Jugendzeitung YAEZ

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Der Amoklauf von Winnenden Der 17-jährige Tim K. betritt am 11. März 2009 um 9:30 Uhr seine ehemalige Schule, die Albertville-Realschule in Winnenden. Der Schüler aus wohlsituiertem Elternhaus hat beschlossen, seinem Leben an diesem Tag ein Ende zu setzen und dabei möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen. In der Klasse 9c tötet er Chantal S. (15), Jana Sch. (15) und Kristina S. (16). Danach tötet er in seiner Abschlussklasse, der 10d, Ibrahim H. (17), Jacqueline H. (16), Victorija M. (16), Selina M. (15), Nicole N. (17), Stefanie K. (16). Im Physikraum wird die Referendarin Sabrina S. (24) erschossen. Auf dem Flur erschießt Tim K. die Lehrerin Michaela K. (26) und die Referendarin Nina M. (24). Auf der Flucht erschießt der er Franz J. (57), der ihm zufällig über den Weg läuft. Mit dem Auto fährt Tim K. dann nach Wendlingen, wo er in einem Autohaus den Autohändler Denis P. (36) und seinen Kunden Sigurt W. (46) erschießt. Danach begeht Tim K. Selbstmord. Er hat am 11. März 16 Menschen getötet.

Held sein, wütend sein Nach einem Amoklauf bleiben neben der Trauer viele Fragen und noch viel mehr Erklärungsversuche übrig. Eines bleibt für uns Jungs unbeachtet: Wie können wir unsere Wut bezwingen?

Foto: picture-alliance/dpa

TEXT: marc röhlig

Ich beschränke mich auf die Männer. Halt, auf die Jungs, auf jene, die noch auf dem Weg zum Mann sind. Die Möglichkeit zur Wut trägt zwar jeder in sich, das kleine Mädchen wie der alte Mann. Doch mit ungefesselter, roher und oft auch gänzlich unbegründeter Wut brechen vor allem jene hervor, die nicht mehr Kind und noch nicht Mann sind. Wir schreien dann die an, die wir lieben. Wir pressen Backenzähne aufeinander und lassen Halsschlagadern schwellen. Wir zertrümmern Möbel, zerreißen Bücher, laufen Amok. Amok, da ist es schon, das böse Wort. Es beschreibt die blinde Wut, mit der wir losbrechen. Es umrahmt all den Hass, die Gewalt und die Erschöpfung danach. Wenn der Begriff »Amok« in den Medien auftaucht, wenn sich unwichtige Örtchen wie Winnenden oder Littleton in das kollektive Gedächtnis einbrennen, dann erschaudern wir zuerst vor dem Unvorstellbaren. Doch finden schon kurz darauf jede Menge Erklärungen für das Unerklärliche. Und lassen schließlich den Mörder, seine Opfer und die Tat zu dem werden, was es nie sein darf: egal für uns. Es stimmt, wer am PC ballert, tut dies selten, seltenst!, auf der Straße. Wer im Schützenverein ist, ist nicht gleich potentieller Killer. Panik oder Pauschalisierung hilft also nicht, um Wut zu verhindern. Aber mit einem Schulterzucken, egal ob aus Gleichgültig- oder Ratlosigkeit, soll-

ten wir Amokläufe nicht abschließen. Warum haben wir Wut, wenn wir 15, 16 sind? Warum können wir uns nicht beherrschen, drüber lachen? Es geht um Jungs, die sich rasieren, ihren Führerschein machen, Mädels kennen lernen – aber noch nicht im Leben stehen. Sie wollen frei sein. Wollen groß sein, der Held auf der Leinwand; nicht einer unter Milliarden, sondern der eine, auf den die Welt schaut. Aber das sind wir nicht. Und das zu erkennen, kann schmerzhaft sein. Und dann brechen die Gefühle aus. Mit 15 Jahren hatte ich meinen größten Wutanfall. Ich war allein, ich konnte schreien. Meinen Stuhl habe ich über den Schreibtisch geworfen – sein abgewetztes Leder erinnert mich noch heute daran. Ich habe Poster von der Wand gerissen und auf meine PC-Tastatur eingedroschen. Als mich die Wut komplett durchflutete, mein Kopf hochrot und rasend, als ich Eisen auf den Lippen schmeckte, als das Blut in meinen Schläfen zu einem Rauschen anschwoll, da habe ich zugeschlagen. Einen Hammer versenkt. Meine rechte Faust tief in meinen Drucker geschmettert. Heute erinnere ich mich noch an die Plastiksplitter, die blutig zwischen meinen Knöcheln hervorragten. Ich erinnere mich an den Kaufpreis für den neuen Drucker (299 Euro). Ich kann jede Sekunde meines »Hulk-Moments« in meinem Kopf abspulen. Nur an eines erinnere ich mich heute nicht mehr: den Grund. •

Motiv Frauenhass Josephine Kroetz fragt sich, warum die meisten Opfern, auf die Tim K. schoss, weiblich waren und darüber kaum gesprochen wird Text: Josephine Kroetz Am Abend vor der Tat verbrachte Tim K. seine Zeit mit dem Killerspiel »Far Cry 2«. Am nächsten Morgen ging er zu dem Nachtkästchen seines Vaters, nahm sich dessen Beretta 92 und 200 Schießpatronen. Dann machte er sich auf den Weg zu seiner ehemaligen Schule und begann »wahllos um sich zu schießen« – wie es oft geschrieben wurde. Doch so wahllos war es wohl doch nicht: Von insgesamt neunzehn Opfern in der Schule – von denen zwölf getötet und sieben verletzt wurden – waren achtzehn weiblich! Tim K. erschoss drei Lehrerinnen und acht Schülerinnen, sieben weitere überlebten. Nur einer der Toten in der Schule war ein Junge. Nehmen wir mal an Tim K. hätte in einer gemischten Schule zu 95 Prozent Jugendliche mit Migrationshintergrund statt Mädchen erschossen hätte. Das Motiv wäre allen klar: Ausländerfeindlichkeit! Aber in diesem Fall geht es ja nur um Frauenhass, und den gab es schon im antiken Griechenland, wo Frauen als Objekt ohne Seele bezeichnet wurden und Eigentum des Mannes waren. Tim K. hatte wenig Freunde, steckte mitten in der Pubertät und das Einzige, was er hatte, um sich auszuleben, waren das Internet und seine Computerspiele. Nach Aussage eines Nachbarn, »BILD« gegenüber, soll sich Tim K. von einer seiner Lehrerinnen gemobbt gefühlt haben, diese habe er »regelrecht gehasst, wie Frauen allgemein«. Auf seiner Festplatte wurden etwa 200 Pornobilder gefunden, davon über 120 Bilder, die nackte, gefesselte Frauen zeigen. Alice Schwarzer nennt das Drama in der schwäbischen Kleinstadt das erste Massaker mit dem Motiv »Frauenhass« in Deutschland und das zweite weltweit, in einem Nicht-Kriegsland. Ich, weiblich, möchte daher fragen, warum das, außer in ein paar Einzelfällen, nie klar ausgesprochen wurde? •


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