nicht so viele, mein »Gesicht« sagt, noch nicht. Beim Nachtspaziergang waren‘s immerhin -14C. Und da hat‘s mächtig ins Gesicht gebissen. Na ja, erleben wir halt einen echten sibirischen Winter mit echter sibirischer, lausiger Kälte. Soviel Kälte gratis gibt‘s sobald nicht wieder. Gestern vorm Kino konnte man schon die Parade abnehmen. Eine richtige Mititärparade hab‘ ich noch nie gesehen, bloß mal im Fernsehen so‘n paar Ausschnitte. Hier werden wohl aber in allen größeren Städten diese Paraden abgehalten. Zwei Tage vorher wird schon alles hin und her geschafft. Wahnsinn, was da so an Technik bewegt wird. Vor allem bei dem zur Zeit recht knappen Benzin. Dafür ist anscheinend noch genügend da. Manchmal hab‘ ich hier das Gefühl für bestimmte Sachen wird künstlich ein Defizit geschaffen. Jedenfalls ist eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem September-Stand an Waren im Geschäft zu verzeichnen. Es kann sein, daß demnächst einige Geschäfte nachziehen und ihre Preisen nach den Feiertagen aufzuwarten. Im ((kyrillisch)) geht‘s ja schon los. Tomatensoße, das Glas zu 45 – 55 Kopeken, genau weiß ich das nicht mehr, jetzt steht‘s rum für 1,80 Rubel. Dreimal teurer! Wer weiß, wo das noch hingeht! Ich werde heute noch mal ’ne Inspektion dorthin machen. Mal sehen, ob man sich dann noch was so leisten kann. Maria ihre Schwester ist da. Mal was Schöne mitbringen! Schließlich ist ja auch Feiertag! Da gibt‘s hier aber auch noch ein komisches System. Am Institut ist es so, daß der Feiertag, damit drei zusammenhängende, freie Tage rauskommen, mit dem Sonntag getauscht wird. Da werden also die Einheiten auf den Sonntag verlegt. Drei Tage frei und Samstag und Sonntag Unterricht. Ob das das Wahre ist? Mann, ich weiß nicht was heute mit mir los ist. Zu nichts Lust, an nichts so recht Freude. Am liebsten würde ich jetzt schlafen. Mir hat das relativ frühe ins Bett gehen (12.00) und das »lange« Schlafen (9.00) richtig gut getan. Anfangs, doch jetzt meldet sich mein Schlafdefizit wieder. Dazu kommen noch Schnupfen und Husten, die sich bei dem Wetter auch sehr gut ausnehmen. Es macht keinen Spaß, sich in klirrender Kälte, die Nase putzen zu müssen. Aber lieber nehm‘ ich gefrorene Taschentücher und Finger auf mich, als wenn ich es den Einheimischen nachmache und hochziehe. Eine blöde Angewohnheit, so »appetitlich«. Mein Schnupfen ist schon zeimlich fest, der Husten hat sich zeitweise auch gewaschen. Dabei kommt mir aber eine hiesige Unsitte entgegen. Es fällt absolut nicht auf, wenn ich den losgehusteten Schleim neben mich auf die Straße spucke. Das ist hier an der Tagesordnung, man muß nur aufpassen, daß man nicht in die Spucke des Vorgängers reinläuft beziehungsweise nicht »begossen« wird. – Meine Klaue wird auch immer


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unansehnlicher und unleserlicher, muß wieder zum Füller übergehen. Das hilft ein bißchen. Die Schrift hat sich durchs Mitschreiben beim Studium sowieso verschlechtert. Erst einmal das schnelle und dann noch das viele Schreiben. Ich hab‘ mir privat nun schon so einiges an Abkürzungen zugelegt, doch damit kommen dann immer die andern nicht klar. Hauptsache, ich weiß später alles noch!

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23.

Am 23. November, 1990 stirbt der walisische Schriftsteller Roald Dahl an Leukämie.

Mittwoch, 7.11.90 7. .90 Feiertag! Das war heute früh eine Überraschung, fünfmal Post + zwei Pakete für mich! Spitze!!! Hat sich gelohnt, am Anfang einen Packen Karten zu verschicken. So kam endlich mal ein Lebenszeichen von Leuten, die lange nichts mehr von sich hören ließen! Leider ist der »Ton« der Briefe alles andere als von Freude übersprudelnd! Ziemlich bedrückend liest sich das meiste. Bei Karla steht zwar: »es gibt immer einen Ausweg«, doch so optimistisch klingt ihr Brief einfach nicht. Regelrecht deprimierend, kommt es mir vor. So die Stimmung, wenn einem fast schon alles egal ist bei den andern sieht‘s nicht viel besser aus. Anja steht nun mit Kind ohne richtige Arbeit da, kein Arbeitslosengeld, da sie irgendwie was hat. Mehr als Studium oder so. Da heißt es, mit einem Lehrergehalt auskommen. Tscha, das kann ich nun noch gar nicht einschätzen. Keine Ahnung wie daheeme die »Aktien stehen«. ’ne gewisse Umstellung wird‘s schon wieder werden. Man muß sich dann mal wieder an volle Regale gewöhnen. Die Situation hat sich hier gegenüber September, meiner Meinung nach, wesentlich verschlechtert! Es ist doch nicht feierlich, wenn‘s in einer großen Kaufhalle nichts weiter wie Brot gibt. Nicht mal ihre ständig vorhandenen Lapschas waren zu sehen. Die ganzen nicht definierbaren Sachen, nicht mehr zu sehen! Da kommen die Pakete richtig. Man verhungert zwar hier nicht, doch es wird sonst ein recht eintöniges Essen. Aber heute, der Feiertag macht‘s noch mal möglich, gab‘s mal wieder Käse und den ziemlich reichlich. Wir haben lauter gute Sachen, nach dreimonatiger Ebbe mal Zucker, eingekauft, doch das was wir eigentlich wollten ... kein Eis! Schade, also ein Geburtstag ohne Eis. Eigentlich hätten wir ruhig Glück haben können! Zumal ich mich dafür sogar eingesetzt habe! Ja, jetzt ist es draußen herrlich, Schnee, schöner weißer Schnee. Mildes Wetter an sich. Einfach herrlich, draußen langzustiefeln. Nach der Kälte kommt jetzt der Schnee. Mal sehen, wenn beides gleichzeitig zusammentrifft! Donnerstag, 8.11.90 8. .90 Heute geht der Feiertag weiter. Komisch, zwei Tage hintereinander und damit es sich auch lohnt, wird der Feiertag mit dem Sonntag getauscht. Das heißt, Freitag ist frei und ab Samstag wird bis zum nächsten Samstag voll durchgearbeitet. Also Sonntag ist ganz stinknormaler Studientag! Das ist eine Wirtschaft und das soll funktionieren? Freitag, 9.11.90 9. .90 Mann, die Post arbeitet auch nach diesem System, Freitag zu, Sonntag auf! Na ja, haben wir halt ’nen Morgenspaziergang gemacht. Dafür ist bei mir ein blauer Fleck dazugekommen. Es taut zwar, doch ist noch genug Eis zum Ausrutschen vorhanden. Um heut‘ nicht ganz so faul zu sein, geht‘s in die Bibo, hab‘ schließlich am Montag Termin. PS: »Sturmfreie Bude«. Maria nebst Schwester sind nach Tomskt. .90 Samstag, 10.11.90 Das war heute früh schön! Ich brauchte nicht alleine zur Post stiefeln, auf dem halben Weg kommt mir doch glatt Dirk entgegen! Das heißt richtiger gesagt, wir wären fast zusammengestoßen, kamen beide gleichzeitig um die Ecke gebogen! Schön, wieder mal ’nen Gruß aus der Heimat zu erhalten. Hab‘ von zu Hause lange kein Lebenszeichen mehr bekommen. Hoffentlich ist‘s nichts Ernstes. Man fängt langsam an, sich Gedanken zu machen. Bloß, keine Post, das hat hier nicht viel zu sagen. Ich kann echt von Glück sagen, bis jetzt ist alles Angekündigte eingetroffen! Mann, noch drei Zettel für Pakete. Was ist denn heut‘ bloß los? Das war ’ne Aktion! Ein Paket kam


