Los Angeles Modernism Revisited. Häuser von Neutra, Schindler, Ain und Zeitgenossen

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Los Angeles Modernism Revisited Häuser von Neutra, Schindler, Ain und Zeitgenossen

David Schreyer Andreas Nierhaus







Los Angeles Modernism Revisited Häuser von Neutra, Schindler, Ain und Zeitgenossen Gregory Ain, Craig Ellwood, Leland ­Evison, A. Quincy Jones, Ray Kappe, John Lautner, Allyn Morris, Richard ­Neutra, Rudolph Schindler

David Schreyer Fotografie Andreas Nierhaus Text



7 Zurück in die Moderne Ein Reisebericht 17

Richard Neutra Ohara House

30 A.  Quincy Jones , ­Whitney  R.  Smith MHA Site Office 40 John Lautner Salkin House 48

Richard Neutra McIntosh House

58 Craig Ellwood Kingswood Road House 66

Richard Neutra Freedman House

78

Richard Neutra Strathmore ­Apartments

90

Leland Evison Fuss House

101 Gregory Ain Daniel House

112 Rudolph Schindler Lechner House 125 Richard Neutra Oyler House 134 Richard Neutra Miller House 147 Allyn Morris Morris House 158 Richard Neutra Wilkins House 166 Ray Kappe Kappe House 176 Richard Neutra Kambara House 186 Richard Neutra, Dion Neutra VDL Ⅱ Research House 194 Rudolph Schindler Oliver House 206 Gregory Ain Orans House 216 Grundrisse


„L.A. is probably the most mediated town in ­America, nearly unview­able save through the ­fictive scrim of its mythologizers.“ Michael Sorkin, 1982

Hollywood, Los Angeles

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Zurück in die Moderne Ein Reisebericht

Andreas Nierhaus David Schreyer

1  Reyner Banham: Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies, ­Ber­keley / Los Angeles / London 2009 (Erstausgabe 1971), S. 3. 2  Hans Bunge: Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch, München 1970, S. 23. Zit. auch in Mike Davis: City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles und neuere Aufsätze, Berlin / Göttingen 1994, S. 71. 3  Mike Davis: City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles und neuere Aufsätze, Berlin / Göttingen 1994, S. 42.

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Keine zweite Stadt der Welt ist in ihrer Wahrnehmung so durch ­Bilder – zumal Filmbilder – geprägt wie Los Angeles. Es sind die Mythen, die aus dem disparaten Gefüge auf einem Areal  von mehr als 4.000 km2 ein Ganzes machen, es in den trügerischen Begriff „Stadt“ fassen, der nach traditionellen europäisch geprägten Vorstellungen nicht zutrifft. „Neunzehn Vorstädte auf der Suche nach einer Großstadt“ – mit diesen Worten beschrieb Aldous Huxley bereits 1925 das Fehlen eines kohärent verdichteten urbanen Raumes in Los Angeles. Reyner Banham sprach 1971 von „Instant-Architektur in einem Instant-­Stadtbild“.1 Der österreichische Komponist Hanns Eisler wiederum, der wie so viele andere auch von den Nazis ins kalifornische Exil vertrieben ­wurde, nannte die Stadt – bzw. das häufig synonym dafür gebrauchte Hollywood – in der Rückschau eine „entsetzliche Idylle […], die an sich mehr dem Gehirn der Bodenspekulation entsprungen ist, weil die Landschaft ja von sich aus überhaupt nichts hergibt. Würde man dort drei Tage das Wasser einstellen, würden die Schakale wieder auf­ tauchen und der Sand der Wüste. Das Ganze ist ein groß an­ge­leg­ter Grundstücksschwindel, der sich ungeheuer bezahlt gemacht hat.“ 2 Heute zählt der Großraum Los Angeles zu den größten Agglo­ merationen weltweit. Hatte die Stadt 1890 rund 50.000 Bewohner, so verdoppelte sich die Einwohnerzahl in den 1920er Jahren von knapp 0,6 auf 1,2 Millionen. Heute leben in Los Angeles 4 Millionen und in der Metropolregion 14 Millionen Menschen. Los Angeles wurde immer wieder als ein künstliches Paradies beschrieben, in dem Himmel und Hölle, Traum und Albtraum gefährlich und mitunter verwirrend nahe beieinander liegen. Zugleich erlaubt diese „City of Quartz“, wie sie der Soziologe Mike Davis in seiner berühmten gleichnamigen Untersuchung schildert, immer auch einen Blick in die Zukunft un­ serer globalisierten urbanen Gesellschaften. „Verglichen mit anderen großen Städten“, so Davis, „liegen Los Angeles vielleicht nur sehr bruchstückhafte Planungen oder Entwürfe ­zugrunde […], dafür aber unendlich viele Visionen.“ 3 Zur architektonischen „Vision“ von Los Angeles hat nicht nur das der Stadt am engsten verbundene Medium, der Film, sondern auch die Fotografie ­wesentlich beigetragen – und damit zugleich die visuelle Mythologie der Stadt geprägt. Bis heute sind es vor allem die Aufnahmen von Julius Shulman (1910–2009 ), die das Bild der modernen Architektur in Los Angeles, des spezifischen „Los Angeles Modernism“ bestimmen. Seine Fotografien standen auch am Beginn unserer Ausein­andersetzung mit dem Werk des Architekten Richard Neutra ( 1892–1970), und sie standen uns zugleich im Weg. Nachdem Neutra die Qualitäten des jungen Fotografen 1936 zufällig entdeckt hatte, begann eine intensive, in dieser Stringenz in der Architekturgeschichte seltene Zusammenarbeit, die bis zu Neutras Tod andauerte. Shulman prägte das Bild von Neutras Architektur und wurde darüber hinaus zu einem der begehrtesten, aber auch ein­ flussreichsten Dokumentaristen der kalifornischen Moderne. Shulmans Schaffen steht paradigmatisch für die medialen Vernetzungen bzw. Verstrickungen der Architektur im 20. Jahrhundert. Ihre Re­ zeption, ja der Architekturdiskurs insgesamt wurde von Beginn an von der formal und gestalterisch ebenbürtigen und technisch op­


