Wien Museum Ausstellungskatalog „Window Shopping - Eine Fotogeschichte des Schaufensters“

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von Innen- und Außenraum, einer möglichst geringen Distanz zwischen den ausgestellten Waren und den PassantInnen bzw. KonsumentInnen. In den letzten Jahrzehnten des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstanden in Wien zahlreiche moderne Geschäfts- und Warenhausbauten, darunter solche von namhaften Architekten wie Josef Hoffmann, Otto Wagner, Adolf Loos, Oswald Haerdtl, Otto Prutscher oder Max Fellerer und Eugen Wörle.13 Dass der Ladenbau und mit ihm die baulich-technische Gestaltung des Schaufensters verstärkt in den Fokus architektonischer Theorie und Praxis rückte, ist auch an der Fülle zeitgenössischer Publikationen abzulesen: Architektur- und Kunstzeitschriften berichteten regelmäßig über neue Bauten und es erschienen Fachbücher zum Thema.14 Um dem steigenden Bedarf nach Schaufensterflächen Genüge zu tun, wurden auch nachträgliche Auslagenvergrößerungen vorgenommen, die sich nicht immer mit dem ursprünglichen architektonischen Gesamteindruck vertrugen. Solche zu überdimensionierten Auslagen führende Maßnahmen wurden schon von der sich kurz nach 1900 formierenden Heimatschutzbewegung im Zuge ihrer grundsätzlichen Kritik an den „Verschandelungen“ des Stadtbildes durch die Phänomene der modernen Konsumkultur und der „Reklameseuche“ heftig angeprangert. Neue „ungeheure Spiegelscheiben“ hätten „schon manches gute alte Bauwerk in barbarischer Weise verhunzt“15, beklagte etwa Joseph August Lux. Die Forderungen zielten auf eine harmonische Einfügung der Schaufenster sowohl in die Gebäude- wie in die Stadtansicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkte sich mit der Entwicklung hin zur Massenkonsumgesellschaft der Trend zum Einbau von ,maßstabslosen‘ Schaufenstern in historische Bauten, was vielerorts zu schwerwiegenden Eingriffen in die originale Bausubstanz und zu Interventionen seitens des Denkmalschutzes führte. Auch wenn sich ab den

13 Vgl. Andreas Lehne: Wiener Warenhäuser 1865–1914. Mit Beiträgen von Gerhard Meißl und Edith Hann, Wien 1990; Johannes Spalt: Portale & Geschäfte. Historische Wiener Geschäftsanlagen. Mit einem Beitrag von Otto Kapfinger, Wien/Köln/Weimar 1999. 14 Vgl. z. B. Alois Ortner: Portal, Schaufenster und Ladenbau, Wien/Leipzig 1935. 15 Joseph August Lux: Der Geschmack im Alltag. Ein Buch zur Pflege des Schönen, 2. Aufl. Dresden 1910, S. 362. 16 Vgl. die Beispiele bei Hildegard Sahler: Es geht auch anders. Historische und moderne Schaufenster in Wien, in: Bausubstanz 14 (1998) 10, S. 26-28; Karl und Eva Mang: Neue Läden, Stuttgart 1981. 17 Vgl. Dirk Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993, S. 277f.

Plakat „Zur Herbstzeit/ Kauft österreichische Waren“, Entwurf: Joseph Binder, 1930 © MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst/Gegenwartskunst (Pl1.368)

1970er-Jahren wieder ein Bewusstsein für gestalterisch hochwertige Lösungen16 und ein behutsamerer Umgang mit alten Geschäftsfassaden bemerkbar machten, vermitteln die heutigen Wiener Geschäftsstraßen mit ihren in der Altbausubstanz fast völlig durchlöcherten Sockelgeschoßen insgesamt doch ein vorrangig an modernen kommerziellen Interessen orientiertes Bild. Schaufenster provozierten aber nicht nur ästhetisch, sondern auch weltanschaulich und moralisch motivierte Kritik. So wurden als Reaktion auf konservativ-klerikale Vorstöße gegen die aufstrebende Geschäftswelt und die Sinnangebote der Konsumgesellschaft an manchen Orten Verordnungen erlassen, die sonntägliche Verhängungen der Schaufenster zumindest zu Kirchgangszeiten vorschrieben.17

Warenhäuser – Warenparadiese Pioniere des modernen Schaufensters waren die Warenhäuser, die sich in westeuropäischen Großstädten wie Paris oder London ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, in Deutschland und Österreich mit einiger zeitlicher Verzögerung als neue Formen der Warendistribution herauszubilden und den


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