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#27 – Dezember 2020

Wir feiern 30 Jahre AIDS-Hilfe Halle / Sachsen-Anhalt Süd

30 JAHRE HALLESCHE AIDSHILFE • EHRENAMT IN DER SCHULSEXUALPÄDAGOGIK • AIDSHILFE IN ZEITEN VON CORONA • LEBEN IN PANDEMISCHEN ZEITEN • SEXUALITÄT UND CORONA • QUEERE COMMUNITY UND SOCIAL DISTANCING • CORONA UND BLUTSPENDE • HIV UND SCHULDGEFÜHLE


DIE AIDSHILFE HALLE IST:

BERATUNG

Martin Thiele

Denis Leutloff

Anna Müller

Ronja Abhalter

Geschäftsführung, Referat Primärprävention MSM

Stellv. Geschäftsführung, Referat Sekundär-, Tertiärprävention & Beratung

Referat Primärprävention Allgemeinbevölkerung, Referat Primärprävention Frauen

Referat Sexualpädagogik Multiplikator_innenschulungen

Beratungsstelle Halle Information – Beratung – Betreuung Leipziger Straße 32 06108 Halle (Saale) Öffnungszeiten: Mo.: 10–13 Uhr, 14–16 Uhr Di., Do.: 14–19 Uhr Und nach Vereinbarung

Beratungstelefon Halle: 0345 - 19411

Universitätsklinikum Halle HIV-Sprechstunde

(max. 9 Cent/Min. aus dem dt. Festnetz, max. 42 Cent/ Min. aus den dt. Mobilfunknetzen)

Ernst-Grube-Straße 40, HIV-Ambulanz – Innere IV 06120 Halle (Saale) Sprechzeiten: Di.: 14–16 Uhr

(Ortstarif)

Sprechzeiten: Mo.: 10–13 Uhr, 14–16 Uhr Di., Do.: 14–19 Uhr Bundesweites Beratungstelefon: 0180 - 3319411

Sprechzeiten: Mo.–Fr.: 9–21 Uhr Sa., So.: 12–14 Uhr Onlineberatung der Aidshilfen: www.aidshilfe-beratung.de

Naumburg Beratungsangebot Am Markt 12, Raum 305 06618 Naumburg (Saale) Sprechzeiten: Jeden 4. Do., 15–18 Uhr

SELBSTHILFE

LINKS

Positiventreffen Treffen für Menschen mit HIV Geschlossene Veranstaltung

aidshilfe.de Iwwit.de hetero.aidshilfe.de jungundpositiv.de

angehoerige.org positiv-ev.de positHIV.info jes-bundesverband.de

AIDS-Hilfe Halle / Sachsen-Anhalt Süd e.V. Leipziger Straße 32 06108 Halle (Saale) halle.aidshilfe.de 2

Jeden 3. Mittwoch, ab 18 Uhr Ort: Seminarraum der Aidshilfe Email: positivleben@halle.aidshilfe.de

hiv-diskriminierung.de hiv-migration.de/netzwerke/afrolebenplus

Spendenkonto Bank: Saalesparkasse IBAN: DE14800537620385311531 BIC: NOLADE21HAL


EDITORIAL Liebe Leser_innen des red.-Magazins, liebe Freund_innen der Aidshilfe Halle, das vergangene Jahr hatten wir uns ganz anders vorgestellt. Im Januar waren wir noch voller Vorfreude auf die kommenden Monate, denn die Hallesche Aidshilfe ist 30 Jahre alt geworden. Wir hatten uns fest vorgenommen, das gebührend zu feiern – bei der Wittenberger AIDS-Gala, auf unserem Jubiläumsfachtag und auch auf unserem Welt-AIDS-Tags-Empfang. All unsere Pläne und Vorhaben wurden von der Corona-Pandemie schlagartig über den Haufen geworfen. Keine dieser Veranstaltungen konnte stattfinden. Auch die „Red.“ hat es in diesem Jahr daher nur auf eine Ausgabe geschafft. Dafür ist die, die ihr gerade in den Händen haltet, doppelt so lang wie gewöhnlich. Wenn wir schon nicht auf unseren Veranstaltungen feiern, so wollen wir das doch hiermit in Papierform tun. Im ersten Teil des Heftes soll es daher auch um die letzten dreißig Jahre der Halleschen Aidshilfe gehen. Auf ganzen 10 Seiten Blicken wir auf die Aidshilfebewegung und das HIV-Geschehen der letzten Jahrzehnte zurück. Auch die Geschichte der Halleschen Aidshilfe soll an dieser Stelle natürlich nicht zu kurz kommen. Im Anschluss daran berichten einige unserer zahlreichen Ehrenamtlichen über ihre Erfahrungen in der sexualpädagogischen Arbeit des Vereins und weshalb sie diese für so wichtig halten.

Auch die Corona-Pandemie nimmt in der aktuellen Ausgabe sehr viel Platz ein. Auch wenn in den vergangenen Monaten bereits vieles zu ihr formuliert, geschrieben und gesagt wurde, so glauben wir doch, dass Aidshilfe doch noch einiges mehr beizutragen hat. Ein großer Teil des Heftes widmet sich entsprechend auch der COVID-19-Pandemie aus Aidshilfeperspektive. Den Anfang macht in diesem Zusammenhang Ulf-Arne Kristal-Hentschel, der in seiner Rolle als Vorstand unseres Bundesverbandes die Bedeutung der Aidshilfen und ihrer Expertise in den aktuellen pandemischen Zeiten herausstellt. In einem anschließenden Gespräch erörtere ich gemeinsam mit Klemens Ketelhut, aus welchen Erfahrungen aus der AIDS-Krise wir heute Lehren für die Bewältigung der Corona-Pandemie ziehen können. Mit den Folgen der Pandemie für unsere Zielgruppen und für die Sexualität befassen sich die Artikel von Hermine Vulturius, Dirk Ludigs und Jeff Mannes. Eine besondere Ausgabe also für ein in vielerlei Hinsicht besonderes Aidshilfejahr. Eine Ausgabe zudem, die Vergangenes und Aktuelles miteinander verbindet. In diesem Sinne: Viel Lesevergnügen! Passt auf euch auf und bleibt gesund! Martin Thiele, Geschäftsführer

INHALT AIDS-Hilfe Halle / Sachsen-Anhalt Süd.............................. 2

Corona und Sex:

Editorial / Inhalt......................................................................... 3

Vorhang auf für einen Blowjob.....................................28–32

Geschichte der (Halleschen) Aidshilfe........................... 4–13

Corona und Queersein: Was macht Social

kreatHIV und prävenHIV an Schulen.......................... 14–17

Distancing mit der queeren Community?................. 34–38

Corona und Aidshilfe: Stärker als die Zeit ................. 21–21

Corona und Blutspende:

Corona und AIDS:

Blutspende für MSM...................................................... 40–41

Ein Gespräch über pandemische Zeiten.....................22–25

Interview: HIV und Schuldgefühle...............................42–44

Corona und Sex:

Kuku Kolumnas letzte Worte....................................... 45–46

Sexualität in pandemischen Zeiten.............................. 26–27

Impressum................................................................................ 47 3


AIDSHILFE IM KONTEXT 4

„AIDS-Krise“ Die Geschichte von AIDS, der AIDS-Bewegung und von AIDS-Hilfe beginnt als eine „AIDS-Krise“. Medizin, Politik und Gesellschaft standen in den 1980er Jahren vor einer schier unlösbaren medizinischen Herausforderung und gesundheitspolitischen Aufgabe. Gleichzeitig stellte die neue Immunschwächekrankheit den Zusammenhalt und die Solidarität der Gesellschaft auf die Probe: Besonders bereits benachteiligte und ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen waren von der Krankheit betroffen.

Quelle: BeKman Archive, 1984

AIDS in Deutschland Das Licht der breiten Öffentlichkeit erblickte AIDS im geteilten Deutschland am 6. Juni 1983 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Diesem ersten großen medialen Auftritt folgt eine jahrelang andauernde Medienpräsenz mit zumeist reißerischen Aufmachungen in kaum gelesenen Lokalbättern, in der belächelten Boulevardpresse und in den einflussreichen überregionalen Nachrichtenmagazinen. Zumeist wurde die Krankheit durch die Berichterstattung hochgradig dramatisiert, angstbesetzt und moralisch aufgeladen. Aufgrund der medialen Aufbereitung des Themas, der es weniger um sachliche Berichterstattung und mehr um emotionale Stimmungsmache ging, bildete sich eine jahrelang anhaltende Infektionspanik heraus.

Quelle: New York Times, 1981

Quelle: DAH

Medienecho zwischen Panikmache und Diskriminierung | Quelle: Der Spiegel, 1983


halle.aidshilfe.de

Quelle: Der Spiegel, 1987

Diskriminierung von Hauptbetroffenen Als AIDS hierzulande ankam, gaben also die reaktionären und repressiven Stimmen in Presse und Politik vorerst den gesellschaftlichen Ton an. Vor allem rechtskonservative Kräfte nutzten AIDS, um Stimmung gegen all jene zu schüren, die nicht in ihr reaktionäres Weltbild einer aufgeräumten und reinlichen Gesellschaft passten. AIDS war in der öffentlichen Wahrnehmung nur die Krankheit der Anderen. So wurden vor allem schwule Männer und Drogengebrauchende zu den Schuldigen einer Epidemie erklärt, deren Opfer in erster Linie doch sie selbst waren. Im Kern ging es daher vor allem auf staatliche Kontrolle der Hauptbetroffenengruppen sowie gesetzlichen Sanktionen gegen HIV-Positive und AIDS-Kranke. Der vehementeste Vertreter dieses autoritären Kurses in der AIDS-Politik war

der Staatssekretär im Bayrischen Innenministerium Peter Gauweiler, der von AIDS-Kranken unverblümt als „Aussätzigen“ sprach, die „Zerschlagung der schwulen Infrastruktur“ forderte und androhte, dass „niemand ungeschoren“ bleiben würde. Begleitet wurden diese menschenverachtenden Diskurse durch ein angstschürendes und toxisches Medienecho.

Mit Vielfalt gegen Angst: Die Gründung der

1985 wird aus ihr ein bundesweit agierender

Deutschen AIDS-Hilfe e.V.

Dachverband, der mittlerweile dutzende regi-

Da die Bundesregierung AIDS lange Zeit nicht

onale AIDS-Hilfevereine in den am stärksten

als ein Gesundheitsproblem wahrnahm und

von AIDS betroffenen Städten umfasste. Die

tatenlos blieb, waren die Betroffenen weit-

Deutsche AIDS-Hilfe e.V. war gegründet.

gehend auf sich allein gestellt. Somit nahm in Deutschland die schwule Selbsthilfe schon

Im Gegensatz zu den vorherrschenden gesell-

früh eine wichtige Rolle bei der Aufklärung

schaftlichen Diskursen vertraten die Deutsche

über AIDS ein. Bereits 1983 schloss sich eine

AIDS-Hilfe und andere Präventionsbewegun-

kleine Gruppe schwuler Aktivisten zusammen,

gen eine pädagogische und lustbejahende Hal-

um über ein organisiertes Vorgehen gegen

tung:

Quelle: DAH

die Epidemie und die mit ihr einhergehende erstarkende Schwulenfeindlichkeit zu berat-

Betroffene sollten eigenverantwortlich Risi-

schlagen. Schnell wurde das Besprochene in

ken und Gefahren einer Ansteckung abschät-

die Tat umgesetzt: Im Herbst 1983 wird die

zen und sich dementsprechend vor einer mög-

Deutsche AIDS-Hilfe Berlin e.V. gegründet.

lichen HIV-Infektion schützen.

Gründung der AIDS-Hilfen in der DDR In der DDR-Öffentlichkeit spielte AIDS als Thema kaum eine Rolle. Die Politik der Abschottung und die staatliche Selbstisolierung führte dazu, dass sich in der DDR nur sehr wenige Menschen mit dem HI-Virus ansteckten und an den Folgen einer AIDS-Erkrankung starben. Gesundheitspolitisch verfolgte die DDR-Regierung einen seuchenpolizeilichen Ansatz, der vor allem HIV-Testungen und die namentliche Meldung sowie Isolierung von Infizierten als Präventionspolitik ansah.

Eine liberale und partizipatorische Strategie, wie sie mit Gesundheitsministerin Rita Süssmuth Mitte der 1980er zum AIDS-politischen Konsens der BRD wurde, war in der DDR undenkbar. Die schwulen Interessensgruppen, die unter dem Dach der evangelischen Kirchen zusammenkamen, versuchten diese Lücke zu schließen, indem sie die Aufklärungsarbeit der Schwulenszene selbst übernahmen. Aus dem Gründungsfieber nach dem Mauerfall geht im Dezember auch die hallesche AIDS-Hilfe hervor.

Quelle: BeKman Archive, 1984 5


HIV ist therapierbar Seit der AIDS-Krise in den 1980er Jahren hat sich glücklicherweise einiges getan. Heute ist eine HIV-Infektion kein Todesurteil mehr. Vielmehr haben wissenschaftliche Erkenntnisse und medizinischer Fortschritt dafür gesorgt, dass HIV zwar noch nicht heilbar, dafür aber medikamentös wirksam therapierbar ist. Hierzulande ist eine behandelte HIV-Infektion damit zu einer chronischen Erkrankung geworden, mit der HIV-positive Menschen ein gesundheitlich problemloses Leben führen können. Damit haben sich auch die Kampagnen zum Welt-AIDS-Tag hierzulande verändert. Heute bringen diese zum Ausdruck, dass es weniger die gesundheitlichen Folgen der HIV-Infektion sind, die Menschen mit HIV die meisten Probleme bereiten und den Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe erschweren. Vielmehr sind es die beständige Diskriminierung, Benachteiligung und Stigmatisierung, die ihnen das Leben schwer machen und die Diskriminierung bekämpfen! Die Ursachen für die Zurückweisung und die Diskriminierung sind häufig die verbreiteten Vorurteile über HIV, das Unwissen über dessen Übertragbarkeit und die daraus resultierenden Infektionsängste. Die heutigen Kampagnen zum Welt-AIDS-Tag informieren daher über das Leben mit

erreicht werden kann, wenn hierfür überall die notwendigen finanziellen Mittel bereitgestellt werden und für alle Menschen weltweit bedingungslos Zugang zu Prävention und Versorgung besteht.