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doch tatsächlich woanders an. Ob das nun mit dem Zoll zusammenhing, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall fehlte der Zettel, den ich sonst immer bekomme. Dort ist unter anderem eine Inhaltsangabe gemacht. Nun und nach einem Kilovergleich fehlten 100g. Na, das werden ein paar Mars/ Milky Way gewesen sein! Der Zoll hat auch mal Appetit gehabt. Sonst würde nicht der Zettel fehlen! Dafür brauchte ich dann nichts bezahlen, auch gut! Hm. Es war fast ein reines Süßigkeitenpäckchen! Da kann man ja wieder schnabulieren!!! Ich werde mal warten, bis die N. auch wieder da ist. Dann bekommt se auch was mit ab. Hab‘ jetzt ein richtiges Lager an Tütensuppen da. .90 Sonntag, 11.11.90 Die ((kyrillisch))-Bilder sind schon fertig!!! Sagen wir mal lieber die ((kyrillisch))-Fotos. Das schärfste ist ja, wir können die Kassette, also die Videokassette mitnehmen, zum Angucken. Gestern ging‘s ja nur verkehrt herum. Ein bißchen komisch, die Braut pechschwarz! Fragt sich bloß, wo abspielen?! Ich reiche sie am besten an Fritz und Karen weiter. Wer weiß, was sich alles so zu Hause geändert hat. .90 Montag, 12.11.90 Man kommt nicht einmal so richtig zum Zeitunglesen. Zwar schon verjährt, doch es reicht immer noch aus, sich darüber aufzuregen. Die Kriminalität ist sprunghaft gestiegen. Wo gab‘s denn früher in dem Umfang Überfälle, Kunstdiebstähle wie sich jetzt abzuzeichnen beginnt? Traurig! Fast nur Hiobsbotschaften kann man lesen! Ein Glück, man brauchte den ganzen »Nervenkrieg« nicht miterleben. Ich möchte nicht wissen, was zur Wahl und zum 3.10. so alles los war. In Berlin hat‘s mächtig gerumpst, der Ausgang der Wahl ist für mich auch nicht grade so verständlich. Die CDU hat wieder Aufwind bekommen! Trotz dieser ganzen Mißstände und der Übereiltheit. Für die gesamtdeutsche Wahl seh‘ ich auch ein bißchen schwarz. Fast wörtlich zu nehmen, denn nach dem Geldskandal der PDS werden noch weniger links wählen. Ich glaube, es steht aber auch nur im ND drinne, daß Gysi den Prozeß gegen den Spinger Verlag gewonnen hat (Verleumdung, Enten). Eine Berichtigung wird wohl nirgends weiter zu finden sein. Tscha, Meinungsfreiheit Meinungsmonopol... Grade durch die Vormachtstellung diverser Zeitungsredaktionen und der auch dort funktionierenden Marktwirtschaft, kann ich nicht in dem Sinne von Pressefreiheit sprechen. Für mich versteht sich die praktizierte Pressefreiheit eines Spiegelredakteurs oder eines Bildredakteurs darin, »ich nehm‘s mit der Wahrheit nicht so genau, Hauptsache interessant genug, die Leute zum Kaufen zu bewegen«. Es sind dadurch schon einige ungewollte zu Opfern gemacht worden. Da wurde ihnen eine Story angedichtet, die sie sich selbst nicht einmal in kühnsten Träumen zusammengesponnen gewagt hätten. Das Dementi nach langem Kampf der Betroffenen, zwei ganz kleingedruckte Zeilen, irgendwo am Ende der Zeitschrift. Das Schlimme ist, zum Beispiel die Bildzeitung ist wohl mit die billigste Tageszeitung, viele große fettgedruckte Schlagzeilen, wenig Text – die Leute kaufen se. Auch viele DDRler. Das spricht wirklich nicht für uns, da hat Erich vollkommen recht. Ich dachte eigentlich auch, man stellt höhere Ansprüche. Doch Papschie kauft se, leider, auch öfters! Kann immer noch sticheln, hilft sogar manchmal! Tscha, was werden se wohl jetzt zu Hause machen? 13. 3.11.90 .90 Dienstag, 13.11.90 Wir sind wieder vollständig! Nadja kam in aller Herrgottsfrühe wieder hier an. Da war nichts mit Durchschlafen! Ich brauch‘ mal endlich wieder einen Tag zum Schlafen!!! Schade, der Club wird ja nun auch belegt. Die letzte Möglichkeit auch noch flöten gegangen. Im Zimmer wird man jetzt selten alleine sein, da der 4. / 5. Kurs nicht so oft Lektionen hat. Es hält sich sehr in Grenzen, was die Leute an Zeit im Institut verbringen. Ich hab‘ das Gefühl, die gammeln noch mehr rum, wie unsre Wiwi-Leute. Aber den ganzen Tag nur in der Bude, das wäre mir aber auch nichts. Bin ja gespannt, wie‘s jetzt demnächst im Dezember wird. Da soll Maria schon Prüfungen haben. Hm, Kalmar ist echt schmackhaft!


