Wien Museum Katalog „Otto Wagner“

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Kunst im gewerbe — Theorie und praxis Eva-Maria Orosz

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Die Gründung der Secession 1897 und die Institutionalisierung der „Moderne“ in Wien eröffneten Debatten, die Otto Wagner dazu bewogen, sich dem Kunstgewerbe in Theorie und Praxis intensiver zu widmen. In seiner Schrift Moderne Architektur hatte er 1896 die Richtlinien für das baukünstlerische Schaffen formuliert: Bedürfnis, Zweck, Konstruktion und Idealismus haben den Künstler zu leiten.1 Diese Anweisungen fußten u. a. auf der von Gottfried Semper in Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten von Zweck, Material und Verarbeitungstechnik hergeleiteten Entstehung eines künstlerischen Produkts.2 Ebenso rezipierte er die Kunstgewerbetheorie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in Wien durch Jakob von Falke, Mitbegründer des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, eine einflussreiche Stimme hatte.3 Wagners Richtlinien, ergänzt durch die wesentliche Forderung, dass moderne Formen den neuen Materialien und den neuen Anforderungen der Zeit entsprechen sollen, waren für Architektur wie Kunstgewerbe bindend. Wagners Schrift Moderne Architektur ist ein Beitrag zur Designtheorie im späten 19. Jahr­hundert; zugleich ist sie, neben seinem Artikel Die Kunst im Gewerbe 4 von 1900, die aufschlussreichste Quelle im Hinblick auf seine Haltung gegenüber dem Kunstgewerbe. Die Neuauflagen von Moderne Architektur 1898 und 1902 beinhalten Erweiterungen, die die Spannungen im Wiener Kunstleben zwischen Traditionalisten und Modernisten, zwischen Künstlern und Industrie widerspiegeln. Diese Spannungen werden im Folgenden beleuchtet, wobei Wagners Einfluss auf die Erneu­erung des Wiener Kunstgewerbes und seine inno­vative eigene Entwurfstätigkeit im Zentrum stehen.5

„Moderne Architektur“ und das Kunstgewerbe In der ersten Auflage von Moderne Architektur (1896) kam Wagner nur kurz auf das Kunstgewerbe zu sprechen. Er stellte aber bereits klar, dass „der moderne Baukünstler zum Träger des Kunsthandwerks“ geworden ist.6 Sichtbar sei dies bereits in den Innenraumgestaltungen und im Entwurf von Gebrauchsgegenständen, wo die „Moderne“ bereits fort­ geschrittener wäre als in der Architektur.7 Wagner legte dar,

wie der traditionelle Kunsthandwerker mit der Umstellung auf die industrielle Produktion im Laufe des 19. Jahrhunderts von der Bildfläche verschwunden war, der Arbeiter zur Maschine gemacht worden und dem Architekten die künstlerischen Aufgaben zugefallen waren.8 Damit beschrieb er die unvermeid­lich gewesene Aushöhlung des ursprünglich kunstverständigen Handwerks durch die arbeitsteilige Fabrikation. Dieser Arbeitsteilung war im 19. Jahrhundert spätestens seit Karl Friedrich Schinkels zusammengetragenen Vorbildern für Fabrikanten und Handwerker (1821–1837) eine Grundlage gegeben. Im Vorwort dieses Vorlagenwerks wurden Handwerker und Fabrikanten angewiesen, nicht selbst zu entwerfen, sondern dies Künstlern zu überlassen.9 Dem fortschreitenden Qualitätsverlust und Geschmacksverfall durch die industrielle Erzeugung wurde europaweit ab den 1850er-Jahren mit der Gründung von Kunstgewerbemuseen, regem Ausstellungswesen und umfassenden Berichterstattungen in Zeitungen in der breiten Öffentlichkeit entgegengewirkt. In Wien wurde 1864 das Museum für Kunst und Industrie eröffnet, 1867 die Kunstgewerbeschule gegründet, die jedoch kaum freischaffende Künstler oder Kunstgewerbler hervorbrachte, sondern vom Kopieren historischer Vorbilder geprägte Zeichner und Entwerfer für die Kunstindustrie sowie Lehrer für gewerbliche Fachschulen.10 Architekten übernahmen daher häufig den Entwurf kunstgewerblicher Produkte. Schließlich betrachteten Akademien wie Architekten die Baukunst in einem der Antike folgenden Kunstverständnis als Mutter aller Künste und die angewandten Künste als deren Derivate.11 Aus dieser Dominanz der Architektur bezog auch Wagner seine Autorität, die durch seine starke Persönlichkeit noch gestützt wurde. In der zweiten Auflage von Moderne Architektur von 1898 erklärte er, dass Kunstindustrie und Kunsthandwerk, um deren stilistische Verbesserung sich die staatliche Kunst­ gewerbereform im Historismus bemühte, „nur Phrasen“ seien.12 Die Anstrengungen, Kunst und Handwerk wieder zu vereinigen, seien weitgehend erfolglos geblieben, so Wagner.13 Denn „Industrie und Handwerk drängen naturgemäß immer zur fabriksmässigen Herstellung, winkt doch nur von dieser Seite der Lohn, das Geld; fabriksmässige Herstellungen sind aber mit der Kunst unvereinbar“.14 Wagner lehnte die „Kunstindustrie“, einen Schlüsselbegriff des Historismus, daher fortan ab und


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