Welt-AIDS-Tag Kampagne der DAH aus dem Jahr 1996

Konzept & Design: dashochhaus.de, Köln • Best.-Nr.: 70835540 (BZgA, 50819 Köln)

DER WELT-AIDS-TAG 6

Solidarity Worldwide Am 1. Dezember 1988 wurde der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der erste Welt-AIDS-Tag ausgerufen, um die Weltgemeinschaft für die globale Herausforderung durch die HIV- und AIDS-Pandemie zu mobilisieren. Seitdem ist der 1. Dezember der internationale Gedenktag, der zur Solidarität mit HIV-positiven und AIDS-kranken Menschen aufruft und all denen gedenkt, die an den Folgen der Infektion verstorben sind. Er mahnt, Menschen mit HIV und AIDS zu unterstützen und deren Diskriminierung entgegenzuwirken. Auf der politischen Ebene mahnt er, dass ein Ende von AIDS nur dann

# POSITIV ZUSAMMEN LEBEN

AM 01.12. IST WELT-AIDS-TAG! WELT-AIDS-TAG.DE EINE KAMPAGNE VON

IN PARTNERSCHAFT MIT

Lebensqualität, das Selbstwertgefühl und das Wohlbefinden der Betroffenen beeinträchtigen. HIV heute und motivieren dazu, aufeinander zuzugehen, frei und unbefangen über HIV zu sprechen und so voneinander zu lernen. Die Kampagnen zielen darauf ab, ein diskriminierungsfreies Miteinander zu ermöglichen, in dem menschen „positiv zusammen leben“ können. Neben deutschlandweit bekannten Prominenten ist auch unser Mitarbeiter Denis Leutloff auf den hiesigen Kampagnenplakaten zum Welt-AIDS-Tag zu sehen!


Der Welt-AIDS-Tag wird von zahlreichen Initiativen, Organisationen und Vereinen international dazu genutzt, um durch öffentlichkeitswirksame Aktionen Sensibilität für das Thema HIV und AIDS zu wecken und an die Entscheidungsträger_innen in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu appellieren, die notwendige Verantwortung für die Bekämpfung der AIDS-Pandemie

zu übernehmen. Hierzulande finden sich zum Welt-AIDS-Tag alljährlich ein Aktionsbündnis bestehend aus der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), der Deutschen AIDS-Stiftung (DAS) und der Deutschen Aidshilfe (DAH) zusammen, um mit einer gemeinsamen Kampagne Aufmerksamkeit für die Thematik zu schaffen.

Seit der AIDS-Krise in den 1980er Jahren hat sich glücklicherweise einiges getan. Heute ist eine HIV-Infektion kein Todesurteil mehr. Wissenschaftliche Erkenntnisse und medizinischer Fortschritt haben dafür gesorgt, dass HIV zwar noch nicht heilbar, dafür aber medikamentös wirksam therapierbar ist. Hierzulande ist eine behandelte HIV-Infektion damit zu einer chronischen Erkrankung geworden, mit der HIV-positi-

ve Menschen ein gesundheitlich problemloses Leben führen können. Damit haben sich auch die Kampagnen zum Welt-AIDSTag hierzulande verändert. Heute bringen diese zum Ausdruck, dass es weniger die gesundheitlichen Folgen der HIV-Infektion sind, die Menschen mit HIV die meisten Probleme bereiten und den Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe erschweren.

halle.aidshilfe.de

gedacht werden sollte. Rote Schleifen aus Stoff oder als Pin werden seither bei Aktionen und Events gegen Spenden verteilt. Alle Veranstaltungen zum 1. Dezember stehen unter dem Zeichen der Roten Schleife. Das Geld, das dafür eingenommen wird, kommt traditionell AIDS-Hilfen oder anderen AIDS-Organisationen und ihrer Arbeit zugute.

Konzept & Design: kakoii Berlin | steinrücke+ich Köln | Foto: Sebastian Hänel | Best.-Nr.: 70835498 (BZgA, 51101 Köln)

Weltweites Symbol der Solidarität, zu der am Welt-AIDS-Tag aufgerufen wird, ist die Rote Schleife. Erdacht wurde die Red Ribbon als Solidaritätsbekundung für Menschen mit HIV und AIDS im Jahr 1991 von der New Yorker Künstlergruppe „Visual Aids“. Als Vorbild diente ihnen dabei die Gelbe Schleife, mit der damals in den USA an die im Golfkrieg stationierten Truppen

ICH HABE HIV. Denis, 33 Jahre Angestellter im sozialen Bereich HIV-positiv

Matthias, 34 Jahre Veranstaltungstechniker und DJ

UND DAS VERTRAUEN MEINES TRAININGSPARTNERS.

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WAS DIE HALLESCHE AIDSHILFE SEIT 1990 SO GEMACHT HAT… 8

Seit der Gründung im Jahr 1990 organisiert und veranstaltet die AIDS-Hilfe Halle in Kooperation mit anderen Vereinen wie dem BBZ lebensart e.V., Dornrosa e.V., dem Halleschen Gesundheitsamt, Lambda Mitteldeutschland und vielen anderen Vereinen, die sich für eine vielfältige und demokratische Zivilgesellschaft

1991

1990 Gründung der Halleschen AIDS-Hilfe

2003

einsetzen, verschiedenste Projekte und Veranstaltungen. Dazu gehören Begegnungsangebote, öffentliche Aktionen und Demonstrationen wie der Christopher Street Day, die die Bevölkerung für Fragen rund um HIV/AIDS und sexuelle Gesundheit sensibilisieren sollen, aber auch Partys für die schwule Community

Nach der Abspaltung vom S.C.H.I.R.M. Projekt zieht die hallesche Aidshilfe in eigene Räume in der Magdeburger Straße.

Die AIDS-Hilfe Halle wird ordentliches Mitglied des Bundesverbands der deutschen Aidshilfen.

Neben der täglichen Präventionsarbeit werden in den Räumen der AIDS-Hilfe auch Ausstellungen gezeigt, wie bspw. Die Ausstellung ,,Antikörper“.

Unter dem Motto ,,Gib Gummi’’ wird eine gemeinsame Fahrradtour nach Paris veranstaltet.

2002

2009

2005

Zum Valentinstag 2005 schmückt die AIDS-Schleife ein Hochhaus am Riebeckplatz.

Erstmalig findet 2009 der Cristopher Street Day auf dem Marktplatz statt. Organisiert wird der hallesche CSD in einer Kooperation der Vereine BBZ lebensart e.V., Dornrosa e.V. und den Saaleperlen e.V..

2006

Zentraler Bestandteil der Spendeneinnahmen der halleschen Aidshilfe sind die jährlichen AIDS-Galen, die unter Regie des Clack-Theaters Wittenberg stattfinden.


Die Stadt Halle fördert die Arbeit der halleschen Aidshilfe erstmals mit einer Personalstelle.

Ein großer Teil der Arbeit in AIDS-Hilfen der 90er Jahre stellen Begegnungsangebote dar, bei denen die Community zum gemeinsamen Austausch zusammenkommt.

1997

halle.aidshilfe.de

1993

In den Räumen der Beratungsstelle am Böllberger Weg findet sich genug Platz für ein Café, Beratungsräume und eine Bibliothek.

2000

Seit 2009 berät die hallesche AIDS-Hilfe zu Fragen der sexuellen Gesundheit nicht nur telefonisch und vor Ort, sondern auch über ein bundesweites Online-Beratungsprogramm.

2010

Erstmalig findet eine Spendenaktion zu Gunsten der halleschen Aidshilfe statt.

2018 Die hallesche AIDS-Hilfe zieht in neue in der Leipziger Straße im Herzen der Stadt.

Die erste red. erscheint: In der Vereinszeitschrift informiert die hallesche Aidshilfe über ihre momentanen Projekte, Themen rund um HIV und AIDS und queere Politik.

Seit 2010 wird ein HIV Schnelltest angeboten.

2011

Zum ersten mal seit 20 Jahren findet in Halle wieder eine CSD Demonstration statt. Start einer schwul-lesbischen Partyreihe in Kooperation mit Dornrosa e.V. und der IWWIT-Kampagne.

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GROSSVERANSTALTUNGEN DER HALLESCHEN AIDS-HILFE

Spendenaktionen, Benefizkonzerte, Galen und Demonstrationen Spendenaktionen und andere öffentlich- Projekten wichtig, sie sind auch ein Ort, an keitswirksame Großveranstaltungen sind seit dem Präventionsbotschaften in die BevölkeGründung der ersten AIDS-Hilfen ein wich- rung getragen werden können. Damit tragen tiger Bestandteil von Öffentlichkeitsarbeit. aktiv sie zu einer Verbesserung der Situation Nicht nur sind sie für die Finanzierung von von Menschen mit HIV bei.

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Wittenberger AIDS-Gala Seit 2007 findet jährlich unter der Schirmherrschaft von Prof. Dr. Rita Süssmuth die größte Spendenaktion zu Gunsten der Halleschen AIDS-Hilfe statt: Die Wittenberger AIDS-Gala. Veranstaltet wird die AIDS-Gala vom Clack Theater Wittenberg unter der Leitung von Mario Welker und Stefan Schneegaß.

Nacht der Solidarität Mit der jährlichen ,,Nacht der Solidarität’’ möchte die AIDS-Hilfe Halle die Bevölkerung zur Solidarität mit Menschen mit einer HIV-Infektion aufrufen. Damit soll daran erinnert werden, dass weltweit Menschen mit HIV bis heute verschiedenste Diskriminierungen erleben. 2015 wurde zur 15. Nacht der Solidarität eine riesige AIDS-Schleife auf dem Marktplatz in Halle gelegt.

Weihnachtsbenefizkonzert Das jährliche Weihnachts-Benefizkonzert des Kammerchors TonArt in den franckeschen Stiftungen ist ein weihnachtlicher Jahresabschluss. Die großzügigen Spendeneinnahmen unterstützen die Präventionsarbeit der Halleschen AIDS-Hilfe.


halle.aidshilfe.de

Andere Aktionen Neben den Großveranstaltungen, bei denen die AIDS-Hilfe Halle einen Großteil ihrer Spendeneinnahmen macht, gibt es zahlreiche kleinere Spendenaktionen. Hierzu gehören beispielsweise die Aktionen der ,,Schwestern der perpetuellen Indulgenz’’. Die ,,Schwestern’’ verteilen am CSD Halle nicht nur Safer-Sex-Utensilien und Präventionsmaterial und klären Menschen über sexuell übertragbare Infektionen auf, sie sammeln auch Spenden für die Arbeit der Halleschen AIDS-Hilfe.

Darüber hinaus ist die Hallesche AIDS-Hilfe an verschiedensten Aktionen beteiligt, bei denen sie Menschen zu Fragen der sexuellen Gesundheit berät, Präventionsbotschaften verbreitet und ihre Zielgruppen politisch vertritt.

Test-Aktion am MELT-Festival

Gemeinsames Flaggen-Hissen zum CSD

CSD-Demonstration 2018

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langes Leben führen können. Zudem ist HIV unter Therapie nicht mehr ansteckend. Auch die Botschaften der AIDS-Hilfe sind heute anders: Aus der Ablehnung von HIV-Testungen aufgrund der fehlenden Behandlungsmöglichkeiten wurden die „Testhelden“ mit der Empfehlung zu regelmäßigen HIV-Tests. Aus dem Kondom als Goldstandard der Prävention wurde „Safer Sex 3.0“, der den sogenannten „Schutz durch Therapie“ und die „Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP)“ gleichwertig neben die Kondombenutzung stellt.

SCHUTZ OHNE KONDOM Alle Infos zur PrEP & PrEP-Checkheft für Männer*, die Sex mit Männern* haben

Heute ist eine HIV-Infektion kein Todesurteil mehr. Vielmehr haben wissenschaftliche Erkenntnisse und medizinischer Fortschritt dafür gesorgt, dass HIV zwar noch nicht heilbar, dafür aber medikamentös wirksam therapierbar ist. Eine behandelte HIV-Infektion führt in der Regel nicht mehr zu einer AIDS-Erkrankung. Hierzulande ist eine HIV-Infektion damit zu einer chronischen Erkrankung geworden, mit der HIV-positive Menschen ein gesundheitlich weitgehend problemloses und

Gegen Diskriminierung, für sexuelle Selbstbestimmung Dennoch werden bis heute Menschen mit HIV, ähnlich wie in den 1980er Jahren, im Alltag häufig diskriminiert. Die häufigsten Probleme bereiten nun nicht mehr die Symptome der Krankheit, sondern Stigmatisierung und Zurückweisung durch die Gesellschaft.

BE

PrEPARED

# POSITIV ZUSAMMEN LEBEN

Verschiedenste Kampagnen der deutschen AIDS-Hilfe klären seit einigen Jahren zum Welt-AIDS-Tag über Diskriminierungsverhältnisse und ihre Folgen für Menschen mit positiver HIV-Infektion auf. 12 AM 01.12. IST WELT-AIDS-TAG! WELT-AIDS-TAG.DE

Konzept & Design: dashochhaus.de, Köln

DIE AIDS-HILFE HALLE HEUTE

Was aus dem AIDS von früher wurde… Seit der AIDS-Krise in den 1980er Jahren hat sich glücklicherweise einiges getan.


Eine Agentur für sexuelle Gesundheit in Halle Bis heute bleibt die AIDS-Hilfe in Halle diesem Auftrag treu: Das Aufgabenspektrum des Vereins und der Beratungsstelle hat sich in den letzten drei Jahrzehnten auf das gesamte Themenfeld zu Sexualität und Gesundheit erweitert.

Treat me well! Treat me well!

halle.aidshilfe.de

Auf manchen Plakaten ist auch ein Mitarbeiter der Halleschen AIDS-Hilfe zu sehen: Neben seiner Arbeit als stellvertretender Geschäftsführer und Berater ist Denis Leutloff Kampagnenmodell für hiesige WAT-Kampagnen. Denn Arbeit in der AIDS-Hilfe bedeutet nicht nur sozialpädagogische Beratung und Begleitung für die Hauptbetroffenen von HIV, Prävention und Schulsexualpädagogik, sondern auch die politische Interessenvertretung für diese Gruppen und der konsequente Einsatz für eine pluralistische Gesellschaft, in der Menschen ohne Angst verschieden sein, leben und lieben können.

Discrimination in the healthcare system makes people sick.

Discrimination in the healthcare system makes people sick.

Ending Discrimination = Ending AIDS

Ending Discrimination = Ending AIDS

Vorrangiges Ziel unserer Arbeit ist nach wie vor die Prävention von und bei HIV und AIDS und anderen sexuell übertragbaren Infektionen durch niedrigschwellige und lebensweltakzeptierende Aufklärungs-, Beratungs- und Testangebote (Primärprävention). Darüber hinaus werden HIV-positive Menschen und deren Angehörige bei der Bewältigung der gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen der HIV-Infektion begleitet (Sekundär- und Tertiärprävention). Als sozialpolitische Interessensvertretung informiert die AIDS-Hilfe die Öffentlichkeit vorurteilsfrei und sachlich über HIV, um so die gesellschaftliche Situation der Betroffenen zu verbessern und ein Mehr an Akzeptanz für HIV-positive Menschen zu erstreiten. Die AIDS-Hilfe ist heute ein etablierter Akteur der Vereinslandschaft Halles, der eng vernetzt mit anderen regionalen Institutionen und Organisationen des Gesundheits- und Sozialwesens zusammenarbeitet. Sie ist dabei der Knotenpunkt, in dem HIV-Prävention, -Diagnostik und -Behandlung zusammenlauf-

en, und Mittler zwischen den verschiedenen Professionen und Disziplinen im Spannungsfeld von Sexualität und Gesundheit. Zum dreißigjährigen Bestehen ist die Beratungsstelle der AIDS-Hilfe in Halle die aktuell personell jüngste AIDS-Hilfe Deutschlands und verkörpert damit den Generationswechsel, der sich in AIDS-Hilfe-Kontexten vollzieht. Auch als kleine, ostdeutsche AIDS-Hilfe besitzt sie damit eine Vorbildfunktion auf Bundesebene, was die Zukunftsfähigkeit von AIDS-Hilfe-Arbeit betrifft. Die Hallesche AIDS-Hilfe, so zeigt sich deutlich, gehört auch mit der Behandelbarkeit von HIV keineswegs der Vergangenheit an, sondern wird auch zukünftig Menschen unterstützen, eine selbstbestimmte, gesundheitsbewusste und lustvolle Sexualität zu leben.