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Mittwoch, 14. 14.11.90 4.11.90 .90 Diesmal liefs im Deutsch-Club wesentlich besser. Es waren zwar nicht so viele wie beim ersten Mal dabei, doch kam in geringem Umfang wenigstens ein Gespräch zustande. Echt überrascht war ich über Hannes. Ich wußte ja schon, daß er sich für Geschichte begeistern kann, doch was er dann für einen Vortrag zu den Dias gehalten hatte, war echt stark. Da hat jeder noch dazugelernt! Soviel würde ich nicht mal über Brandenburg zusammenkriegen! An sich war diesmal auch eine bessere Atmosphäre, die alte Dame, die dreimal das »Zepter« war natürlicher, ging einem nicht um den Bart! Sie war vor allem auch bereit, ihre eigene Meinung deutlich zu akzentuieren. Nicht so ein Herumgerede um den heißen Brei! Im Club bekommen sie auch die »Zeit«, Geschenkabo, dadurch sind se auch so einigermaßen über die Geschehnisse informiert. Die Zeitung hier am Kiosk zu kaufen, muß man sich jetzt erst einmal verkneifen. Die Preise schießen jetzt überall mal in die Höhe. Gestern noch drei Rubel noch was, heute schon 5,- Rubel. Da wollen wir doch mal sehen, ob die Gesetze des Marktes auch schon überall begriffen wurden. Angebot und Nachfrage bestimmen bekanntlich den Preis. Mal sehen, wann se wieder damit runter gehen, denn für 5,- Rubel kauft die keiner! Da bleib‘ ich lieber so wenig informiert! Kino »((kyrillisch))«, Ku-Klux-Klan. Zu was der Mensch so alles fähig ist... Das ist auch ein wesentliches Merkmal gegenüber den Tieren. Dort gibt es kein »berechnendes Töten« innerhalb einer Art. Es gibt ’ne Art Hemmschwelle wohl, bloß, die scheint beim Menschen vergessen worden sein. Von Anfang an bekriegt sich doch der Mensch untereinander. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, daß die Entwicklung bis heute fortschreiten konnte. Bei der Masse an Kriegen in der Geschichte der Menschheit! Krieg, da fällt mir ein, außer daß Moskau mächtig einen Dämpfer in Richtung Irak abgelassen hat, weiß ich zur Zeit eigentlich gar nichts über die Golfkrise. Vielleicht läßt sich doch noch irgendwo ’ne Zeitung auftreiben. Ich ärgere mich zwar dann wieder über gewisse Beiträge, doch in Russisch lesen, ist ein bißchen anstrengend! 15. 5.11.90 .90 Donnerstag, 15.11.90 Hm, heute wird Schmalz gebruzelt. Hach, ich hab‘ nen richtigen Hieper drauf. Muß aber noch bis morgen früh warten!!! Also, ich muß mich revidieren, so schwer ist es nicht, russische Zeitungen zu lesen. Ich hab‘ einen Artikel »1 Jahr nach der Mauer« gelesen. Ging ganz gut. Maria konnte es nicht ganz glauben, doch es stimmt schon im großen und ganzen, was dort geschrieben stand. Ob wir nun wirklich 25 Jahre hinter der BRD hinterher waren (technischer Stand), will ich nicht behaupten. Es trifft wohl nicht für alle Bereiche zu, klar scheint nur die Zahl zu groß! Aber die andere Sache, mit dem Bürger zweiter beziehungsweise sogar dritter Klasse stimmt ja leider nur zu gut. Und das wird sich auch noch ’ne Weile nicht ändern. ’ne deprimierende Vorstellung. Ich hoffe bloß, daß sich unsere Medien, wie sie sich jetzt etabliert haben, lange halten. Ich hab‘ doch den »Kochtopfhorizont« einiger Leutchen drüben kennengelernt und nicht mal die, die studieren, hatten ein bißchen mehr Ahnung von ihren »Brüdern und Schwestern in der Zone«. Mir kam‘s wirklich so vor, als ob wir ein bißchen mehr drauf haben, Allgemeinwissen, politisches Wissen... Klar, grade computermäßig kann ich lange nicht mithalten, doch das liegt beziehungsweise lag zum Teil an objektiven Schwierigkeiten und an mir selbst. Bloß, allseitige Informiertheit liegt an jedem selbst! .90 Freitag, 16.11.90 Hm, das Schmalz schmeckt!!! Ich darf jetzt hier in der Bibo gar nicht dran denken. Es ist immer wieder, im wahrsten Sinne des Wortes, ein »erhebendes« Gefühl, hier gewisse Örtchen aufzusuchen. 40 cm oder 1/2 in, keine Ahnung wie hoch genau, »Schwebt« man über denn Becken. Anders ist ein Benutzen gar nicht möglich, da die Sockel ziemlich dicht am Toilettenbecken hochgezogen wurden. Auf jeden Fall ist diese Art doch wesentlich angenehmer, wie Loch nebst Fußrasten im Fußboden. Die


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Kooperativen nehmen zwar gepfefferte Preise, doch es ist sehr sauber gewesen. Kann man wirklich nichts gegen sagen! Das wird mir zu Hause »fehlen« und auch die hiesige Art der Türen, ohne Klinke, nur zum Aufstoßen. Das ist ja generell überall so. Es wird nicht bei einem Mal bleiben, daß ich gegen die Tür knalle. Umstellen muß man sich ja sowieso wieder. Doch das geht bestimmt recht schnell vonstatten. Da fällt mir grade noch was ein. Das, find‘ ich, setzt dem hiesigen Bürokratismus schon fast die Krone auf! Um in ((kyrillisch)) Schlittschuhe ausleihen zu können, brauchen wir wieder Zettelchen aus dem Dekanat, daß wir hier Studenten sind! Studentenausweis, WH-Ausweis, alles nicht ausreichend. Wahnsinn ((kyrillisch))! Das konnte ich heute schon mal sagen, ich kam einfach nicht dazu, mich mal für ’ne Stunde aufs Ohr zu hauen! Das täte mal sehr gut. Fragt sich, ob da noch mal was draus wird! Der Club ist besetzt, endgültig und Maria und Nadja wechseln sich mehr oder weniger in ihren Einheiten ab. Ein Kommen und Gehen! Früh wird‘s nichts mit Ausschlafen, da weckt mich Sascha immer sehr »freundlich«. Und am Tage ist die Bude voll. Da bleibt nur die Bibo, es läßt sich aber nicht so gut im Sitzen schlafen. Na ja, ich »möcht‘« mich jetzt noch mal so richtig aufregen. Heute hab‘ ich zwischenzeitlich noch ein bißchen in der Zeitung von Fritz geschmökert. Da kann einem bei manchen Beiträgen der Hut hochgehen! Wie kann das sein, als Minister ohne Geschäftsbereich über 32. 000,- DM zu bekommen? Und das monatlich!!! Im Gegensatz dazu rund 500,- DM Mindestrente! Da braucht man 50 Jahre um bei der Rente auf ein Monatseinkommen zu kommen. Das ist nun wirklich nicht mehr feierlich! Ich weiß gar nicht, was man dazu sagen soll. Die Summe verschlägt mir glatt die Sprache. Ich frag mich immer nur, für was bekommen die Leute das ganze Geld? Das Jahreseinkommen beläuft sich dann auf 387. 600,- M! ... Und daneben der Artikel über Stipendium. 280,Grundstip beziehungsweise entsprechend elterlichem Verdienst bis zu 450,- möglich. Bin ja gespannt, wieviel das nun bei mir genau ist und vor allem, wann wir die »Studiumunterstützung« erhalten. Das kann sich nämlich noch ’ne ganze Weile hinziehen. Im allgemeinen haben wir hier ((Freifeld)) ganz schön was gut gemacht. Ziemlich billig gelebt, noch 100,- Rubel Stipendium und teilweise sehr günstig getauscht... Da hat sich ein kleines Sümmchen schon zu Hause angesammelt. Ein kleines Pölsterchen für ungünstigere Zeiten. Davor graut‘s mich auch noch. Diesen Bafög-Antrag ausfüllen. Muß teilweise ganz schön erniedrigend sein. Steht uns alles erst noch bevor. Januar, da geht‘s dann wieder rund. Samstag, 17 7.11.90 .90 17.11.90 Irgendwie kann von »Ausschlafen« nicht mehr die Rede sein. Am Wochenende ist es meistens Karen, die als erste rauskraucht. Meist geht sie dann oben bei Fritz essen, das Blöde an der Sache ist nur, ich werd‘ davon wach! Leider. Ich hab‘ aber auch mal wieder Lust auf ein schönes gemeinsames Frühstück. Damit sah‘s in letzter Zeit ziemlich arg aus. Es macht nun einmal gemeinsam viel mehr Spaß und es schmeckt auch gleich viel besser. Heute, internationaler Studententag, geht‘s ja ins Cafe »((kyrillisch))«, mal sehen, was bei dieser Großveranstaltung bei raus kommt! .90 Sonntag, 18.11.90 Mann, oh Mann! Das war gestern ein Reinfall hoch drei! Da gab sogar der Diskotheker auf, mal grade zehn Lieder konnte er spielen, die restliche Zeit nahm dieses Armdrücken in Anspruch Schade, ich hatte ein bißchen was davon erwartet. Mal ’nen schönen Diskoabend... Es blieb uns nur noch übrig, im Zimmer selbst etwas zu veranstalten. Mal besser gesagt, bei Dirk auf dem Zimmer. Unser Zimmer war belegt. Und da Maria und Nadja ja auch immer auf uns »Rücksicht« nehmen (besuchsmäßig), haben wir uns noch mal verzogen. Obwohl, mein Bette rief ganz schön! Na ja, die Nacht war wirklich nicht zum Schlafen da! Schlafgast, Störungen... Ich bin heute echt zu nichts Richtigem mehr zu gebrauchen! Am besten wäre schlafen, doch wie das bei voller Bude? Die schönen Klubzeiten sind ja leider vorbei, der Klub ((kyrillisch))! Tscha, da weiß man wirklich nicht wohin man sich mal verziehen kann, um alleine zu sein. In den Zimmern ist auch immer jemand. Karen hat‘s da besser. Jörn ist öfters mal nicht da, da haben


