Das Rätsel der Kreativität

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Das Rätsel der Kreativität

Eduard Kaeser

Das Rätsel der Kreativität


Paolo Bianchi und Gabrielle Schmid sind als Dozierende und Kreativitäts-Coaches an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK tätig. Sie unterrichten das CAS Creationship, ein Angebot, das sich an Personen richtet, die ein innovati­ves Projekt mit Hilfe kreativer Methoden in die Welt setzen möchten und gleichzeitig die eigene Persönlichkeits­ entwicklung im Auge haben.

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Kreativität ist ein verlockender, aber vager Begriff. Was verstehen Sie darunter? PB: Ich verstehe Kreativität als Ressource, als menschliches Vermögen, das aktiviert und gefördert werden kann. In unserem Bildungsangebot an der ZHdK arbeiten wir auch mit dem Begriff des angewandten Querdenkens. Das meint ein Über-den-Tellerrand-Schauen, jenseits von Routinen Operieren. Im besten Fall ist das emanzipatorisch und progressiv. In der Corona-Pandemie sind Querdenkende in Verruf geraten, weil wir hier auf «Querdenker» treffen, die sich eigenbrötlerisch und verquer verhalten. Unsere Vorstellung von Querdenken bezieht sich auf eine produktive Störung, auf die Überzeugung, dass Neues im Denken oft nur quer zu den herrschenden Grundüberzeugungen aufgehen kann. Woran denken Sie dabei konkret? PB: Hätte der Astronom Nikolaus Kopernikus nicht quer zu den Lehren seiner Zeit gedacht, hätte er die berühmte kopernikanische Wende unseres Weltbildes nicht einleiten können, welche die Sonne an die Stelle der Erde und somit ins Zentrum unseres Planetensystems rückte. Hätte Sigmund Freud das Seelenleben des Menschen nicht anders durchleuchtet, als es die bürgerlichen Konventionen vorschrieben, möglicherweise würde man immer noch glauben, das Ich sei Herr im eigenen Haus.

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In der theologischen Dimension verweist Kreativität auf die Schöpfung Gottes. In der Nachkriegszeit wurde Kreativität in Wirtschaft und Politik zum Schlagwort: Jede Initiative musste plötzlich kreativ sein. In der reformpädagogischen Dimension werden Verhinderer von Kreativität genannt: «Sättigung, Gewissheit, die Folgen des Reichtums und der guten pädagogischen Absicht» (Hartmut von Hentig). Im Kontext von Creationship betrachten wir den Begriff «Kreativität» als Tönung der gesamten inneren Haltung gegenüber der Realität. Es geht daher nicht um das Schaffen von wichtigen und anerkannten Kunstwerken. Wie können Sie als Coaches diese innere Haltung fördern? GS: Als Kreativitäts-Coaches bereiten wir gemeinsam mit dem Coachee den Boden vor, damit verborgene Kompetenzen durch Offenheit und Neugier zum Blühen gebracht werden können. Menschen mit Offenheit für neue Erfahrungen ziehen Abwechslung der Routine vor, sie interessieren sich für Unbekanntes und Fremdes, für andere Menschen und Gedanken. Das weitet den Geist und öffnet Möglichkeitsräume. In unserem Weiterbildungslehrgang CAS Creationship wollen wir diesen Möglichkeitssinn entwickeln und fördern. Ein Mensch, der ein Problem hat, ohne die Lösung dafür zu kennen, ist aufgerufen, einen kreativen Weg einzuschlagen. Wir vermitteln, dass es Lösungswege oder sogar eine Lösungskunst gibt. Welche Voraussetzungen braucht man nach Ihrer Erfahrung, um Querdenken als Haltung zu erlernen? PB: In unserem Lehrgang braucht es erstens einmal viel Musse, also die Bereitschaft, sich auf eine mehrmonatige Reise einzulassen, Umwege zu gehen, sich auch mal zu verlaufen. Querdenken entsteht durch Ausprobieren und Experimentieren, durch Trial and Error, so auch durch die Gegenwärtigkeit von Zufällen und Überraschungen. Im Weiteren spielt es eine wichtige Rolle, das Unmögliche zu denken, dann erst zeigt sich, was überhaupt möglich ist. Manche Pädagogen sind überzeugt, dass Lernen per se ein kreativer Prozess sei. Was halten Sie davon? GS: Lernen ist insbesondere dann als kreativer Prozess zu verstehen, wenn es vom Wunsch geleitet ist, Neues zu erfahren und Unbekanntes zu entdecken. Dafür sind Neugier und die Fähigkeit zum Staunen entscheidende Voraussetzungen. Unser Creationship-Angebot ist im

