Leseprobe Publikation »...Vor Schand und Noth gerettet«?! Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken

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»...VOR SCHAND UND NOTH GERETTET«?!

Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt herausgegeben von: Bezirksmuseum Josefstadt und Anna Jungmayr

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Dieses Buch erscheint anlässlich der Ausstellung

»... VOR SCHAND UND NOTH GERETTET«?! Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt

im Bezirksmuseum Josefstadt 6. Mai 2021 bis 30. März 2022

Publikation des Bezirksmuseums Josefstadt Nr. 24 Wien 2021

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Impressum Herausgeber*innen Bezirksmuseum Josefstadt, Anna Jungmayr Grafische Gestaltung Helmut Pokornig Redaktion Anna Jungmayr Lektorat Daniel Haberler-Maier Medieninhaber Bezirksmuseum Josefstadt 1080 Wien, Schmidgasse 18 bm1080@bezirksmuseum.at www.bezirksmuseum.at/de/bezirksmuseum_8 Druck Gerin Druck GmBH, Wolkersdorf ISBN 978-3-200-08093-5

Coverfoto: Carl Pippich: 8., Alser Straße – Niederösterreichisches Findelhaus, 1880-1890, Wien Museum

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Inhalt 11 Vorwort Maria Ettl

13 Zum Geleit Martin Fabisch Veronica Kaup-Hasler Matti Bunzl

19 „... Vor Schand und Noth gerettet“?! Anna Jungmayr

INSTITUTIONEN 25 Das Wiener Gebär- und Findelhaus

Eine Institution zum Schutz von unerwünschten Kindern Verena Pawlowsky

51 Kinder unter fremder Obhut

Ein Streifzug durch die Geschichte der Wiener Jugendwohlfahrt Gudrun Wolfgruber-Thanel

MEDIZIN UND GESCHLECHT 77 Die Zange, der Hebel und die sanfte Geburt Diskussionen zur Geburtshilfe um 1800 Jakob Lehne

91 Hebammenkunst - zwischen Handwerk und Wissenschaft Zur Entwicklung des Hebammenwesens mit Fokus auf Wien Brigitte Kutalek-Mitschitczek

GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 107 „Ich begegnete einem Mann, der mir mein Leben verhaute“

Arbeit, Armut und uneheliche Geburten bei Dienstbotinnen im „langen“ 19. Jahrhundert Jessica Richter

121 Über Körper, Geschlecht und Begehren sprechen

Geschichte der Sexualitäten vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert Nora Lehner

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137 Lebensentwürfe, Mutterpflichten und Frauenrechte Zur Debatte um reproduktive Handlungsräume in Österreich Maria Mesner

153 Gebären im Geheimen

Vom Gebärhaus zur anonymen Geburt, vom Findelhaus zur Babyklappe Barbara Maier

LEBENSGESCHICHTEN 165 „oh welch ein herrlicher, erhebender Gedanken sich Mutter zu wissen“

Schwangerschaft, Geburt und „Mutterliebe“ in Selbstzeugnissen bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert Sarah Seidl

187 Zerrissene Kindheit

Das Leben unehelicher Kinder um 1900 Claudia Rapberger

199 Spurensuche in der eigenen Familie

Praxistipps zur Erforschung ledig geborener Vorfahren Leopold Strenn

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Impressum Standorte Dokumentation der Ausstellung Ausstellungsteam Autor*innen Abbildungsverzeichnis Danksagung

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OBJEKTGESCHICHTEN 16 Kindes-Zeichen Rebecca Muršec

22 Collage: Aus der niederösterreichischen Landes-Findelanstalt Anna Jungmayr

48 Kupferstich: Prospect des Hospithals S. Marx Sarah Pichlkastner

74 Waschbecken und Kanne zur Händedesinfektion Anna Jungmayr

88 Hebammen-Bereitschaftstasche Rebecca Muršec

104 Findelhaus-Marken Anna Jungmayr

118 Buch: Die Frau als Hausärztin Nora Lehner

134 Scheidenpulverbläser Corinna Beran

150 Verhütungskoffer „Deluxe“ Lea Struck

162 Wärmeflasche für ein Säuglingstrinkgefäß Anna Jungmayr

182 Romanmanuskript einer unehelich geborenen Frau Anna Jungmayr

196 Aufnahmebuch des Findelhauses Anna Jungmayr

212 Kunstintervention: Changing Cabinet Hybrid Dessous

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Standorte 1

Findelhaus

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Gebäranstalt

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Alserkirche Plan: Franziszeischer Kataster, 1829, Österreichisches Staatsarchiv, Mapire Modelle: Helmut Pokornig, 2021, Bezirksmuseum Josefstadt

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Das Gebäude des Findelhauses an der Alser Straße 23 wurde 1910 abgerissen und die Lange Gasse an jener Stelle, an der sich Teile des Hauses befunden hatten, verlängert.

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Helmut Pokornig, 8., Lange Gasse, Straßenanasicht in Richtung Alser Straße, 2021 Helmut Pokornig, 8., Alser Straße 17-23, Straßenansicht, 2021

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Das Gebärhaus befand sich seit seiner Gründung 1784 direkt im Areal des Allgemeinen Krankenhauses (heute der Campus der Universität Wien). Helmut Pokornig, 9., Altes AKH, Hofansicht (9. Hof) Richtung Garnisonsgasse, 2021 Helmut Pokornig, 9., Altes AKH (ehem.: Rotenhausgasse), Das „Tor der heimlich Schwangeren“, 2021

Seit 1783 war die Alserkirche Sitz der Pfarre Alser Vorstadt. Das Gebärhaus und das Findelhaus lagen in ihrem Zuständigkeitsbereich. Helmut Pokornig, 8., Alserkirche, Alser Straße 17, 2021

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Vorwort Liebe Leserinnen, liebe Leser. Die Suche nach ihren Vorfahren führt viele Menschen zu den Matriken der Pfarre Alser Vorstadt. Dort sind auch die Taufen jener 750.000 Kinder vermerkt, die in der Gebäranstalt des damaligen Allgemeinen Krankenhauses geboren und zumeist über das Findelhaus an Pflegestellen in weite Teile der Habsburgermonarchie vermittelt wurden. Das in den letzten Jahren gestiegene Interesse an Ahnenforschung sowie ein Konzept von Leopold Strenn, Präsident der Gesellschaft für Familien- und regionalgeschichtliche Forschung, lieferten die Impulse zur Planung einer Ausstellung zu diesen beiden ehemaligen Institutionen. Durch die von Stadträtin Veronica Kaup-Hasler ins Leben gerufene Initiative Bezirksmuseen Reloaded ergab sich die Chance der Zusammenarbeit mit Anna Jungmayr, Curatorial Fellow in der Stabstelle Bezirksmuseen im Wien Museum, die sofort große Begeisterung für die Thematik zeigte. Durch sie und ihr Interesse an der Sozial- und Geschlechtergeschichte ergab sich gemeinsam mit dem Ausstellungsteam und mir als Projektleiterin eine ganz neue Herangehensweise an die Thematik mit einer Vielzahl an Expert*innen: Margarete Hubinger stellte ihr umfassendes Wissen zu Medizingeschichte zur Verfügung, Leopold Strenn seines zu Ahnenforschung, Helmut Pokornig oblag die Ausstellungsgestaltung und -architektur. Rebecca Muršec, Corinna Beran,