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se das Zimmer für sich alleine. Uns bleiben meist nur die »Flurabende«. Bißchen ungemütlich mit der Zeit! Entweder zieht es, weil wieder mal jemand seine Stärke erproben mußte oder es ist total verqualmt. Tscha, und viel Zeit ist nicht mehr. Es geht bald nach Hause, die Flugkarten sind bestellt. Am 20.12. um 9.20 sind wir in Schönefeld. Tscha, wer weiß, was uns dann dort erwartet! Ich kann mir das einfach immer noch nicht so recht vorstellen, wie das nun ist. Man schreibt zwar jetzt fleißig BRD drauf, aber trotzdem, identifizieren kann ich mich damit nicht! Wer weiß, ob ich das jemals voll kann. Für mich ging bei diesem Anschluß ganz einfach zuviel flöten! Was, das werden wir noch mächtig zu spüren bekommen. Man lernt erst gewisse Dinge richtig schätzen, wenn man sie nicht mehr hat, nicht mehr nutzen kann! Montag, 19.11.90 19 .90 Mann, ein Glück, mir wird langsam wieder warm! Typisch für Sibirien ist auch die »sibirische Kälte« in den Gebäuden, im Institut und jetzt hier zum Dia-Vortrag. Daß man unter solchen Bedingungen überhaupt noch arbeiten kann, ist echt ein Wunder! Da ist es hier in der Bibo zum Glück »schön« warm. Heute steht nämlich der Wind wieder mal so richtig drauf, da zieht‘s an allen Ecken und Enden. Ob ich heute zu was Vernünftigem komme, ist noch fraglich. Bin hundemüde! Gestern ging‘s wieder mal bis 1/2 2.00. Hab‘ mich extra nicht lange bei Dirk aufgehalten, wir können beide jetzt den Schlaf gebrauchen und da ist bei uns noch volles Haus! Tragik!!! Weihnachten werd‘ ich dann erst mal richtig ausschlafen müssen! Tscha, Weihnachten ist auch noch so ein Problem, was verschenken? Mir ist auch mit ’nem gewissen Schrecken eingefallen, was will ich denn Dirk als kleine Weihnachtsüberraschung hier lassen? Das wird noch ein kleines Problemchen werden! Ich hab‘ auch noch keine »Ida«, weder zum Geburtstag, noch jetzt hier zu Weihnachten. Für zu Hause + längere Zeit ist ’ne »Ida« schon gereift. ’nen Pullover, vielleicht den, den Kuno sich mal ausgesucht hatte. Steht Dirk bestimmt auch nicht schlecht! Bloß, das schaff ich nicht, selbst, wenn er erst im neuen Jahr kommen würde! Anfangen kann ich aber wenigstens. Der sibirische Winter geht noch ’ne Weile! Bloß die Sache mit dem Schicken. Hoffentlich kommt auch alles an, dann! Wie das bei uns weitergeht, steht auch noch »in den Sternen«! Über 5 000 km Entfernung, die Post braucht im Extremfall einen Monat (eine Strecke) und man grade jeweils zum Ende des Semesters kann man sich sehen. Aber, warum soll‘s nicht gut gehen? Dienstag, 20.11.90 20 .90 Gestern war mir nicht zum Schreiben zumute, eher zum Heulen. Zum Glück sieht die Welt, eine Nacht die Sache überschlafen, gleich ein bißchen besser aus. Freuen tu‘ ich mich jetzt zwar auch nicht darüber, doch was soll‘s, es läßt sich halt nicht ändern. Bis zum 15.1.90 warten müssen. Ganz schön deprimierend. Das ging mir unwahrscheinlich an die Nieren. Tscha, die Entfernung bringt noch so einige Probleme mit sich. Es werden dann nicht nur ein Monat, sondern fünf sein! Und dann der lange Postweg. Es trifft sich auch alles ganz bombastisch, wenn Dirk dann zu Hause ist, hab‘ ich Prüfung. Jedesmal! Tolle Planung, doch nicht zu ändern. Da muß man sich was einfallen lassen, um die Zeit gut zu überbrücken. Im Endeffekt kommt mir der Januartermin sogar etwas entgegen. Vielleicht schaff ich bis dahin den Pullover. Wär‘ noch ein nachträgliches Weihnachts-/Geburtstagsgeschenk! Mittwoch, 21.11.90 .90 Ach Mensch! Ich hab‘ so gar nicht mehr die richtige Meinung für diese Ingenieurarbeit! Das kommt jetzt alles irgendwie zusammen. Ingenieurarbeit bei mir, Prüfungsvorarbeit bei Dirk und nur noch wenige Tage zusammen. Da knappst man an allem herum, um ein bißchen mehr Zeit für sich zu haben und keinen Fleck, um sich zurückziehen zu können. Unsere Flurgespräche sind zwar schön, doch öfters reichlich kühle. So muß es ja den meisten von den jungen Leute hier ergehen, wer hat schon ’ne Wohnung? Bei der Überbelegung der Zimmer hat man auch sehr selten das Zimmer für sich. In der Hinsicht bin ich ja gespannt, wie es bei uns in den WHen so aussieht. 1/3 mehr an Studenten soll


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24.