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Grunde eine «Schule des Staunens». Hier wird eine ästhetische forschende Neugier praktiziert, die sich mit drei wichtigen Aspekten verbindet: 1. Anlass des Staunens kann alles sein – eine Frage, ein Gedanke, eine Befindlichkeit; ein Gegenstand, eine Pflanze, ein Tier; ein Phänomen, ein Werk, eine fiktive oder authentische Person; ein literarisches Thema, ein Sprichwort u. a. m. 2. Die Fähigkeit zum Staunen ist in allen Menschen angelegt – sie nährt Wissende wie Unwissende, Experten wie Dilettanten. 3. Staunen ist eine Alltagspraxis. Welche Rolle spielen dabei didaktische Methoden? PB: Die beste didaktische Methode wäre, einen «Lehrplan» zu haben, in dem «neu sehen, anders machen, quer denken» von früh in der Primarschule übers Studium bis ins Erwachsenenalter vorgesehen ist. Wenn die einzige Konstante im Leben der ständige Wechsel ist, benötigen wir einen experimentellen Gestaltungswillen, um den Wandeln zu meistern. Von Kreativität würde ich erst sprechen, wenn sich ein Prozess der Transformation ereignet. Voraussetzung dafür ist, dass Erwachsene an die Ursprünglichkeit kindlichen Fragens und Staunens anknüpfen. Wenn sie etwas von deren authentischer Naivität, Offenheit, Phantasie und Begeisterungsfähigkeit in sich zulassen. Die bewusstseinsverwandelnde Kraft des Staunens setzt dann ein, wenn wir uns wundern, wenn wir «gwundrig» sind. Wie kann man solche Prozesse und Transformationen in Gang setzen? GS: Wichtig ist es, einen Rahmen oder einen geschützten Raum für Experimente zur Verfügung zu stellen. Es ist ein Raum, der so viel Spielraum wie möglich und zugleich so viel Struktur wie nötig anbietet. Wenn eine Gruppe diesen Raum ohne bestimmte Zielvorgaben als Freiraum für Versuche und Entdeckungen nutzt, kommen kreative Prozesse in Gang. Jede und jeder bringt einen eigenen Rucksack voller Erkenntnisse und Erfahrungen mit und macht sich mit Hilfe kreativer Methoden auf die Suche, ohne genau zu wissen, wo die Reise enden wird. Es ist eine Art Schatzsuche, in deren Zentrum die Auseinandersetzung mit der eigenen Potenzialentfaltung steht. Kreativitätsmethoden sind auf diesem Weg als (Denk-)Werkzeuge zu verstehen. Sie sind dann wirksam, wenn sie aus einer Haltung der (Ergebnis- und Resultat-)Offenheit heraus angewendet werden. Wenn es also gelingt, sich zu einem übenden Wesen zu machen, das sich fortwährend selbst herausfordert.