Lea Struck und Natalja Schaudinn brachten sich tatkräftig bei Transkriptionen, Recherchen und Planungen für Begleitveranstaltungen ein. Martin Spengler und Manuela Diem interpretierten historische Findelkind-Lieder neu. Beraten und finanziell unterstützt wurde dieses Projekt von der Stabstelle Bezirksmuseen im Wien Museum, wobei darauf geachtet wurde, dass sowohl Technik als auch Ausstellungsmöbel nach Ende der Laufzeit von anderen Bezirksmuseen weiter genutzt werden können. Die nun vorliegende Publikation und eine nachhaltige Integration von einzelnen Ausstellungsbereichen in die Dauerausstellung des Bezirksmuseums wurden von Anfang an mitgedacht. Die Inhalte der Publikation hat Anna Jungmayr koordiniert, das Lektorat lag in den Händen von Daniel Haberler-Maier, grafisch gestaltet wurde »…Vor Schand und Noth gerettet«?! von Helmut Pokornig. Herzlichen Dank an alle, die an dieser bemerkenswerten Ausstellung und Publikation mitgearbeitet haben. Großer Dank geht an Verena Pawlowsky, deren wissenschaftliche Forschungsergebnisse wir als Basis für unsere Arbeit nutzen durften. Für mich war die Zusammenarbeit mit dem Wien Museum eine Erfahrung, aus der ich vieles lernen konnte – ein Lichtblick für die Zukunft der Bezirksmuseen und eine Freude, mit dem Team und vor allem mit Anna Jungmayr zusammenzuarbeiten. Maria Ettl Museumsleiterin

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Zum Geleit Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher des Bezirksmuseums Josefstadt! Am 6. Mai 2021 eröffnete die Sonderausstellung »...Vor Schand und Noth gerettet«?! Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt im Bezirksmuseum Josefstadt. Inmitten der Corona-Krise war es mir eine Freude, zumindest mittels Videogruß ein paar Begrüßungsworte sprechen zu dürfen – dennoch, Corona war und bleibt vorerst ein Einschnitt in unserem Leben. Eine kleine, persönliche Randnotiz: Wie sicher auch viele andere Besucherinnen und Besucher des Bezirksmuseums habe ich unter meinen Vorfahren ein „abgelegtes“ Kind – meinen Großvater. Soziale und medizinische Einrichtungen, die wir heute als selbstverständlich erachten, waren zu den Zeiten unserer Vorfahren viel zu selten oder für die große Mehr-

heit der Bevölkerung unerschwinglich. Umso wichtiger ist es, vor allem jene Institutionen, die den oft mit ihren Problemen alleine gelassenen Frauen und Mädchen Unterstützung boten und so auch für unsere heutige Existenz mitverantwortlich sind, in den Fokus unseres Forschungsinteresses zu rücken. Das Josefstädter Bezirksmuseum ist Heimstätte für kulturelle Vielfalt und Ort des lokalen Dialogs. Es bietet einerseits einen umfassenden Einblick in die Geschichte des Bezirks und ist andererseits eine wichtige Kommunikationsdrehscheibe in der Josefstadt. Last but not least, ein herzliches Danke an alle, die dieser Ausstellung Leben eingehaucht haben, insbesondere natürlich an die Leiterin des Museums, Maria Ettl! Mag. Martin Fabisch Bezirksvorsteher der Josefstadt

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Zum Geleit In die Geschichte des eigenen Lebensumfeldes einzutauchen, ist immer von besonderem Wert. Die Sonderausstellung im Bezirksmuseum Josefstadt bietet hier einen wichtigen und aufschlussreichen Einblick in die Lebenssituation jener Frauen in der Stadt, die ungewollt schwanger wurden oder keine Möglichkeit hatten, ihr Kind selbst großzuziehen. Historische Objekte, zur Verfügung gestellt von über zwanzig wissenschaftlichen Institutionen, Gemälde und Fotos, aber auch geburtsmedizinische Geräte sowie die Ausstattung von Hebammen aus früheren Zeiten geben den Besucherinnen und Besuchern nicht nur eine einzigartige Möglichkeit, den Nöten und Lebensbedingungen der Frauen nachzuspüren, sondern beleuchten die damaligen Verhältnisse auch aus politischer und geschlechterperspektivischer Sicht. Das Zustandekommen dieser Ausstellung ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie professionelles museales Arbeiten in Verbindung mit ehrenamtlichem Engagement ein Stück Alltagsgeschichte für die Bewohnerinnen und Bewohner sichtbar macht und somit einen unverzichtbaren Beitrag für die Vermittlung der Geschichte Wiens

leistet. Das Projekt Bezirksmuseen reloaded fördert seit 2020 eben genau diese Form der Zusammenarbeit zwischen dem Wien Museum und den Bezirks- und Sondermuseen. Jeder Bezirk beherbergt ein eigenes Bezirksmuseum. Wien verfügt damit über ein dichtes und attraktives Netz an lokalhistorischen Institutionen, das weltweit einmalig ist. Als Ort der Begegnung und der lokalen Wissensvermittlung wirken sie identitätsstiftend und sind ein wichtiger Teil des kulturellen Gefüges der Stadt. Die Stadt ist stolz darauf und fördert nicht nur den Erhalt, sondern vor allem auch die Weiterentwicklung dieser kulturellen Infrastruktur. Ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stabstelle im Wien Museum und der Bezirksmuseen für ihr Engagement, das Wissen in und über die Stadt zu sichern und zugänglich zu machen. Mag.a Veronica Kaup-Hasler Amtsführende Stadträtin für Kultur und Wissenschaft