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Irgendwas mit Querfick – kreatHIV und präventHIV an Schulen

Ehrenämter sind eine gute Gelegenheit, sich abseits des Alltages mit anderen Themen zu beschäftigen und Neues kennenzulernen. Auch die AIDS-Hilfe Halle/Sachsen-Anhalt Süd bietet solche Ämter an. Von Kommunikationsfreudigen, die sich an der Prävention auf Parties, Festivals und öffentlichen Veranstaltungen beteiligen wollen, oder Leuten, die vielleicht Freude bei der Unterstützung der HIV-Testungen haben, oder denen, die Lust haben, vor Gruppen rund um das Thema Sexualität zu sprechen, ist alles dabei. Um die Entscheidung dabei zu erleichtern, wurde sogar ein Flyer mit allen nötigen Informationen entwickelt. Ganz einfach! In diesem Artikel wollen wir als Ehrenamtliche ein wenig näher auf die Schulsexualpädagogik eingehen und vorstellen, wer wir sind und was wir genau machen.

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Kurz einmal dazu, was Sexualpädagogik eigentlich ist: Es geht darum, Wissen und Erkenntnisse zu vermitteln, um Jugendlichen ein Bewusstsein über sexuelle Gesundheit zu vermitteln. Die Aidshilfe hat sich dabei das Ziel gesetzt, vor allem Sexpositivität und Lebensweltakzeptanz zu schaffen. Sie handelt z.B. parteilich, indem sie für die Rechte und Bedürfnisse sexueller Minderheiten einsteht.


Unsere Zielgruppe sind dabei Schüler_innen ab 13 Jahren, entsprechend der verschiedenen Altersstufen und geäußerten Bedarfe nutzen wir Methoden, die dem jeweiligen Wissensbestand entsprechen. Konkret bedeutet das, dass der Schwerpunkt bei jüngeren Klassen bei der Körperentwicklung während der Pubertät und den ersten sexuellen Kontakten liegt, bei den Älteren hingegen wird vermehrt auf HIV- und STI-Prävention und gesellschaftliche Normen und Werte eingegangen. Wir versuchen dabei für die Jugendlichen einen Schutzraum zu gestalten, bei dem alles, was sie beitragen, vertraulich behandelt wird. Zudem achten wir auf Gleichberechtigung und versuchen alle Jugendlichen in seiner Identitätsentfaltung zu bestärken. Wir gestalten unsere Projektveranstaltungen besonders partizipativ, wobei die Teilnahme daran auf Freiwilligkeit beruht. Aber wer sind wir eigentlich? Neben der hauptamtlichen Mitarbeiterin Ronja, die unsere Arbeit koordiniert, Termine an den Schulen organisiert, uns einarbeitet und mit uns reflektiert, besteht unsere Schulpräventionsgruppe aus Studierenden der verschiedensten Studiengänge. So profitieren wir voneinander, denn jeder bringt für die Arbeit entsprechende Fertigkeiten und Stärken mit. Deshalb ist es von großem Vorteil, Studierende der Erziehungswissenschaft und Lehrämter dabei zu haben, aber auch von Studiengängen wie der Sprachwissenschaften, der Soziologie und nicht zuletzt der Medizin. Diese ehrenamtliche Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass wir durch Ronja in regelmäßigen gemeinsamen Treffen geschult und herausgefordert werden. Wir eruieren einerseits (neues) Wissen und andererseits erproben wir methodische Herangehensweisen für die Sexualpädagogik. So fand bspw. im Februar 2019 ein ganzes Schulungswochenende

in den Räumen der Halleschen Aidshilfe statt. Wir teilten Wissen und Erkenntnisse, diskutierten über Handlungsmöglichkeiten in besonderen oder auch schwierigen Situationen und stellten mögliche Methoden in unserem Kreis auf die Probe. Neben diesen großen Treffen finden abgesehen von einer Sommerpause monatliche Besprechungen und Themenabende statt. Zusätzlich werden wir nicht einfach unvorbereitet mit der ehrenamtlichen Tätigkeit konfrontiert, sondern begleiten zu Beginn sowohl Ronja als auch andere Ehrenamtliche, um zu hospitieren und Erkenntnisse jeglicher Art zu erlangen. Nach und nach kann man sich dann nach eigenem Gefühl und Bedürfnis in die sexualpädagogische Arbeit einbringen und ausprobieren. Das alles mit dem Anspruch, viele Erfahrungen zu sammeln und stets Spaß zu haben. Als ehrenamtliche Teamer_innen arbeiten wir immer gemeinsam mit mindestens einer anderen Person in der Gruppe, um uns auch während der Arbeit zu unterstützen. Neben diesen Aspekten fördern wir in den regelmäßigen Treffen zusätzlich die Gruppendynamik, lernen uns weiter kennen und nehmen neue Mitglieder auf.

halle.aidshilfe.de

Es geht darum, Offenheit und Toleranz gegenüber Geschlechtervielfalt zu entwickeln und für Diskriminierungen zu sensibilisieren, also altbewährte Normen in Frage zu stellen und die Jugendlichen zum kritischen Nachdenken anzuregen.

Die angesprochenen Methoden passen wir für jede Veranstaltung gemeinsam mit Ronja an diese an. Nicht zuletzt wird dafür ebenso mit Lehrer_innen Rücksprache gehalten und über mögliche Bedürfnisse der Jugendlichen gesprochen. Unterstützend steht uns ein von Praktikant_innen angefertigter Katalog mit einer ganzen Sammlung verschiedener Methoden zur Seite. Ein Gedanke des sexualpädagogischen Ehrenamtes ist es natürlich, Wissen und Kompetenzen im Bereich Sexueller Bildung zu vermitteln, dabei besteht ein zentraler Schwerpunkt darin, die Sexualität und die Bedürfnisse der Jugendlichen anzuerkennen. Das Ziel bei den Projekten ist dabei ausdrücklich, nicht repressiv vorzugehen, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit Sexualität zu fördern und ein Bewusstsein dafür zu schaffen. All das wird von uns mit einer altersgerechten Kommunikation, Informationsvermittlung, Ehrlichkeit und – grundlegend wichtig – mit viel Spaß realisiert.

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Wie divers die ehrenamtlichen Arbeitsbereiche in der Aidshilfe sind, spiegelt sich ebenso in den folgenden Ausschnitten aus Gesprächen wider, die wir mit einigen Ehrenamtlichen geführt haben.

re Sachen dabei, wie bspw. die vielen Schulveranstaltungen, die ich begleitet habe. Ein großes Projekt an dem ich beteiligt war, war bspw. der Parcours, der zum Welt-AIDS-Tag und zum Jugendfilmfest vorgeführt werden soll. In dieser Zeit sind mir die Leute aus der Aidshilfe auch mega ans Herz gewachsen. Was, würdest du sagen, hast du für dich persönlich mitgenommen aus dem Jahr? Vor allem die Schulveranstaltungen haben mir extrem viel gebracht. Allgemeiner habe ich in dem Jahr sehr viel über mich selbst herausgefunden. Also ich war vorher schon relativ offen, was Sexualität betrifft, aber die Zeit in der Aidshilfe hat mich da noch einen großen Schritt weitergebracht; ich weiß eine ganze Menge mehr über Themen sexueller Gesundheit und konnte sogar viel für mein alltägliches Leben mitnehmen, das finde ich richtig gut.

Vanessa, ehemalige Bundesfreiwilligendienstleistende Du bist ja über den Bundesfreiwilligendienst in die Aidshilfe gekommen, hast währenddessen also ziemlich viel Zeit hier verbracht. Wie war das für dich? Ich bin eigentlich extrem zufällig zur Aidshilfe gekommen, nämlich war ich auf so einer Stuzubi-Messe, auf der sich der Bundesfreiwilligendienst vorgestellt hat. Und da bin ich dann einfach über eine Internetsuche nach etwas Sozialem bzw. Pädagogischem auf die Aidshilfe gestoßen.

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Ich bin dann eigentlich mit relativ wenig Erwartungen an die Arbeit gegangen. Obwohl ich ja vorher ein bisschen gelesen hatte, was dort so gemacht wird, waren noch viele ande-

Maxi, studiert auf Lehramt Du bist ja schon etwas länger in der Aidshilfe und der Sexualpädagogik aktiv. Wie lang bist du jetzt dabei und was motiviert dich, dabeizubleiben? Ich bin seit Herbst 2017 bei der Aidshilfe und habe schon öfter mit Ronja und anderen Ehrenamtlichen Stunden für Kinder und Jugendliche zu unseren Themen gestaltet. Was mich motiviert, das neben dem Studium ehrenamtlich zu machen, ist auf jeden Fall das Team. Man wird hier immer sehr freundlich und offen empfangen und ermutigt, sich kreativ auszuleben und eigene Ideen einzubringen; man hat hier viel Freiraum und kann sehr selbstständig arbeiten. Aber natürlich auch mein


Sarah, studiert Sprechwissenschaften

sexuelle Gesundheit – sind super wichtige

Dein Weg in die Aidshilfe war ja etwas an-

Themen, über die nicht genug bzw. nicht of-

ders als bei den meisten Ehrenamtlichen, du

fen genug geredet wird, deswegen finde ich

kommst aus keinem pädagogischen oder me-

es auch wichtig, mich selbst da weiterzubil-

dizinischen Kontext. Wie bist du

den.

auf die Aidshilfe und spe-

halle.aidshilfe.de

Interesse an den Themen –­ also Liebe, Sex,

ziell die SexualpäDu warst ja im Sommer letzten Jahres auch

dagogik auf-

mit einigen anderen aus dem Team auf dem

merksam

MELT-Festival aktiv. Was war das für eine Er-

gewor-

fahrung?

den?

Auf das MELT mitzukommen war eine ziemlich coole Erfahrung, da habe ich unter anderem mit zu testenden Personen Beratungsgespräche geführt. Das war auch eine gute Gelegenheit, mein Wissen, das ich jetzt über eineinhalb Jahre angesammelt habe, mal auf die Probe zu stellen. Es war jedenfalls ein richtig schönes Wochenende, weil man mit super vielen offenen und interessierten Menschen in entspannter Festival-Atmosphäre ins Gespräch kam.

Als ich für mein Masterstudium nach Halle gezogen bin, habe ich mir vorgenommen, mich ehrenamtlich in der Sexualpädagogik zu engagieren. Die Erkenntnis, dass das Wissen um Sexualität in der Regel doch auch im jungen Erwachsenenalter noch deutliche Lücken aufweist, war einer der Gründe dafür. Ein anderer war folgender: Wenn ich an meine Pubertät denke, erinnere ich mich, wie unsicher ich mit mir selbst und meinem Körper war. Heute wachsen Jugendliche mit einem Körperideal auf, das durch Pornos zusätzlich noch Maßstäbe für Geschlechtsteile setzt. Als ich dann gelesen habe, dass man sich bei der Aidshilfe in Halle zu genau solchen Themen einbringenkann, musste ich nicht lange überlegen und habe Ronja eine Mail geschrieben. Du warst ja im letzten Jahr auch beim Chris-

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topher Street Day hier in Halle aktiv. Wie hast du das erlebt? Es war beeindruckend, so viele so junge Menschen auf der Straße zu sehen, die dafür demonstrieren, lieben und leben zu können, wie jede_r Einzelne es möchte; vor allem, weil ich es schon sehr früh als große Ungerechtigkeit empfunden habe, dass nicht jede_r einfach lieben darf, wen er_sie will. Als Teil der Aidshilfe dabei zu helfen, dass ein so wichtiger Tag wie der CSD in Halle in den Straßen präsent ist, hat mir wirklich Spaß gemacht. Johannes, studiert im Lehramt Du warst auch schon bei vielen verschiedenartigen sexualpädagogischen Veranstaltungen aktiv. Was für Erfahrungen hast du dort so gemacht? Als einer der wenigen männlichen Ehrenamtlichen habe ich auf manche Situationen in der Arbeit mit Schüler_innen noch mal eine etwas andere Perspektive, denke ich. Wir kommen im Zuge der Diskussion über queere Themen oder auch Pornografie – die für Jugendliche und ihre Sozialwelt ja super relevant sind – gezwungenermaßen immer wieder auch zu Momenten der Aufarbeitung hegemo-

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nialer Männlichkeit. Inwieweit ist denn die Diversität des Teams wichtig? Ich glaube, die Möglichkeit, sich mit Problemen oder Fragen offen und angstfrei an Vertrauenspersonen aus einem diversen Team wenden zu können, nimmt solchen Situationen die potentielle Gefahr einer Art Identitätsverletzung. Gerade heranwachsende Jungen brauchen solche Safe Spaces, in denen sie ihre sexuelle und persönliche Entwicklung konstruktiv vollziehen können. Dementsprechend versuchen wir da auch in einem kritisch-reflexiven Umgang mit normativen Bildern von Männlichkeit Impulse zu setzen, um Jugendliche zu einem aufgeklärten, emanzipierten und verantwortungsbewussten Umgang mit ihrer Sexualität zu befähigen. Und die Rückmeldungen, die wir am Ende jeder Veranstaltung einholen, bestätigen uns auch, dass die Schüler_innen diese Art der Aufklärungs- und Präventionsarbeit schätzen, was mich jedes Mal sehr glücklich macht. Text: TrJe, VaVo, SaZi, JoRi Bilder: TrJe, VaVo, SaZi, JoRi


halle.aidshilfe.de

# HIVer sity Weil ich mehr bin als nur HIV-positiv: LiVLife.de

NP-DE-HVU-ADVT-200012

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Bild: Shutterstock (Green Color)

Corona und Aidshilfe: Stärker als die Zeit

entfernen, geprägt von Nationalismus und staatlichen Egoismen. Einer Welt, die vom Wegschauen lebt. In dieser Welt findet eine Pandemie einen geeigneten Nährboden, um sich zu verbreiten. Parallelitäten von SARS-CoV-2 zu HIV gibt es einige. Zum Beispiel Stigmatisierung: Wer sich mit SARS-CoV-2 infiziert oder auch nur vielleicht das zweite Mal in Quarantäne gehen muss, wird schnell mal als vermeintlich „verantwortunglos“ abgestempelt. Kennen wir doch irgendwie, oder?