Am 24. November, 1990 stirbt die US-amerikanische Dokumentarfotografin Marion Post Wolcott.

immatrikuliert worden sein... Menschenskinder, was war denn heute los? In der (kyrillisch)) sah‘s aus wie in einem Schlaraffenland! Es gab ((kyrillisch)), Granatäpfel, Erdnüsse, Wurst, Butter, Kalmar...! Wahnsinn! Bloß gut, daß ich meine Marken alle bei hatte. Ein voller Beutel, ein Ereignis! Es ist mit der Versorgung zur Zeit ziemlich abwärts gegangen. Ich frag‘ mich bloß, was unsere Mädels bald so machen werden. Man kann dann echt mal einen Tag nur zum Einkaufen abstempeln. Von einem Geschäft zum andern, überall empfängt einen gähnende Leere. Zu Hause wird‘s mich dann erst einmal mächtig »erschlagen«, da weiß man wieder nicht, was man wählen soll. Es ist ja nun nicht so, daß wirklich alles gut ist! Man muß sich jetzt leider teilweise erst überall durchprobieren, bis man so seine täglichen preisgünstigen Stammwaren zusammen hat. Das geht teilweise ganz schön in den Geldbeutel. Donnerstag, 22.11.90 22 .90 Das »Übliche« hat mal wieder von sich reden gemacht und dementsprechend bin ich heute nicht ganz so ansprechbar. Ich bin bloß froh, daß sich die Bauchschmerzen immer in Grenzen halten. Mit »Begeisterung« hab‘ ich grad‘ noch festgestellt, daß es mich auf unserem Rückflug wieder mal »erwischt«. Zum Glück sind die Toiletten im Flugzeug ganz annehmbar. Jedenfalls die der TU 154. Tscha, was die hygienischen Bedingungen so anbetrifft, frag‘ ich mich echt, wie das die Mädels hier so machen. Vor allem auch in der Säuglingspflege! Die Sterberate liegt wohl ganz schön hoch. Und das hätte ich eigentlich nicht so vermutet. Es ist überhaupt ein beißender Widerspruch, zum einen hochentwickelte medizinische Systeme zur Kontrolle der Gesundheit von Kosmonauten, zum anderen die miesen Zustände in den Krankenhäusern. Das müßte doch nun wirklich nicht sein! So schlimm war‘s bei uns nicht, auf keinen Fall. Das heißt aber nicht, daß unsere schlechten Krankenhauszustände entschuldigbar sind!

23 .90 Freitag, 23.11.90 Durch das viele Übersetzen hat man sich schon richtig an den Bleistift gewöhnt. Ich schreib‘ überhaupt ganz gerne mit Bleistiften, die waren auf die Dauer billiger. Fragt sich, wie‘s jetzt damit aussieht. »Wegwerfgesellschaf«, da auch noch Patronen, Mienen kaufen?! Man kommt ja viel billiger mit den ach so tollen Werbegeschenken und dem Neukauf! Selber noch was machen? Oder das alte Gerät reparieren lassen? Man schneidet sich bei kleinem Geldbeutel nur ins eigene Fleisch und die Müllberge wachsen... Das ist eine Sache, die mir absolut gegen den Strich geht. Dieser teilweise Konsum zwang (regelrecht) und diese Wegwerfmethode. Aber, es geht mir zum Glück nicht nur alleine so. In meinem ganzen Bekannten- und Freundeskreis wird alles erst mal kritisch betrachtet, nicht blind angenommen. Grade die neuen Veränderungen, die die jetzigen Möglichkeiten mit sich bringen! Die Leute hat zur Zeit ein richtiger Konsumrausch ergriffen. Ob es gebraucht wird oder nicht, vorhanden schon ..., alles egal, es wird gekauft. Man kann sich ja jetzt etwas »leisten«, man ist ja jetzt wer! Hat die DM in der Tasche! Fragt sich bloß, für lange? Ich hab‘ nun schon ’ne Weile keine Post mehr von zu Hause. Das läßt einen, obwohl Ablenkung genug da ist, innerlich nicht los. Bei Papi war ja Kurzarbeit angesagt und ich glaube, wir können ganz froh sein, daß wir unseren Garten haben. Ohne, ich glaube, Papi würde – bildlich gesprochen »eingehen«. Da wird‘s in nicht wenigen Familien zu Konfliktsituationen kommen. Mensch, ich war so froh, daß sich meine Leute wieder »zusammengerauft« hatten. Jetzt, wo nicht mehr nur Zeit für die »Erziehung ihrer Jören« drauf geht, Zeit für sich selbst da ist, ja seit der Zeit, wo wir beide so ziemlich von zu Hause weg sind, hat sich das Verhältnis zwischen ihnen merklich entspannt. Es war ja mehr Zeit füreinander da! Und das soll wieder in die Brüche gehen? So kurz bevor dem Leben noch mal seine schönste Seite abzugewinnen ist? Soll es da heißen, noch härter arbeiten, alle, vor allem die Jungen ausstechen, damit noch der Arbeitsplatz gesichert ist und man nicht ins Abseits gerät? Hatten dafür meine Eltern mehr als 30 Jahre gearbeitet? Für uns ist es einfacher, uns steht noch alles bevor. Doch auch so einfach ist es für uns nicht. Ich bin nun mal in der DDR aufgewachsen, in diesem System, das mich doch auch


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geprägt hat. Es ist mein Land gewesen, meine Heimat, mit der ich mich identifiziert habe.Und da liegt mein Problem, ich kann mich nicht mit dem jetzigen Deutschland identifizieren! Ausland für mich! Nicht meine Heimat! Ach, ich darf gar nicht weiter darüber nachdenken. Da kommt bloß das große Heulen, wenn ich an die Sachen denke, die sinnloserweise kaputtgemacht wurden, nur weil das Geld regiert. Geld, Geld, Geld, ich kann‘s schon nicht mehr hören! Alles dreht sich darum !

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2.

Dezember, 1990 Bei der Bundestagswahl 1990, der ersten gesamtdeutschen, wird die Regierung von Helmut Kohl im Amt bestätigt.