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Zum Geleit Mit dem Start der Initiative Bezirksmuseen Reloaded am 1. Jänner 2020 begann eine neue, spannende Ära in der langen Geschichte dieser so wichtigen urbanen Institutionen. Das generelle Ziel ist die Stärkung der Bezirksmuseen durch die Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen, nicht nur finanzieller Art, sondern auch, und noch wichtiger, in der Form musealer Expertise. Dies geschah durch die Schaffung einer Stabstelle im Wien Museum. Die dort gebündelten Kräfte stehen den Bezirksmuseen auf Wunsch zur Verfügung, insbesondere drei Curatorial Fellows, junge Kolleg*innen am Beginn ihrer beruflichen Museumstätigkeit, die im Zuge von Bezirksmuseen Reloaded angestellt werden konnten. Die Ausstellung »…Vor Schand und Noth gerettet«?! Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt – deren begleitende Publikation hier vorliegt – war eines der ersten Großprojekte, das in diesem Zusammenhang umgesetzt werden konnte. Die ambitionierte Präsentation des Bezirksmuseums Josefstadt war eine

exemplarische Zusammenarbeit zwischen den freiwilligen Mitarbeiter*innen um Museumsleiterin Maria Ettl und der Stabstelle Bezirksmuseen, insbesondere Curatorial Fellow Anna Jungmayr. Mit diesem Buch erfährt die so wichtige wie weithin gepriesene Ausstellung ihre ultimative Nachhaltigkeit. Es ist damit aber nicht nur Teil der erfolgreichen Publikationsgeschichte der Wiener Bezirksmuseen. Das Buch ist auch ein genuiner Beitrag zum aktuellen Forschungsgeschehen, vor allem in den so essentiellen Bereichen der Geschlechtergeschichte und der Geschichte des Körpers. Solche Symbiosen sind das erklärte Ziel von Bezirksmuseen Reloaded. In diesem Sinn ist diesem wunderbaren Buch zu wünschen, dass es noch viele erfolgreiche Nachfolgepublikationen erhält. Dr. Matti Bunzl Direktor der Museen der Stadt Wien

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Kindeszeichen über die Findelkinder Jakob Semrath und Anna Humm, 1850 und 1865, Bezirksmuseum Josefstadt

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Kindes-Zeichen Rebecca Muršec Jakob Semrath (geboren 1850) und Anna Humm (geboren 1865) waren Findelkinder. Sie teilten das Schicksal von etwa 750.000 Kindern in der Zeit von 1784 bis 1910: Geboren im Wiener Gebärhaus, wurden sie in der Pfarre Alser Vorstadt getauft, nach wenigen Tagen im Wiener Findelhaus abgegeben und von dort an Pflegefamilien weitervermittelt. Wir wissen nicht viel über das Leben der beiden Findelkinder. Durch ein strukturiertes Aufnahmeverfahren von Neugeborenen im Findelhaus, welches ihrer Identifizierung diente, existieren jedoch auch heute noch Spuren von ihnen. Sobald die Säuglinge wenige Tage nach ihrer Geburt ins Findelhaus kamen, wurden ihre Personalien in Aufnahmebüchern mit fortlaufender Nummer, Name, Geburtsund Aufnahmedatum wie auch Angaben zur Mutter schriftlich festgehalten. Die Frauen, die nicht für die Aufnahme des Kindes bezahlen konnten, mussten einige Papiere für das administrative Verfahren vorweisen. Das wichtigste Dokument war der Taufschein, der die uneheliche Geburt des Kindes belegte. Nach der Registrierung wurde das sogenannte „Kindeszeichen“ (auch „Kopfzettel“ genannt) ausgestellt. Es handelte sich dabei um ein für Buben in schwarzer und für Mädchen in roter Farbe gedrucktes Papierstück, das

einem Ausweis gleichkam und durchwegs bei den Findelkindern verblieb, so auch bei der Übergabe des Kindes in die Außenpflege. Zudem erhielten die Kinder jeweils ein Bändchen um das Handgelenk genäht, um deren Zuordnung respektive Identifikation sichern zu können. Dieser Vorgang schloss das Aufnahmeverfahren ab, womit die Säuglinge nun auch formal dem Stand der Findelkinder angehörten. Auf dem „Kindeszeichen“ wurden die sogenannte „Aufnahmszahl“ (fortlaufende Nummer), das Ausstellungsdatum, sowie das Geburtsdatum und der Name des Findlings notiert. Wenn Mütter für die Aufnahme des Findlings bezahlten, wurde im Kindesausweis auch die Höhe des Betrags in Gulden festgehalten. Das Gegenstück, der sogenannte „Empfangsschein“, wurde wiederum der biologischen Mutter übergeben. Die ausgestellten Schriftstücke dienten als Erkennungszeichen und ermöglichten die Zuordnung von Mutter und Kind. Die leiblichen Mütter konnten sich mit Vorzeigung des Empfangsscheins in der Anstalt nach ihren Kindern erkundigen oder sie zu sich zurücknehmen. Jüdische Frauen waren von dieser Regelung jedoch ausgeschlossen – sie durften das Kind nicht wieder zu sich nehmen.

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„... Vor Schand und Noth gerettet“?! Anna Jungmayr Vor 20 Jahren – im Jahr 2001 – wurde österreichweit die Anonyme Geburt eingeführt: Schwangere können unter ärztlicher Aufsicht gebären, jedoch anonym bleiben und das Kind zur Adoption freigeben. Bereits ein Jahr zuvor (2000) war im Wilhelminenspital (heute: Klinik Ottakring) die erste Babyklappe Österreichs eröffnet worden. Schwangerschaftsabbrüche sind – dank des unermüdlichen Einsatzes vieler Feminist*innen – in Österreich seit 1975 durch die Fristenregelung zwar nicht legal, jedoch bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei. Dennoch ist Selbstbestimmung über den eigenen Körper nach wie vor nicht normalisiert: Immer noch gibt es Ressentiments gegen die Möglichkeiten der Anonymen Geburt und des legalen Schwangerschaftsabbruchs sowie geografische und finanzielle Barrieren im Zugang zu letzterem. Ungewollte Schwangerschaft und ihre gesellschaftliche wie politische Aushandlung sind somit hochaktuell. Die Ausstellung »… Vor Schand und Noth gerettet«?! (6. Mai 2021 bis 30. März 2022) im Bezirksmuseum Josefstadt widmet sich dem Thema aus einer historischen Perspektive. Ein Rückblick: 1784 wurde das Wiener Gebär- und Findelhaus als Teil des Wiener Allgemeinen Krankenhauses feierlich eröffnet.1 Ähnlich wie vor dem Inkrafttreten der Fristenregelung bestimmten vor allem Männer über die Möglichkeiten von Frauen, mit einer ungewollten Schwangerschaft umzugehen. Sie trafen Entscheidungen mit enormer Tragweite: Ungewollte, meist uneheliche Schwangerschaft war zur Zeit der Industrialisierung ein Massenphänomen. Wien wuchs zur Metropole und wurde zum Anziehungspunkt für Besitzlose aus allen Teilen der Monarchie, die in der Stadt Arbeit suchten und auf eine bessere Zukunft hofften. Unter ihnen waren auch viele ledige Frauen, welche meist in der Landwirtschaft oder als Hausangestellte Beschäftigung fanden. Weit entfernt von einem sozialen Aufstieg oder