Liebe Kolleg_innen, liebe Freunde und Freundinnen, liebe Gäste,

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Noch während die letzte Pandemie, die vor rund 40 Jahren begonnen hat, weiterhin bekämpft wird und noch nicht letztendlich im Griff ist, ist eine neue Pandemie ausgebrochen, die die Welt in Atem hält. In einer Welt, in der Gesundheit immer noch als Abwesenheit von Krankheit definiert wird. Einer Welt in der Gesundheitsversorgung fast ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrieben wird. Einer Welt in der sich die Staaten immer mehr voneinander

Oder als weiteres Beispiel die Infektionsherde die häufig in den „Schmuddel-Ecken unserer Gesellschaft“ auftreten. Da wo man nicht so gerne hinschaut. Mit denen man möglichst wenig zu tun haben will. Waren es bei HIV die Männer, die Sex mit Männern haben, die drogengebrauchenden Menschen, die SexWorker_innen, sind es bei SARS-CoV-2 Alten- und Pflegeeinrichtungen, Flüchtlings-unterkünfte, Hilfskräfte in der Lebensmittelindustrie. Jetzt könnten wir uns gut zurücklehnen und sagen, „wir haben doch für unsere Zielgruppen und unsere Arbeit sehr viel erreicht“. Das ist nicht so. Erkämpftes und lange Zeit Sicherge-


halle.aidshilfe.de Am 13.11.2020 fand der alljährliche Fachtag der Deutschen Aidshilfe im Vorfeld der Mitgliederversammlung statt. In diesem Jahr hat die Coronapandemie für zwei Änderungen gesorgt. Nicht nur fand der gemeinsame Fachtag diesmal online statt. Auch thematisch hat er sich mit Bedeutung von COVID-19 für die Aidshilfearbeit auseinandergesetzt. Die Eröffnungsrede von Ulf-Arne Hentschke-Kristal wollen wir hier gern mit euch teilen.

glaubtes wie das Recht, dass Arbeitgeber_innen den HIV-Status nicht abfragen dürfen, stehen plötzlich wieder zur Disposition, wenn im Zuge der Corona-Bekämpfung die Frage nach Imunstatus zulässig werden sollen. Unter dem Deckmantel der neuen Pandemie werden aber auch reaktionäre Bestrebungen wie ein Sexkaufverbot vorangetrieben. Prävention gegen SARS-CoV-2 ist geprägt von einem patriarchalischen und lustfeindlichen Gesellschafts- und Familienbild. Sexualität außerhalb einer monogamen Beziehung wird plötzlich wieder undenkbar. Stärker als die Zeit, heißt an diesen Stellen wachsam zu sein, erkämpfte Fortschritte nicht aufzugeben, sich zu positionieren.

tance“ einhalten ohne dabei eine soziale Dis-

Stärker als die Zeit heißt aber auch neue Arbeitsweisen zu entwickeln. Wer hätte vor einem Jahr daran gedacht, dass wir uns nicht live begegnen, sondern uns in Telefon- und Videokonferenzen treffen. Wenn uns das jemand erzählt hat, dann klang das nach einer fernen Zukunft oder der Arbeitsweise von sogenannten StartUps und irgendwelcher ComputerNerds. Wir im sozialen Bereich, deren tägliches Geschäft das Gespräch mit Menschen ist, hätten nie gedacht, dass unser Alltag so aussehen kann. Nähe über den Computer herstellen, geht das? Kann man „physical dis-

Ich bedanke mich an dieser Stelle schon bei

tanz aufzubauen? Ja das geht, das haben wir in den vergangenen Monaten gelernt. Und ich bin ganz ehrlich: Wir hätten uns lieber mit Euch real getroffen zu einem Präsenz-Fachtag im Vorfeld der Mitgliederversammlung der Deutschen Aidshilfe, der neben der gemeinsamen Arbeit geprägt ist, von persönlichen Gesprächen, Umarmungen zur Begrüßung und einem gemeinsamen Abend. Hier hat uns die Zeit einen Strich durch gemacht. Dass wir dennoch stärker sind als die Zeit, zeigt das Programm, dass für den Fachtag aufgestellt wurde.

all denen, die dazu beigetragen haben, dass wir uns heute hier, auf diesem Weg treffen und zusammenarbeiten können. Lasst uns am heutigen Tag unsere Kräfte bündeln, uns austauschen, gemeinsam Ideen weiterentwickeln und stärker sein, als die Zeit. Text: Ulf-Arne Hentschke-Kristal Bilder: Ulf-Arne Hentschke-Kristal, DAH q Ulf-Arne Hentschke-Kristal ist Vorstand der Deutschen Aidshilfe

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Corona & AIDS: Ein Gespräch über pandemische Zeiten

Aktivist_innen aus queeren Kontexten haben verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich Parallelen zwischen der aktuellen Coronapandemie und dem Aufkommen von AIDS in den 80er Jahren ziehen lassen. Das folgende Gespräch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie über Wissen aus der damaligen Situation, mit dem wir uns heute wieder befassen sollten haben Erziehungswissenschaftler Klemens Ketelhut und unser Geschäftsführer Martin Thiele im ersten Lockdown im Mai 2020 online geführt. Klemens: Als erste Frage würde ich gern wissen, wo siehst du Zusammenhänge zwischen der heutigen Situation und der damaligen Situation, in der AIDS in die Welt gekommen ist?

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Martin: Betrachtet man beide Pandemien aus einer epidemiologischen Sicht, haben sie zu-

nächst gar nicht so viel gemein, unterscheiden sich vor allem hinsichtlich Übertragbarkeit, Verbreitung und Sterblichkeit. HIV ist eine in erster Linie sexuell übertragbare Infektion, die bestimmte Hauptrisikogruppen betraf und nach wie vor betrifft. Eine AIDS-Diagnose bedeutete zum damaligen Zeitpunkt ein unweigerliches Todesurteil. Demgegenüber ist das Coronavirus im Alltag übertragbar, bedroht daher potentiell jede_n, führt aber in den seltensten Fällen zum Tod. Ein soziologischer oder sozialpsychologischer Blick offenbart hingegen Gemeinsamkeiten hinsichtlich der gesellschaftlichen Situation sowie der individuellen und kollektiven Reaktionen auf die pandemische Bedrohung. Wir haben es mit sozialen Krisensituationen zu tun, auf die vielfach mit irrationaler Angst, sozialer Ausgrenzung und autoritären Sehnsüchten, aber auch mit zahlreichen


halle.aidshilfe.de lokalen Bemühungen solidarischer Unterstützung und Politik reagiert wird. In diesem Sinne lassen sich nicht wenige Parallelen zwischen der AIDS-Krise der 1980er und der heutigen Corona-Krise herstellen. Klemens: Bevor ich nochmal auf die Frage der gesellschaftlichen – oder vielleicht auch kollektiven – Reaktion auf eine als Krise wahrgenommene Situation eingehe, würde ich gern einen Moment bei den Unterschieden bleiben, da sie in meinen Augen auch einer Differenzierung bedürfen. Der zentrale Unterschied, das hast du angesprochen, liegt im Übertragungsweg und auch in der potentiellen Betroffenheit. HIV und AIDS haben in der ihrer Anfangszeit, so könnte man es vielleicht formulieren, dafür gesorgt, dass sich gesellschaftliche Ordnungsmuster hinsichtlich der Zuschreibung von Verantwor-

tung und Schuld verschoben haben. HIV und AIDS betrafen die, deren gesellschaftliche Situation bereits prekär war: die Schwulen und die bisexuellen Männer, Drogengebraucher_innen, Sexarbeiter_innen. Der Wunsch, HIV und AIDS beherrschbar zu machen, gipfelte ja in Phantasien von Einkerkerung und Separation, sowohl institutionell als auch in Alltagspraxen, etwas, das mit COVID-19 kaum möglich sein wird. Martin: Da bin ich ganz bei dir, das halte ich für einen ganz zentralen Unterschied auch im sozialen Umgang mit AIDS und dem mit Corona – und in diesem Zusammenhang folglich mit den jeweils Betroffenen. Schaut man auf die Sozialgeschichte von Pandemien, so zeigt sich, dass Krankheiten stets mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen werden, ihnen sowohl auf individueller Ebene als auch in gesellschaftlichen

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Diskursen ein tieferer Sinn zugesprochen wird.

der AIDS-Krise tauchen jedenfalls in den De-

Die Schriftstellerin Susan Sontag beschreibt

batten um COVID-19 so kaum auf. Auf der an-

diese Prozesse eindrücklich in ihrem Werk

deren Seite müssen wir auch heute erleben,

Krankheit als Metapher. Während Pandemi-

wie Ressentiments, Stigmatisierung und Mar-

en verstärken sich solche Tendenzen durch die

ginalisierung in der gesellschaftlichen Atmo-

Atmosphäre gesamtgesellschaftlicher Infekti-

sphäre panischer Angst gedeihen. Die Berichte

onsängste, die kennzeichnend sind für pande-

über rassistische Anfeindungen und Übergrif-

mische Zeiten.

fe sind so zahlreich wie beschämend. Und weil Gesundheit heute mehr denn je als individu-

Klemens: Der Versuch, einem unkontrollier-

elle Anforderung an uns alle herangetragen

baren Phänomen wie einem potentiell tödli-

wird, verschwindet die Verantwortungsfra-

chen Erreger, der unsichtbar in der Luft sein

ge im gesellschaftlichen Diskurs und im sozia-

kann, einen Sinn zu geben ist wohl einer, der

len Miteinander doch nicht gänzlich. Ich möch-

Kontrolle ermöglichen soll. Gibt es dazu in

te die Ähnlichkeiten zur AIDS-Krise gar nicht

der Geschichte der Auseinandersetzung mit

überstrapazieren, aber wir täten alle gut daran,

AIDS Parallelen?

wachsam zu sein, was solche gesellschaftlichen

Martin: In ihrem späteren Buch „Aids und sei-

Entwicklungen betrifft.

ne Metaphern“ macht Sontag deutlich, dass

Klemens: Ich teile deinen Schluss: es ist im

AIDS zu einem Schauplatz sozialer Grenzver-

Moment wichtig, verschiedene gesellschaft-

handlungen zwischen dem Eigenen und dem

liche Entwicklungen genau zu beobachten.

Fremden, dem Moralischen und dem Unmora-

Zum einen denke ich dabei an das Verhältnis

lischen, dem Akzeptablen und dem Unakzep-

von Bürger_innen und Staat, das gerade her-

tablen wurde. Vor allem rechtspolitische Kräf-

ausgefordert wird: Grundrechte werden vorü-

te haben damals die Gelegenheit genutzt, um

bergehend eingeschränkt, um die Gesellschaft

Stimmung gegen all jene zu schüren, die nicht

und die Einzelnen zu schützen. Zum anderen,

in ihr Bild einer aufgeräumten und reinlichen

das hast du angesprochen, werden die Brü-

Gesellschaft passten. Schuldzuschreibungen

che zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu-

hinsichtlich eines vermeintlich unmoralischen

nehmend sichtbarer – die ungleiche Verteilung

Lebensstils haben hierbei eine ganz entschei-

von Care-Arbeit, rassistische Diskurse, die wei-

dende Rolle gespielt. Aus den Opfern einer

ter zunehmen, die schlechte Entlohnung vieler

verheerenden Epidemie wurden so deren Tä-

der „systemrelevanten“ Berufe, die Verstär-

ter gemacht.

kung von Bildungsungleichheit durch die abrupte Schließung von Schulen, um nur ein paar

Klemens: Im Kontext von HIV und AIDS ha-

Schlaglichter aufzurufen.

ben sich diese Vorgehensweisen nicht durchgesetzt – hier gab es ein Umdenken. Dennoch

Schaut man sich als ein mögliches Beispiel die

entstehen auch mit COVID-19 neue Ausgren-

Situation von Kindern und Jugendlichen an,

zungsformen und Schuldzuschreibungen.

kann man schnell erkennen, dass nicht alle (und das nicht nur in Phasen der geschlossenen Bil-

Martin: Von solch einer Sündenbockmentalität

dungseinrichtungen) Zugang zu digitalen Lern-

und den damit einhergehenden moralinsauren

formaten oder zu lernförderlichen räumlichen

Bestrafungsphantasien sind wir heute glückli-

Gegebenheiten haben.

cherweise weit entfernt. Es mag vielleicht zy-

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nisch klingen, aber womöglich können wir froh

Betrachtet man die Gruppe der LGBTTIQ*-Kin-

sein, dass die aktuelle gesundheitspolitische

der und -Jugendlichen wird zudem deutlich,

Krise nicht nur ungeliebte soziale Minderhei-

dass sie besonderen Gefährdungen ausgesetzt

ten betrifft, sondern auch die heterosexuelle,

sind. Viele queere Organisationen haben ein-

weiße und bürgerliche Mehrheitsgesellschaft

drücklich davon abgeraten, sich in der aktuel-

bedroht. Moralisch aufgeladene und men-

len Situation zuhause zu outen, weil die Gefahr

schenfeindliche Auslassungen wie zu Zeiten

familiärer Konflikte nicht abschätzbar ist, auch


Martin: Das ist eine entscheidende Frage, die es auch oder gerade in Krisenzeiten zu diskutieren gilt. Gänzlich außer Frage steht meines Erachtens, dass ordnungspolitische Maßnahmen zur Eindämmung zur Ausbreitung von COVID-19 wie Kontaktminimierung oder Maskenpflicht notwendig waren. Sie leuchten den allermeisten Menschen auch ohne große epidemiologische Vorkenntnis vermutlich unmittelbar ein. Das sind sachlich begründete, damit legitime Vorgaben für das Leben mit dem Virus. Besorgniserregend stimmt es mich jedoch, wenn die Pandemie zum Vorwand genommen wird, um ganz klare Rechtsbrüche zu begehen oder Bürgerrechte gleich in Gänze auszuhebeln. Ich denke da zum Beispiel an die Verletzung des Datenschutzes und Patient_innengeheimnisses, wenn in einigen Bundesländern namentliche Meldungen von Erkrankten an die Sicherheitsbehörden erfolgen, über Bewegungstracking per App diskutiert oder die Möglichkeit eines Immunitätspasses ins Spiel

gen von Seiten der Virologen und Epidemiologen ernst genommen haben und dem Social Distancing gefolgt sind. Dieses kollektive Vertrauen in die Wissenschaft finde ich bemerkenswert. Doch zugleich birgt es auch die Gefahr einer Entpolitisierung der Debatte und der Nichtbeachtung bedenklicher sozialpolitischer Entwicklungen, wenn wir ausschließlich virologische Erwägungen zum Maßstab unseres Handelns erheben. Es gibt eben Fragen, die nur politisch beantwortet werden können. Auch in einer pandemischen Krisensituation behalten Bürgerrechte ihre Gültigkeit, darf sich Politik nicht auf Biopolitik beschränken und sind politische Entscheidungen keineswegs alternativlos. Umso umfangreicher die politischen Einschnitte in die Freiheitsrechte und die direkten Auswirkungen für die Bürger_innen in ihrem Lebensvollzug, desto ausgeprägter muss eine kritische Diskussion über Maßnahmen und ihre gesellschaftspolitischen Folgen stattfinden.

halle.aidshilfe.de

weil Supportsysteme eingeschränkt werden oder fehlen. Damit potenzieren sich Risiken für eine sowieso schon ausnehmend vulnerable Gruppe noch mehr, die aber im allgemeinen Diskurs über Corona wenig Beachtung findet. Die Lebenssituation vieler dieser Menschen ist per se durch zusätzliche Belastungen gekennzeichnet, weil sie nicht den gesellschaftlichen Schutz erhalten, den sie dringend bräuchten – auch vor COVID-19 nicht. Deutlich wird daran, dass die Einschränkungen alle, aber nicht alle im gleichen Ausmaß.

