50x50x50 LANDGEWINN 2017

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Natürlich hilft am Ende alles nichts und Pleasantville wird zu einer bunten, offenen Stadt. Die moralische Lektion ist ebenso vorhersehbar wie unrealistisch. Wir brauchen nur an unser eigenes Pleasantville zu denken, das wir uns über die Jahre erschaffen haben. Wir haben unsere Stammtische, unsere täglichen Routen, unsere Fixtermine, unsere Wohlfühloasen. Das gibt uns Sicherheit, Geborgenheit, das gute Gefühl, alles im Griff zu haben – wie Tarzan seine Lianen. Wenn wir im Internet die immer gleichen Links und Webseiten anklicken, wenn wir uns auf Seiten weiterleiten lassen, die uns empfohlen werden, wenn wir auf uns zugeschnittene Werbung sehen, die unsere vorherigen Suchanfragen berücksichtigt, dann fühlen wir uns frei und sind doch Reisende auf sehr starren Schienen, die immer nur im Kreis fahren. Hier noch dem Fremden, Unerwarteten, Verstörenden, Aufschreckenden zu begegnen, ist nicht erwünscht. Wir sollen uns ja wohlfühlen in unserem ganz individuellen Angenehmhausen. Wenn doch ein Störsignal dazwischenfunkt, steht uns ein Arsenal an Maßnahmen zur Verfügung. Wir können wegklicken, blockieren, ausblenden, entfreunden, und schon ist die Idylle wiederhergestellt. Ich gebe es zu: Auch ich weiß diese Funktionen durchaus zu schätzen. Die Schattenseiten eines offenen Internets, in dem man jederzeit angestupst, von der Seite angelabert, dumm angemacht und offen beleidigt werden kann, habe ich selbst oft genug zu spüren bekommen. Es tut gut, dem einen Riegel vorschieben zu können. Und doch sollte man nicht allzu vorschnell handeln. Die Begegnung mit dem Irritierenden – ich habe es schon erwähnt – kann einen auch weiterbringen. Wenn man aber erst einmal seine Filter aktiviert hat, wenn man seine Suchanfragen optimiert, seine Favoriten festgelegt und seine Social-Media-Rituale verinnerlicht hat, dann ist es schwierig, aus den Kreisläufen auszubrechen. Wir müssten uns schon auf ganz neue Seiten, auf ganz neue Räume des Internets einlassen, um etwas wirklich Anderes kennenzulernen. Dazu fehlt uns oft die Zeit, noch öfter aber fehlt uns auch ganz einfach das Wissen, wie wir diese Seiten öffnen, diese neuen Räume erschließen können. Sicher, wir können auf Wikipedia den Zufallsartikel des Tages lesen. Wir können auf YouTube auf gut Glück ein Video anklicken, das auf der Startseite erscheint. Wir können den Link öffnen, den diese verschrobene Facebook-Bekanntschaft teilt, die wir nur als Freundin akzeptiert haben, weil sie die Schwester eines Arbeitskollegen ist. Aber all diese Maßnahmen führen zu nichts. Sie bewegen sich noch immer viel zu nahe am Altbekannten. Wer die ausgetretenen Pfade wirklich verlassen will, muss wie Tarzan von den Bäumen herabsteigen und – zu Fuß gehen. Ganz konkret. Er muss neue Räume aufsuchen, indem er sich auf Wanderschaft begibt. Das ist aufwendig. Mühsam. Oft auch schmerzhaft, wenn man die falschen Schuhe gewählt hat oder nicht damit gerechnet hat, dass der Pfad so steil und steinig wird. Aber unterwegs macht man die überraschenden Entdeckungen. Die Distel am Wegesrand. Der rüttelnde Turmfalke. Der unheimliche Mitmensch, verschwitzt und fremdsprachig. Das eigenartige Gebilde, bei dem wir uns fragen: Ist das Kunst oder kann das weg? Hier greifen keine Filter, keine Blockaden. Der Zusammenprall ist unvermeidlich. Kein Wunder, dass die Realität nicht den besten Ruf hat. Immer schlimmer werde es mit uns. Also nicht mit uns. Sondern mit der Menschheit – und das sind nicht wir, das sind die anderen. Was sich auf den Straßen herumtreibt! Wie die aussehen! Was die machen! Man kann sich nicht mehr frei bewegen. Wer weiß, was da alles passieren könnte. Man hört ja so allerlei. Wenn wir heute in die Realität hinaustreten, sind wir gewappnet. Wir fahren unsere Schutzschilde hoch. Niemanden zu nahe heranlassen. Auf nichts eingehen. Sonst stehen wir am Ende mit einem Packung Papiertaschentücher da, für die wir 20 Euro bezahlt haben. Nein, der öffentliche Raum ist nicht idyllisch und heimelig. Seine Unheimeligkeit und damit seine Unheimlichkeit, seine Unberechenbarkeit und seine vulgäre Aufdringlichkeit bedrücken uns. Wir wünschen uns Schutz vor Verstörung, Vandalismus, Aufrüttelung. Kein Wunder, dass wir uns lieber ins Private zurückziehen wollen, wo wir uns vor unliebsamen Überraschungen sicher und von Bestätigung, Bestärkung und Bewunderung umpolstert wähnen. Doch die Gemütlichkeit unserer selbstgeschaffenen Echokammer trügt: Die bestürzendste Begegnung, die uns im Leben widerfährt, kann auch sie nicht verhindern, nämlich die Begegnung mit unserem anderen Selbst. Das Unheimliche, Niederträchtige und Abscheuliche ist genauso ein Teil unserer Innenwelt wie unserer Außenwelt. Erst wenn wir das begreifen, hat unsere Flucht ein Ende. Wir müssen lernen, uns zu stellen, auch wenn es sich wie eine Auslieferung anfühlt. Wir müssen uns dem Unheimlichen da draußen und da drinnen stellen, wir müssen ihm ins Auge sehen und es auszuhalten lernen. Aushalten, ertragen, dulden – nichts anderes bedeutet das Wort Toleranz. Unser Lebensweg mündet nicht in einem ewigen Zirkel. It just keeps going, wie es im Film Pleasantville heißt. Uns trotzdem auf den Weg zu machen, das Unbekannte zu wagen, das Fremde zu tolerieren – nur so können wir Bereicherung erfahren, nur so können wir neue Räume öffnen, nur so können wir Land gewinnen. Verlassen wir unsere Wohlfühlnischen, lassen wir die Baumhäuser und Lianen-Parcours hinter uns. Betreten wir den buckligen Boden der Tatsachen. Setzen wir einen Schritt nach dem anderen. Unsere innere Landkarte hat noch viele weiße Flecken. Füllen wir sie.

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