Samstag, 24.11.90 24 .90 Bekanntschaft mit dem Zoll gemacht. »Durfte» heute das erste Mal was verzollen. Immer mal was anderes. Dafür ist das letzte Päckchen von zu Hause noch nicht da. Ob das noch mal ankommt? PS: Heute abend für ein paar Stunden »sturmfreie Bude», aber keine Zeit füreinander... Sonntag, 25.11.90 Heut‘ geht‘s auf nach Kasachstan! So richtige Lust hab‘ ich wieder einmal nicht. Dochdas macht absolut nichts, meistens wird‘s dann ganz schön noch! +5 ° C in Alma-Ata und Fritz in seinen Thermostiefeln, das Lachen ist auf unserer Seite! Montag, 26.11.90 26 .90 Also die Olga spricht ganz Klasse deutsch, da gibt‘s nichts. Bloß, für mich ist es erst mal wieder mächtig schwierig, warm zu werden. Tscha, wenn keiner keinen kennt, hat jeder die gleiche Ausgangsposition. Aber so? In eine »Gruppe« reinzukommen, braucht immer so einige Zeit! Die kleine Nadja muß auch erst auftauen, doch wird‘s ein bissel schwierig, da sie sehr verzogen ist! Bloß, wenn man den Grund weiß, irgendwie verständlich! Drei Kinder hat die Familie verloren... Tscha, ich nehm‘ an, das lag unter anderem an den hier unzureichend vorhandenen hygienischen Bedingungen. Wir werden aber nicht krank! Dafür sorgt schon die Hausfrau, der selbstgemachte Schnaps ist gegen alles gut. Und wenn‘s nicht nur einer ist... Dienstag, 27.11.90 27 .90 Mann, oh Mann! 60 % und das auf nüchtern Magen! Keine zwei und ich hab‘s deutlich gemerkt! Bis jetzt dreht sich noch alles. Mann, oh Mann! Dabei war‘s heute einfach herrlich! Medeo gesehen, war zwar ziemlich neblig, doch auch Nebel hat so seine Reize! Endlich richtig schön durchatmen können und sich nicht ein bißchen bewegen. 860 Stufen als erstes, dann noch 3,5 km durch die Berge hinauf nach ((kyrillisch)). Unbeschreiblich! Da möcht‘ ich noch mal hin! Hoffentlich noch vor dem westlichen Touristenansturm! Mittwoch, 28.11.90 .90 Schade, mit der Banja hat‘s nicht geklappt! Dafür bin ich ein bißchen mit Nadja warm geworden! 29 .90 Donnerstag, 29.11.90 Fritz sieht noch mächtig käsig aus, es hatte ihn auch mächtig erwischt. Tscha, Wodka, Wein und noch einmal selbstgemachten Wodka und zwischendurch nichts zur Verdünnung, ziemlich schnell hintereinander und gleich auf ex... Arme Karen, sie hatte mächtig zu tun, es blieb ja nicht bei einem Gang zum Klo. Niedlich war allerdings, Fritz hat Karen immer nur russisch angesprochen! Zum Schluß sind wir richtig Freunde geworden, Nadja und ich. Sie krabbelte nämlich beim Mittag zu mir auf den Schoß und wir haben gemeinsam den Berg Plow niedergekämpft. Selbst als der heißgeliebte Papa da war kam sie noch mal zu mir. Ach, Mensch, so‘n kleiner Wurm ist schon was! Ich bin ja auf die zwei von Ina und Ira gespannt. Die beiden haben sich sicher auch mächtig verändert. Lea mit Familie ist wieder da und im WH kein H2O! Klasse, und das mit ’nem einen Monat altem Säugling! Zustände!


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14.

Am 14. Dezember, 1990 stirbt schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt an einem Herzversagen.

Freitag, 30.11.90 30 .90 Tscha, von wegen mal ein bißchen Zeit für uns alleine, und da fällt beim Ferro ’ne Einheit weg, die se schon abgeschlossen hatten! Da hätte er auch mal dran denken können, ich hab‘ mich schon drauf gefreut... Also, langsam werd‘ ich nicht mehr auf Erich hören. Tut mir leid, an die von ihm empfohlenen Filme komm‘ ich nicht so recht ran. »((kyrillisch))« war ja noch so annehmbar, doch reichlich brutal zwischendurch, aber »((kyrillisch))«. Ich werd‘ nicht so richtig schlau draus‘ Ich bin auch für Film mit Inhalt, doch manchmal ist hier die Umsetzung des Themas einfach zu brutal! 2.90 Samstag, 1.12.90 Noch 19 Tage, dann ist hier für mich alles vorbei, schade! Ich darf noch gar nicht dran denken, wir fahren ins total Ungewisse! Mann, oh Mann. Das wird mir »Fehlen«, früh aufzustehen und kein H2-O zu haben. Diesmal auch in den Duschen nicht! Klasse! Klasse, der nächste Schock ließ nicht lange auf sich warten. Dirk hat die Pakete von der Ina bekommen und darf nun für das eine Klamottenpaket 99,95 Rubel bezahlen! Einwandfrei! Eigentlich sollte Ina doch wissen, daß Sachen nicht so ohne weiteres geschickt werden dürfen. Alles verzollt worden! Dirk ist mächtig sauer, kann ich verstehen, durch die Flugtickets muß er schon mit seinen Rubelchen rechnen! Da hundert weniger, reißt schon ein Loch in den Geldbeutel. Ich stell‘ mir vor allem vor, wenn das Paket die Antje direkt erhalten hätte. Ich hätte die 100,- Rubel nicht so ohne weiteres aufbringen können. 40,- Rubel Stip...

2 2.90 Sonntag, 2.12.90 Erster Advent, kommt einem gar nicht so vor! Aber, ein Weihnachtskalender ist heute eingetroffen! Clara ist einfach Spitze. Da haben wir nämlich gar nicht dran gedacht. Ein bißchen Tannengrün und unser Zimmer wird ein bißchen weihnachtlicher. Mal sehen, wo ich mal was herbekomme. Maria und Nadja haben bestimmt nichts dagegen! Bei den schnuckeligen Sachen, die schon auf dem Tisch stehen, freunden sie sich schnell mit unseren Feiertagen an. Armer Dirk, wenn er zurückfliegt, muß er bestimmt mehr als 1 kg zusätzlich mitschleppen. Was ich schon so für Ideen hab‘... Ich möchte den beiden gern was schönes mitgeben. Vernascht sind sie ja mächtig, das ist auf keinen Fall das Problem. Und ich weiß ja wie es bei uns war, wenn von drüben mal wirklich ein Paket kam (früher als Kind auch alles aufgehoben, war ja schön bunt!). Deshalb kann man sich nur freuen, daß es ihnen auch schmeckt. Tscha, irgendwie sitzen wir zwischen zwei Stühlen. Dirk hier und ich bei unsern Leuten. Bis jetzt kam noch keine richtige Aktion zwischen den Direktis und den Teilis zustande. Leider, dadurch ist irgendwie ’ne Kluft entstanden. Jeder macht seinen Kram fiir sich alleine, da hängt Dirk noch in der Luft. Ist bei beiden dabei. Beispiel Stollenessen. Letztes Jahr haben alle Deutschen dran teilgenommen, Teilis + Direktis. Diesmal haben die Direktstudenten nur unter sich gefeiert. Mir ist dabei auch nicht grade wohl, wenn ich da als einzige von uns mitfeiern soll. Ich bin mehr dann der Meinung, entweder alle oder gar keiner. Wenn ich nicht mit Dirkchen wär‘, gäbe es wahrscheinlich keine Extrawurst. 3 2.90 Montag, 3.12.90 Ein bißchen ausgelüftet, der einzige Erfolg meiner »Postkartenaktion«. Ja, mein Kopf ist voller Gedanken heute. Gestern kamen all die Ängste und Wünsche zutage, da wurde es spät, aber, wenn man keinen Platz für sich zum Reden hat, bricht es einfach irgendwann mal heraus! Aber es ist gut, daß man darüber reden kann. Wir hatten bis jetzt noch gar nicht Zeit, uns genauer kennenzulernen. Was wissen wir voneinander, von unseren Wünschen, Ängsten, Ansprüchen? Ich bin froh, daß man mit Dirk so gut über alles reden kann. Ein kleiner Philosoph ist er manchmal, tut gut, seine Gedanken zu hören. Man entdeckt immer Neues, was man gar nicht vermutet hätte, weil ich, ohne allerdings Vergleiche zu Andre anzustellen, irgendwie von ihm in allem unbewußt ausgehe! Ich hoffe, es ergibt sich bald, daß wir ein bißchen Zeit zum Reden haben! PS: Karen könnte ich nehmen. Ich