Text: MaTh, KlKe Bilder: Alisa Sonntag, HSE / Philip Benjamin q Es handelt sich um die gekürzte Version. Den vollständigen Text findet ihr auf unserer Webseite. (www.halle.aidshilfe.de/homepage/ aktuelles/203-solidaritaet-inpandemischen-zeiten-ein-gespraech)

gebracht wird. Bedenklich finde ich auch die pauschale Aussetzung der Versammlungsfreiheit, wenn beispielsweise politische Demonstrationen auch dann verboten werden, wenn Sie unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregelungen erfolgen. Immer wieder hört man zudem vom teils unverhältnismäßigen und willkürlichen Vorgehen der Sicherheitsbehörden auch gegenüber kleineren Regelverstößen, in dem wohl Der Wille zum Strafen durchscheint, den der Sozialanthropologe Didier Fassin auch und vor allem für liberale Gesellschaften beschreibt. ANZEIGE

In den letzten Wochen konnten wir beobachten, wie die meisten Menschen die Mahnun-

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Corona und Sex: Sexualität in pandemischen Zeiten

Die Teetassen dampfen, draußen regnet es. Die Wohnung wird kühler, aber eben auch gemütlicher. Was gibt es schöneres als den ganzen Tag im Bett zu bleiben, als sich aneinander aufzuwärmen? Gerade auch jetzt, wo die Infektionszahlen noch höher sind als im März und April und in den Nachrichten gebeten wird, zu Hause zu bleiben, stellt sich die Frage, ob Sex miteinander überhaupt vertretbar ist. Und unter welchen Bedingungen kann dieser stattfinden?

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Shangqiu Municipal Hospital in China wurde das Sperma von männlich gelesenen Patienten mit COVID-19 getestet. Bei 16 % von ihnen konnte im Sperma das Virus nachgewiesen werden. Andere Studien konnten das Virus im Sperma noch gar nicht nachweisen, in Bezug auf Vaginalsekret gibt es soweit noch keine ähnlichen Forschungsergebnisse.

Am sichersten ist wohl Masturbation. Beim Sex mit sich selbst kann niemandem zu nahe gekommen werden, niemand wird angesteckt. Laut Lustreport 2020 haben sich 13 % der Käufer_innen eigens ein Sexspielzeug für den Lockdown gekauft. Für Italiener_innen war während des totalen Lockdowns im März und April der Premiumzugang der Seite Pornhub kostenlos. Auch beim Sex mit sich selbst ist es möglich, Abwechslung reinzubringen. Und immerhin muss hier niemand auf den anderen achten. Außerdem weiß wohl niemand so genau Bescheid über die eigenen Vorlieben wie man selbst.

Der Virologe Julian Tang hat in einem Interview erklärt: „Wenn man riechen kann, was die Person gegenüber zum Mittag hatte – zum Beispiel Knoblauch oder Curry – dann atmet man, was sie atmet, einschließlich der Viren in ihrem Atem.“ Allerdings ist es schwer, Sex zu haben, ohne sich näher zu kommen, sich zu berühren, zu küssen. Und gerade bei diesem vermeintlich „unschuldigen“ Teil ist die Ansteckungsgefahr am höchsten. Als Tröpfcheninfektion wird Corona über Anhauchen, Anniesen und Anhusten übertragen. So ist das Risiko gerade beim „Kuscheln“ besonders hoch. Beim Küssen kann infizierter Speichel ausgetauscht werden. Außerdem kann es durch die Berührungen von Händen zu Schmierinfektionen kommen.

Mit mehr Personen wird es schon komplizierter. Dabei ist penetrativer Sex an sich nicht unbedingt das Problem. Bei einer Studie im

Unter Beachtung dieser Punkte ist Sex wohl nur in einer Position vorstellbar. Und dann muss das Desinfektionsmittel gleich neben


Eine weitere Möglichkeit ist durch Camsex, Telefonsex oder Sexten vollständig auf physische Nähe verzichten. Verschiedene Sexualtherapeuten meinen sogar, man könne sich selbst hier besser kennen lernen, deutlich näher sein, weil man nicht so sehr auf den oder die Partner_in konzentriert ist wie sonst. Dieser Text begreift sich aber eben auch als eine Ideensammlung für diejenigen, die unsicher sind, wie lange es noch dauert, bis der Impfstoff gefunden ist. Ein ganzes Jahr lang Telefonsex oder Masturbation kann nicht jede_n erfüllen, viele Menschen brauchen körperliche Nähe und Sex. Im Englischen gibt es die Redewendung: „If two are company, three’s a crowd.“ Grob übersetzt heißt es, wenn sich zwei Menschen gute Gesellschaft sind, sind es bei drei Menschen schon zu viele. Das Risiko, sich beim Sex anzustecken, steigt wie bei allem anderen auch, mit der Anzahl an fremden Personen. Menschen im eigenen Haushalt, mit denen sowieso Türklinken und Bäder geteilt werden, sind also weniger problematisch als der Onlinedatingkontakt.

viele Tage vergehen müssen, damit körperliche Nähe wieder ungefährlich ist. Eine Studie des Instituts für Mikrobiologie in München, die 2019 durchgeführt wurde, kommt zu dem Schluss, dass 10 Tage nach dem Abklingen der Symptome das Virus nicht mehr übertragbar ist, weil nicht mehr genug Viren im Speichel nachgewiesen werden können. Laut einer Studie aus Hongkong ist die Menge an Viruskopien im Speichel in der ersten Woche am höchsten, sie können aber auch noch 20-25 Tage später nachgewiesen werden. Hier wird aber nicht deutlich, ab wann das Virus im Speichel unbedenklich ist. Außerdem sind beide Studien eher klein gehalten, die Menge der Befragten ist noch zu gering, um eindeutige Ergebnisse zu liefern. Die deutsche Aidshilfe empfiehlt mit Beginn des Abklingens der Symptome 14 Tage zu warten, bis Sex mit Körperkontakt wieder stattfinden kann.

halle.aidshilfe.de

dem Gleitmittel stehen oder zumindest schnell zur Hand sein. Dabei kann aber eben auch die Abwechslung, die Stimmung und die Romantik, wenn man sie denn braucht, verloren gehen.

Wer das nicht ohnehin schon tut, sollte darauf achten, dass Hände und entsprechende Sextoys sauber und desinfiziert sind, bevor man sich näher kommt. Vielleicht ist es keine schlechte Idee, dem Desinfektionsmittel einen Platz neben dem Gleitgel zu geben. Nur nicht verwechseln.

Im Jahr 2020 sind die Wörter „Consent“ und „Einvernehmlichkeit“ in Bezug auf Sex keine Fremdwörter. Einander vor dem Sex zu fragen, ob diese und jene Handlung auch dem Willen der anderen Person entspricht oder das nonverbal miteinander auszumachen, ist wichtig und hilfreich.

Ganz allgemein ist es hilfreich, sich ein Bild von den Konsequenzen einer möglichen Infektion zu machen. Ist jemand im Umfeld, der mit einem weniger milden Verlauf der Krankheit rechnen muss? Wie groß ist die Angst sich anzustecken? Wie weit entfernt ist die nächste Familienfeier? Gibt es ältere Bekannte, Eltern und Großeltern, zu denen auch physischer Kontakt besteht? Kann die Anzahl der körperlichen Kontakte reduziert werden? Wie sehr möchten und können sich Betroffene überhaupt selbst isolieren?

Zu diesem Gespräch könnte auch gehören, sich zu fragen, wie es der anderen Person geht und ob sie Symptome hat. Betroffene können und müssen ihr Risiko selbst abschätzen und danach handeln, aber bei Erkältungssymptomen könnte der Sex dann verschoben werden.

Im Grunde ist es wohl wie bei allem anderem, was mit Körperlichkeit und physischer, aber auch emotionaler Intimität zusammenhängt, eine Frage der Kommunikation. Und dann muss jede_r für sich selbst entscheiden, womit er_sie sich wohlfühlt.

Weil COVID-19 noch lange nicht ausreichend erforscht ist, gibt es keine genaue Zahl, wie

Text: HeVu Bild: Shutterstock (Serhii Ivashchuk)

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Bild: Shutterstock (nito)

Corona und Sex: Vorhang auf für einen Blowjob

Pauls Sexleben war nahezu perfekt organisiert. „Ich lebte ohne festen Partner und war recht umtriebig unterwegs“, sagt er über seine Zeit vor Corona. Weil er als Trainer und Pädagoge viel reiste, hatte der 33-Jährige mit trans Vergangenheit sich im Laufe der Jahre in ganz Deutschland Fuck-Buddies zugelegt. Seine Gelegenheitspartner traf er mehr oder weniger regelmäßig an Orten wie Saunen oder Bars. Körperliche Nähe fand er außerdem beim Kampfsport: „Mehrmals die Woche mit verschwitzten Männern auf der Matte zu rollen, das waren hocherotische und derbe Momente.“ Der Einbruch kam am 16. März. Das Datum kann Paul sich gut merken, denn an diesem Tag sollte ein großes Event stattfinden, das nur 24 Stunden vorher abgesagt wurde. „Plötzlich habe ich realisiert, dass ganz vieles auf einmal wegbrechen würde: beruflich, sozial und sexuell. Das hat mir emotional den Boden unter den Füßen weggezogen.“

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Alles abgesagt, alles geschlossen Wie Paul erging es in den letzten Monaten

vielen Menschen: Die Corona-Epidemie war das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Auch sexuell. Infektionsängste, Kontaktverbote, abgesagte Veranstaltungen, geschlossene Bars und Clubs – die neuen Verhältnisse versperrten viele der gewohnten Wege, Sexualität zu leben. Das zeigten auch Umfragen in Kontaktportalen. Und langsam wurde klar: Das wird noch länger so bleiben. Anfangs kam Paul damit klar, verbrachte die Zeit zu Hause „experimentierfreudig mit mir selbst“. Nach einigen Wochen überwog dann das Gefühl des Verlusts: „Vor ein paar Tagen habe ich einen Artikel über den Mangel an Berührungen in unseren Tagen gelesen und da schossen mir die Tränen in die Augen. Mir wurde deutlich, wie sehr sich mein Leben reduziert hat.“ Wohin mit dem Begehren? „Trauer, aber auch Wut oder Verzweiflung sind naheliegende und hilfreiche Gefühle, wenn uns etwas genommen wird und das darf auch mal okay sein“, erklärt der Sexualpädagoge Marco Kammholz. „Wir müssen


Die Frage ist nur: Wohin mit dem Begehren, wenn alles geschlossen hat? Woher die Lustbefriedigung nehmen, wenn ich niemanden treffen kann? Und wie die emotionalen Bedürfnisse stillen, die hinter den sexuellen Wünschen stehen? Diese Frage stellte sich auch Mino. Die 24-jährige, die sich als Non-Binary Femme bezeichnet, hatte ihren Freund „gerade an den Punkt gebracht, wo es okay war, unsere Beziehung zu öffnen, mit dem langfristigen Ziel polyamourös zu leben“. Dann brachte die Pandemie die Angst, und aus der Angst wurde schnell Frust, „weil alles Aufregende, das ich mir vorgestellt hatte, mit einem Mal weg war.“ Stattdessen musste Mino in ihrer Vierer-WG erst einmal die Grundregeln des Zusammenlebens neu besprechen. „Wahrscheinlich war das super illegal, aber wir einigten uns in der WG darauf, dass wir jeweils zwei Kontakte sehen dürfen, so lange sie nicht bei uns übernachten.“ Seitdem trifft sich Mino mit ihrem Freund und ihrer besten Freundin, mit der sie früher nach dem Ausgehen auch ab und an mal Sex hatte. Doch das ist in Ermangelung des Nachtlebens komplett eingeschlafen. Viel Zeit verbringt Mino jetzt mit „prokrastinieren und masturbieren, was mit meinen Ängsten vor der Zukunft zu tun haben könnte.“ Sie glaubt, erst wieder daten und eine offene Beziehung führen zu können, wenn ein Impfstoff kommt. Frischzellenkur für Beziehungen Zugleich ist auch der Sex mit ihrem Freund weniger geworden, die Beziehung dafür „süßer und ganzheitlicher“. Und experimentierfreudiger: „Wir probieren jetzt andere Dinge aus. Seit einiger Zeit sind wir im Anal-Game drin und das ist auch so ein Zeichen: ,Hey, ich will dich noch und wir kommen gemeinsam durch diese Sache!‘“ Eine „Privatisierung der Körperkontakte“ nennt Kammholz das und erklärt: „Während man sich von den vielen anderen Körpern distanziert, rückt man mit den wenigen anderen,

die einem noch bleiben, näher zusammen, sowohl in der Berührung, als auch sexuell. Wir sind auf unsere Partner zurückgeworfen, wie in vorliberalen Zeiten.“

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nicht immer sofort versuchen, in der Krise auch die Chance zu sehen.“

Wenn es eine Beziehung gibt. Wenn nicht, dann gilt auch hier: Not macht erfinderisch. Auf der Suche nach dem Corona-Liebhaber Karin kam nach einiger Zeit auf die Idee, sich einen Corona-Liebhaber anzulachen, „einen der auch nur mich trifft.“ Die bisexuelle Single-Frau war vor der Pandemie „auf mehreren Dating-Portalen zur Beziehungssuche und einer Sexplattform“ unterwegs und erlebte dort „vom One-Night-Stand bis zur längeren Affäre so ziemlich alles.“ Mit Corona kam auch bei ihr die Angst. „Ich gebe zu, ich habe erst mal Nudeln und Klopapier gekauft und bin für sechs Wochen in die komplette Isolation. Da habe ich wenig an Sex gedacht, sondern mehr an meine Mutter.“ Gechattet und masturbiert hat sie dann doch. Aber das wurde schnell unerträglich. Katrin formuliert es so: „Mein Dildo ist himmelblau und hat jetzt einen Namen, er heißt Holger und hasst seinen Job. Ich bin auch schon länger nicht mehr mit ihm zufrieden. Irgendwann war ich so einsam, dass ich keinen Sex mehr wollte, sondern nur noch jemanden, der sich auf mich drauflegt und mich umarmt.“ Der Corona-Liebhaber blieb bisher leider Theorie. Ein Kandidat erschien Katrin zu unvorsichtig, also hielt sie ihn hin. Durch das lange Chatten wurden die beiden versehentlich Freunde. Aber ist das so schlimm? „Werden Nähe und Sex nicht eh oft verwechselt? Die Geilheit ist doch auch nur eine Form der Suche nach Nähe“, sagt Katrin. Und so kann auch sie den Beschränkungen am Ende etwas Positives abgewinnen: „Vielleicht wird Sexualität auch wieder ein bisschen interessanter, weil es mehr um die Person und nicht nur den Akt geht.“ Zwischen Angst und Verlangen Sexualität vorübergehend zu reduzieren oder sogar überhaupt keinen Sex zu haben oder

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zu wollen, muss kein Problem sein, bestätigt Experte Marco Kammholz. „Wir sind sexuelle Wesen, aber keine wandelnden Dampfkessel. Dennoch kann Sexualität auch nicht stillgelegt werden und das Bedürfnis danach zu unterdrücken ist schädlich.“ Und so suchen nach einigen Monaten Corona-Krise immer mehr Menschen ihre ganz individuellen Wege, ihre Sexualität wieder vermehrt auszuleben. Sie sind dabei mit einerseits damit konfrontiert, dass ihr Sexleben plötzlich eine Ordnungswidrigkeit darstellen könnte. Vor allem aber gilt es zu vermitteln zwischen dem Bedürfnis, sich und andere vor dem Virus zu schützen und dem Bedürfnis nach Sex.

