Wien Museum Ausstellungskatalog „Wiener Typen - Klischees und Wirklichkeit“

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sehr umfangreichen Serien herausgebracht wurden, hat einerseits damit zu tun, dass es sich um Sammelbilder handelte, und andererseits mit der Absicht, enzyklopädieartige Verzeichnisse der Straßenberufe anzulegen. Für so gut wie alle dargestellten Figuren gilt, dass sie aus der Unterschicht stammten und unter prekären Bedingungen ihr Geld verdienen mussten. Der Blick auf sie war also einer von oben nach unten – mit Ausnahme von Respektspersonen wie Wachmann und Hausmeister (Vgl. Beitrag Payer) – und geprägt von den Vorstellungen und Projektionen von Konsumenten, die sich mit den „Kaufrufen“ und „Typen“ Vertreter einer ihnen fremden Arbeitswelt in ihr Leben holten. Das ging nicht ohne Schematisierung, Romantisierung, Exotisierung und Verharmlosung ab. Die schweren Lebens- und Arbeitsumstände interessierten das Publikum und die Bildgestalter dagegen kaum. Trotz ihrer Tendenz zur Stereotypisierung sind die Abbildungen informative Zeitdokumente, die beispielweise von verschwundenen (und häufig vergessenen) Berufen wie Rastelbinder, Aschenmann oder Haderlumpenweib erzählen (Vgl. Beitrag Palla) oder von vormodernen Konsumgewohnheiten und Distributionswegen (Vgl. Beitrag Breuss). Zwischen Klischees und Wirklichkeit gab es einen ständigen Transfer: Die „Typen“ waren Kunstprodukte, die der Realität entnommen waren (Vgl. Beitrag Witschorke). Die Themen-Kapitel (im Katalog mit arabischen Zahlen versehen) zu „Kinderarbeit“, „Schleppen“ oder den „Armen Musikanten“ laden dazu ein, das Bildmaterial in Kombination mit anderen Quellen und Hintergrundinformationen gegen den Strich zu lesen, also den Blick auf einige Aspekte von beruflicher Realität und Darstellungsweisen zu richten. Dazu finden sich auch etliche Katalogbeiträge, etwa zur Herkunft der in Wien tätigen Hausierer und zur Organisation des bis ins frühe 19. Jahrhundert so wichtigen Wanderhandels (Vgl. Beitrag Milchram) bis hin zu den katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Gastronomie (Vgl. Beitrag Weigl) oder zur Typisierung von Frauenfiguren, (Vgl. Beitrag Haibl). Andere Spezialthemen informieren über im TypenPersonal fest verankerte Berufe und ihre Bedeutung für das städtische Leben und die Ökonomie (Infrastrukturberufe, Flickhandwerker, Abfallsammler) ebenso wie über den Mythos von „Typen“, die speziell im späten 19. Jahrhundert Karriere machten – Wäschermädel, Marktfrau, Fiaker, Pülcher und der als „Gigerl“ bezeichnete Modegeck, der von einem Journalisten erfunden wurde.