der Aussicht auf eine Heirat und der Gründung einer Familie bedeutete eine Schwangerschaft für diese Frauen nicht nur den Verlust ihres Arbeitsplatzes, sondern auch ihres Wohnorts. Schwangerschaften zu verhindern war – abgesehen von keuschen Lebensweisen – auf legalem Wege nicht möglich. Verlässliche Verhütungsmittel waren weder zugänglich noch gestattet. Die Institutionen Gebär- und Findelhaus stellten die einzige gesetzlich legitimierte Möglichkeit dar, mit einer ungewollten Schwangerschaft umzugehen. Ihre Relevanz spiegelt sich nicht zuletzt in Zahlen wider: Mitte des 18. Jahrhunderts kamen mehr als ein Drittel aller in Wien geborenen Kinder im Gebärhaus zur Welt und wurden daraufhin im Findelhaus abgegeben.2 Mit einem Blick auf das Gebär- und Findelhaus lassen sich Erkenntnisse darüber gewinnen, wie der heutige Umgang mit (ungewollter) Schwangerschaft historisch gewachsen ist, welche Veränderungen es seither gab und wo wir Kontinuitäten vorfinden: In welchen Lebenssituationen befanden sich ungewollt Schwangere? Welches Frauen- und Familienideal und welche Vorstellungen von Sexualität und Moral prägten diese Zeit? Wie wurde das Findelhaus bewertet? Die Beschäftigung mit dem Gebär- und Findelhaus ist nicht nur aus einer geschlechtersensiblen Perspektive relevant. Die Institutionen markieren eine zentrale Etappe in der Entwicklung von Gesundheits- und Fürsorgeeinrichtungen, die in Österreich heute weitgehend als selbstverständlich betrachtet werden. Es gibt eine breite Palette an medizin- und sozialhistorischen Fragestellungen, die sich an die beiden Institutionen richten: Aus welchem Interesse wurden sie errichtet? Wer nutzte die Einrichtungen und unter welchen Umständen? Welche Rolle spielte die Institution für Erkenntnisse im Bereich der Gynäkologie? Warum hat sich das Findelwesen nicht bis heute durchgesetzt?

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Das Gebärhaus und das Findelhaus waren bis 1869 getrennte Institutionen, funktionierten jedoch immer verschränkt, weshalb hier stets der Doppelname verwendet wird.

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Verena Pawlowsky, Mutter ledig – Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784 -1910 (Innsbruck-Wien-München 2001, Nachdruck 2015).

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Wie aktuell die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem Gebär- und Findelhaus immer noch sind, veranschaulicht die Covid-19-Pandemie: Heutige Hygienestandards wie etwa das regelmäßige und gründliche Händewaschen basieren auf den Erkenntnissen zur Desinfektion von Ignaz Semmelweis (1818-1865), die er ab 1846 als Assistenzarzt im Gebärhaus machte. Dass die Institutionen Gebär- und Findelhaus Zeit ihres Bestehens einen erheblichen Aufwand betrieben haben, Findelkinder und deren Mütter zu dokumentieren, macht sie aus heutiger Sicht zudem für die familienhistorische Forschung interessant. Die erhaltenen Verzeichnisse der Institutionen sind oft die einzige Quelle, um Lücken im persönlichen Stammbaum zu schließen.

Zur Ausstellung Zu Beginn meiner Projektmitarbeit standen einige Komponenten der Ausstellung – basierend auf Überlegungen von Maria Ettl und Leopold Strenn, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für familien- und regionalhistorische Forschung (ÖFR) – bereits fest. Auf den individuellen Interessen der ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen am Thema aufbauend, war es mir wichtig, das Konzept zur Ausstellung kollaborativ und multiperspektivisch zu konkretisieren und umzusetzen. Durch die verschiedenen Blickwinkel auf das Thema ergab sich eine inhaltlich-gestalterische Ausstellungsstruktur von zwölf Kapiteln, die aufeinander abgestimmt sind, aber auch jeweils für sich funktionieren. Darin finden Themen der Medizin-, Sozial- und Geschlechtergeschichte ebenso Platz wie Bezüge zur Gegenwart. Die Ausstellungsdokumentation ist auf den Seiten 216 bis 227 des vorliegenden Bandes zu finden. Der Titel zur Ausstellung wurde aus einem Zitat in der Gründungsschrift des Allgemeinen Krankenhauses von 1784 abgeleitet, in dem das Kapitel zum Gebärhaus mit den Worten Die öffentliche Vorsorge bietet durch dieses Haus geschwächten Personen einen allgemeinen Zufluchtsort an / und nimmt, da sie die Mutter vor der Schand und Noth gerettet, zugleich das unschuldige Geschöpf in Schutz, dem diese das Leben geben soll 3 eingeleitet wurde. Durch die Satzzeichen ?! im Ausstellungstitel grenzten wir uns jedoch von der Selbstdarstellung der Institution ab und hinterfragten, ob die Einrichtung ihrem Ziel gerecht wurde und welche Motivationen hin-

ter dieser karitativen Selbstbeschreibung steckten. Um uns nicht in eine Tradition der männlich-hegemonialen Erfolgsgeschichtsschreibung einzureihen, nahmen wir eine kritische Distanz zu den Institutionen ein und beschlossen, uns auf die Perspektive ihrer Nutzerinnen zu fokussieren. In regem Austausch mit Archiven, Museen und Bibliotheken mussten wir aber rasch feststellen, dass es kaum öffentlich zugängliche schriftliche – geschweige denn materiell-physische – Hinterlassenschaften von Nutzerinnen des Findelhauses oder ihren Nachfahr*innen gibt. Nachdem wir die Nutzerinnen des Gebär- und Findelhauses schwerlich selbst sprechen lassen konnten, ihre – vielfach moralisch-wertenden und verurteilenden – Beschreibungen durch Zeitgenoss*innen jedoch nicht ungebrochen wiedergeben wollten, richteten wir den Blick insbesondere auf gesellschaftspolitische und strukturelle Rahmenbedingungen: Welche Handlungsmöglichkeiten hatten ledige, schwangere Frauen? In welchen Situationen waren die Frauen, die ihre Kinder im Findelhaus abgaben, und wie kamen sie dazu? Soziale Ungleichheiten thematisierten wir auf textlicher, materieller und visueller Ebene vor allem in Bezug auf die Kategorien Klasse (zahlende Frauen genossen im Gebärhaus Privilegien; Frauen, die ohne Gebühr aufgenommen wurden, mussten Gegenleistungen erbringen) und Geschlecht: Beispielsweise wird aufgezeigt, dass die Folgen „unerlaubten“ Sexualverhaltens fast ausschließlich Frauen trafen – Männer wurden selten zur Verantwortung für ein uneheliches Kind gezogen. Ebenso reflektierten wir das Geschlechterverhältnis der akademisch-medizinischen Wissensproduktion: Die Erfolge von Gynäkologen im Gebärhaus waren unter anderem dessen Nutzerinnen zu verdanken. Konnten Frauen für ihre Aufnahme im Gebärhaus nicht zahlen, mussten sie sich Medizinstudenten als „Unterrichtsmaterial“ für gynäkologische Untersuchungen zur Verfügung stellen. Umringt von angehenden Ärzten und Hebammen mussten sie Kinder gebären, die sie meist nicht bekommen wollten. Ein weiteres Thema waren die Ausschlüsse von Frauen aus dem Medizinstudium und die zeitgleiche Verdrängung von Hebammen durch die akademische Medizin. Solche Ausschlüsse brachten auch materielle Lücken hervor. So gibt es beispielsweise keine Publikationen von Wiener Ärztinnen aus dem 19. Jahrhundert, da Frauen bis 1900 nicht zum Medizin-

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[Joseph von Quarin], Nachricht an das Publikum, über die Einrichtung des Hauptspitals in Wien. Bei dessen Eröffnung von der Oberdirektion herausgegeben (Wien 1784) 18-19.

