ÖJZ 9/2011

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[FINANZSTRAFRECHT] 3. Spezifische Voraussetzungen unechter Unterlassungsdelikte (§ 2 StGB) Ein primär auf aktives Tun zugeschnittener Straftatbestand kann nur unter besonderen Voraussetzungen als unechtes Unterlassungsdelikt begangen werden. Für das allgemeine Strafrecht erfordert § 2 StGB insoweit Ü eine rechtliche Pflicht zur Erfolgsabwendung (= Garantenstellung) sowie Ü die Gleichwertigkeit des Unterlassens mit einer Tatbestandsverwirklichung durch aktives Tun. Beide Voraussetzungen geben allerdings nur einen Rahmen vor, die nähere Ausgestaltung erfolgt durch Rechtsprechung und Lehre. Die Garantenstellung kann sich nach allgemeiner Ansicht unmittelbar aus einer gesetzlichen Regelung, aus einem Vertrag oder aus Ingerenz, dh aus einem gefährlichen Vorverhalten, ergeben. Inhaltlich kann zwischen Überwachungsgaranten (die zur Sicherung einer bestimmten Gefahrenquelle verpflichtet sind) und Beschützergaranten (die einen bestimmten Wert vor Gefahren zu schützen haben) unterschieden werden. In Grenzfällen ist durch Auslegung bzw juristische Schlussfiguren zu klären, wie weit die „Verpflichtung durch die Rechtsordnung“ iSd § 2 StGB reicht. Die zusätzliche Voraussetzung, dass „die Unterlassung der Erfolgsabwendung einer Verwirklichung des gesetzlichen Tatbildes durch ein Tun gleichzuhalten“ sein muss („Gleichwertigkeitskorrektiv“), ist nach wie vor nicht endgültig geklärt. Nach einer Ansicht soll dieses Korrektiv nur bei „verhaltensgebundenen“ Delikten, bei denen die Tathandlung näher umschrieben und daher eingegrenzt ist (zB als „Misshandlung“, „Drohung“, „Täuschung“ etc) zur Anwendung kommen, nicht bei reinen Verursachungsdelikten wie Mord, Körperverletzung oder Sachbeschädigung.8) Nach überwiegender Meinung ist das Gleichwertigkeitskorrektiv dagegen als „Sicherheitsventil“ bei allen unechten Unterlassungsdelikten anwendbar.9) Weitgehende Einigkeit besteht ferner darin, dass der Inhalt der Gleichwertigkeit nicht übergreifend, sondern deliktsspezifisch durch Interpretation des jeweiligen Tatbestands zu bestimmen sei. Aber auch bei der Durchsicht einzelner Delikte wird man nur sehr eingeschränkt fündig. Beispielsweise wird beim Amtsmissbrauch gem § 302 StGB (sofern man § 2 StGB bei diesem Straftatbestand für anwendbar hält)10) die Ansicht vertreten, die Gleichwertigkeit sei nur gegeben, wenn ein Beamter gezielt untätig bleibt, um einen bestimmten Effekt zu erreichen, nicht dagegen, wenn dies aus Bequemlichkeit oder Überlastung geschehe.11) Stellungnahmen zum Betrug gem § 146 StGB gehen dahin, dass das Unterlassen dem Erklärungswert einer Täuschung gleichkommen müsse, etwa bei Nichtverhinderung der Täuschungshandlung eines anderen (= Beitrag durch Unterlassen) oder bei einem Unterlassen mit selbständigem Erklärungswert; das Nichtaufklären eines Irrtums oder das bloße Nichtmelden reichen dagegen nicht aus.12) Teilweise wird das „Gleichwertigkeitskorrektiv“ auch als Sitz einer besonderen Zumutbarkeitsprüfung interpretiert: Die Gleichwertigkeit des Unterlassens mit einem aktiven Tun sei unter anderem dann zu verneinen, wenn besondere Gründe im Einzelfall ein TäÖJZ [2011] 09

tigwerden unzumutbar erscheinen lassen (näher im Folgenden B.4.).

