Wien Museum Ausstellungskatalog „Spiele der Stadt - Glück, Gewinn und Zeitvertreib“

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6.27 Wiener Stadtbahn-Spiel, 1910–1914 Wien Museum

dem Konzept der „genussreichen Bildung“ unterworfen wurde, bis ins 20. Jahrhundert. Die Form der Darstellung orientiert sich an den Räumen, welche die Stadt dem Spiel in diesem Zeitraum gewährt, denn unterhalb des öffentlichen Schauspiels urbaner Produktivität und Rationalität verbirgt sich eine vielgestaltige, labyrinthische Topografie des Spiels. Das Spektrum der urbanen Spielräume ist weit: Es reicht von öffentlichen Plätzen, den Straßen und Parks, den Freiflächen und Gstätten, auf denen sich temporär Spieler etablieren, über die zugewiesenen Spielplätze (mitsamt Benutzungsordnung) und den halböffentlichen Raum der Kaffee- und Gasthäuser (mit oder ohne Hinterzimmer), über die Gesellschaften, Clubs und die staatlich privilegierten und institutionalisierten Orte, in denen man sein Glück im Spiel versuchen kann und soll, bis hin zum privaten Raum, den Kinderzimmern und Küchentischen. Jeder dieser Spielräume ist stadtspezifisch verschieden, in Veränderung begriffen, hat seine eigene Geschichte und Gegenwart. Unterschiedliche Spielergruppen bewegen sich in ihnen, sie spielen unterschiedliche Spiele und verfolgen unterschiedliche Ziele. In Anlehnung an Michel Foucault können die Räume des Spiels als verdoppelte („heterotopische“) Räume verstanden werden – real existierende und zugleich utopische Räume, die bestimmte Versprechen enthalten. Im Fall des Spiels sind es Glück, Gewinn oder auch nur Zeitvertreib im Wortsinn: Der Spieler ist einer, der sich die Zeit vertreibt, im Spiel gewinnt er Distanz zur Welt und zu sich selbst, denn unentscheidbar bleibt, ob der Spieler das Spiel oder, wie Hans-Georg Gadamer vermutet, eher das Spiel den Spieler spielt.

6.28 Wiener Stadtbahn-Spiel, um 1930 Wien Museum

So unterschiedlich Spiele und ihre Erzählungen erscheinen mögen, eines ist ihnen gemeinsam: die seltsame Intensität, mit der gespielt wird. Sie gilt für das Kind, das seine Bausteine ordnet und erstaunlich lange in seiner Welt versinkt, wie für den Zocker, der am Automat festhängt, sie gilt für den einsamen Dr. B. in Stefan Zweigs Schachnovelle, für die fröhliche Runde der Boule-Spieler, die sich um Mitternacht trifft und über Stunden Bälle wirft, und auch für den Buben, den Rudolf Spiegel in einem Sommer Mitte der 1930er Jahre des vorigen Jahrhunderts in einer Fotografie eingefangen hat: Er treibt seinen Reifen und verwandelt für sich das Trottoir in einen Parcours.

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Spiele der S tadt | Die S tadt im Spiel


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