4  Vgl. Beatriz Colomina: Privacy and Publicity. Modern Architecture as Mass Media, Cambridge / London 1994. 5  „A number of Neutra houses seem to have a ‚Shulman‘ moment, a part of the design that seems to have been conceived with a photograph in mind […]. Did Neutra design these areas to be photographed?“ Edward Ford: The Incon­ venient Friend. On Inaccuracy, Exactitude, Drawing, and Photography, Harvard Design Magazine, No. 6 (Herbst 1998), S. 12–21. 6  Vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden / Basel 1996. 7  Thomas S. Hines: Richard Neutra and the Search for Modern Archi­­tec­ ture, New York / Oxford 1982, S. 201. 8  Vgl. Andrea Gibbons: City of Segregation. One Hundred Years of ­Struggle for Housing in Los Angeles, London 2017.

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timalen Übersetzung des Gebauten ins Medium der Fotografie mitbestimmt; die Modernität der Architektur gründete nicht zuletzt auf ihrer Auseinandersetzung mit (Massen-)Medien.4 Nicht mehr zeichnerische, sondern fotografische „Aufnahmen“ vermittelten nun einem immer größeren Publikum ein „authentisches“ Bild des Gebäudes, und nicht selten wurde diese „Medialisierung“ der Bauten schon während des Entwurfsprozesses berücksichtigt.5 Die Etablierung der ­modernen Architektur ging dabei Hand in Hand mit der Perfektionierung der drucktechnischen (und damit auflagenstarken) Reproduktion von Fotografien. Im 20. Jahrhundert war das Entwerfen und ­Betrachten von Architektur zudem längst durch neue, von der Fotografie maßgeblich beeinflusste Sehgewohnheiten gefiltert worden: Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich ein „fotografischer Blick“ zu einem beinahe globalen kulturellen Muster verdichtet.6 Wie im Architekturbetrieb bis heute üblich, nahm Julius Shulman die Bauten meist unmittelbar nach der Fertigstellung auf. Im Fall ­Neutras wurde er dabei nachweislich vom Architekten begleitet, der dem Fotografen Anweisungen zum „richtigen“ Sehen – und Foto­ grafieren – seiner Werke gab.7 Shulman präsentierte die aus glatten und scharfkantigen, gleichsam entmaterialisierten Flächen zusammengesetzten Volumina als abstrakte Kompositionen, als der Zeit enthobene Kunstwerke – und präparierte sie auf diese Weise für den architekturgeschichtlichen Kanon. Mitunter ist Shulmans fotografierte Architektur von Personen­ ­„be­wohnt“, die entsprechend zeitgenössischen Vorstellungen von Ge­sell­schaft und Geschlechterrollen agieren und damit eine den so­ zialen Normen entsprechende Nutzung der Gebäude suggerieren und propagieren: die glückliche weiße amerikanische Kleinfamilie im ­modernen Eigenheim. Gesellschaftliche Konflikte werden nicht an­ gedeutet – ein Gesichtspunkt, der angesichts einer um die Mitte des 20. Jahrhunderts nach wie vor offen rassistischen, ethnische bzw. religiöse Minderheiten diskriminierenden Boden-, Bau- und Wohnpolitik gerade in Los Angeles und Kalifornien besonders brisant er­ scheint.8 Als es 1965 im Stadtteil Watts zu schweren ethnisch ­motivierten Unruhen mit dutzenden Todesopfern kam, standen Shulman und die „weiße“ Moderne in Kalifornien auf ihrem Höhepunkt; als die Stadt 1992 abermals von gewalttätigen Ausschreitungen erschüttert wurde, hatte sich Shulman bereits zur Ruhe gesetzt. Von den tiefen Gräben im sozialen Gefüge der Stadt ist in seinen Auf­ nahmen nichts zu spüren. Shulmans Bilder suggerieren zudem eine Präsenz der modernen Architektur in Los Angeles, die in zweifacher Hinsicht nicht den ­Tatsachen entspricht: „Modern“ ist, etwa neben „Spanish Colonial“ oder „Georgian Revival“, heute wie damals nur eine von vielen stilistischen Möglichkeiten, sich häuslich einzurichten. Zudem handelt es sich bei einem Großteil der Bauten um private Wohnhäuser, die im Stadtraum keine Rolle spielen, weil sie hinter dem dichten Grün ihrer Gärten verborgen sind. Die kalifornische ­Moderne war über weite Strecken also fast unsichtbar und de facto nur einem kleinen Kreis – den Bewohnerinnen und Bewohnern sowie ihren Gästen – zu­gänglich. Ihrem zutiefst privaten Charakter zum Trotz erhoben Architekten wie Neutra mit ihren Bauten jedoch den Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz jenseits der Grenzen des