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studium zugelassen waren. Hier erweiterten wir unser Konzept um Objekte ohne direkten Bezug zum Gebärund Findelhaus und gaben unter anderem zeitgenössischen Kritikerinnen der männlichen Geburtshilfe eine Stimme, beispielsweise anhand des Buches Die Frau als Hausärztin der Ärztin Anna Fischer Dückelmann (1856-1917). Obwohl es bereits zur Zeit des Gebär- und Findelhauses diverse Geschlechtsidentitäten gab, entschieden wir uns dazu, nur über „Männer“ und „Frauen“ zu schreiben. Das hat vor allem den Grund, dass in den vorhandenen Quellen von einer Zweigeschlechtlichkeit ausgegangen wird – es war uns nicht möglich, daraus andere Geschlechtsidentitäten abzuleiten, und wir wollten solche nicht nachträglich festschreiben. Zudem kam es gerade im 19. Jahrhundert zu einer Verfestigung von dichotomen Geschlechterrollen (gender), die über das biologische Geschlecht (sex) abgeleitet wurden, welches wiederum sehr stark über die Gebärfähigkeit definiert wurde.4 Aus einer feministisch-kuratorischen Perspektive schien es uns in der Auseinandersetzung mit dem Gebär- und Findelhaus wesentlich, die Benachteiligung von Frauen, die auf einem binär gedachten Geschlechterverhältnis basiert, auch sprachlich als solche zu benennen. Da die Überlegungen zu geschlechtergerechter Sprache – insbesondere in Hinblick auf historische Kontexte – komplex sind, haben wir die Entscheidung, welche Form der geschlechtergerechten Sprache die Autor*innen der vorliegenden Publikation wählen, ihnen selbst überlassen.

Zur Publikation Infrastrukturell und zeitlich bedingt war es uns in der Ausstellung nicht möglich, alle gesellschaftshistorischen Aspekte der Institutionen Gebär- und Findelhaus ausführlich zu thematisieren. Mit der vorliegenden Publikation schließen wir hier einige Lücken. Der Hauptteil dieses Bandes besteht aus vier übergeordneten Kapiteln. Jeder Beitrag wird mit einer kurzen Geschichte eines Objekts aus der Ausstellung eingeleitet. Diese Objektgeschichten schlagen eine Brücke zur Ausstellung und veranschaulichen, wie vielschichtig die Auseinandersetzung mit materieller Kultur als historischer Quelle sein kann. Die Bebilderung der einzelnen Beiträge erfolgte großteils durch die Herausgeber*innen in Rücksprache mit den Autor*innen.

Im ersten Kapitel – Institutionen – gibt Verena Pawlowsky zunächst einen Überblick über die grundlegenden Aspekte des Gebär- und Findelhauses und dessen zentrale Funktionen als Gesundheits- und Fürsorgeeinrichtung des 18. und 19. Jahrhunderts. Gudrun Wolfgruber-Thanel setzt in ihrem Beitrag am Ende des Findelwesens im Jahr 1910 an und thematisiert die weitere Entwicklung der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen bis heute. Das Kapitel Medizin und Geschlecht gibt Einblicke in die Geschichte der geburtshilflichen Medizin, welche sich zur Zeit des Gebär- und Findelhauses rasant entwickelte und professionalisierte. Jakob Lehne schildert anhand der Diskussion um zwei geburtshilfliche Instrumente die Ausmaße medizintechnischer Grabenkämpfe um 1800. Brigitte Kutalek-Mitschitczek wirft einen Blick auf die im neuzeitlichen Kampf um die Geburtshilfe weitgehend verdrängte Gruppe der Hebammen und spannt dabei einen Bogen bis in die heutige Zeit. Das Kapitel Geschlecht und Gesellschaft widmet sich aus verschiedenen Perspektiven der schwierigen Lage der Nutzerinnen des Gebär- und Findelhauses: Jessica Richter thematisiert die angespannten Lebensbedingungen von Dienstbotinnen im Wien des 19. Jahrhunderts. Nora Lehner diskutiert, welche rigiden und moralisch aufgeladenen Vorstellungen von (weiblicher) Sexualität zur selben Zeit vorherrschend waren und wie diese unterwandert wurden. Maria Mesner analysiert daran anschließend Debatten zu reproduktiven Rechten (und Pflichten) von Frauen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts geführt wurden. Das Kapitel schließt mit einem Artikel von Barbara Maier über heutige Möglichkeiten ungewollt Schwangerer. Das letzte Kapitel – Lebensgeschichten – versammelt konkrete Biografien. Sarah Seidl fokussiert in ihrem Artikel nicht die ungewollte Schwangerschaft im 19. Jahrhundert, sondern die zeitgleich ganz gegensätzlich thematisierte Mutterliebe in Selbstzeugnissen bürgerlicher Frauen. Claudia Rapberger analysiert anhand von zwei ausgewählten Biografien die – oft sehr triste – Lebensrealität von Findelkindern, die bei Pflegefamilien auf dem Land aufwuchsen. Das Kapitel schließt mit dem Beitrag von Leopold Strenn, der einen Überblick über die Vorgehensweise bei der Erforschung lediger Vorfahr*innen im eigenen Stammbaum gibt.

4 Karin Hausen, Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas (Stuttgart 1976) 363-393.

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Gustav Zafaurek, Aus der niederösterreichischen Landes-Findelanstalt, 1886, Bezirksmuseum Josefstadt

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Collage: Aus der niederösterreichischen Landes-Findelanstalt Anna Jungmayr Das Findelhaus wurde von Zeitgenoss*innen kontrovers diskutiert: Kritiker*innen behaupteten beispielsweise, dass Findelhäuser Findelkinder schaffen und zur Verbreitung „unsittlichen“ Sexualverhaltens beitragen würden. Befürworter*innen hoben hingegen vor allem den fürsorglich-karitativen Charakter der Anstalt hervor. Zu letzteren zählte auch der Künstler Gustav Zafaurek (1841-1908). In einer 1886 veröffentlichten Collage ehrte er Kaiser Joseph II. (reg. 1765-1790) als Gründer des Findelhauses, welches er als reibungslos funktionierende Anstalt darstellt. Einige Bilder der Collage beschreiben durchaus informativ die Funktionsweise des Findelhauses: So bekamen alle Findelkinder bei ihrer Ankunft ein Armband zur Identifikation, auch wurden sie regelmäßig untersucht und gewogen. Nach nur kurzer Zeit im Findelhaus wurden sie an Pflegefrauen übergeben – das Interesse an Kostkindern war groß. In der Mitte wird die – für Findelkinder verpflichtende – Schutzpockenimpfung abgebildet (1802 wurde im Findelhaus die erste Stelle Wiens zum Durchführen der Schutzimpfung gegen die grassierende Pockenepidemie eingerichtet). Nicht zuletzt wird auch die katholische Prägung der Anstalt thematisiert: An der Wand des Schlafsaals ist ein Kreuz