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Bild: Shutterstock (Some pictures here)

Der 51-jährige Markus, schwul und seit vielen Jahren HIV-positiv, sieht in diesem Spannungsverhältnis eine Parallele zur HIV-Epidemie in den 80ern und 90ern: „Einerseits willst du nicht Kamikaze begehen, andererseits soll das Leben trotzdem lebenswert bleiben.“ Erste Schritte auf neuen Wegen Nach einem Spanien-Urlaub kehrte Markus mit seinem Partner direkt in den deutschen Lockdown zurück. Die Sexclubs in Berlin-Schöneberg, die die beiden sonst gerne gemeinsam besuchten, waren geschlossen. „Eher drei als zwei Wochen“ hielten sie durch. Auch hier be-


Anfang Mai „fing es dann zu jucken an“. Immer mehr Fuckbuddys berichteten vom ersten Sexkontakt nach dem Einbruch der Krise. Markus und sein Partner begannen zu diskutieren: „Welche Fuckbuddys kommen für einen vorsichtigen Wiedereinstieg wohl in Frage? Was wissen wir über sie, wie leben sie, wie vertrauenswürdig sind sie?“ Am Ende schälten Markus und sein Partner vier weitere Personen im engeren Umfeld heraus. Auf die beschränken sich die beiden derzeit. Sex läuft zu zweit, zu dritt oder als Gruppe. Zwei Viren sind zuviel An diesem Punkt der Entscheidung steht der 27-jährige Frank noch lange nicht. Gerade erst Ende Februar hat ihn seine HIV-Diagnose kalt erwischt. „Seit meinem letzten Test

vor zwei Jahren hatte ich ganze acht Sexualkontakte und keinen davon hatte ich als risikoreich betrachtet.“ Frank fühlte sich schon vor Corona in der schwulen Dating-Welt unwohl, hatte Probleme mit seinem Körper, fand sich nicht liebenswert. Nun spürte er eine „innere Rebellion gegen mich selbst: Wenn du dir zwei Jahre nichts gönnst und kriegst trotzdem HIV!“ Etwas in ihm drängte auf Befreiung. „An einem Abend, in einer Sexbar mit Freunden, wäre ich am liebsten runter in den Darkrooom gegangen und hätte tausend Schwänze geblasen“, erinnert Frank sich, „aber an dem Abend war leider nichts los.“

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lebte die Verknappung sexueller Möglichkeiten die Beziehung: „Das war eine Bewährungsprobe im positiven Sinn. Wir hatten zum Beispiel viel öfter spontanen Sex als sonst.“

Und dann, nur zwei Wochen nach dem HIV-Ergebnis, der Lock-down. „Ohne HIV-Diagnose hätte ich mir vielleicht im Home-Office ständig einen runtergeholt“, sagt Frank, „aber so? Ich fand mein eigenes Sperma seltsam. Von daher war Corona eine gute Ausrede, denn ich hatte sowieso kein Verlangen nach Sex.“ Zwei epidemiologische Themen auf einmal seien zu viel für ihn, sagt Frank. Nach einer Phase, in der er „sinnlos YouTube-Videos“ schaute, hat er sich jetzt einen Therapeuten gesucht. „Ich möchte den Mut finden zu cruisen, will in der Lage sein, mich emotional auf andere einzulassen. Ich will die Freiheit genießen, sexuell all das zu machen, worauf ich gerade Lust habe. Das ist mein Traum!“ Nur ist es mit den Träumen so eine Sache in Corona-Zeiten. Denn der natürliche Feind der Träume ist die Angst. Carlos versetzte die Möglichkeit, sich mit SARS-Cov-2 zu infizieren, anfangs in regelrecht in Panik. Den Beginn der Epidemie erlebt er bei der Familie seines Mannes in Süddeutschland. Da er aufgrund einer Vorerkrankung nur noch einen Lungenflügel besitzt, sieht er sich als hoch gefährdet an. Da er mit seinem festen Partner keinen Sex mehr hat, verspürte er aber zugleich schnell ein starkes Bedürfnis, zu dem promisken Lebensstil zurückzukehren, den er vor der Epidemie gepflegt hatte. Zum Teil hatte er da mehr-

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fach täglich Sex mit verschiedenen Männern, meist ließ er sich einen blasen. Not macht erfinderisch Auch Carlos dachte zunächst an einen Corona-Buddy, doch welcher Mann steht mehrfach täglich zur Verfügung? Und würde Carlos mit der Angst zurechtkommen, die ihn wahrscheinlich auch mit ein- und demselben Partner nicht verlassen würde? Schließlich fragte Carlos seinen Arzt, ob er mit einem selbst gebauten Gloryhole das Ansteckungsrisiko minimieren könne und der Arzt gab ihm unter bestimmten Voraussetzungen grünes Licht. Nun duscht Carlos vor jedem Kontakt, lässt sich durch ein Loch in einem festen Vorhang in der Tür zu seinem Wohnzimmer hindurch oral befriedigen und duscht sofort danach erneut, damit der Speichel des Partners nicht in Mund, Nase oder Augen wandern kann. Auch bei der Wahl der Partner setzt Carlos sich enge Grenzen, meist sind es Leute, die er schon länger kennt.

Sexualpädagoge Marco Kammholz findet, dass Carlos das auf seine ganz eigene Art schon tut: „Da kümmert sich jemand um sein Sexleben und beherzigt gleichzeitig Schutzmaßnahmen. Und das ist doch eigentlich sehr rührend!“ Vielleicht, schlussfolgert Kammholz, kann die Corona-Krise ja doch dazu beitragen, „offenherziger mit unseren sexuellen Bedürfnissen umzugehen und eine fortschrittlichere Sexualkultur zu etablieren.“ Es würde die Verluste vielleicht nicht aufwiegen. Aber wie könnten wir die Zeit bis zum Ende der Krise besser nutzen? Text: Dirk Ludigs q Dirk Ludigs arbeitet als freier Journalist u.a. für verschiedene TV-Formate, die deutsche LGBT-Presse und das Reisemagazin „Merian“. Zuvor war er Nachrichtenleiter des schwulen Senders TIMM und Chefredakteur verschiedener bundesweiter Magazine („Front“, „Du & Ich“).

Ein offenherziger Umgang mit Bedürfnissen Die Angst hat ihn dennoch nicht verlassen. Im Grunde, sagt Carlos, „ist nicht Corona mein Thema, sondern meine Angst. Ich muss daran arbeiten, besser mit ihr umzugehen.“

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Corona und Queersein: Was macht Social Distancing mit der queeren Community?

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Auch wenn sich die Auflagen zur Bekämpfung des Coronavirus zu lockern beginnen, bestimmt das sogenannte Social Distancing weiterhin unser Leben. Wichtige Orte der Begegnung für LGBTI* bleiben geschlossen, anderthalb Meter Abstand zu anderen Menschen lautet bis auf wenige Ausnahmen die Devise auf nicht absehbare Zeit. Doch was bedeutet diese mitunter extrem belastende Situation speziell für queere Menschen? SIEGESSÄULE-Autor Jeff Mannes mit einer Bestandsaufnahme.

„Eine soziale Gesellschaft ohne Körperkommunikation kann es gar nicht geben, weil in der kleinsten Zelle der Gesellschaft, in der Familie, immer Körperkommunikation stattfindet.” So zitierte im Mai Zeit Online den Psychologen und Haptikforscher Martin Grunwald. Ohne Berührung könnten Menschen nicht leben. Doch was macht Social Distancing mit LGBTI*, die oft ganz andere Formen als die Heteronorm von Familie leben und in Zeiten der Krise nicht mehr so leicht auf ihr stabilisierendes Umfeld zugreifen können?


Diskriminierende Distanz Vor dem Virus sind alle gleich. Doch das Social Distancing betrifft Menschen unterschiedlich. Manche gesellschaftlichen Gruppen werden davon härter getroffen als andere – und werden die Folgen dadurch wohl auch länger spüren. So auch queere Menschen, denn cis Heterosexuelle leben im Vergleich zu Queers häufiger in Familien unter einem Dach, also genau in jenen Konstellationen, in denen die Regeln des Abstandhaltens weniger streng befolgt werden müssen. Queeren Menschen sind hingegen jene Strukturen weggefallen, die ihnen als Quelle für diese lebenswichtigen Bedürfnisse gedient haben: Clubs, Bars, Freundschaften, kulturelle Institutionen, Fuck Buddys oder Wahlfamilien, die nicht unter einem Dach wohnen. Somit sind sie den negativen Auswirkungen des Social Distancing stärker ausgeliefert als die Allgemeinbevölkerung. Dabei leiden LGBTI* eh schon überdurchschnittlich häufig an Einsamkeit, Depressionen, sozialer Isolation und anderen psychischen Problemen, die nun durch die Krisensituation noch verstärkt werden können. In einem Interview mit der taz Ende April wird der Sozialwissenschaftler Dirk Sander wie folgt zitiert: „Viele der Einschränkungen gehen von einem heteronormativen Gesellschaftsbild aus. Queere Menschen leben andere Formen von Gemeinschaft. Die Beziehungen bestehen in dieser Gruppe nicht vorrangig aus Ehe oder der klassischen Fa-

milie.” Ähnlich sieht das auch Cordula (Name von der Redaktion geändert), lesbisch, Single, allein lebend: Bei den Maßnahmen gegen Corona „wird von einem Bild ausgegangen, bei dem Leute in einer Familie leben, in der sie dann auch emotionalen Rückhalt erfahren oder zumindest nicht alleine sind”, meint sie. „Auch körperliche Nähe haben sie dort öfter. Die Maßnahmen sind an einem heteronormativen Lebensmodell orientiert.” Die Einschränkungen haben Cordula, nach eigener Aussage, schwer getroffen.

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Zeit Online problematisierte den durch das Social Distancing fehlenden Körperkontakt zwischen Menschen. Es habe einen Grund, warum es kein einziges Säugetier ohne Tastsinn gebe. Auf alle anderen Sinne könne man notfalls verzichten, aber nicht auf das Empfinden von Berührung. Ohne sie würden Menschen krank: Rücken- und Gelenkschmerzen, Panik-, Angst-, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, aber auch psychosomatische Erkrankungen könnten die Folge eines Mangels an menschlicher Berührung sein. „Es brauchte offenbar eine Pandemie, die uns das – Achtung! – begreifen lässt”, wird der Wissenschaftler zitiert.

Singles auf Distanz Ob queer oder nicht: Singles sind von den Einschränkungen rund um Social Distancing stärker betroffen. „In einer Partnerschaft lässt sich solch ein Lockdown viel leichter ertragen, auch wenn sich manche Paare nun mehr streiten”, meint Cordula. „Aber in solch einer Krisensituation ist es einfach besser, wenn man zu Hause jemanden hat, mit dem man sprechen kann, an den man sich anlehnen oder mit dem man Sex haben kann.” Selbst Streit wäre für sie besser als mit sich selbst sprechen zu müssen. Freundschaften seien plötzlich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht mehr so wichtig. „Es gibt eine Hierarchie: Erst kommen die Leute, mit denen man zusammenlebt, Paare und Familie. Und dann erst kommen Freundschaften, die plötzlich als Luxus gelten, auf den man verzichten kann. Darunter leide ich sehr.” „Singles sind jetzt einsamer und müssen zum Teil wochenlang alleine in ihrer Wohnung klarkommen”, meint der Diplom-Psychologe und Suchttherapeut Arnd Bächler von der Schwulenberatung Berlin. „Als Paar, das gut funktioniert, kann man sich jetzt unterstützen und trösten. Das ist im Vergleich zu Singles ein Riesenvorteil.” Dieser Vorteil ergibt sich allerdings nur, wenn Beziehungen eben „gut funktionieren”, denn natürlich gibt es auch Partnerschaften mit häuslicher Gewalt, sei es körperlich oder auch psychisch-emotional. Diese Menschen sind jetzt einem größeren Risiko ausgesetzt. Aus Deutschland gibt es nur wenige Zahlen, aber Studien aus den USA und Großbritannien haben gezeigt, dass rund ein Drittel der LGBTI* schon eine

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Form von häuslicher Gewalt erlebt hat, wobei die Dunkelziffer hoch liegen könnte, denn insbesondere männlich sozialisierte Personen holen sich bei Gewalterfahrungen seltener Hilfe. Wer aber zu Hause körperlich angegriffen, psychisch manipuliert, sexuell belästigt oder emotional missbraucht wird, ist jetzt einer noch größeren Gefahr ausgesetzt. Sexuelle Distanz Wie bereits erwähnt, werden Menschen ohne Berührung auf Dauer krank. Während die meisten diese Feststellung wohl noch relativ leicht akzeptieren können, sieht das bei Sexualität schon anders aus. Hier werden Diskussionen, insbesondere auch in Zeiten von Corona, schnell moralisch aufgeladen, obwohl einvernehmliche Sexualität auch eine Form gesunder menschlicher Berührung ist. Gerade unter schwulen, bisexuellen und anderen Männern*, die Sex mit Männern* haben, ist Sexualität Teil des soziokulturellen Gefüges. „Während Lesben sich eher in Passivität, in eine Art innere sexuelle Immigration zurückziehen und sich sexuell abschalten, ge-

hen Schwule jetzt eher in die Offensive“, findet Cordula. „Lesben sorgen sich schlechter um ihre Sexualität. Das liegt auch am Patriarchat, das Mädchen bereits eintrichtert, dass ihre Bedürfnisse weniger zählen. Jungs hingegen werden darin bestärkt, ihre Bedürfnisse zu verfolgen.“ „Auch wenn es jetzt in medizinischer Hinsicht sinnvoll ist, seine direkten sozialen Kontakte zu reduzieren oder zu minimieren, ist es generell gesund, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen“, betont der Sexualpädagoge Marco Kammholz. Deswegen fände er es wichtig, auch darüber zu reden, wie wir jetzt unsere sexuellen Bedürfnisse erfüllen können, anstatt nur über Kontaktbeschränkungen zu sprechen. „Was mir zudem auffällt, ist, dass wir aktuell in ein vorliberales Zeitalter zurückfallen. Plötzlich gilt die Sexualität in der Partnerschaft als diejenige, die als einzige fürsorglich und moralisch richtig ist, besonders wenn die Partner*innen zusammenwohnen. Das erinnert doch an Zeiten, in denen nur Sex in der Ehe als moralisch vertretbar angesehen wurde.“