Pacific Palisades, Los Angeles Hollywood, Los Angeles 9  Kevin Vennemann: Sunset Boulevard. Vom Filmen, Bauen und Sterben in Los Angeles, Berlin 2012, S. 45.

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jeweiligen Grundstücks. Um sie als Muster und Modelle der zeit­ genössischen Architektur zu inszenieren, war man daher umso mehr auf eine optimale Visualisierung und Vermittlung angewiesen. In seinem 2012 erschienenen Essay Sunset Boulevard. Vom Filmen, Bauen und Sterben in Los Angeles verknüpft der Schriftsteller Kevin Vennemann einzelne Fäden der Film- und Architekturge­ schichte von Los Angeles – vergleichbar mit Thom Andersens legendärer Dokumentation Los Angeles Plays Itself ( 2003) – zu einem ­atmosphärisch dichten, zwischen Faszination und Abscheu changierenden Porträt der Stadt. Gemeinsam mit der Schriftstellerin Chris Kraus ist der Autor unterwegs zu einem Interview mit Shulman, das jedoch nie stattfinden wird. In der Mitte des Buches stehen jene Fragen, mit denen Vennemann das lebende Denkmal der Archi­tek­ turfotografie konfrontieren möchte. Im Kern berühren sie das seit jeher problematische Verhältnis zwischen der Architektur und ihrer visuellen Repräsentation, zwischen Bau und ( Ab-)Bild. Ausgehend vom berühmten Case-Study-House-Programm, das modernes Wohnen populär machen wollte, fragt Vennemann nach der gesellschaftspolitischen Sprengkraft der kalifornischen Moderne, die durch Shulmans Fotografien nicht unterstützt, sondern entschärft worden sei. Seine Aufnahmen, die aus funktionalen Bauten beliebige Designikonen gemacht und sie „als Kunstobjekte gefangen genommen“ hätten, würden das Versprechen eines für möglichst ­viele leistbaren modernen Wohnens konterkarieren: „Diese Architektur hätte wahrlich Erfolg haben können. Wenn Shulman nicht ge­ wesen wäre.“ 9 Vennemanns Buch war einer unserer Reisebegleiter, als wir uns im Sommer 2017 nach Kalifornien aufmachten, um aus der Perspektive von Architekturfotograf und Architekturhistoriker einen möglichst unverstellten Blick auf die kalifornische Moderne zu werfen. Auch Barbara Lamprechts in jeder Hinsicht gewichtige Dokumentation des Gesamtwerks von Richard Neutra und Thomas Hines’ unübertroffene Monografie des Architekten hatten wir im Gepäck. Reyner Banhams euphorische Beschreibung von Los Angeles als einer alternativen Vorstellung von Stadt war dabei ebenso präsent wie Mike Davis’ Kritik der Machtstrukturen, die dieser Vision zugrunde liegen. Unsere Reise galt zunächst den Wohnhäusern Richard Neutras und damit einer Kategorie von Bauten, deren Umgebung eher von den Annehmlichkeiten als von den Abgründen einer schier endlos ausufernden Metropolregion bestimmt ist. Die meisten Häuser, die wir für unsere Forschungsarbeit näher untersuchten, befanden sich in einer jener privilegierten Zonen an den Hängen oder Aus­ läufern der Santa Monica Mountains, die das Los Angeles Basin vom nördlich gelegenen San Fernando Valley trennen. In ethnografischen Karten von Los Angeles ist dieser Bereich als rein weißes Gebiet ­ausgewiesen, im Kontrast zu den von Schwarzen und Latinos dominierten Quartieren im Süden. Die tiefen sozialen Widersprüche, die das Leben in Los Angeles prägen, drängten dennoch immer wieder an die perfekt glänzende Oberfläche. Unsere Reise war von Anfang an als eine Art Expedition kon­ zipiert. Waren die Bauten in den allseits bekannten historischen Foto­grafien gleichsam „eingefroren“, so interessierten wir uns für die