4. Übergreifende Aspekte (Handlungsmöglichkeit, Zumutbarkeit) Neben den in § 2 StGB genannten spezifischen Voraussetzungen der unechten Unterlassungsdelikte sind zudem für alle Unterlassungsdelikte zusätzliche übergreifende Strafbarkeitsanforderungen zu beachten. Diese gelten nach hM für echte und unechte, schlichte und erfolgsbezogene Unterlassungsdelikte gleichermaßen. Erstens setzt die Strafbarkeit wegen eines Unterlassungsdelikts voraus, dass die betreffende Person die faktische Möglichkeit hatte, eine entsprechende Handlung vorzunehmen. Eine Handlung, zu der man überhaupt nicht fähig ist oder der im konkreten Fall unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen, wird nicht „unterlassen“; begriffliche Voraussetzung ist vielmehr, dass eine solche Handlung faktisch möglich gewesen wäre.13) Wenn zB weit und breit kein Fahrzeug verfügbar ist, kann man nicht sagen, jemand habe es „unterlassen“, einen Verunglückten ins Krankenhaus zu fahren. Zweitens geht die hM davon aus, dass bei Unterlassungsdelikten stets die Zumutbarkeit entsprechenden Tätigwerdens eigens zu prüfen ist. Während es grundsätzlich zumutbar ist, eine tatbestandmäßige aktive Handlung zu unterlassen und einfach untätig zu bleiben (enge Einschränkungen der Zumutbarkeit gelten hier nur im Rahmen des entschuldigenden Notstands gem § 10 StGB), ist es weniger leicht zumutbar, zur Rettung eines Rechtsguts tätig zu werden. Der Gesetzgeber hat deshalb bei einigen Unterlassungsdelikten ausdrückliche „Zumutbarkeitsklauseln“ vorgesehen (§ 94 Abs 3, § 95 Abs 1 und 2, § 286 Abs 2 Z 1 StGB). Für die unechten Unterlassungsdelikte ist in § 2 StGB zwar keine eigene „Zumutbarkeitsklausel“ enthalten, es wird aber vorgeschlagen, die Zumutbarkeit im „Gleichwertigkeitskorrektiv“ verankert zu sehen, weil ein unzumutbares Verhalten einer Tatbestandsverwirklichung durch aktives Tun nicht gleichzuhalten sei.14) Darüber hinaus ist das Erfordernis der Zumutbarkeit, da der Grundgedanke für alle Unterlassungsdelikte gilt, analog auch auf echte Unterlassungsdelikte, die keine eigene Zumutbarkeitsklausel enthalten, zu übertragen, etwa auf § 92 Abs 2 oder auf § 198 StGB.15)

C. Unechte Unterlassungsdelikte im FinStrG? Wendet man sich nach den allgemeinen Vorklärungen spezifisch den Unterlassungsdelikten des Finanzstrafrechts zu, lässt sich unzweifelhaft feststellen, dass das

8) 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15)

ren Täter insoweit als ein „Erfolg“ erscheint. Für die Anwendung auch auf „kupierte Erfolgsdelikte“ (bei denen sich nur der erweiterte Vorsatz auf einen Erfolg erstrecken muss), obwohl diese strukturell schlichte Tätigkeitsdelikte sind, vgl zB Kienapfel/Schmoller, StudB BT III2 § 302 Rz 40. Ausführliche Nachweise zB bei Hilf in WK-StGB2 § 2 Rz 129 ff. ZB Hilf in WK-StGB2 § 2 Rz 128; E. Steininger in SbgK § 2 Rz 119; beide mwN. Vgl oben bei FN 6. Nachweise bei Kienapfel/Schmoller, StudB BT III2 § 302 Rz 45. ZB Kirchbacher in WK-StGB2 § 146 Rz 30; Fuchs, AT I7 37/66. Für die hM zB Hilf in WK-StGB2 § 2 Rz 46 ff mwN. Zum diesbezüglichen Meinungsstand Hilf in WK-StGB2 § 2 Rz 131 und 149 mwN. Vgl für § 198 StGB zB Kienapfel/Schmoller, StudB BT III2 § 198 Rz 34; ebenso Ramsauer in SbgK § 198 Rz 79.

Ü Kurt Schmoller Ü Grundfragen strafbaren Unterlassens bei der Abgabenverkürzung

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