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komme extra aus der Bibo zurück, wegen Ru und heute ist kein Ru! Fällt aus! Sie wußte Bescheid, hielt es aber nicht für nötig, uns was zu sagen! Und auch jetzt wieder. Sie sagt‘s nur nicht immer, beichtet nur alles Fritz! Langsam hab‘ ich die Meinung, sie macht‘s mit Absicht. Denn es ist nicht das erste Mal, daß sie mir nichts sagt. Damals mit der Bibo kam auch kein Wort über ihre Lippen. Durch Zufall hab‘ ich überhaupt erfahren, daß sie mit in die Bibo kommt. Da hätte es ihr ja spätestens einfallen müssen, daß sie vorher noch in die Stadt gehen. Nein, ich hab‘ gewartet und war schon

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25.

Dezember, 1990 Am CERN nimmt das erste PrototypSystem mit HTTP, HTML und der Kombination Webserver und Webbrowser auf einem NeXT-Computer den Betrieb auf.

fast im Begriff allein zu gehen. Keine Entschuldigung, nichts! Das hat sie ja nicht nötig! Wie auch?! Dienstag, 4.12.90 4 2.90 Ich darf gar nicht an diesen komischen Brief denken! Ich weiß nicht, ich hab‘ irgendwie das Gefühl einer Gefahr. Warum, weiß ich nicht! Dirk ist nicht der Typ, der von einer Beziehung in die andere sich stürzt. Dazu kenn‘ ich ihn nun doch schon zu gut, ich trau‘ ihm auch kein Trösterchen-Techtel-Mechtel zu. Nein, das weiß ich. Doch diese Worte von der Tatjana: »... du bist glücklich, aber ich glaub es dir nicht...«, die beschäftigen mich schon ’ne ganze Weile. Das am frühen Morgen! Adresse, Namen, alles richtig beziehungsweise Postfach wurde verwendet. Da weiß sie bestimmt auch, wo er genau wohnt. Was wird das werden? Mittwoch, 5.12.90 5 2.90 Wie fast vorauszusehen, die CDU hat fast haushoch gewonnen. Daß es so deutlich wird, das ist das Schlimmste. Die Leute haben einfach nichts gelernt. Wahlversprechen werden doch in den seltensten Fällen gehalten und was Kohl betrifft, hatte es schon zum 18.3. deutlich gezeigt, was er von einem einmal gegebenen Versprechen hält, NICHTS! Mittlerweile dürften Fritz und Karen sicher gut am Baikal gelandet sein. Das war ja auch ein Zeck, zwei Tage Verschiebung! PS: Klasse, übers Radio wurde eine H2O-Abstellung angekündigt. 1 1/2 Tage lang. Donnerstag, 6.12.90 6 2.90 !! NIKOLAUS !! Hab‘ heute bei unseren Mädels Nikolaus gespielt. Hat Spaß gemacht! Bald geht‘s nach Hause, ich mach Schluß mit dem Schreiben. Noch ein bißchen die verbleibende Zeit mit Dirk genießen. Zu Hause hab‘ ich ja auch keine Zeit, bin zumal noch in Ch.



Anhang: Informationen, Links und Impressum


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Informationen zum DTA Deutsches Tagebucharchiv e.V. Marktplatz 1 79312 Emmendingen 0 7641 / 574 65 9 0 7641 / 931 92 8 Postanschrift: Postfach 1268 79312 Emmendingen dta@tagebucharchiv.de www.tagebucharchiv.de Vorstand Frauke v. Troschke, Vorsitzende Friedrich Kupsch, Stellv. Vorsitzender Annemarie Bruinings, Kassiererin Leiterinnen der Lesegruppen Dr. Christa van Husen (LG 1) Jutta Jäger-Schenk und Patricia Thomann (LG 2) Rosemarie Werdnik, Dr. Gisela Krause und Friedrich Kupsch (ext. Leser) Ihre hauptamtlichen Ansprechpartner: Jutta Jäger-Schenk (Wiss. Angestellte) Gerhard Seitz (Leiter der Geschäftsstelle) Das Spendenkonto des DTA Sparkasse Freiburg –  Nördlicher Breisgau Kto. 200 259 79 BLZ 680 501 01 IBAN: DE 92 6805 0101 0020 0259 79 BIC – Code: FRSPDE 66 XXX Öffnungszeiten Museum Das Museum im Deutschen Tagebucharchiv hat mittwochs und sonntags von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Eintritt 3 Euro

Weitere Sammel- und Rechercheeinrichtungen in Deutschland: Deutsches Literaturarchiv Schiller-Nationalmuseum Schillerhöhe 8 – 10/1 71672 Marbach www.dla-marbach.de Bundesarchiv / Militärarchiv Freiburg Wiesentalstraße 10 79115 Freiburg 0 761/478 17 – 0 www.bundesarchiv.de/ aufgaben_organisation/dienstorte/freiburg/index.html Bundesarchiv Koblenz Potsdamer Straße 1 56075 Koblenz 0 261 / 50 50 www.bundesarchiv.de Staatsbibliothek zu Berlin – Handschriftenabteilung Haus Potsdamer Straße 33 10785 Berlin (Tiergarten) 0 30 / 266 – 435 001 www.handschriften.staatsbibliothek-berlin.de Literaturland Baden-Württemberg www.literaturland-bw.de www.literaturland-bw.de/ museum/info/31 Institut für Geschichte und Biographie »Deutsches Gedächtnis« Fernuniversität Hagen Liebigstr. 11 58511 Lüdenscheid 0 23 51 / 245 80 0 23 51 / 399 73 www.fernuni-hagen.de Institut für Zeitgeschichte www.ifz-muenchen.de Museum für Kommunikation Berlin und Frankfurt www.museumsstiftung.de Feldpostarchiv www.feldpostsammlung.de Archiv für alltägliches Erzählen Universität Hamburg Edmund-Siemers-Allee 1 (West) 20146 Hamburg 0 40 / 428 38 – 26 57 0 40 / 428 38 – 63 46 www.kultur.uni-hamburg.de/ volkskunde TEA Tagebuch- und Erinnerungsarchiv Berlin e.V. www.tea-berlin.de Werkstatt der Erinnerung in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg Beim Schlump 83 20144 Hamburg werkstatt-der-erinnerung.de Gedächtnis der Nation c / o ZDF 55100 Mainz www.gedaechtnis-der-nation.de