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PB: Eine der spannendsten Methoden für Transformationsprozesse besteht darin, sich unvoreingenommen auf Kunst in all ihren Ausdrucksformen einzulassen, die Begegnung mit Kunstwerken zu suchen, so wie alles wirkliche Leben Begegnung ist. Das ist gerade auch in nicht kunstaffinen Arbeitsumfeldern möglich. Die Mobiliar Versicherung etwa hat mit ihrem Kunst-Engagement erkannt, dass Kunst und künstlerisches

Wenn man Kreativität als Spiel mit paradoxalen Gegensätzen versteht, arbeitet man immer mit einem Sowohl-alsauch, am wichtigsten dabei ist das, was zwi­schen den Polen passiert. Gabrielle Schmid

Denken als überraschende Treiberkräfte für eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft aktiv einbezogen werden können. Das ermöglicht zweierlei: einerseits den Begriff «Kunst» zu reflektieren und selbst Künstlerstrategien anzuwenden, anderseits geben die Kunstwerke an der Wand oder auf dem Sockel uns Denkanstösse für den eigenen kreativen Ausdruck. Die transformative Kraft der Kunst liegt vor allem darin, dass sie die Beschaffenheit der Bilder verwandeln kann, die wir uns von der Wirklichkeit machen – und damit die Wirklichkeit selbst verändert.

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Was bedeutet das für Ihre Rolle als Dozierende? GS: Als Dozierende versuchen wir, die Grundhaltung zu vermitteln, dass es immer mehrere Möglichkeiten gibt, Dinge zu betrach-


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ten, zu erfassen und Probleme zu lösen. Heinz von Förster hat einmal das Prinzip formuliert: «Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten grösser wird.» Das ist ein gutes Motto für die Förderung von und die Forderung nach Kreativität. Als Lehrpersonen verstehen wir uns mehr als Coaches und weniger als Dozierende. Unter dem Titel «Die Lehrperson als Coach» hat unser ZHdK-Kollege Peter Truniger ein aufschlussreiches Buch geschrieben. Darin wird u.a. die Annahme getroffen, dass die Sichtweisen und Problemlösungen der Lehrperson in Form von Ratschlägen nicht bzw. nur bedingt zielführend sind für komplexe Fragestellungen. Als Coaches verfügen wir, paradox formuliert, über ein «Nichtwissen», das wir einbringen. Das meint, wie Truniger schreibt, eine intensive Neugier «bezüglich dessen, was die Ratsuchenden mitzuteilen haben und wie sie ihre Welt konstruieren. Das bedeutet nicht, dass ‹nichtwissende› Coaches das eigene Wissen ignorieren sollen. Vielmehr geht es darum, präsent und mit echtem Interesse die Überlegungen, Absichten und Schwierigkeiten des Ratsuchenden zu erkunden. Ziel ist der Nachvollzug dessen, was den Lernenden umtreibt, welche Problemlösestrategien er aktiviert und welche Lösungswege er in Betracht zieht.» Für uns bedeutet das, dass wir eine neugierige Position des Nichtwissens pflegen, dass wir das Selbstverständnis eines umfassend wissenden Expertentums ständig hinterfragen. PB: Es geht uns als Lehrperson um die Kreation eines Klimas, in dem Faszination, Leidenschaft und Denkbegeisterung wieder einen Ort finden. Als konstruktivistisch inspirierte Lehrpersonen verstehen wir uns selbst als einen Katalysator für eine authentische Gesprächskultur. Kreativität wird oft auch als Inspiration verstanden, die einem zufällt, wenn man sich entspannt in die Hängematte legt. Sie sprechen aber von Querdenken. Was ist das für eine Form des Denkens? PB: Gegen Hängematten ist nichts einzuwenden, aber gleichzeitig braucht es Piks und Peaks. Pik meint eine Irritation im Sinne einer Grenzerfahrung, die das eigene Nichtsehen sichtbar macht. Peak meint, wie Friedrich Nietzsche schreibt, das Einheizen mit Illusionen und Leidenschaften, um eine «Verzückungsspitze», einen erfüllten Moment im Leben zu erreichen. Wer querdenkt, ist ein Freund des Sowohl-als-auch-Prinzips: da, wo Entspannung ist, gibt es gleichzeitig auch Energie. Der geglückte Umgang mit solchen Gegensätzen ist ein Indiz für die Ausprägung seines Kreativitätsprofils.

