Wien Museum Katalog „Das Rote Wien. 1919-1934. Ideen, Debatten, Praxis.“

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Intentionalität im historischen Prozess eine zentrale Rolle zugeschrieben. Max Adlers Werk illustriert dies in geradezu herausragender Weise. Ein in der Tat universaler Geist, nahm er buchstäblich jegliches aktuelle gesellschaftliche Geschehen, jede neuere Geistesströmung, alle neuere, für relevant erachtete Literatur auf, um sie in sein spezifisches Denksystem zu integrieren. Dessen Grundannahme ist die Existenz eines Sozial-­ Apriori – mithin der gesellschaftliche Charakter der Aktion des erkennenden Bewusstseins –, in dem Adler gleichsam eine Lösung der kritischen Philosophie Kants von ihrer individualistischen Form, eine Weiterführung der kantischen Erkenntniskritik erblickte. Eben diese erkenntnistheoretische Methode ermöglichte ihm die Darstellung einer den Willen des Menschen durchdringenden sozialen Kausalität – so etwa, wenn er in Abgrenzung zu den Grenznutzentheoretikern das marxistische Ökonomieverständnis nicht als »  ­Katallaktik  «, also als Lehre der Güterabschätzung, der Tauschbeziehungen, des Marktes definierte, sondern vielmehr das Erkenntnisinteresse nach jenen verborgenen Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den sozialen Klassen richtete, in denen sich die Tauschbeziehungen des Marktes zu ihrem Ausdruck bringen. Gleichwohl ist Adlers kantianisierendem Marxismus eine unzweifelhaft idealistische, wenn nicht metaphysische Dimension eigen  ; er verstand den Sozialismus als universale Weltanschauung, als den Aufstieg der Menschheit zu »  unerhörter Kultur  « und »  unerhörter Freiheit  «, als historische, das ganze Gebäude der menschlichen Kultur umwälzende ( und in diesem Sinne revolutionäre ) gesellschaftliche Praxis.10

Delegierte des Internationalen Sozialistenkongresses in Amsterdam, 1904 ; Kat. Nr. 1.3.

Ein Leitmotiv nachgerade des austromarxistischen Denkens  : So spricht Otto Bauer in einer jener überaus raren konkreten Darlegungen einer als ideal imaginierten sozialistischen Zukunft von einer »  vollen und wahren  «, sich selbst bestimmenden »  Kulturgemeinschaft  « als Produkt gesellschaftlichen Schaffens, Erzeugnis sowohl der Erziehung wie der solidarischen Kooperation in der gesellschaftlichen Arbeit. Der Sohn aus großbürgerlichem, jüdisch assimiliertem und paradigmatisch liberalem Hause, Protegé Victor Adlers, hatte im Alter von 26 Jahren eine monumentale Studie zur Nationalitätenfrage vorgelegt und war mit einem Schlag zu einem der wichtigsten Theoretiker der internationalen Sozialdemokratie aufgestiegen.11 Im Kapitel über die Verwirklichung der nationalen Kulturgemeinschaft durch den Sozialismus entwirft er die ­Vision einer qualitativ neuartigen Kultur aller »  Glieder der künftigen Gesellschaft  «, der Identität von »  Arbeitenden  « und »  Genießenden  «, die gänzlich neue Persönlichkeiten, »  Neue Menschen  « entstehen lassen werde. Eine authentische, inte­ grale, hybride Kultur, geschaffen im bewussten Willensakt der Gesamtheit des Volkes, in ihrer »  Wesenheit  « durch das Alte mitbestimmt, Erbin aller früheren Kulturen. »  Was je Menschen erdacht und ersonnen, gedichtet und gesungen haben, wird nun zum Erbe der Massen.  « 12 War Max Adler der Philosoph, Karl Renner der Staatsund Rechtstheoretiker, so war der praktische Arzt Rudolf Hilferding der Ökonom des Austromarxismus ( Hilferding war zweimaliger Finanzminister der Weimarer Republik, am 12. Februar 1941 wurde er in einem Pariser Gestapo-Gefängnis ermordet ). Endgültig in die erste Reihe der Theoretiker des internationalen Sozialismus stieg er mit dem 1910 veröffentlichten Finanzkapital auf, das er im Wesentlichen bereits als 28-jähriger vollendet hatte und das von Karl Kautsky als der »  vierte Band des Kapitals  « bezeichnet wurde.13 Hilferdings Auffassung, dass es in der kapitalistischen Entwicklung objektive Tendenzen zu einem gleichsam quantitativen »  Hineinwachsen  « in den Sozialismus gäbe, findet sich – wenn auch mit differenter politischer Implikation – in den politisch-ökonomischen Schriften Bauers und Renners immer wieder  ; eine Auffassung, die zu einem weiteren, zentralen Leitmotiv austromarxistischer Politik der Zwischenkriegszeit wurde. Einen bedeutenden Stellenwert nahm zudem die Analyse sozialer Schichtung in entwickelten industriell-kapitalistischen Gesellschaften ein, die soziale Zusammensetzung der Arbeiterschaft selbst und die Formierung eines entsprechenden »  Klassenbewusstseins  « als Voraussetzung für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft. Denn dies blieb die


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