Edgeware Road, Echo Park, Los Angeles Glendale Freeway, Echo Park, Los Angeles

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Spuren, die eine jahrzehntelange Benützung an ihnen hinterlassen hatte. ­Waren diese Häuser formal perfekte Kunstwerke oder flexible Maschinen, die geänderten Wohnbedürfnissen leicht angepasst werden konnten? Der offensichtlichste Unterschied war nicht selten in der Vegetation festzustellen, die aufgrund verbesserter Wasserver­ sorgung und des Einsatzes von Düngemittel heute deutlich dichter ist als zur Zeit der Errichtung der Häuser. Die Bauten interessierten uns – abgesehen von ihren unbestrittenen formalen Qualitäten – in Hinblick auf Fragen der Raumökonomie und des Klimas. Sie erschienen uns beispielgebend für eine aktualisierte, aber eben nicht forma­ listische Auseinandersetzung mit heutigen Fragen des Wohnens auf begrenztem Raum und unter verschärften klimatischen Bedingungen. In Europa gilt Neutra nach wie vor als Architekt unerschwinglicher Wohnhäuser – wir wollten ihn dagegen so zeigen, wie ihn sein Sohn Raymond im Gespräch mit uns beschrieb: als jemanden, der die ­Aufträge für große Villen annahm, um wirtschaftlich überleben zu können. Wirklich interessiert hätte sich Richard Neutra für den Bau einfacher Häuser, das Ausreizen knapper Rahmenbedingungen, für Siedlungsplanung und Städtebau. Doch Channel Heights, Neutras ­bedeutendste, für die Werftarbeiter von San Pedro im Süden von Los Angeles entworfene Siedlung von 1942, existiert längst nicht mehr. Und auch jene Häuser, die Neutra für die Mittelschicht entwarf, sind heute aufgrund der gestiegenen Bodenpreise unerschwingliche Luxus­­immobilien und zugleich nicht selten gerade deswegen vom Abbruch bedroht. Es ist bezeichnend, dass das von Neutra für Edgar J. Kaufmann, den Bauherrn von Frank Lloyd Wrights Haus Falling­ water, erbaute Desert House in Palm Springs zu den Ikonen der ­Moderne zählt, w ­ ährend sein fantastisches Oyler House in Lone Pine, das vom Bauherrn als Heimwerker selbst gezimmert wurde, einem größeren ­Publikum kaum bekannt ist. Für uns verkörpern gerade diese sparsamen und unkomplizierten Häuser das große Versprechen der kalifornischen Moderne – ist in ihnen doch ein für möglichst viele Menschen erreichbares „Neues Wohnen“ formuliert, das ganz im Gegensatz steht zu jenen aufgeregten und nicht selten aufgeblähten Palästen, die als unerreichbare Sehnsuchtsorte zwar der populären Vorstellung von der „Traumfabrik“ Hollywood entsprechen mögen, aber eben deshalb mit dem „wirklichen Leben“ der meisten Menschen nicht das Geringste gemeinsam haben. Wir versuchten, dem verführerischen Glitzern der Architektur-Ikonen zu widerstehen, und machten uns auf die Suche nach Bauten, die ein differenziertes Bild des „Los Angeles Modernism“ vermitteln können. Unser Projekt hatte also ein Ziel, den Weg dorthin ließen wir aber bewusst offen. Da es sich vorwiegend um Privathäuser handelte, ­waren wir auf das Entgegenkommen der Bewohnerinnen und Bewohner angewiesen. Wir nahmen den Faden an einer Stelle auf und ­folgten seinem Verlauf quer durch das Geflecht aus Kontakten, persönlichen Beziehungen und sich ergebenden Möglichkeiten. Er führte uns mitunter auch aus der Stadt hinaus und an Orte, die jedoch durchaus als „Satelliten“ von Los Angeles gelten können. Als wichtigste Schnittstelle erwies sich der Architekt John Bertram, durch dessen Interesse und Hilfsbereitschaft wir Zutritt zu einer ganzen

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Broadway, Downtown, Los Angeles

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10  Vgl.  Hines, Richard Neutra, S. 55–78.

