2 minute read

DIE WINTERREIFEN, FREI NACH SCHUBERT

Next Article
RIBAL MOLAEB

RIBAL MOLAEB

Unser Saisonschwerpunkt «Bearbeitungen» wirft Fragen auf.

TEXT CORINNE HOLTZ

Sie lesen richtig, es ist kein Witz. Eine der Bearbeitungen von Franz Schuberts Liederzyklus Die Winterreise ist ein Melodrama mit den Winterreifen im Titel. Die Kuriosität verdanken wir Margaret und Matthias Friederich, die sich mit 30 Instrumenten über Schuberts Original hermachen und mit der Truppe «Pifferari di Santo Spirito» aus Heidelberg ein zwerchfellwirksames Arrangement blasen. Von der historischen Blockflöte über Ocarinas bis zum Gemshorn reicht die Palette, eingebettet in die Harmonien eines Keyboards und abgefedert durch Schlaginstrumente wie Marimbaphon und Drumset.

Schubert und insbesondere seine Winterreise sind die beliebtesten Spielplätze für Bearbeiterinnen und Bearbeiter. Der Boom gründet auf den Britischen Inseln. Julius Harrison schrieb im Land der vielen herausragenden Chöre Winter and Spring für gemischte Stimmen und Orchester, eine Bearbeitung, die nach der Aufführung in Doncaster 1945 populär wurde. Mit Hans Zender und seinen «komponierten Interpretationen» brach 1995 das WinterreiseFieber aus. Folk, Jazz, Schauspiel, Film, Performance und Computer bedienen sich seither bei Schuberts Zyklus und öffnen den mit dem Bildungsbürgertum assoziierten Liederabend einem breiteren Publikum. Wann ist eine Bearbeitung, eine Überführung in eine andere Tonsprache, in einen anderen Raum, in ein anderes Medium kunstfähig? Die Frage ist so alt wie die Praxis der Aneignung von Originalen selbst. Von Monteverdis L’Incoronazione di Poppea sind lediglich zwei stark voneinander abweichende Handschriften erhalten. Die «Folia», ursprünglich ein entfesselter Tanz der iberischen Bevölkerung, schlich sich über die Lautenmusik in die Kammern der Höfe. Das sich etablierende Satzmodell machte im 18. Jahrhundert eine atemberaubende Karriere und den Komponisten Arcangelo Corelli zum Superstar. Seine Folia-Variationen am Schluss von Opus 5 initiierten bis ins 20. Jahrhundert Nachschöpfungen, zuletzt im Historienfilm Conquest of Paradise von Ridley Scott und dem gleichnamigen Titelsong des Filmmusikkomponisten Vangelis.

Am Anfang lebte die Filmmusik allein von Bearbeitungen und der Kooperation von Regisseuren und Komponisten. Der Stummfilm The Birth of a Nation von 1915 ist der erste Blockbuster der US-amerikanischen Filmindustrie. Für die Musik zog das Regieteam Komponisten bei und hiess sie Opernhits aus Werken etwa von Vincenzo Bellini, Carl Maria von Weber und Richard Wagner bearbeiten. Allerdings sollte sich für den Stummfilm ein anderes Verfahren

einbürgern: Der Musiker am Klavier zitiert einschlägige Nummern aus bekannten Werken und verbindet die Stückelung improvisatorisch zu einer massgeschneiderten Musik aus dem Moment.

Bernard Herrmann gebührt der erste Platz unter den USamerikanischen Filmmusikkomponisten. Mit Citizen Cane und Orson Welles eröffnete er der Musik im Film eine neue künstlerische Dimension. Herrmann wusste, was Grössen wie Debussy und Strawinsky komponierten, und machte sich mit der europäischen Moderne und der Atonalität vertraut. Herrmann musikalisierte sechs Filme von Alfred Hitchcock, seine radikalsten Töne platzierte er in Psycho (1960). Das Prelude ist ein Echo auf Strawinskys Le Sacre du printemps, in der finalen Szene (im Keller) kommt die Fuge zum Einsatz. Der Mörder kündigt sich mit dissonanten Clustern an, während Marion zu tonalen Klängen flirtet.

Die Kongenialität dieser Musik besteht in der Vermählung von kompositorischer Raffinesse und feinem Spürsinn für eine die Szene überhöhende Farbskala. «Die Leinwand diktiert die musikalische Form», sagte Herrmann und fand es ganz selbstverständlich, sich bei der sogenannten Kunstmusik und ihren Schätzen zu bedienen. Die Legitimität des Bearbeitens in Frage zu stellen, wie das die AvantgardeKomponisten nach 1945 taten, wäre Herrmann nie in den Sinn gekommen. Vielmehr steht er, wie andere Komponisten unseres Saisonprogramms, für eine kulturelle Praxis, die über die engen Kategorien von Autorschaft und Werkbegriff hinausweist.

WINTERREISE DI, 16. NOV. 2021, 19.30 UHR TONHALLE AM SEE

BAROCKES FEUER DO, 16. DEZ. 2021, 19.30 UHR KUNSTHAUS ZÜRICH

PSYCHO MI, 9. MÄRZ 2022, 19.30 UHR KONGRESSHAUS ZÜRICH

This article is from: