Wien Museum Katalog „Mit Haut und Haar“

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Blicke auf den Körper

Der Blick in den Spiegel

fremden Auges, das wir mitdenken. Es dürfte kein Zufall zu sein, dass ein in den 1920er Jahren publiziertes Werk, das sich mit dem Verhältnis von weiblicher Identität, gesell­ schaftlichen Normen und männlichen Ein­ schreibungen in weibliche Körper beschäftigt, gerade eine Spiegelszene als Auftakt präsen­ tiert – kein Ratgeber, keine Zeitschrift für Frauen verabsäumte damals zu betonen, „wie wichtig es ist, daß sie ihr Aeußeres ständig unter Kontrolle stellen“.6 Es war jenes Jahrzehnt, in dem die pflegen­ de, verschönernde und formende Arbeit am eigenen Körper erstmals für eine große Zahl von Menschen zu einem Bestandteil des Alltagshandelns wurde, während dies vor dem Ersten Weltkrieg eine Angelegenheit privilegierter Schichten war. Den Körper für die Existenzsicherung oder gar den gesell­ schaftlichen Aufstieg herzurichten, war in der Nachkriegszeit mit all ihren Brüchen und Verwerfungen für viele Menschen, nicht aus­ schließlich, aber ganz besonders für Frauen, zu einer Überlebensstrategie geworden. Der Spiegel avancierte vor diesem Hintergrund endgültig zu einem selbstverständlichen, ja notwendigen Alltagsgegenstand. Er galt nun als ein Instrument rationeller Lebensfüh­ rung, die ehemals verbreitete Rede von den „geheimen Tabernakeln des Putztisches“7 gehörte somit der Vergangenheit an. Das ­manifestierte sich unter anderem darin, dass das Zücken der Puderdose und der Blick in den Spiegel auf der Innenseite ihres ­Deckels nun auch in der Öffentlichkeit üblich w ­ urden. Schönheit und Körperpflege waren nicht mehr geheimnisumwittert, sondern viel ­diskutierte Alltagsphänomene auf einer zu­ nehmend verwissenschaftlichten Basis. Gar nicht neu war allerdings das Sujet „Frau vor dem Spiegel“. Ein Aphorismus von Karl Kraus lautet: „Ein Weib ohne Spiegel und ein Mann ohne Selbstbewußtsein – wie sollten die sich durch die Welt schlagen?“8 Solche Klischees existierten schon länger in großer Zahl, und den Frauen wurde häufig unter­

Susanne Breuss

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stellt, einfach nur selbstverliebt vor dem Spie­ gel zu sitzen und sich am eigenen Aussehen zu ergötzen. Wirft man aber einen Blick in die Ratgeberliteratur für Frauen, so wird schnell klar, dass die von Mela Hartwig ­­beschriebe­ne Szene genau das vermittelt, was in eben­ dieser Literatur von den Frauen gefordert wird: sich selbst kritisch zu betrachten und  – orientiert an den jeweils herrschenden Körper­normen – Konsequenzen aus dem dort Erblickten zu ziehen. Das gilt zwar im ­Prinzip auch für Männer, aber da in der ­binären Ge­schlechterordnung der bürgerlichen Ge­sellschaft seit dem 18. Jahrhundert der Schönheit des weiblichen Körpers mehr Be­ deutung zukommt, als dies beim männlichen der Fall ist, konnte sich der Spiegel zu einem vorwiegend weiblich codierten Alltagsgegen­ stand entwickeln. Einschlägige Sujets finden sich in großer Zahl in Kunst und Literatur, und viele Spiegelarten sind speziell für Frauen gedacht: der Spiegel auf der Innenseite einer Puderdose oder Schminkkassette, der in die Handtasche integrierte Spiegel oder der Miniaturspiegel als Ballspende. Der Blick in den Spiegel, so einfach und selbstverständlich er zunächst erscheint, muss gelernt werden. Das Erziehungsziel ­lautet, in ihm nicht den „eigenen Wunsch­ traum, sondern Tatsachen zu sehen“,9 so ein Schönheitsratgeber für Frauen aus dem Jahr 1952. Nicht der bewundernde oder verklärende, sondern der kühle und analytische Blick ist gefragt. Die als Sehschulen dienenden Schönheits- und Kosmetikrat­ geber wurden und werden nicht müde, diesen Blick zu fordern und zu erläutern – wie zum Beispiel das erwähnte Brevier: „Nehmen wir das Spieglein von der Wand, stellen wir es auf den Tisch vor uns und setzen wir uns ins richtige Licht, um unseren Teint mit der Sach­ lichkeit einer Kosmetikerin zu betrachten. Dabei wollen wir uns folgende Grundfragen stellen: Fette oder trockene Haut? Straffe oder schlappe Haut? Haben wir große Po­ ren? Sind wir von unerbetenen Gästen, den ‚Mitessern‘, heimgesucht? Tragen wir noch


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