abgebildet, die Pflegeeltern (in der Realität meist nur Pflegefrauen) werden von einem Pfarrer zur „sittlichen Erziehung“ des Kostkindes angehalten. Zafaurek präsentiert die Anstalt als durchwegs harmonisch. Am Bild „Ammenwahl am Institut“ (unten, mittig) werden die Ammen lächelnd dargestellt. Dass es sich beim Ammendienst um ein schlecht bezahltes Zwangsverhältnis handelte, wird nicht thematisiert. Ebenfalls ausgespart bleiben Hygienezustände (Gestank, Dreck und Raumnot), häufige Auseinandersetzungen zwischen Wärterinnen und Ammen sowie ein grober Umgang mit den Säuglingen – Aspekte, die nach schriftlichen Zeugnissen den Alltag im Findelhaus charakterisierten. Zwei Bilder der Collage sind besonders irreführend: Zum einen handelte es sich – anders als das Bild rechts oben nahelegt – bei Findelkindern selten um weggelegte, sondern meist um abgegebene Kinder. Zum anderen kam es in den seltensten Fällen zu dem Happy End der Familienzusammenführung, wie es das Bild „Rückgabe an die Eltern“ rechts unten nahelegt. Von den Vätern fehlte meist jede Spur und nur selten wurden Findelkinder von ihren biologischen Müttern zurückgeholt.

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INSTITUTIONEN Das Wiener Gebär- und Findelhaus Eine Institution zum Schutz von unerwünschten Kindern Verena Pawlowsky

1910 erschien in einem Münchner Verlag das Buch Ich suche meine Mutter. Die Jugendgeschichte eines „eingezahlten Kindes“.1 Verfasser dieses auf einer wahren Geschichte beruhenden Berichts war der Wiener Journalist und spätere sozialdemokratische Politiker Max Winter (1870–1937).2 Stets am Los der Unterschichten interessiert, hatte Winter schon in den Jahren zuvor verschiedene Sozialreportagen veröffentlicht. Um 1900 war er auf Otto Dundler gestoßen, der ihm seine Lebensgeschichte erzählt hatte. Nun, zehn Jahre später, brachte Winter die Aufzeichnungen von damals im Druck heraus. Der 1876 geborene Dundler 3 war ein „Findelkind“ gewesen – jedoch nicht eines, das anonym weggelegt und von Fremden gefunden worden war, sondern eines, das erst durch seine Geburt und Versorgung im Wiener Gebär- und Findelhaus zu einem solchen „gemacht“ wurde. Hier aufgenommen und von einer Pflegemutter auf dem Land großgezogen, teilte er das Schicksal einer gewaltigen Zahl von Wiener Kindern: Er war unehelich geboren, seine Mutter hatte ihn weggegeben, und er verbrachte seine Kindheit, die von Armut, Arbeit und Ausgrenzung geprägt war, bei Pflegeeltern.

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Max Winters Buch erschien genau in jenem Jahr, als das Findelwesen in Wien seinem Ende zuging. Das ehemalige Klostergebäude an der Alser Straße, das mehr als 120 Jahre lang das Wiener Findelhaus beherbergt hatte, wurde abgerissen, die Anstalt übersiedelte in einen Neubau im Wiener Außenbezirk Gersthof und erhielt bei der Gelegenheit auch einen anderen Namen: Das neue Landeszentralkinderheim hatte mit dem alten Wiener Findelhaus nicht mehr viel gemein.

Helmut Pokornig, Modell des Wiener Findelhauses, 2021, Bezirksmuseum Josefstadt

Max Winter, Ich suche meine Mutter. Die Jugendgeschichte eines „eingezahlten Kindes“, diesem nacherzählt (München 1910).

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Zu Max Winter vgl. Stefan Riesenfellner (Hg.), Arbeitswelt um 1900. Texte zur Alltagsgeschichte (Materialien zur Arbeiterbewegung 49, Wien 1988) II-XI.

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Winter anonymisierte den Namen und nannte seinen Protagonisten Otto Dunkler. Über das unzureichend anonymisierte Faksimile eines im Buch abgedruckten Dokuments konnte der richtige Name eruiert werden; Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), 2.4.3.B3 - Zahlstock, Aufnahmeprotokoll (1855-1909).

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Carl Pippich, 8., Alser Straße – Niederösterreichisches Findelhaus, 1880-1890, Wien Museum

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Das Gebärhaus, der zweite Teil der ehemals großen Doppelanstalt, war schon Anfang 1909 vom Findelhaus abgetrennt und in die Verwaltung des k. k. Krankenanstaltenfonds übertragen – und damit dem städtischen Spitalswesen eingegliedert – worden. Seit den späten 1860er-Jahren war die ursprünglich als staatliche Einrichtung gegründete Gebär- und Findelanstalt unter der Verwaltung des Landes Niederösterreich gestanden, das auch die Finanzierung übernommen hatte – nicht ohne bei den übrigen Kronländern Verpflegskosten für die nicht nach Wien zuständigen Kinder einzuheben. 1910 markiert also das Ende des Wiener Findelwesens, das seit 1784 ein zentraler Bestandteil der Stadt gewesen war und im Leben vieler junger Frauen eine wichtige Rolle gespielt hatte.4

Versorgungsprobleme: Wohin mit den unehelich geborenen Kindern? Die Geschichte des Wiener Findelhauses erlaubt einen eindrücklichen Blick auf das Leben der städtischen Unterschichten im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert. Gegründet wurde die Anstalt, die sich zu einer der größten Wohlfahrtseinrichtungen der Stadt entwickeln sollte, im Jahr 1784. Als aufgeklärter Monarch beschloss Kaiser Joseph II. (1741–1790, reg. 1780–1790) nicht nur die Umwandlung des ehemaligen Großarmenhauses in das Allgemeine Krankenhaus, sondern auch die Einrichtung eines Findelhauses. Er lag damit im Trend der Zeit. Findelhäuser gab es bereits in vielen italienischen und französischen Städten. London hatte ein privates Findelhaus, und auch Sevilla, Moskau und St. Petersburg betrieben solche Anstalten. Der Begriff „Findelhaus“ ist allerdings irreführend, denn – anders als man glauben würde – dienten Findelhäuser nicht in erster Linie dazu, weggelegte Säuglinge aufzunehmen. Vielmehr hatten sich Anstalten mit diesem Namen die Versorgung unehelich geborener Kinder zur Aufgabe gemacht. Findelhäuser waren Produkte des Zeitalters der Aufklärung. Gedacht als bevölkerungspolitische Instrumente, zielten sie auf die Vermehrung der Bevölkerung ab und wollten dem Staat die unehelichen Kinder erhalten, deren vorzeitigen Tod man ohne solche Einrichtungen befürchtete. Statt unverheirateten Müttern mit Strafen zu begegnen und das Problem der unehelichen Geburten durch Repression zu verhindern, sollte nun der so offenkundigen Unvermeidlichkeit unehelicher Kinder anders, nämlich wohltätig und durch die Abnahme und staatlich organisierte Aufzucht der Kinder, begegnet werden.