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Studien belegen, dass die Toleranz gegenüber Ambivalenzen sowie die Beweglichkeit im Umgang mit Polaritäten elementare Merkmale kreativer Persönlichkeiten sind. Das Spiel mit Kontrasten und mentales Kontrastieren sind die Grundlagen für kreatives Sein und Tun. Der deutsche Kulturpsychologe Norbert Groeben spricht von einer paradoxalen Verbindung gegensätzlicher Persönlichkeitseigenschaften bei kreativen Menschen, denen es gelingt, zwischen Ich-Stärke und Angstpotenzial eine Balance herzustellen. Er schreibt: «Diese Verbindung ist deshalb paradoxal, weil es sich bei den Gegensätzen nicht um logische Widersprüche handelt, sondern um entgegengesetzte Eigenschaften, deren Gegenläufigkeit lediglich durch unsere (bisherige) gesellschaftliche Sozialisation zustande kommt. Diese Gegenläufigkeit von Eigenschaften ist daher keineswegs ein notwendiger Gegensatz, sondern im Gegenteil ein unnötiger, der zu Beschränkungen führt – auf jeden Fall und zumindest in Bezug auf die Kreativität.» Vor ihm hat der ungarisch-US-amerikanische Psychologe und «Flow»-Autor Mihaly Csikszentmihalyi mehrere solcher paradoxalen Verbindungen als zentral für die Komplexität kreativer Persönlichkeiten beschrieben, so etwa die Dimension «Energie und Entspanntheit». Kreative Menschen sind oft von grosser physischer Kraft und Energie, zugleich schweigsam, ruhebedürftig und entspannt. Sie sind imstande, Energie und Entspannung gut in Balance zu halten. Kreativität ist also etwas durchaus Fassbares und kein unergründliches Rätsel? PB: Ja, das Rätsel der Kreativität scheint so gesehen gelöst zu sein. Die Kreativität, die wesentliche menschliche Schöpferkraft, hat den Nimbus des Mysteriums verloren. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte ist es der Kreativitätsforschung gelungen, das zentrale Charakteristikum zu identifizieren, mit dem sich der kreative Mensch beschreiben lässt: Es ist die Kompetenz, den Balanceakt zwischen zwei gegensätzlichen Eigenschaften so zu meistern, dass es zu einer paradoxalen Verbindung kommt. Der Idealzustand wäre somit: Ein Ausbalancieren zwischen den Polen, sich aus der Mitte heraus frei bewegen und beide Pole integrieren. Kreativität lässt sich daher nicht statisch als Eigenschaft oder Fähigkeit begreifen, sondern nur als etwas eminent Dynamisches, als etwas, das sich immer wieder entzieht. Wichtig ist, das Phänomen Kreativität als lebendigen Prozess zu verstehen, der sich immer wieder neu erschafft.

