KreuzlingerZeitung

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KreuzlingerZeitung

Nr. 30

KULTUR

27. Juli 2012

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Teenager-Frust in den 80er Jahren Gary Sinnlos und Tomy Abschreck waren die ersten Punks in Kreuzlingen. Mit ihrer Band «Abgas» spielten sie Anfang der 80er Jahre erfolgreich über 100 Konzerte im In- und Ausland. Es gelang ihnen, die schlechteste und gleichzeitig beste Platte der Welt aufzunehmen. Gary Sinnlos wohnt mittlerweile in Berlin und tritt wieder auf. Punkrock. Wir treffen uns in einer Konstanzer Kneipe. Gary Sinnlos, mit bürgerlichem Namen Luchsinger, sitzt im Rauchereck wie einer, der genau da hingehört. Wundert mich nicht, wer zahllose Jahre um die Welt getingelt ist, ist überall zu Hause, vor allem in verrauchten Kneipen. «Gefällt mir hier», sagt Gary, «kannte ich gar nicht.» Der war schon lange nicht mehr in der Gegend, denke ich. Später setzen wir uns in den Speiseraum und bestellen Pizza. Und Gary erzählt von früher, von seiner Band und wie es damals war, wenn man nicht dazu gehörte.

Punk in Kreuzlingen Gary Sinnlos lernte Schlagzeuger Tomy Abschreck (bürgerlich: Lips) im Training beim FC Kreuzlingen kennen. Zusammen mit Thomas Leuch gründeten die beiden Ende des Jahres 1980 ihre Band «Abgas». Lang hielt diese Besetzung nicht, die Band wechselte mehrmals den Bassisten, hatte zeitweise auch einen zweiten Gitarristen. Veröffentlicht wurde viel auf Kassette (beispielsweise «Live in Ermatingen», 1982) aber auch auf Vinyl: 1981 erschien die selbstbetitelte Doppel-EP. Gerade diese erste Platte gilt in Kenner-Kreisen als absoluter Klassiker. Die Aufnahmen versprühen einen rohen, dilletantischen Charme, zeigen eine Mischung aus erstaunlichem und absolutem Unvermögen der «Musiker» bei gleichzeitiger, offensichtlicher Kreativität und Originalität. Auf dem Blog des Fear of GodSängers Erich Keller (www.goodbad music.com) wird sie zurecht

als beste und zugleich schlechteste Aufnahme nicht nur der Schweiz, sondern der ganzen Welt bezeichnet. A true Mongorock-Classic!

Für diese Kult-Platte zahlen Fans Bild: sb schon mal 125 Euro.

«Wir hatten keinen einzigen Griff. Wir konnten nicht einmal unsere Gitarren stimmen», erinnert sich Sinnlos an diese erste Phase der Bandgeschichte. Während andere Punkbands zumindest die goldene Drei Akkorde-Regel befolgten, wollten die drei Kreuzlinger nicht einmal diese elementarste Vorraussetzung erfüllen. «Uns lag nichts daran, eine lausige Kopie einer englischen Band zu sein», sagt Sinnlos. «Natürlich ist das immer noch eine der schlechtesten Platten der Welt. Aber das fiel auf, und es gab Fans, denen ist genau das umso mehr eingefahren.»

Wie war das damals? Den Thurgau und Kreuzlingen nahmen die jungen Künstler damals als eng und provinziell wahr. Der öffentliche Nahverkehr war lange nicht so ausgebaut wie heute. Kilometer zu laufen, um irgendwo hinzukommen, sei ganz normal gewesen. «Wir waren überall unbeliebt», erklärt Gary. Ärger gab es mit der Polizei oder anderen Jugendgruppen: «Die Teds hielten gerne an, wenn sie einen Punk erspähten und teilten Schläge aus. Die Bullen haben mich schon aufgegriffen, wenn ich bloss auf der Strasse gelaufen bin.» Endlose Kontrollen und Durchsuchungen am Zoll, «nichts als Schikane», mussten junge Leute über sich ergehen lassen, wenn sie anders aussahen. Sie verhielten sich aber auch anders. Als Band eckten Abgas in- und ausserhalb der Szene gleichermassen an. «Normalos» fühl-

Textauszug des Songs «Chrüzlinge», in dem umfassend Kritik geübt wird. Abgas sind die einzige Band, die internationalen Erfolg mit einem Lied über Kreuzlingen feiern konnten.

ten sich manchmal dermassen provoziert, dass sie bei Auftritten tätlich wurden. Im Gegenzug wurden sie mit toten Fischen beschmissen. Punker störten sich am in ihren Augen zu gewöhnlichen Outfit der Kreuzlinger Band. «Wir waren einfach keine Image-Punks», sagt Sinnlos. Eines der ersten Konzerte fand im Kreuzlinger Jugendhaus statt. Ein Konzertbericht zeigt symptomatisch, was einen Abgas-Auftritt in dieser Zeit ausmachte: «Abschreck versohlte seine Drums dermassen, dass Leuch auf den Bass schlug, als wäre er schwerhörig. Die Mädels, in dünnen indischen Hemdchen, ganz vorne gesessen, rannten regelrecht zum Eingang, als die Band auf der Bühne stand und spielte. Hinterher meinten einige: Scheisse, Krach, keine Musik.» Den Punks habe es gefallen, den anderen Konzertbesuchern eher nicht. Gary Sinnlos beschimpfte dafür das Publikum lautstark.