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­ eihe von Bauten erhielten. Auch Raymond Neutra öffnete uns R ­zahlreiche Türen. Bald war klar, dass wir unser „Forschungsdesign“ der Wirklichkeit von Los Angeles anpassen mussten und wollten. Das bedeutete, ausgehend von Richard Neutra auch andere mit ihm in mehr oder weniger enger Beziehung stehende Architekten bzw. deren Häuser in den Blick zu nehmen. Nur so konnten wir dieser ­faszinierenden und zugleich in Europa wenig oder nur einseitig bekannten „Architecture of the Sun“ ( Thomas S. Hines ) gerecht werden. Es lag nahe, exemplarische Häuser von Neutras Landsmann ­Rudolph Michael Schindler ( 1887–1953) in unsere Sammlung einzubeziehen, auch um die divergierenden Positionen dieser beiden früh aus ihrem Heimatland Österreich ausgewanderten Pioniere der modernen kalifornischen Architektur im Kontext unseres Projektes zu zeigen. Schindler, der schon 1914, wie viele andere Europäer ­fasziniert von den Bauten Frank Lloyd Wrights ( 1867–1959), in die USA gekommen war, lebte seit 1920 in Kalifornien, zuerst als Bauleiter von Wrights Hollyhock House, bald als selbstständiger Architekt. Sein 1922 erbautes Haus in der Kings Road in West Hollywood zählt durch die innovative Bauweise aus vorgefertigten Eisenbetonele­ menten und die enge Verzahnung von Innen- und Außenraum zu den ­frühesten Do­kumenten eines „Neuen Bauens“ in Kalifornien. Schräg gegenüber stand bereits seit 1916 ( und bis zu seinem Abbruch 1970 ) eine weitere ­Inkunabel der frühen Moderne, das Dodge House von Irving Gill ( 1870–1936), dessen glatte kubische Formen bemerkenswerte Parallelen zu den Arbeiten von Adolf Loos aufwiesen, ihre Wurzeln aber in den Adobe-Bauten der Pueblo-Indianer hatten. Schindlers Wohnhaus – heute das MAK Center for Art and Architecture – war zugleich das erste Domizil Richard Neutras, als er 1925 in Los Angeles ankam. Die Geschichte der gemeinsamen Arbeit Neutras und Schindlers, ihrer Freundschaft wie auch ihrer Entfremdung wurde bereits oft ­erzählt und soll hier nicht weiter verfolgt werden.10 Festzuhalten ist, dass beide gleichermaßen von den so unterschiedlichen Moderne-­ Konzepten Otto Wagners ( 1841–1918 ) und Adolf Loos’ ( 1870–1933) geprägt waren und ihre Wiener Erfahrungen in Kalifornien auf unterschiedliche Weise einsetzten – sie waren aber auch von unterschiedlichen Sehnsüchten getrieben: Während sich Schindler in Kalifornien von den europäischen Konventionen befreite, wollte Neutra die ­hoch­entwickelte industrielle Produktion der USA für die Architektur nutzbar machen. Ihre Bauten für Philip Lovell, Schindlers Strandhaus ( 1926 ) und Neutras Health House ( 1927–1929 ), waren frühreife ­Meisterwerke und Gründungsbauten der spezifisch kalifornischen Moderne – Jahre, bevor an der Ostküste Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson den „International Style“ proklamierten. Gregory Ain ( 1908–1988 ) verband die unterschiedlichen Zugänge der beiden Wiener zu einer eigenständigen Architekturauffassung, die gleichermaßen systematisiert und individuell erscheint. Wie kaum ein anderer Architekt im Kalifornien jener Zeit sah Ain im Wohnen ein soziales Thema und beschäftigte sich intensiv mit dem ge­mein­ schaftlichen Wohnen und Bauen, er erdachte „soziale Landschaften“ und brachte mit seinen Konzepten den Begriff „Sharing“ in zu seiner Zeit nicht bekannte Zusammenhänge.


