GRINDKOPF – 1994
SCHLUSSAKKORD!
Getriebeschaden
Ein Schlüssel zur Welt
Warum sollten Kinder und Jugendliche die Kunstform
Wie lernt ein Kind, sich ein Bild von der Welt zu machen, in
Theater überhaupt kennen? Kann das Theater ein Ort sein, an
der es seinen Platz finden will? Das war eine zentrale Frage bei
dem Schauspieler, Regisseure, Autoren, Bühnenbildner, Insze-
der Begleitung unserer eigenen Söhne ins Erwachsenenleben.
nierungen „ihnen zeigen, wie das gehen könnte, dieses Spiel, ein
Und mit derselben Frage haben wir jede Theaterarbeit begon-
Mensch zu werden“, wie Lukas Bärfuss fordert. Wie muss Thea-
nen; ganz gleich, ob sich Beat Fäh von der Neugier, der Abenteu-
ter sein, in dem sie sich vertreten und verstanden fühlen? Wann
erlust und dem Überlebenswillen von John Franklin in »Die Ent-
kann es die ethische und soziale Fantasie beflügeln und die Lust
deckung der Langsamkeit« inspirieren ließ oder Gil Mehmert die
am Denken wecken? Diese Fragen haben uns immer wieder aufs
Familensaga »Jenseits von Eden« von John Steinbeck als Grund-
Neue umgetrieben, ohne je eine endgültige Antwort gefunden zu
lage für seine Musiktheater-Fassung diente. Die Welt, in die Kin-
haben. Glücklicherweise.
der hineinwachsen, ist komplex, unübersichtlich, geheimnisvoll
Eines allerdings war uns immer klar. Es gelingt nicht mit
und oft sogar gefährlich. Einfache Antworten sind immer eine
inhaltlichen oder ästhetischen Vereinfachungen, mit deren Hilfe
Lüge. Kinder spüren das genau, auch wenn sie sich nicht weh-
man zwar breite Publikumszustimmung erhält und die deshalb
ren können. Und sie wissen, dass es interessant und aufregend
eigentlich als versteckte Marketing-Strategien zu bezeichnen
ist, diese Welt zu entdecken. Daran darf man sie nicht hindern,
sind. Aber Theater soll nicht wie ein Produkt der Lebensmittel-
indem man sie mit einfachen Angeboten abspeist. Natürlich
oder Autoindustrie entwickelt werden unter dem Aspekt „Was will der Kunde? “ Es stimmt: Armuts-, Alkohol- und Amokthemen verschaffen ebenso gute Auslastungszahlen wie Stadtteil-Projekte, Jugendclub-Festivals oder Klassiker, die für angehende Abiturienten aufbereitet werden. Solche Projekte fördern die Platzausnutzung, unterfordern aber die Chancen des Theaters. Der Besitzer eines Porsche würde den Kopf schütteln, wenn man von ihm verlangte, nur im 1. Gang zu fahren, weil Langsamfahren vernünftig ist. Wir haben manches Mal den Eindruck gehabt, dass im Kinder- und Jugendtheater oft im 1. Gang gefahren wird, um jedes Risiko zu vermeiden. Dass damit jedes Auto nach kurzer Zeit einen Getriebeschaden bekommt, wird übersehen. Das v.l.n.r. Puppenkönig, Puppenkönigin (geführt von Meisi von der Sonnau), Michael Vogtmann, Martin Ontrop, Peter Ender
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Foto Oda Sternberg
Gleiche gilt für das Theater.
2007 – nach einem Scherenschnitt von Prof. Ernst Moritz Engert, Hademar
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