36 Bild: Shutterstock (Tero Vesalainen)


Es wäre sinnvoll, jetzt über Strategien der Risikoreduzierung nachzudenken – zum Beispiel mit wie vielen Menschen man generell noch Sex hat, ob man die Zahl reduzieren kann und will, wie viel Kontakt zu anderen Menschen die Sexpartner*innen haben u.s.w. Gleichzeitig sorgt sich Kammholz aber auch um die Fortschritte, die wir in den letzten Jahrzehnten gemacht haben. „Ich habe aktuell viel weniger Sex“, berichtet der Single und schwule Tiermediziner Tom (Name von der Redaktion geändert), der auch berufliche Erfahrung mit Coronaviren hat. Ganz verzichten kann und möchte er auf Sex aber nicht. „Ich habe meine beiden Fuck Buddys in der Nachbarschaft, mit denen ich mich weiter treffe. Das ist mir auch wichtig als Ausgleich, denn ich muss aktuell noch mehr arbeiten als sonst.“ Tom hat eine Vorerkrankung und zählt damit zur Corona-Risikogruppe. Er hat also auch ein persönliches Interesse am Schutz vor Covid-19. „Obwohl ich Tierarzt bin, obwohl ich die Gefahren von Corona sehr gut kenne und obwohl ich zur Risikogruppe gehöre, spielt meine psychische Gesundheit auch eine Rolle.“ Sexualität weiter ausleben zu können, wenn auch eingeschränkt, hilft ihm, die Balance zu halten. „Menschen sind und bleiben auch in der Krise sexuelle Wesen“, betont Sander in der taz. Der Schwulenreferent bei der Deutschen Aids-Hilfe erklärt, dass für manche eben der Sexpartner, der um die Ecke wohnt, das Äquivalent zu Familie sei. Es könne deswegen nicht die Lösung sein, zu sagen, Singles hätten jetzt keinen Anspruch mehr auf Sex. Das hat übrigens auch die niederländische Regierung erkannt, deren Nationales Institut für

Öffentliche Gesundheit und Umwelt im Mai den Singles des Landes die Empfehlung aussprach, sich für die Zeit der Pandemie einen „Kuschel- oder Sexbuddy“ zu organisieren, da auch Singles das Bedürfnis nach körperlicher Nähe haben und durch Kommunikation über Schutzmöglichkeiten schließlich Risikomanagement betrieben werden könne.

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„Schwule Sexualität ist ein Feld, in dem Menschen wesentlich leichter ein schlechtes Gewissen haben, als wenn sie zum Beispiel ohne Mundschutz in einer vollen U-Bahn fahren“, erklärt der Politikwissenschaftler und Philosoph Karsten Schubert im Interview mit SIEGESSÄULE. Dies liege daran, dass „schwuler Sex wesentlich mehr mit Scham besetzt ist – von der Heteronormativität abweichende Sexualität ist immer noch negativ stigmatisiert.“

Die Nähe zu Aids Trotz aller deutlicher Unterschiede wurde die Situation im Zuge der Corona-Pandemie bereits oft mit den Zeiten der Aids-Krise verglichen. „Ich sehe durchaus Parallelen“, meint Psychotherapeut Bächler, der 56 Jahre alt ist und die 80er entsprechend bewusst miterlebt hat. „Es ist ein neues Virus, wegen dem viele Menschen sterben und über das man noch wenig weiß. Zudem war es damals wie heute Dauerthema, über das auch manche Medien Dauerängste geschürt haben.“ Ein bedeutender Unterschied sei aber, dass heute alle vom Coronavirus betroffen seien. „Diese gemeinsame Betroffenheit lässt mich hoffen, dass man viel schneller einen Impfstoff oder ein Medikament findet als damals bei Aids, wo ganz lange relativ wenig passiert ist. Damals wurden die Schwulen auch zum Sündenbock erklärt, während man heute ganz viel Solidarität erlebt.“ Diesen kollektivierenden Aspekt von Corona sieht auch Kammholz: „Im Vergleich dazu trifft HIV gesellschaftliche Randgruppen viel stärker.“ Trotz allem sieht er auch Parallelen, nämlich insbesondere in der Problematisierung des körperlichen Kontakts. „Der Körper wird sehr stark auf seine Eigenschaft als Virusträger reduziert. Dadurch erhält körperliche und damit auch sexuelle Nähe den Charakter des Fragwürdigen oder Unerlaubten.“ „Schwule haben durch Aids gelernt, Sexualität und Krankheit im Verhältnis zu sehen“, betont Cordula. Dem ewigen Bild des sexuell verantwortungslosen Schwulen zum Trotz findet sie, dass Schwule wissen, wie man mit Safer Sex verantwortungsvoll umgeht; etwas, das der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker auch schon öfters betonte, wenn er auf Zahlen zum Kondomgebrauch unter Schwulen im Vergleich zu Heterosexuellen verwies.

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„Wenn verantwortungsbewusste, erwachsene Menschen gemeinsam Sex haben, ist es besser, als wenn sie einsam zu Hause sitzen“, bekräftigt Cordula. Auch der Sexualpädagoge Kammholz bestätigt: „Schwule und andere Queers haben die Aids-Ära und ihre Nachwirkungen erlebt. Es gibt also ein spezifisch schwules bzw. queeres Wissen, das jetzt in dieser Pandemie als Ressource dienen kann.“ Dazu gehöre auch, sich einander zuzuwenden und umeinander zu kümmern. Solidarität während der Distanz Gerade Letzteres ist jetzt besonders wichtig. Denn auch wenn der Psychologe Bächler die Erfahrung gemacht hat, dass viele momentan noch erstaunlich gut mit der Krise zurechtkommen, gibt es auch einige, bei denen psychische Probleme während dieser Pandemie zunehmen. Solidarität sowie emotionale und Care-Arbeit gewinnen deswegen zunehmend an Bedeutung. Solidarität unter LGBTI* ist jetzt umso wichtiger, weil die typischen Räume der Community weggefallen sind. Die Clubs waren die Ersten, die schließen mussten, und werden die Letzten sein, die wieder öffnen dürfen – wenn sie denn diese Zeit überleben. Was wird also von der Community übrig bleiben, wenn die Krise vorbei ist? „Es gehört zu einem guten Leben dazu, dass man auch körperlich zusammenkommen kann“, mahnt Kammholz. „Egal ob für sexuelle, kulturelle oder politische Begegnungen. Diese sind ganz entscheidend für queere Subkulturen und deswegen ist die aktuelle

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Situation, besonders für stark marginalisierte oder entrechtete LGBTIQs eine Katastrophe. Online-Angebote können zwar auch schöne Momente, aber eben keinen Ersatz bieten.“ Es wäre wichtig, dass die Community diese Pandemie überlebt, denn es ist gerade dieses Netzwerk, bestehend auch aus Wahlfamilien und selbst geschaffenen Schutzräumen außerhalb der Heteronorm, das so vielen Menschen einen emotional und mental sicheren Hafen bietet und nun fast gänzlich fehlt. LGBTI*, die generell privilegierter sind, die zum Beispiel finanzielle Sicherheit haben, in einer gesunden Partnerschaft leben, nicht von Wohnungsnot betroffen sind und sich deswegen auch psychisch leichter stabil fühlen können, haben die Möglichkeit, jetzt anderen Queers zu helfen. Bächlers Hoffnung ist deswegen eindeutig: „Es wäre mir ein großes Anliegen, dass alle, die jetzt noch über genügend Einkommen verfügen, solidarisch sind und spenden, damit die Community weiterexistieren kann.“ Text: Jeff Mannes Bild: Shutterstock (Olga W Boeva) q Jeff Mannes ist selbstständiger Reiseführer („Berlin‘s History of Sex“), Autor, Soziologe und Mitarbeiter bei der IWWIT-Kampagne der Deutschen Aidshilfe. q Es handelt sich um einen Zweitabdruck. Zuerst erschien der Artikel in der Juniausgabe des Magazins „SIEGESSÄULE“.


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Corona und Blutspende: Blutspende für schwule und bisexuelle Männer ermöglichen

Im Zusammenhang mit der aktuellen Coronapandemie klagen Blutspendevereinigungen und Kliniken in den letzten Wochen über einen Rückgang an Blutspenden. Die ausreichende Versorgung von Patient_innen mit Blutprodukten sei daher gefährdet. Aus diesem Grund werden erneut Stimmen lauter, die den pauschalen und damit diskriminierenden Ausschluss von schwulen und bisexuellen Männern von der Blutspende beklagen. Zahlreiche Petitionen wollen das Bundesgesundheitsministerium dazu bewegen, die Blutspenderichtlinien in dieser Hinsicht zu überarbeiten.

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Zwar sind schwule und bisexuelle Männer mittlerweile zur Blutspende zugelassen, jedoch nur unter der Voraussetzung sexueller Abstinenz. Laut der aktuell gültigen Richtlinie der Bundesärztekammer dürfen sie Blut spenden, wenn sie zuvor ein Jahr lang keinen Sex mehr mit anderen Männern hatten. Begründet wird die einjährige Rückstell-

frist mit dem statistisch höheren HIV-Risiko schwuler und bisexueller Männer. Auch wenn ihre Begründung durchaus nicht von der Hand zu weisen ist, ist diese Regelung nicht nur weltfremd und fachlich in dieser Form nicht gerechtfertigt, sondern schließt die allermeisten schwulen und bisexuellen Männer de facto von der Möglichkeit der Blutspende aus. Menschen mit einem erhöhten statistischen HIV-Infektionsrisiko bei der Blutspende zurückzustellen, ist medizinisch durchaus sinnvoll, ja sogar notwendig, um die gesundheitliche Sicherheit von Blutprodukten garantieren zu können. Die Anzahl HIV-positiver Menschen innerhalb einer Gruppe und die Struktur der sozialen Netzwerke spielt nämlich eine entscheidende Rolle bei der Feststellung der statistischen HIV-Risiken. Dass die Bundesärztekammer hierbei schwulen und bisexuellen Männern einen Sonderstatus einräumt, ist keineswegs Willkür oder bloße Folge von homophober Diskriminierung. Denn sie sind hierzulande mit Abstand die größte Betroffenengruppe von HIV. Zwei Drittel aller HIV-Infektionen in Deutschland entfallen auf schwule oder bisexuelle Männer. Insofern haben sie gerade in ihren sehr viel kleineren und engeren sexuellen Netzwerken eine weitaus höhere Wahrscheinlichkeit, mit dem HI-Virus in Berührung zu kommen. Doch die HIV-Prävalenz ist zwar ein gewichtiger, aber eben nur ein Faktor, wenn es um die Einschätzung des Infektionsrisikos geht. Im konkreten Einzelfall kommt es nämlich weniger darauf an, mit wem der Sex stattfindet. Vielmehr ist das individuelle Risikoverhalten entscheidend. Nichtsdestotrotz werden schwule und bisexuelle Männer im alten


Leider stellt das individuelle Abklären realer Risiken in der Praxis kaum eine praktikable Lösung des Dilemmas zwischen statistischem HIV-Risiko und individuellem Risikoverhalten dar. Nicht alle Menschen sind bereit, detailliert über ihr Sexualleben Auskunft zu geben, selbst dann nicht, wenn diese mit Hilfe eines Fragebogens stattfindet. Die Erfahrungen aus der HIV-Beratung zeigen zudem, dass auch konkrete Fragen nach Risikosituationen und Safer Sex alles andere als verlässlich sind, da Menschen oft nicht in der Lage sind, ihre HIV-Risiken angemessen einzuschätzen. Auch der Verweis auf eine monogame Beziehung ist noch kein Garant für ein risikofreies Sexualleben, da es zunächst einmal eine Definitionsfrage ist, was Monogamie für die_den Einzelne_n denn nun genau bedeutet, und eine monogame Beziehung unter Umständen gar nicht so monogam sein muss, wie von den Partner_innen angenommen oder behauptet.

Vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen teilen wir also die häufig zu vernehmende Forderung nach der gänzlichen Abschaffung pauschaler Rückstellfristen für schwule und bisexuelle Männer nicht. Wir teilen demgegenüber die Einschätzung der Deutschen Aidshilfe und sprechen uns entsprechend für eine Verkürzung der Rückstellfristen auf das medizinisch begründbare diagnostische Fenster von sechs Wochen aus. Text: MaTh Bild: Adobe Stock (artfocus)

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Insofern scheinen Rückstellfristen aus einer fachlichen Perspektive wohl oder übel unumgänglich zu sein, um die Sicherheit von Blutprodukten gewährleisten zu können. Eine Wartezeit von sage und schreibe einem ganzen Jahr für schwule und bisexuelle Männer begründet sich jedoch keineswegs in wissenschaftlichen Überlegungen, sondern wohl tatsächlich eher in homophoben Ängsten davor, dass schwule und bisexuelle Männer mit ihrem vermeintlich asozialen und verantwortungslosen Sexualverhalten eine Gefahr für die Gesellschaft und für ihre Mitmenschen darstellen. Statt also einen völlig realitätsfremden einjährigen sexuellen Verzicht von diesen

zu fordern, sollten die Verantwortlichen im Gesundheitsministerium und der Bundesärztekammer endlich die medizinischen Erkenntnisse und Fortschritte, die im Bereich HIV in den letzten Jahrzehnten gemacht wurden, zur Kenntnis nehmen. Das hieße vor allem, die Rückstellfristen an das sogenannte diagnostische Fenster anzupassen, das zwischen der Infektion mit HIV und ihrer Diagnose besteht. Aktuelle Testverfahren ermöglichen es, eine HIV-Infektion mittlerweile schon nach spätestens sechs Wochen verlässlich auszuschließen. Die Rückstellfristen müssten daher auch nicht wesentlich länger angesetzt sein.

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wie im neuen Regelkatalog unterschiedslos zu einer einheitlichen „Risikogruppe“ zusammengefasst und entsprechend gleichermaßen behandelt. Die einjährige Rückstellfrist gilt für alle schwulen und bisexuellen Männer, ganz gleich, ob sie Safer Sex betreiben oder sogar in einer monogamen Beziehung leben. Die Forderung vieler Verbände und Politiker_innen lautet daher nun, die pauschale Rückstellfrist für schwule und bisexuelle Männer gänzlich abzuschaffen und die Feststellung des Risikos am individuellen Risikound Schutzverhalten zu orientieren.

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Interview: HIV und Schuldgefühle Die Autorin Franziska Hartung spricht mit

sich mit HIV infiziert zu haben, enorme Schuld-

uns über ihr Buch „HIV und Schuldgefühle –

gefühle und Ängste vor sozialer Ächtung ha-

Zur Psychodynamik in der HIV-Testberatung“,

ben. Trotz der modernen HIV-Therapie, der

das im September im Psychosozial-Verlag er-

neuen Präventionsmöglichkeiten (Schutz durch

schienen ist.