verstanden, mittels derer eine Gruppe kollektive Identität konstruiert, „Eigenes“ in Abgrenzung zum „Anderen“. Die Entwicklung von den international austauschbaren Kaufrufdarstellungen des 18. Jahrhunderts zu den „Wiener Typen“ spiegelt diese semantische Verschiebung, wurden „Volksfiguren“ wie Fiaker oder Wäschermädel doch in der Deutung der meinungsbildenden Feuilletonisten zunehmend zu Repräsentanten des Wienerischen, im lokalpatriotischen ebenso wie im gemeinschaftsbildenden und ausschließenden Sinn. Sie wurden, um Klara Löffler zu zitieren, „eingewienert“. Die Abgrenzung galt einerseits der modernen und differenzierteren Gesellschaft, der gegenüber die „Wiener Typen“ für eine Welt der Übersicht und der sentimentalen Sehnsucht nach der angeblich guten alten Zeit standen. Zugleich ließ sich mittels der „Typen“ die Wiener Lebensart als Allein­ stellungs­ merkmal gegenüber anderen Stadtkulturen konstituieren, denen die harmonische Gemütlichkeit abgesprochen wurde. Erinnert sei an den um 1900 geführten Diskurs zwischen dem „schnellen“ Berlin und dem „­ langsamen“ Wien. Auch wenn es überall Straßentypen gab, in der Wiener Selbstsicht waren sie in Wien spezieller und „hochcharakteristischer“ (Friedrich Schlögl). Typisch für die feuilletonistische Wien-Verklärung war die Behauptung, dass es im Straßenbild keiner anderen Großstadt eine solche Fülle einzigartiger Volksfiguren gebe. Zitiert sei einer der einflussreichen Interpreten des Wienertums, Eduard Pötzl, der 1895 feststellte: „Das Wiener Straßenbild bietet Erscheinungen, die so recht geeignet sind, selbst dem flüchtigen Beobachter die stark ausgeprägte Subjectivität des Wieners darzuthun.“6 Zwar würden Bretzelmänner, Kutscher oder Rauchfangkehrer auch „in anderen Großstädte[n] auf der Bildfläche herumwimmeln“, doch darüber hinaus gebe es viele, „die außerhalb Wiens überhaupt nicht vorkommen oder doch in wesentlich veränderter Form“. Pötzl lässt dann eine Reihe von Wiener „Exklusiv-Typen“ auftreten: Der „Kästenbrater“ preise seine Ware „wohl kaum irgendwo“ mit dem Ruf „Maroni, Maroni arrostiti, bratene Aepfel!“ an. Auch der „Zwiefelkrawat“ oder „die kurzgeschützte und hochgestiefelte Slowakin mit ihrer ‚Spiegelei‘ [Spielzeug]“ gebe es ausschließlich in Wien, ebenso den Lumpensammler, das Lawendelweib, die Rastelbinder oder die nach der Annexion von Bosnien-Herzegowina in Wien hausierenden bosniakischen Tschibuk- und Messerhändler: „Sie alle gedeihen nur in der Wiener Luft.“ Mit dieser multikulturellen Idylle weist Pötzl auch auf Wiens zentrale Rolle in einem Vielvölkerstaat hin. Aus den anfänglichen idealtypischen Berufsdarstellungen ohne ausgeprägte lokale Zuschreibung wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem neuen Leitbegriff „Wiener Typen“ also Gesellschaftstypen, die ihre Stadt und deren Charakter und Mentalität repräsentierten.7 Damit waren sie in die Pflicht genommen, für eine bestimmt Deutung des Wienerischen zu werben. Denn im „cultural clash“ zwischen Alt-Wien und Neu-Wien schien die Physiognomie der Stadt doppelt gefährdet: Einerseits im Stadtbild, das von Demolierungen bedroht und tatsächlich drastisch verändert wurde, andererseits galt es, das urtümliche Wienertum zu bewahren.

Vom „gemeinen Volk“ zu den „Wiener Typen“ 1775 wurden die von Brand abgebildeten Figuren mit dem Begriff „gemeines Volk“ zusammengefasst, ungefähr ab 1800 war von „Volksszenen“ die Rede, später von „Wiener Typen“. Die Begriffe „Volk“ und „volkstümlich“ haben in diesen 100 Jahren eine wesentliche Veränderung durchlaufen. Im 18. Jahrhundert bezeichnete das „gemeine Volk“ relativ ideologiefrei vor allem die „breite Masse“, also Personen der unteren Gesellschaftsschicht. Mit der Aufladung des „Volkstümlichen“ durch Herder und die Romantik wurde unter „Volk“ verstärkt eine gemeinsame kulturelle Herkunft

1791 um 1875

1865

um 1880

um 1880

spätes 19. Jh. Abb. 3: v.ln.r.: Schusterbub, 1791 Vinzenz Katzler: Schusterbub, 1865, Sammlung Christian Brandstätter Otto Schmidt: „Wiener Typen“, Nr. 8: „Schusterbub“, um 1875 Schusterbub, um 1880 Ladislaus Eugen Petrovits: Leporello „Wiener Typen – Schusterbub“, um 1880 Werbezettel des Warenhauses Emil Storch, spätes 19. Jh., Sammlung Christian Brandstätter Isa Jechl: Ein Schusterbub, 1902 um 1910

16 1902

Ansichtskarte „Wiener Typen – Schusterbub“, um 1910 Spendenbeleg des Winterhilfswerks „Wiener Typen – Schusterbub“, 1940

1940


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