Wien Museum Ausstellungskatalog „Klimt. Die Sammlung des Wien Museums“

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von Tänzerinnen, aus denen sich letztendlich die

Nähe und Metaphysik gilt, bei aller linearen

Figur der Erwartung im Stoclet-Fries entwickelt

Freiheit, auch für die Zeichnungen der späten

(1910/11), schließt Klimt an Motive des Beethoven-

Jahre; ­in diesen spielt die weibliche Erotik eine

fries an.

dominieren­de Rolle. Zu den zwei zentralen

Das für ihn zentrale Thema der Liebe zwischen

Bildprojekten Die Jungfrau (1913) und Die Braut

Mann und Frau entfaltet sich in einer spannungs-

(1917/18, unvollendet) sind mehrere Studien

vollen Liniensprache in den Studien, mit denen er

vorhanden, in denen sich die typologisch sehr

etwa gleichzeitig das Gemälde Der Kuss (1908),

unterschiedlichen Modelle in verschiedenen

das berühmteste Werk des Goldenen Stils, und

Graden des Entrücktseins oder der erotischen

das Liebespaar der Erfüllung im Stoclet-Fries

Ekstase präsentieren; darüber hinaus entstehen

vorbereitet. Seit dem Beethovenfries verankert

zahl­reiche autonome Blätter. Unter den vielen

Klimt seine Figuren noch mehr als zuvor in der

zu dieser Thematik vorhandenen Studien

Papierfläche; oft lässt er sie von den Rändern

befindet sich die Darstellung einer sitzenden

überschneiden, wodurch sie – ob liegend oder

Frau mit schleierartiger Kopfbedeckung, ge-

stehend – ohne Anfang und Ende im Luftleeren

schlossenen Augen und gefalteten Händen

zu verharren scheinen. Zeichenkunst wird zur

sowie mit nackten, gegrätschten Oberschenkeln.

„Raumkunst“, jedes Blatt ist eine Welt für sich

In dieser Arbeit gelangt der für Klimt charakteris-

und trägt den Charakter des Bekenntnis­haften –

tische Dualismus von Erotik und Askese unmittel­

besonders in der Goldenen Periode. In allen

bar zum Ausdruck (Kat.Nr. 9.14). Auch diese

Phasen seiner Tätigkeit ist die sich ständig wan-

Gestalt vermittelt das tranceartige Nicht-von-

delnde Linie sein Hauptinstrument. Um 1903/04

dieser-Welt-Sein, das sich unter dem Einfluss ­

wechselt Klimt von der weichen, schwarzen Krei-

des Symbolismus in den Studien zu den

de zum metallisch scharfen Bleistift, oft ergänzt

Fakultäts­bildern erstmals manifestiert. Klimts

durch blaue und rote Farbstifte, die manchmal

zeichnerischer Zugang zur existenziellen Nackt-

auch allein zum Einsatz kommen. Gleichzeitig

heit, verbunden mit einer kompromisslosen

erfolgt der Übergang von den immer zu gleichen

Liniensprache, war von richtungweisender

Formaten geviertelten Packpapierbögen zu einer

Bedeutung für den Expressionismus.

leicht schimmernden, aus Japan importierten Papiersorte, die etwas größer zugeschnitten wird. Das für Klimts Studien charakteristische Spannungsfeld zwischen sinnlicher Unmittelbarkeit und formaler Disziplin, zwischen greifbarer 28

Gustav Klimt Oberkörper eines sich umarmenden Paares, 1904/05 Kat.Nr. 10.4

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