Die konstruktiv und formal spektakulären Wohnhäuser von John ­Lautner ( 1911–1994 ), wie vor ihm Schindler und Neutra ein Bewunderer und Mitarbeiter von Frank Lloyd Wright, sind mit ihren theatralischen räumlichen Inszenierungen wohl das perfekte architektonische Äquivalent zu der auf ( filmischen) Effekt ausgerichteten visuellen Kultur von Los Angeles. Im aktuellen „Mid Century Modern“-Boom gelten sie als die begehrtesten Immobilien. Lautners Bauten mögen sich bestens als Filmkulissen eignen und sind doch viel mehr: komplexe, sinnliche Skulpturen mit einem feinen Gespür für Materialien und Ober­ flächen, die einzigartige räumliche Erlebnisse generieren. Zugleich verweigern sie sich jeglicher Modellhaftigkeit: Die Moderne ist hier kein gesellschaftliches Projekt, sondern ein Vehikel für absoluten ­Individualismus. A. Quincy Jones ( 1913–1979) dagegen versuchte, die neuen Wohnformen des 20. Jahrhunderts mit einer an die Landschaft und das Klima Kaliforniens angepassten Bauweise zu verknüpfen. Seine Häuser haben keine Flachdächer und sind dennoch unmissverständlich modern, die Holzkonstruktion ist nicht – wie bei den meisten Häusern in Los Angeles – unter Verputz verborgen, sondern liegt frei, ja wird zum Gestaltungsmittel. Die Architektur von Jones ist das Gegenteil von Lautner: unaufgeregt, ruhig, seriell, mit hohem sozialem Anspruch; gerade wegen ihrer formalen Zurückhaltung erscheint sie heute ­weniger als „moderat“, sondern vielmehr als „konsequent“ modern. Der Name Craig Ellwood (1922–1992 ) ist eng mit dem von John Entenza, dem Herausgeber der Zeitschrift Art and Architecture und Initiator der ab 1945 entstandenen Case Study Houses, verbunden. Der Anspruch des Programms war es, durch konstruktiv innovative und sparsame, formal reduzierte, ästhetisch hochwertige Wohnhäuser ein breites Publikum anzusprechen und damit die Moderne zu demokratisieren. Ellwood, als Architekt ein Autodidakt, errichtete nicht ­weniger als drei Häuser innerhalb des Programms. Ihm gelang es äußerst erfolgreich, die formale Strenge Mies van der Rohes mit der Wohnkultur Kaliforniens in Einklang zu bringen, wobei die Basis auch hier lange zuvor von Schindler und Neutra gelegt worden war. Allyn Morris (1922–2009) dagegen zählt zu den weniger bekannten Architekten der kalifornischen Moderne. Nach einem Studium des Ma­schinenbaus wandte er sich der Architektur zu und integrierte schon in seinen ersten Bauten mit sicherer Hand Stahl, Beton und Glas. Großen Einfluss auf sein Werk hatten die Bauten Schindlers, obwohl dieser längst tot und fast vergessen war, als Morris sein Büro eröffnete. Weitgehend vergessen ist Leland Evison ( 1900–1963), der nach einer langen Zeit als Zeichner in verschiedenen Büros seit 1945 ein eigenes Büro in Pasadena besaß. Seine wenigen bekannten Bauten verraten einen souveränen Umgang mit Material, Konstruktion und Raum, ebenso wie mit den ortsspezifischen klimatischen Bedingungen. Das Werk von Ray Kappe ( geb. 1927 ) schließlich spannt einen ­Bogen bis in die Gegenwart. Seine spezifisch kalifornischen Wohnhäuser sind luftige Holzgerüste, zwischen denen sich großzügige Räume und fließende Übergänge zwischen innen und außen entwickeln. Es sind wahre Baum-Häuser, in denen die formale Strenge eines Richard

San Diego Freeway, Brentwood & Bel Air, Los Angeles Los Angeles River, Atwater Village, Los Angeles