Krawall und Kreativität In Konstanz fühlten sich die Kreuzlinger Punks wohler. Die Nachbarstadt spielte eine bedeutende Rolle für die Szene: Dort gab es einen Plattenladen, besetzte Häuser und gleichgesinnte Bands. Den ersten Proberaum fanden Abgas in der Konstanzer Ziegelei. Er gehörte der befreundeten deutschen Band «08/15». Treffpunkte waren der Konstanzer Fischmarkt, die Kneipe «Latiffa», der Domkeller oder schlicht der Stadtgarten. Besonderes Chaos richteten die Punks im ehemaligen «Café Chaos» an der Sigismundstrasse an. «Saufen und Randale war angesagt», beschreibt Sinnlos. Man pöbelte, suchte Streit, schmierte die Wände voll oder zündete die Einrichtung an. Italienische Anwohner beschmissen Sinnlos, Abschreck und den damaligen Bassist en Bobo Ramone mit Spaghettis und Tomaten, als diese in der Gasse mit zwei Freunden für das Foto posierten, welches schliesslich als Plattencover seine Verwendung fand (siehe Bild). Doch man war auch tatkräftiger Teil der Szene, bastelte und verkaufte Fanzines, organisierte Ausstellungen, betrieb das Kassettenlabel «Gefahrenzone». Die Band gab aufsehenerregende Konzerte im In- und Ausland. Auf den Konzertreisen passierte viel, Geld war nie vorhanden, dafür um so mehr Abenteuerlust. Auf einer Tournee durch Italien retteten sich die Musiker mit beherztem Sprung aus dem Zug vor den Kontrolleuren. Ab 1983, da erschien die EP «Die Tänzerin», traten Abgas nur noch nackt und mit Fingerfarben bemalt

auf – die zweite, künstlerische Phase in der Entwicklung der Band begann. Auf Texte wurde fortan verzichtet, die Bühnenshow dafür immer spektakulärer und mit Projektionen aufgepeppt. Sinnlos: «Wir hatten das Gefühl, dass alles schon gesagt wurde. Das war auch irgendwie eine neue Art der Provokation, die Hörgewohnheiten der Leute zu konterkarieren.» Mittlerweile wohnten er und Abschreck in Zürich. Doch die Zeiten änderten sich: Die Mieten stiegen, ehemalige Mitstreiter versuchten es mit einer bürgerlichen Existenz. Andere versumpften mit Drogen. Tomy Abschreck starb 1989 an den Folgen des exzessiven Lebensstils. 1990 kehrte Gary Sinnlos der Schweiz von einem Tag auf den anderen den Rücken. Er schaffte den Absprung gerade rechtzeitig: «Einen weiteren Winter hätte ich wohl nicht überlebt.» Sinnlos begann eine ausgedehnte Weltreise. Den Unterhalt für sich und seine Freundin Doris Peter bestritt er mit dem Verkauf von selbstproduzierten Comics, den UlpiMärchen. Mehr als 100 000 Büchlein verkaufte er über die Jahre. Dokumentiert sind diese Reise-Jahre in seinem Buch «Einer, der auszog, von Märchen zu leben».

Gary Sinnlos, Gitarrist der legendären Band «Abgas». Bilder: Doris Peter

Heute hat das Paar zwei Kinder und lebt in Berlin. Im vergangenen Jahr ist Gary Sinnlos, nach 25 Jahren Bühnenabstinez, wieder aufgetreten. Verlernen konnte er ja nicht viel, sagt Sinnlos: «Weil ich’s nie konnte, kann ich’s immer noch.» Mit befreundeten Musikern belebte er den AbgasSound der zweiten Phase neu und bekannt monoton-virtuos. «Wir sind gerade dabei, wieder etwas zusammenzufriemeln.» Buchpläne stehen auch weitere an: Mit Flyern, Fotos, Fanzineberichten und Anekdoten will Sinnlos eine Dokumentation über die Abgas-Jahre veröffentlichen. «Spruchreif ist noch nichts, aber die Sammlung ist schon recht fortgeschritten», sagt er. Und wer weiss, vielleicht ist Abgas irgendwann auch mal wieder am Bodensee live zu erleben. sb Infos zu Gary: www.ulpi.com


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