Vergangenheitsbewältigung. Deutschprachige Literatur und Nationalsozialistische Vergangenheit

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Literarische Entwicklungen in der Nachkriegszeit

2 Literarische Entwicklungen in der Nachkriegszeit

Die Literatur hatte in der deutschen Nachkriegszeit eine wichtige Funktion. Viele erwarteten von den Schriftstellern, dass sie die Rolle des „Gewissens der Nation“ übernahmen und das innere Befinden der Menschen, das sogenannte „Trümmerzeitbewusstsein“ auszudrücken vermochten, das durch die innere und äußere Zerstörung Deutschlands begründet war. Viele Schriftsteller waren vor den Nazis ins Exil geflüchtet, zahlreiche waren allerdings auch in Deutschland geblieben, hatten sich in die sogenannte „innere Emigration“ zurückgezogen, ein Begriff, der bis heute stark umstritten bleibt. Exemplarisch für das Zerwürfnis zwischen den Autoren beider Lager, aber auch für das Selbstbild der meisten Deutschen, ist ein offener Brief in der Münchner Zeitung vom 13. August 1945. In diesem Brief reagieren deutsche Schriftsteller der inneren Emigration auf eine Radioansprache des im Exil lebenden Thomas Mann (18751955), einem der einflussreichsten und bekanntesten deutschen Schriftsteller, am 8. Mai 1945 im Britischen Rundfunk. Thomas Mann sprach in dieser Ansprache von der Schmach der Deutschen, die alles betraf, „was deutsch spricht, deutsch schreibt, auf deutsch gelebt hat“ (Lattmann 1980, 27). Die Reaktion darauf liest sich wie folgt:

Mit aller, aber wahrhaft aller Zurückhaltung, die uns nach den furchtbaren zwölf Jahren auferlegt ist, möchte ich dennoch heute bereits und in aller Öffentlichkeit ein paar Worte zu Ihnen sprechen: Bitte, kommen Sie bald, sehen Sie die vom Gram durchfurchten Gesichter, sehen Sie das unsagbare Leid in den Augen der vielen, die nicht die Glorifizierung unserer Schattenseiten mitgemacht haben, die nicht die Heimat verlassen konnten, weil es sich hier um viele Millionen Menschen handelte, für die kein Platz auf der Erde gewesen wäre als daheim, in dem allmählich gewordenen großen Konzentrationslager, in dem es bald nur mehr Bewachende und Bewachte verschiedener Grade gab. Ihr Volk, das nunmehr seit einem Dritteljahrhundert hungert und leidet, hat im innersten Kern nichts gemein mit den Missetaten und Verbrechen, den schmachvollen Greueln und Lügen, den furchtbaren Verirrungen Kranker, die daher wohl soviel von ihrer Gesundheit und Vollkommenheit posaunten. (Lattmann 1980, 27/28)

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