August Stauda, 8., Alserstraße 23 – Findelhaus, um 1910, Wien Museum

4

Der nachfolgende Text beruht auf einem Manuskript der Autorin, das Grundlage für fünf Folgen der Ö1-Sendereihe „Betrifft: Geschichte“ war (ORF, Sendetermin: 21.–25. November 2016, Gestaltung: Isabelle Engels). Das erklärt das Fehlen von Quellenangaben in diesem Text. Es sei daher auf diese Publikation verwiesen: Verena Pawlowsky, Mutter ledig – Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784–1910 (Innsbruck-Wien-München 2001, Nachdruck 2015).

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Die Eröffnungsschrift des Allgemeinen Krankenhauses wurde 6000 Mal gedruckt und verbreitet. Nachricht an das Publikum über die Einrichtung des Hauptspitals in Wien, 1784, S. 18-19, Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien

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August Stauda, 8., Alserstraße 23 – Findelhaus Hofansichten, um 1908, Wien Museum

Dem Findelhaus wurde 1802 ein Institut für Schutzpockenimpfungen angegliedert. Aus den Pockenbläschen geimpfter Findelkinder wurde die Impfflüssigkeit (Lymphe) gewonnen. Die Impfung gegen die „Blattern“ war für Findelkinder verpflichtend. August Stauda, 8., Alserstraße 21 – Schutzpocken-Impfinstitut, um 1908, Wien Museum

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Unter Juristen, Ärzten und Literaten wurde der Kindsmord am Ende des 18. Jahrhunderts intensiv diskutiert. Findelanstalten sollten ihn verhindern helfen. Die Diskussionen waren verbreiteter als das Phänomen selbst, aber ganz offensichtlich bot das Thema Kindsmord vielen Zeitgenossen die Möglichkeit, mit überkommenen Vorstellungen argumentativ abzurechnen und sich als der Aufklärung verpflichtet zu positionieren. Man ging jedenfalls davon aus, dass ledige Schwangere durch das Angebot der Findelhäuser davon abgehalten werden konnten, sich ihrer Kinder auf verbrecherische Weise zu entledigen. Die Situation für Frauen, die unverheiratet schwanger wurden, war nicht nur aus ökonomischen

Gründen schwierig. Die Geburt eines Kindes bedeutete für die ledige Mutter, sich Ehren- und in manchen Regionen auch Geldstrafen ausgesetzt zu sehen. Dem durch eine Heirat zuvorzukommen, war aber oft auch nicht möglich, da Eheschließungen an die Genehmigung der Obrigkeit – in der Regel der Gemeinden –, an den sogenannten politischen Ehekonsens, gebunden waren – und für mittellose Personen war es kaum möglich, einen solchen Ehekonsens zu erhalten. Es galt also, anders zu helfen. Und das taten die Findelhäuser: Sie boten ledig schwanger gewordenen Frauen an, sich ihrer Kinder auf legalem Weg zu entledigen, und versprachen dem aufgeklärten Staat in den Findelkindern zugleich neue Untertaninnen und Untertanen.

Zahlenden Frauen standen im Gebärhaus private Wochenzimmer zu (auf dem Plan: Zimmer Nr. 3 und 4). In der Gratisklasse wurden sie hingegen nach der Geburt ohne Sichtschutz untergebracht (Zimmer Nr. 7, 8, 17, 18 und 19). Plan der n.ö. Landes-Gebäranstalt, 1. Stock, 1875, Niederösterreichisches Landesarchiv

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Plan des Allgemeinen Krankenhauses, 1784, Alseum BM IX

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Oft geschah die Aufnahme von Kindern in den Findelhäusern völlig anonym – etwa wenn die Säuglinge in eine Drehlade an der Außenmauer der Anstalten gelegt werden konnten. Solche Vorrichtungen gab es in den französischen und italienischen Häusern. Die Wiener Anstalt hatte keine Drehlade. Die Abgabe der Kinder funktionierte nach einem anderen System, das – nach dem Gründer des Hauses – das „josephinische System“ genannt wurde. Frauen, die ihre Kinder hier abgeben wollten, blieben nur teilweise anonym, d. h. ihre Namen waren zwar der Anstalt bekannt, durften aber nicht nach außen dringen. Als Gegenleistung dafür, dass sie ihre Kinder in der Findelanstalt zurücklassen konnten, mussten die Frauen ihre Kinder nämlich im Wiener Gebärhaus zur Welt bringen. Und dort standen die werdenden Mütter während der Entbindung dem medizinischen Unterricht der angehenden Hebammen und Geburtshelfer zur Verfügung. Wenn sie für die Aufnahme

bezahlen konnten, blieb ihnen die Verwendung als Unterrichtsobjekt erspart, und sie erkauften sich damit auch die vollständige Anonymität, denn dann durften sie ihre Namen ganz verschweigen, ja wenn sie wollten, während ihres Aufenthalts im Gebärhaus sogar ihr Gesicht durch einen Schleier bedecken. Ob von dieser ausschließlich im Gründungspapier der Anstalt überlieferten delikaten Variante der Geheimhaltung jemals Gebrauch gemacht wurde, ist freilich unbekannt. Das Recht, den Namen nicht zu nennen, nahmen Frauen aber immer wieder in Anspruch. Auch Otto Dundlers Mutter nutzte das Angebot, anonym zu bleiben. Die von ihr entrichtete Gebühr machte den Sohn zum „eingezahlten Kind“ und – als Erwachsenen – zum erfolglos Suchenden: Da selbst die Anstalt die Namen der zahlenden Frauen nicht kannte, gab es für die Kinder dieser Frauen keine Möglichkeit, mit ihren Müttern in Kontakt zu treten. Seine Mutter lernte Dundler daher trotz intensiver Suche nie kennen.