Stiftung Lesen Römerwall 40 55131 Mainz 0 61 31/ 288 90 0 0 61 31 / 23 03 33t www.stiftunglesen.de Sütterlinstube Hamburg e.V. Altenzentrum Ansgar Reekamp 49 – 51 22415 Hamburg www.suetterlinstube-hamburg.de Italien Fondazione Archivio Diaristico Nazionale – Onlus Piazza Plinio Pellegrini 1 I – 52036 Pieve Santo Stefano (AR) 0 039 / 575 / 79 77 30 0 039 / 575 / 79 98 10 Loretta Veri adn@archiviodiari.it veri@archiviodiari.it www.archiviodiari.it Libera Università dell'Autobiografia Piazza del Popolo I – 52031 Anghiari AR 0 039 (0) 575 / 788 447 www.lua.it Frankreich Association pour l'autobiographie et le patrimoine autobiographique (APA) La Grenette 10, rue Amédée Bonnet F – 01500 Ambérieu-en-Bugey 0 033 / 474 / 38 37 31 0 033 / 474 / 38 36 19 association.sitapa.org Niederlande Nederlands Dagboekarchief Postbus 15282 N – 1001 MG Amsterdam info@dagboekarchief.nl http://www.dagboekarchief.nl Spanien Arxiu de la Memòria Popular Archivo de la Memoria Popular Catalunya 24 E – 08430 La Roca del Valles 0 034 384 / 220 16 0 034 384 / 204 59 La Asociatión por la Autobiografía en Enspanol y et Patrimonio Autobiográfica (AporA) Ruiz de Alarcón, 25 E – 28014 Madrid 0 034 / 91 / 429 468 8 0 034 / 91 / 420 206 0 Sheila Cremaschi – Itziar Alberdi Intramuros Direktor: Beltràn Gembier Maria Sheila Cremaschi C / rue de Alarcón, 25 E – 28104 Madrid 0 034 / 91 / 429 468 8 0 034 / 91 / 420 306 0 editoramshc@grupointramuros.com

Schweiz

Europa

AVO Archives de la vie ordinaire Case postale 68 CH – 2002 Neuchâtel 0 041 / 079 / 202 278 21 association.avo@unine.ch Les archives de la vie privée 2, rue de la Tannerie CH – 1227 Carouge 0 22 301 10 31 www.archivesdelavieprivee. ch

Associazione Europea per l'Autobiografia Università degli Studi di Roma Antrpologia culturale, 1 Via C. Fea, 2 I – 00161 Roma 0 039 / 068 424 168 0

Kabinett für sentimentale Trivialliteratur Klosterplatz 7 CH – 4500 Solothurn www.trivialliteratur.ch Österreich »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien Dr. Karl-Lueger-Ring 1 A – 1010 Wien 0 043 / 1 / 42 77 – 413 06 0 043 / 1 / 42 77 – 94 08 doku.wirtschaftsgeschichte@univie.ac.at www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/Doku/ Sammlung Frauennachlässe Institut für Geschichte der Universität Wien Dr. Karl-Lueger-Ring 1 A – 1010 Wien 0 043 / 1 / 42 77 – 408 12 frauennachlaesse.geschichte@univie.ac.at www.univie.ac.at/geschichte/sfn »Damit es nicht verloren geht« (Buchreihe der »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen«) Böhlau-Verlag Sachsenplatz 4 – 6 A – 12 01 Wien England Mass Observation Archive University of Sussex GB – Brighton BN 19 QL. East Sussex, UK 0 044 / 12 73 / 678 157 0 044 / 12 73 / 678 441 www.sussex.ac.uk/library/ massobs d.e.sheridan@sussex.ac.uk Finnland Elämäntarina-akatemia / The Finnish Lifestory Academy Rannantie 13 Fin – 86710 Kärsämäki 0 035 / 877 262 89 elaman.tarina@karsamaki.fi Belgien Archives du Patrumonie Autobiographique (APA – Bel) Square Armand Steurs, 21 / 4 B – 1210 Bruxelles 0 032 / 2 / 241 791 4 apabel@tiscali.be


Das Deutsche Tagebucharchiv

Informationen, Links und Impressum

Statistische Daten zum Bestand des DTA Anazhl der Dokumente je Gattung im Zeitraum 5000

Der DTA-Bestand beinhaltet derzeit etwa 15.000 persönliche Dokumente von rund 3.500 Autoren. Das Schaubild verdeutlicht die Zeiträume, über die in den jeweiligen Lebenszeugnissen berichtet wird.

4000

3000

2000

1000

18 Jhd. Tagebücher

19. Jhd.

1901 – '32

Erinnerungen

1933 – '50

1951 – '70

1971– '00

nach 2000

Briefsammlungen

Dokumente, geschrieben im Alter von: 4000

Dieses Schaubild vermittelt das Alter der Autoren zur Zeit der Niederschrift ihrer autobiografischen Dokumente.

3000

2000

1000

500

~20 Jahren Autoren

20 – 40 Jahre Dokumente

41– 60 Jahre

61– 80 Jahre

ab  80 Jahren

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Das Deutsche Tagebucharchiv

Informationen, Links und Impressum

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Impressum

Hochschule Hochschule für angewandte Wissenschaften München Lothstr. 34 D – 80335 München +49 (0) 89 12 65 – 0 webmaster@hm.edu www.hm.edu Dies ist eine wissenschaftliche Arbeit die zum Abschluss meines Studiums entstand. © by Alexander Schäfer Fotos Sophia Lorenz Fonts Akzidenz Grotesk, Stempel Garamond Druck Druckreiz GmbH Frankenthaler Str. 20, 81539 München 0 89 / 127 114 00 www.druckreiz.com

Danke, danke, danke! Großen Dank geht natürlich an Professor Ben Santo für die super Unterstützung während der Entstehungszeit von diesem Buch. Wenn man bei ihm nichts lernt, dann weiß ich auch nicht. Herzlichen Dank natürlich an das Deutsche Tagebuch-Archiv in Emmendingen, besonders an Herrn Kupsch und Frau Jäger-Schenk für ihre Zeit. Danke an meine Freundin Sophia, die meine Launen aushalten musste, gell? Italien kommt! Danke Mama, Papa, Schwesterli fürs immer da sein. Danke Irmi und Gustl. Danke Musik. Thanks reverberation-Radio... Danke Netzer, Niggi. Grüße nach Rio zum Hannes, nach Lukas in Frankfurt, Alex in Berlin und nach Frankfurt zum Gerät. Cheers



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