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Neutra ebenso nachzuklingen scheint wie das Freiluft-Wohnen ­Rudolph Schindlers. Noch wichtiger scheint uns jedoch der Umstand zu sein, dass es Kappe gelang, die Qualitäten seiner groß­bürgerlichen Residenzen in ein leistbares Fertighaus-Programm zu in­tegrieren. Das von ihm 1972 gegründete private Southern California Institute of ­Architecture ( SCI-Arc) zählt heute zu den wichtigsten Architekturschulen der USA. Unser Projekt basiert auf einer ungewöhnlich intensiven Zusammenarbeit zwischen Architekturfotograf und Architekturhistoriker. Dabei war uns die räumliche und zeitliche Parallelität der Wahr­ nehmung der einzelnen Häuser wichtig: Die Aufnahmen fanden zur selben Zeit statt wie die Gespräche mit den Bewohnerinnen und ­Bewohnern – gemeinsam bilden sie die Basis dieses Buches. Indem wir die Bauten in einem bestimmten historischen Moment – im Juni 2017 – besuchten und mit unterschiedlichen Mitteln fest­ zuhalten versuchten, ging es uns nicht zuletzt darum, ihre historische und gegenwärtige Realität in den Vordergrund zu rücken. Bei den so überaus fotogenen Architekturen der klassischen Moderne, deren Bilder sich längst wie eine blickdichte Folie über die gebaute Wirklichkeit gelegt haben, ist die Frage nach substanziellen Veränderungen im Lauf einer jahrzehntelangen Benützung besonders brisant und kann nur unterstützt durch einen medienkritischen Blick beantwortet werden. Die Auseinandersetzung mit der zeitlichen Gebundenheit eines Bauwerks gibt auf beinahe biografische Weise Aufschluss über die individuellen „Befindlichkeiten“ des Hauses und das Verhältnis von originärem Entwurf, Ausführung und die Konstanten und Variablen des Gebäudes seit seiner Fertigstellung. Der Zustand der hier vorgestellten Häuser reicht von der Kon­ servierung des Bestandes über die Rekonstruktion des Originalzustands bis hin zum Weiterbauen. Zugleich ist die Situation vieler ­Häuser der Moderne in Los Angeles und Kalifornien durchaus prekär, weil sie für heutige, nicht selten aufgeblähte Wohnbedürfnisse scheinbar zu wenig Raum bieten und zugleich Grundstücke besetzen, deren Wert in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt durch Gentrifizierung stark gestiegen ist. Ein Denkmalschutz, wie man ihn aus Europa kennt, existiert nicht: Bauten können nur auf Initiative der Eigentümer geschützt werden. Abriss und Neubau sind die häufige Konsequenz. Dieser keineswegs ressourcensparenden Praxis möchten wir mit den von uns ausgewählten Beispielen unterschiedliche Herangehensweisen entgegensetzen, die letztlich zum Erhalt von wertvoller Bausubstanz führen können. Wir verstehen diese Häuser als kostbare und bewohnbare Wissensspeicher einer vergangenen, aber auch zukünftigen Baukultur. Darin, und nicht in einer mo­men­ tanen modischen Attitüde, liegt für uns die Aktualität des „Los ­Angeles Modernism“. Mit unserer ­Perspektive auf ausgewählte, vorbildliche Häuser der kalifornischen Moderne wollen wir einen neuen Blick etablieren, der sich als anti-­monumental beschreiben lässt: nicht die eine ästhetisierte, pure und „ganze“ Form, sondern das Fragment, nicht die ­perfekte Ober­fläche, sondern ihre Kratzer, nicht das erhabene Kunstwerk, sondern das alltägliche, aber hochwertige Gebrauchsobjekt Haus.

Venice Beach, Los Angeles

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Richard Neutra Ohara House Silver Lake Los Angeles 1961

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Der Silver Lake ist kein idyllischer See, sondern ein von Betonwänden eingefasstes und von einem hohen Zaun umgebenes Wasserreservoir, das 1907/ 1908 inmitten einer Hügellandschaft nördlich von Downtown Los Angeles angelegt wurde. Seinen Namen hat das Reservoir auch nicht e ­ twa von seiner silbern glänzenden Oberfläche, ­sondern von Stadtrat Herman Silver, dem Präsidenten der City Water Commission. Eine tadellos funktio­nier­ende Wasserversorgung war die Basis für die weitere Entwicklung der Stadt, deren ­Bevölkerung sich zwischen 1900 und 1910 auf 300.000 Einwohner verdreifachte. Als Richard Neutra 1959 das Ohara House plante, hatte Los Angeles bereits 2,4  Mil­ lionen Ein­wohner und das Viertel rund um das ­Reservoir, ebenfalls Silver ­Lake genannt, war zu einer bevorzugten Wohn­gegend für Künstler und Intellektuelle geworden. In unmittelbarer Nähe zu seinem eigenen Wohnhaus am Ostufer des Reservoirs (vgl. S. 186) entstand auf Grundstücken, die Neutra an seine Bauherren verkaufte, zwischen 1948 und 1961 ­eine Kolonie von nicht weniger als neun Häusern des Architekten, die sowohl die äs­thetische Konsistenz und Konsequenz als auch die formale Bandbreite seiner reifen Schaffensphase dokumentieren (vgl. S. 176). Hitoshi und June Ohara waren Nachkommen japanischer Einwanderer, und Neutra, dessen Verständnis von Architektur und Wohnen durch einen frühen Aufenthalt in Japan entscheidend ­beeinflusst wurde, schätzte die Zusammenarbeit mit diesen Auftraggebern offenbar ganz besonders. Das Haus in Hanglage wird von zwei weiteren ­Neutra-Bauten, dem Flavin House und dem Akai House, flankiert und hat zwei Zugänge: von der „Schauseite“ vom Silver Lake und über e ­ ine private Zufahrtsstraße, die auch andere Häuser der Kolonie erschließt. Von der Garage am höchsten Punkt des Grundstücks über den ­Innenhof und den eigentlichen Wohntrakt entwickelt sich eine abgestufte architektonische Landschaft, die ursprünglich durch einen felsigen japanischen Garten vor dem Haus ergänzt wurde. In der Ansicht vom S ­ ilver Lake erzeugt die strenge Geo­metrie hölzerner Balken und gläserner Flächen ein intensives Spiel der räumlichen Ebenen, kon­trastiert die verschattete Loggia mit dem weit a ­ uskragenden Dach über dem Schlafzimmer der ­Eltern. Zentrum des Hauses ist der an drei Seiten durch G ­ laswände maximal nach außen geöffnete und erweiterte Wohnbereich. Schiebefenster stellen eine Verbindung zur Loggia her, die durch die Sonnensegel eine tex-