Anzeigen von Findelkindern, die nach ihren Verwandten suchten, 1910-1935, Illustrierte Kronen Zeitung, ANNO/Österreichische Nationalbibliothek

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Schlecht entlohnte Wärterinnen und Hebammen verlangten von Frauen in der Gratisklasse immer wieder „Trinkgeld“ – ein ab 1875 geltendes Verbot blieb weitgehend wirkungslos. Vorschrift für Schwangere, Wöchnerinnen und Wärterinnen, 1867, Niederösterreichisches Landesarchiv Das josephinische System zeichnete sich also durch eine enge Koppelung von Gebär- und Findelhaus in einer Doppelanstalt aus. Die Mütter der Wiener Findelkinder waren jene Frauen, die der Etablierung der Geburtshilfe als akademische Disziplin und letztlich auch dem Ruf der Wiener Medizinischen Schule dienten: Der bekannte Arzt Ignaz Semmelweis (1818–1865) etwa deckte im Rahmen seiner Tätigkeit im Wiener Gebärhaus die Ursachen des Kindbettfiebers auf. Frauen, die das Gebärhaus für ihre Entbindung aufsuchten, waren die ersten „Patientinnen“, an denen männliche Geburtshelfer ausgebildet werden konnten. Deshalb ist die Geschichte der Gebärhäuser immer auch eine Geschichte der Verdrängung der Hebammen – selbst wenn die Häuser, wie das in Wien der Fall war, auch Hebammen ausbildeten; bestimmte medizinische Eingriffe und alle Operationen blieben stets den Ärzten vorbehalten. Und es waren nicht wenige Frauen, die die Doppelanstalt nutzten. Das Wiener Findelhaus gehörte zu den

größten Anstalten dieser Art in Europa und nahm in den 126 Jahren seines Bestehens insgesamt eine Dreiviertelmillion Kinder auf. Schon im Gründungsjahr 1784 lag die Zahl der hier entgegengenommenen Kinder bei über 1.000, und sie stieg kontinuierlich weiter an. In den Jahren des Beginns der Hochindustrialisierung ab den 1860ern betrug die jährliche Aufnahmezahl stets an die 10.000 Kinder. Das war nicht nur absolut eine außergewöhnlich hohe Zahl, die die Einrichtung in der Praxis vor enorme Probleme stellte und mit hohen Kosten belastete. Auch im Vergleich zu den Geburten der Stadt war diese Zahl immens hoch. Ein Beispiel: Jedes dritte im Jahr 1880 in Wien geborene Kind kam im Gebärhaus zur Welt und wanderte von dort in das Findelhaus und weiter in die sogenannte „Außenpflege“. All diese Kinder waren „überzählige“ Kinder – solche, die von ihren Eltern, respektive Müttern, nicht ernährt werden konnten. Das Haus war zu einer unentbehrlichen Einrichtung der Stadt geworden, und Findelkinder stellten längst ein Massenphänomen dar.

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In den 1840er- bis 1860er- Jahren waren fast 50% aller Geburten in Wien unehelich. Zwischen 1848 bis 1868 kam in manchen Jahren über ein Drittel aller in Wien geborenen Kinder im Gebärhaus zur Welt. Mit der Eingemeindung der Vororte (18901891) stieg die Gesamtzahl der Geburten der Stadt. Die Zahlen im Gebär- und Findelhaus blieben in etwa gleich, was darauf hindeutet, dass Frauen aus den Vororten die Einrichtungen auch schon zuvor genutzt hatten. Ende des 19. Jahrhunderts erhöhte sich die Zahl der Geburten im Gebärhaus trotz des Rückgangs unehelicher Geburten – das Gebärhaus wurde nun auch von verheirateten Frauen genutzt.

Geburten und Kindesaussetzungen in Wien im Verhältnis zu Geburten im Gebärhaus Infografik: Helmut Pokornig, 2021, Quelle: Verena Pawlowsky, 2001

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Die Mütter der Findelkinder: Ledig, arm und zugewandert

Nur selten lernten Findelkinder ihre biologischen Eltern kennen. Rosalia Trestl (später verh. Lang, 1871-1968) war der Kontakt zu ihrer Tochter Therese Trestl (später verh. Lindenberg, 1892-1980) möglich. Das Kind wuchs bei Rosalia Trestls eigener Mutter auf. Nach sieben Jahren konnte sie ihre Tochter zu sich nehmen (siehe auch S. 182). (Fotograf*in unbekannt) Rosalia Trestl (verh. Lang) mit ihrer Tochter Therese Trestl (verh. Lindenberg), 1892/1893, Sammlung Frauennachlässe

Seite 36 und 37: Diese Tabelle listet auf, in welchen Kronländern die Nutzerinnen des Gebärhauses geboren wurden. Ausweis über in der Gebäranstalt aufgenommenen Schwangeren nach Klassen und Kronländern, 1866, Niederösterreichisches Landesarchiv

Das 1784 gegründete Wiener Findelhaus war seit 1799 in einem Gebäude an der Alser Straße schräg gegenüber vom Haupteingang des Allgemeinen Krankenhauses – dort, wo heute die Lange Gasse auf die Alser Straße trifft – untergebracht. Zeitgenössische Kritiker behaupteten gern, dass erst Findelhäuser Findelkinder machten, dass also die Existenz solcher Anstalten die Unzucht befördere. Frauen würden – so das Argument – die leichtfertige Aufnahme von Sexualbeziehungen vor der Ehe nicht scheuen, weil sie ja die Möglichkeit hatten, ein eventuell entstehendes Kind gleich nach der Geburt im Findelhaus abzugeben. Diesem Vorwurf war auch die Wiener Anstalt ausgesetzt. Doch ist es vorstellbar, dass dieses Argument auf alle Mütter jener über 730.000 dem Findelhaus übergebenen Säuglinge zutraf? Dazu ist die Zahl zu groß. Und tatsächlich verweist die intensive Nutzung der Findelanstalt auf ein viel grundsätzlicheres Problem. Dass sich Frauen im 19. Jahrhundert so zahlreich von ihren Kindern trennten, lag nicht an ihrer übergroßen Bereitschaft, das zu tun, und auch weniger an der Stigmatisierung, die ein unehelich geborenes Kind bedeuten konnte, sondern an der sozialen Lage, in der sich die allermeisten von ihnen befanden. Leider wissen wir wenig über diese Frauen als einzelne Individuen. Sie selbst haben als Angehörige der Unterschicht nur äußerst selten Zeugnisse hinterlassen. Wir wissen kaum etwas über ihre Motive, nichts vor allem darüber, ob es ihnen leicht- oder schwergefallen ist, ihre Kinder der öffentlichen Institution anzuvertrauen. Nur als Gruppe sind sie beschreibbar; das erlauben die dürftigen Spuren, die sie im heute noch existierenden Aufnahmeprotokoll des Findelhauses hinterlassen haben.5 Grundsätzlich vereint sind die Mütter der Findelkinder durch ihren Ledigenstatus: Die Aufnahmezahlen von Findelhäusern korrelieren ganz allgemein mit der Illegitimitätsrate einer Region. Das zeigen auch die Zahlen für Wien, wo die Rate unehelicher Geburten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für fast drei Jahrzehnte konstant bei 50 Prozent lag. Es sind das jene Jahre, in denen auch die Zahl der abgegebenen Kinder am höchsten war.

5

Die Bände liegen im Wiener Stadt- und Landesarchiv; WStLA, 2.4.1.B1–B2. Auch die Protokolle des Gebärhauses haben sich (ab 1816) erhalten; WStLA, 2.4.3. B1–B4.

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