2017 Feuer entfachen statt Fässer füllen

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GRINDKOPF – 1994

SCHLUSSAKKORD!

Getriebeschaden

Ein Schlüssel zur Welt

Warum sollten Kinder und Jugendliche die Kunstform

Wie lernt ein Kind, sich ein Bild von der Welt zu machen, in

Theater überhaupt kennen? Kann das Theater ein Ort sein, an

der es seinen Platz finden will? Das war eine zentrale Frage bei

dem Schauspieler, Regisseure, Autoren, Bühnenbildner, Insze-

der Begleitung unserer eigenen Söhne ins Erwachsenenleben.

nierungen „ihnen zeigen, wie das gehen könnte, dieses Spiel, ein

Und mit derselben Frage haben wir jede Theaterarbeit begon-

Mensch zu werden“, wie Lukas Bärfuss fordert. Wie muss Thea-

nen; ganz gleich, ob sich Beat Fäh von der Neugier, der Abenteu-

ter sein, in dem sie sich vertreten und verstanden fühlen? Wann

erlust und dem Überlebenswillen von John Franklin in »Die Ent-

kann es die ethische und soziale Fantasie beflügeln und die Lust

deckung der Langsamkeit« inspirieren ließ oder Gil Mehmert die

am Denken wecken? Diese Fragen haben uns immer wieder aufs

Familensaga »Jenseits von Eden« von John Steinbeck als Grund-

Neue umgetrieben, ohne je eine endgültige Antwort gefunden zu

lage für seine Musiktheater-Fassung diente. Die Welt, in die Kin-

haben. Glücklicherweise.

der hineinwachsen, ist komplex, unübersichtlich, geheimnisvoll

Eines allerdings war uns immer klar. Es gelingt nicht mit

und oft sogar gefährlich. Einfache Antworten sind immer eine

inhaltlichen oder ästhetischen Vereinfachungen, mit deren Hilfe

Lüge. Kinder spüren das genau, auch wenn sie sich nicht weh-

man zwar breite Publikumszustimmung erhält und die deshalb

ren können. Und sie wissen, dass es interessant und aufregend

eigentlich als versteckte Marketing-Strategien zu bezeichnen

ist, diese Welt zu entdecken. Daran darf man sie nicht hindern,

sind. Aber Theater soll nicht wie ein Produkt der Lebensmittel-

indem man sie mit einfachen Angeboten abspeist. Natürlich

oder Autoindustrie entwickelt werden unter dem Aspekt „Was will der Kunde? “ Es stimmt: Armuts-, Alkohol- und Amokthemen verschaffen ebenso gute Auslastungszahlen wie Stadtteil-Projekte, Jugendclub-Festivals oder Klassiker, die für angehende Abiturienten aufbereitet werden. Solche Projekte fördern die Platzausnutzung, unterfordern aber die Chancen des Theaters. Der Besitzer eines Porsche würde den Kopf schütteln, wenn man von ihm verlangte, nur im 1. Gang zu fahren, weil Langsamfahren vernünftig ist. Wir haben manches Mal den Eindruck gehabt, dass im Kinder- und Jugendtheater oft im 1. Gang gefahren wird, um jedes Risiko zu vermeiden. Dass damit jedes Auto nach kurzer Zeit einen Getriebeschaden bekommt, wird übersehen. Das v.l.n.r. Puppenkönig, Puppenkönigin (geführt von Meisi von der Sonnau), Michael Vogtmann, Martin Ontrop, Peter Ender

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Foto Oda Sternberg

Gleiche gilt für das Theater.

2007 – nach einem Scherenschnitt von Prof. Ernst Moritz Engert, Hademar

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