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tile Wandschicht erhält und damit zu einem zur Straße hin visuell abgrenzbaren Teil des Wohnbereiches wird. Auf der anderen Seite des Raumes öffnet sich ein kleiner Innenhof, der mit der Küche und dem vorgelagerten Essbereich in Verbindung steht. Das Haus wird heute von dem Designer David Netto und seiner Familie bewohnt. Für ihn ist es ein Kunstwerk, ein Generator von Atmosphäre, her­vorgebracht durch den spezifischen Umgang mit Licht. Die geringe Wohnfläche des Hauses ­lehre zwar den Verzicht und die Beschränkung auf das Wesentliche, zwinge aber selbst Liebhaber dieser Architektur irgendwann, wenn die Kinder größer werden, sich ein Domizil mit mehr Pri­ vatsphäre zu suchen. Von großer Bedeutung für ­Netto ist die Art, wie das Haus an den Ort gebunden ist, wie sein Bau aus dem Terrain entwickelt wurde und Blickbeziehungen organisiert sind. David Netto schätzt die Zurückhaltung und ­Bescheidenheit, die Neutras Bauten von denen an­ ­ derer Vertreter der Moderne unterscheiden. ­Anders als die wiederkehrenden Konstruktionen und gestalterischen Motive suggerieren, sind Neu­ tras Häuser keineswegs reproduzierbar, sondern in Nettos Augen vielmehr maßgeschnei­derte Ob­ jekte, die zugleich untrennbar mit ihrem Gestalter, einem Genie des Raumes und der Raumwahr­ ­ nehmung, verbunden sind.


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Der Wohnraum ist das Zentrum des Hauses und zugleich maximal durchlässig. Drei große Glaswände gewähren unterschiedliche Ausblicke und sorgen für fließende Übergänge zwischen Innen- und Außenraum. Im Kontrast zu dieser transluziden Offenheit steht das kompakte Ziegelmauerwerk des Kamins, dessen beinahe autonomes Volumen eine s ­ tarke Präsenz entwickelt und ihn – im Sinne Neutras – zum mythischen „Herd“ des Hauses werden lässt.

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Das kompakt dimensionierte Haus ist mit größter räumlicher Ökonomie angelegt. Einbaumöbel sind nicht nur in der Küche unerlässlich, um den zur Verfügung s ­ tehenden Raum optimal a ­ uszunützen. Sowohl Kinderzimmer als auch Küche sind nach Süden, zu einem schmalen Grünstreifen hin, orientiert. Der Blick durch die Fenster in das Dickicht der Hecke erweitert den Raum und dient als Kompensation für dessen geringe Größe. Die vorgelagerte ­Vegetation schützt das Haus vor direkter Sonnenein­strahlung.

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Auch wenn sie gegenüber der Straßen- und Garten­seite nur einen untergeordneten Rang beanspruchen können, sind die Fronten zu den ­schmalen Hofräumen mit ­derselben Sorgfalt ge­staltet. Das Haus besteht nicht aus einzelnen Fassaden, sondern entwickelt sich im Raum. Auf diese Weise entstehen rund um den Baukörper in­ time Zonen, die je­weils eine eigene Aufenthaltsqualität ­besitzen.

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