Therapie und PrEP) und der jahrzehntelangen Aufklärungs- und Anti-Diskriminierungsarbeit

AHH: Du erforschst in deinem Buch HIV und

der Community, ist HIV offenbar noch immer

Schuldgefühle. Warum ist das ein wichtiges

mit alten – aber auch neuen – stigmatisieren-

Thema und wie bist du dazu gekommen?

den Bildern verknüpft. Und das spüren Men-

Zu Beginn der „Aids-Epidemie“ in den 1980er

schen, wenn sie sich (potentiell) infiziert haben.

Jahren kam eine HIV-Infektion nicht nur einem

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Todesurteil gleich, sondern sie wurde auch mit

AHH: Wo sind dir in der HIV- Testberatung

einem Stigma von „Schuld“ und „Strafe“ für ab-

Schuldgefühle begegnet?

weichendes Sexualverhalten belegt. Nun könn-

Neben

te man meinen, das sei heute kein Thema mehr.

spielte in der Beratung auch oft der (Selbst-)

Aber während meiner Tätigkeit in der HIV-Test-

Vorwurf der Verantwortungslosigkeit eine

beratung im Gesundheitsamt Leipzig habe ich

Rolle, wenn z.B. gegen die Regeln des Sa-

häufig erlebt, dass Menschen, die befürchten

fer-Sex verstoßen wurde oder eventuell an-

befürchteten

Schuldzuweisungen


und im schlimmsten Fall die gesamte Sexualität

habe ich beobachtet, dass Risiken völlig an-

beeinträchtigen. Beispielsweise, wenn Sex im-

ders bewertet werden, wenn eine vermeint-

mer mit der Angst vor HIV verbunden ist und

liche Ansteckungssituation schuldhaft erlebt

dann schuldhaft (weil potentiell infektiös) erlebt

wird, z.B. beim „Fremdgehen“ oder beim Sex

wird. Oder wenn der Sex, den man gerne hätte,

im Bordell. Manchmal hatte ich als Berate-

schuldhaft (weil potentiell unmoralisch) erlebt

rin auch das Gefühl, ich nehme die Beichte

wird und die Angst vor HIV dann eine Stellver-

ab. Diese Zusammenhänge in Bezug auf HIV

treterfunktion erfüllt. Ebenso können Schuld-

und Schuld haben mich interessiert. Und da

gefühle auch mit einer verzerrten Risikowahr-

es bisher kaum wissenschaftliche Forschung

nehmung und übersteigerten HIV-spezifischen

darüber gibt, wollte ich etwas dazu beitragen.

Ängsten in Zusammenhang stehen sowie das

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dere Personen „gefährdet“ wurden. Zudem

Testverhalten und -erleben beeinflussen. So AHH: Wie bist du in deiner Arbeit vorgegan-

sind der HIV-Test und die Beratung mit einer

gen, was waren deine Forschungsfragen?

Reihe (symbolischer) Bedeutungen aufgeladen,

HIV, als sexuell übertragbare Infektion, stellt

wie die der „Absolution“ oder „Beichte“.

eine Art Folie dar, auf die persönliche und gesellschaftliche (Moral-) Vorstellungen und

AHH: Was siehst du als Folgen des alten

Ängste in Bezug auf Sexualität projiziert wer-

Aids-Diskurses und was ist heute anders?

den. Schuldgefühle können uns auf der sub-

Die Schuldgefühle rühren zum einen aus dem

jektiven Ebene über diese Normen und Mo-

hartnäckigen Fortbestehen der mit dem „al-

ralvorstellungen Auskunft erteilen, denn sie

ten“ AIDS-Diskurs verbundenen Stigmatisie-

entstehen dann, wenn gegen diese Regeln

rung und Schuldzuschreibung in Bezug auf „Ri-

verstoßen wird. In einer qualitativen For-

sikogruppen“. Andererseits hat sich die Schuld

schung mit Klient*innen der HIV-Testbera-

heute scheinbar subjektiviert. Es ist z.B. mehr

tung habe ich daher untersucht, auf welche

die Rede von „Selbst- und Fremdverant-

persönlichen, normativen und moralischen

wortung“ und „Risikomanagement“ als von

Orientierungen sich die Schuldgefühle bezie-

„Schuld“ und „Strafe“. Wir wollen heute eine

hen und welche Rolle dabei die HIV-Infektion,

verantwortliche, sichere und gesunde Sexuali-

die Bewertung des Ansteckungsrisikos, der

tät leben, aber auch eine lustvolle. Die Präven-

Umgang mit Risiken („Risikomanagement“)

tionsbotschaften haben also gewirkt und sich

und das HIV-Testprozedere spielen.

verinnerlicht. Das ist auch gut so, aber es werden auch neue Normen gesetzt. Und dieser

AHH: Was sind nun die zentralen Ergebnisse

Spagat zwischen Lust und Infektionsvermei-

deiner qualitativen Studie und was hat es mit

dung ist manchmal gar nicht so einfach und

den „Schuld-Typen“ auf sich?

kann zu Schuldgefühlen führen, wenn wir uns

HIV-bezogene Schuldgefühle stellen eine kom-

„nicht präventiv genug“ verhalten.

plexe Gemengelage aus verschiedenen Aspekten dar. Aus der qualitativen Analyse konnten

AHH: Also hat die HIV-Prävention auch einen

schließlich sechs Schuld-Typen gebildet wer-

Anteil an den Schuldgefühlen?

den, welche die verschiedenen Anteile des

Die HIV-Prävention muss im Sinne der Infek-

Schuldgefühls und die zugrunde liegenden

tionsvermeidung Möglichkeiten anbieten, wie

Dynamiken veranschaulichen. Diese Typen-

wir uns schützen können und uns „richtig“

bildung kann helfen, die Schuldgefühle bes-

und „präventiv“ verhalten. Daher setzt sie im-

ser einzuordnen. Zusammenfassend können

mer Verhaltens-Regeln fest. Ein Beispiel hier-

Schuldgefühle als ein innerpsychisches Inst-

für ist die (moralische) Bedeutung des Kon-

rument des „moralischen Risikomanagements“

doms. Es hat lange gedauert, Sex mit Kondom

bezeichnet werden, weil sie unser Verhalten

als „normal“ und „verantwortungsvoll“ zu eta-

regulieren und uns im Inneren anzeigen, wenn

blieren. Vielleicht haben wir uns u.a. deswegen

wir gegen präventive, moralische oder persön-

so schwer getan mit der Akzeptanz des „Sa-

liche Normen verstoßen haben. Schuldgefühle

fer-Sex 3.0“? Gerade in den anfänglichen De-

können aber auch irrational und chronisch sein

batten um das Bewerben von „Schutz durch

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Therapie“ und die Kostenübernahme der PrEP, war häufig der Vorwurf der Verantwortungslosigkeit (auch gegenüber dem Sozialstaat) zu hören, wenn es um möglichen Sex ohne Kondom ging – nicht nur in der Allgemeinbevölkerung, auch innerhalb der HIV-Community. AHH: Welche Rolle spielt dabei unser Verständnis von Gesundheit? Eine weitere Rolle spielen aktuelle Diskurse um Gesundheit und „Eigenverantwortung“, die auch die HIV-Prävention tangieren. Gesundheit wird heute mit Attributen wie „Glück“, „Freiheit“ und „Leistung“ assoziiert, wie es sich in der neoliberalen Prämisse der „Selbstoptimierung“ ausdrückt. Wenn diesen Gesundheitsforderungen nicht nachgegangen wird, kann dies zu Schuldgefühlen führen. Sei es, weil man es „nicht geschafft hat“, sich zu schützen, weil man „wegen ein paar Minuten Spaß“ seine Gesundheit „aufs Spiel gesetzt“ hat oder aufgrund der Kostenübernahme der Medikamente das Sozialsystem belastet. (Sexuelle) Gesundheit sollte zudem nicht nur als die Abwesenheit von körperlicher Krankheit gedacht werden. Auch sexuelle Zufriedenheit und psychische Gesundheit sind wichtig. Gut ist, dass die HIV-Prävention das auch mit im Blick hat.

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AHH: Würdest du sagen, dass es auch ganz allgemein einen Zusammenhang zwischen Sexualität und Schuld gibt? Inwiefern haben zum Beispiel Phänomene wie slut shaming oder andere Abwertungen bestimmten sexuellen Verhaltens mit dem Phänomen HIV und Schuld zu tun? Der Zusammenhang zwischen Sexualität und Schuld ist tief verwurzelt in unserer Kulturgeschichte. Die Verknüpfung von Sexualität und Schuld hat bereits in der Schöpfungsgeschichte, im sogenannten Sündenfall ihren Ursprung. Der Begriff Sünde ist in der christlichen Glaubenslehre stark mit der lust- und triebhaften Seite der Sexualität verknüpft. Zum einen wird die Sexualität durch die Kirche mit einer großen Bedeutsamkeit und Schuld belegt und gleichzeitig bietet sie Möglichkeiten an, wie sie uns von dieser Schuld befreien kann: Die Beichte. Beichtpraxen spielen aber nicht nur im religiösen Kontext eine Rolle. Sie finden sich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen.

Ein Beispiel sind die vielfältigen Zwangsberatungen im Bereich der Sexualität. Sei es die Pflichtberatung im Bereich des neuen Prostituiertenschutzgesetzes, das Begutachtungsverfahren im Rahmen des „Transsexuellengesetzes“ oder die Pflichtberatung bei einem „Schwangerschaftskonflikt“. Mit der Festsetzung des Schwangerschaftsabbruchs im Strafgesetzbuch ist dieser nicht nur moralisch mit Schuld belegt, sondern auch rechtlich. Zudem wird in unserer Gesellschaft bestimmtes Sexualverhalten nach wie vor abgewertet. Beispielhaft ist die Abwertung von weiblicher und homosexueller Promiskuität („Slutshaming“). Die Doppelmoral führt sich hier fort. Und schließlich lässt sich auch wieder der Kreis in Bezug auf HIV schließen, denn HIV wird nach wie vor – und das zeigt auch meine qualitative Analyse – mit weiblicher und homosexueller Promiskuität verknüpft und abgewertet. q Es handelt sich um die gekürzte Version. Den vollständigen Text findet ihr auf unserer Webseite. (www.halle.aidshilfe.de/homepage/aktuelles/212-hiv-und-schuldgefuehle)

q Franziska Hartung, M.A. Angewandte Sexualwissenschaft, Dipl.-Soz.-Päd., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena und forscht in Kooperation mit der Deutschen Aidshilfe zu HIV-bezogener Stigmatisierung und Diskriminierung im Forschungsprojekt „positive stimmen 2.0“. Sie ist Lehrbeauftragte an der Hochschule Merseburg und Referentin für sexuelle Bildung. Zuvor war sie in der HIV- und STI-Beratung im Gesundheitsamt Leipzig sowie in der Schwangerschafts(Konflikt)Beratung beim Deutschen Roten Kreuz Leipzig tätig. Text: CaKa, FrHa Bild: Shutterstock (Quisquilia)


„Schönen ersten Advent!“, sagt die Kassiererin. „Schönen Welt-AIDS-Tag“, antworte ich. Ich glaube, das war kein gutes Gespräch, aber wenn man schon in nem Supermarkt ist, der eine Regenbogenfahne an der Schiebetür kleben hat, kann man ja mal daran erinnern, dass sie schon mal mit einem schwarzen Streifen versehen wurde, der erst verschwinden sollte, wenn ein Mittel gegen den HI-Virus gefunden wird. Aber vielleicht ist während des Einkaufens auch nicht der richtige Moment, um den WeltAIDS-Tag zu begehen. Aber wie begeht man so einen Gedenktag überhaupt? Skandalisiert man die autoritären Zustände in Russland, wo der Hass auf alles, was pervers und andersartig daherkommt, dazu führt, dass die Verbreitung von HIV und AIDS einfach geleugnet wird und das bei 100.000 Neuinfektionen im Jahr? Oder wird man wütend, weil gerade mal etwas mehr als die Hälfte aller HIV-positiven Menschen Zugang zu den entsprechenden Medikamenten bekommt, obwohl damit die Viruslast unter die Nachweisgrenze gesenkt werden kann und so sowohl ein Ausbruch von AIDS als auch eine Ansteckung anderer Menschen verhindert werden können? Erinnert man sich daran, dass es Seehofer der

halle.aidshilfe.de Kuku Kolumna, die blasende Reporterin, fährt eine alte Vespa, von der aus sie ihre Ergüsse direkt in die Herzen der Leser*innen spritzt. Mit hunderten von km/h geht es tief durch die Kneipen dieser Gesellschaft, die Gärten der Lust und die Wälder des Geschlechts.

Nazi war, der HIV-positive „in speziellen Heimen“ „konzentrieren“ wollte? Dass die Entdeckung einer Krankheit, die vor allem Schwule, Prostituierte, Junkies und Menschen, „die sich besonderen Risiken aussetzen“, wie zum Beispiel in Ländern zu leben, in denen aus Armut oder ideologischer Verblendung, der Zugang zu Medikamenten und Kondomen nicht gegeben ist? Oder vielleicht ist es auch einfach ein Tag, um den Überlebenden von damals zuzuhören, die erleben mussten und müssen, wie ihre Freunde und Freundinnen, ihre Geliebten und ihre flüchtigen Bekannten plötzlich nicht mehr da waren, wie die durchgestrichenen Namen in den Adressbüchern immer mehr wurden. Ein Tag, um in sich zu gehen und der Menschen zu gedenken, die eben nie nur an einer Krankheit, sondern immer auch an gesellschaftlichen Verhältnissen gestorben sind. Text: Kuku Kolumna

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Bild: Dragan Simicevic Visual Arts

Kuku Kolumnas letzte Worte


Isabelle, 28, HIV-positiv

MEINE HIV-MEDIKAMENTE ERMÖGLICHEN MIR EIN ENTSPANNTES LEBEN. Medikamente unterdrücken HIV im Körper und ermöglichen so ein langes, gutes Leben. HIV ist dann auch beim Sex nicht übertragbar. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Im Alltag kann HIV sowieso nicht übertragen werden. 46

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Alle Inhalte dieses Magazins unterliegen dem Urheberrecht. Eine Weiterverwendung, auch auszugsweise, bedarf der schriftlichen Genehmigung durch den Verein. Genehmigungen können jederzeit widerrufen werden. Die Nennung und Abbildung von Personen in diesem Magazin lässt nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf ihren HIV-Status und/oder deren sexuelle Orientierung zu. Abgebildete Personen können Models und nicht die im Beitrag genannten Personen sein. „red.“ ist ein ehrenamtliches Projekt der AIDS-Hilfe Halle / Sachsen-Anhalt Süd e.V. und finanziert sich durch Anzeigeschaltungen selbst. Spenden sind möglich und steuerabzugsfähig. Anzeigelayout: Cohn & Wolfe Public Relations GmbH & Co. KG, Marcus Hamel Anzeigeleitung: red.anzeigen@halle.aidshilfe.de Magazinlayout: www.marcushamel.com

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