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Nun ist es ja nicht gerade einfach, sich in der Hektik des Alltags auf solche Prozesse einzulassen. GS: Das ist so, ja. Experimente und Studien haben gezeigt, dass kreative Aha-Erlebnisse oder Geistesblitze dann aufscheinen, wenn wir uns entspannen und mental loslassen. Unter Druck und vor allem im Stress arbeitet unser Gehirn nachweislich nicht kreativ, sondern greift in der Not auf die etablierten, effizienten, gut eingeübten Denkmuster zurück. Originelle Ideen stellen sich oft erst dann ein, wenn wir nicht mehr konzentriert an einem Problem herumstudieren, sondern etwas ganz anderes tun – etwa kochen, duschen, jäten oder Velo fahren. Wenn wir uns in diesen neuronalen Bummelzustand versetzen, der unsere Gedanken auf eine spontane Wanderschaft schickt, dann greift unsere Phantasie Raum: Ungewöhnliche Assoziationen und Einfälle bekommen eine Chance, in unserem Kopf aufzublitzen. Einstein bezeichnete Kreativität als «Bodensatz verschwendeter Zeit». Pausen können in diesem Sinn tatsächlich eine «Kreativitätstechnik» sein. Im Bildungskontext und in der Wirtschaft mehren sich die Stimmen, die Kreativität für eine wichtige Schlüsselkompetenz der Zukunft halten. Wird Kreativität tatsächlich wichtiger oder ist das Interesse daran nur eine vorübergehende Mode? PB: Kreativität scheint tatsächlich an Bedeutung zu gewinnen. Im Ranking des Weltwirtschaftsforums WEF über die wichtigsten Kompetenzen steht Kreativität neben kritischem Denken und Problemlösekompetenz regelmässig zuoberst auf der Liste. Bisher haben Wirtschaft und Bildung eine gewisse Einseitigkeit kultiviert, das rationale Denken wurde wesentlich stärker gefördert als emotionale, künstlerische oder spielerische Zugänge zu Wissen und Handeln. Die Probleme werden aber immer komplexer, und allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass Ratio ohne Creatio(n) dieser Komplexität nicht gewachsen ist. Also ja, Kreativität gewinnt tatsächlich an Bedeutung, was keine blosse Modeerscheinung ist, sondern für ein existenzielles Grundbedürfnis steht. Die Hirnforschung bestätigt diese Einschätzung. Kreativität ist eine grundlegende Ressource, die wir zum Überleben brauchen. GS: Die Auseinandersetzung mit Kreativität lehrt uns zudem einen gesunden, mutigen Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen. Denn wer Fragen stellt und zweifelt, verlässt den festen Boden der

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Gewissheiten und springt ins Nichtwissen. Er übt sich darin, Ungewissheit nicht nur auszuhalten, sondern Chancen in ihr zu entdecken. Wir sprechen hier auch von der Schulung des zwischenräumlichen Denkens. Zwischenräumliches Denken findet in der Schwebe zwischen den Gewissheiten statt, auch zwischen den bereits erwähnten Gegensätzen. Es ist ein Wagnis: Wir sind in einem dynamischen Übergang, wo nichts sicher, sondern alles vorläufig und beweglich ist – und alles möglich. Gerade in den vergangenen Monaten hat sich deutlich gezeigt, welch existenzielle Kompetenz der Umgang mit Unsicherheit ist. Wird Kreativität also vom Luxusgut zu einer Grundkompetenz, über die jeder verfügen sollte? PB: Der Megatrend geht in diese Richtung, ja. Doch nur weil gerade viel von ihr geredet wird, nimmt die Kreativität sicher nicht zu. Im Gegenteil, der übermässige Gebrauch eines Wortes setzt dessen Wert herab. Auch zur allgemeinen Norm sollte man Kreativität nicht erklären. Das stünde in Widerspruch zum Wesen der Kreativität, das auf Neugier, Offenheit für neue Erfahrungen, Unabhängigkeit, Eigensinn und Flexibilität beruht. Nochmals zurück zum Begriff des Querdenkens. Sie haben Csikszentmihalyi erwähnt. Gibt es weitere Kreativitätsforscher, an die Sie mit Ihrem Ansatz des Querdenkens anknüpfen? PB: Ihren entscheidenden Aufbruch erlebte die Kreativitätsforschung durch den «Creativity»-Vortrag von Joy Paul Guilford 1950 in den USA. Er entwickelte darin das Modell des «divergenten Denkens» (= Querdenken), eine Form des Denkens, die sich Problemen annimmt, für die es bisher keine Lösung gibt. Der These zugrunde legte Guilford die Tatsache, dass Intelligenztests so gut wie nichts zutage fördern, was wir «kreativ» nennen würden. Guilford gibt uns mit der Unterscheidung von divergentem und konvergentem Denken ein starkes Instrument in die Hand. Divergentes Denken meint: Am Anfang steht der Reichtum der Möglichkeiten. Konvergentes Denken meint: Am Ende steht die Reduktion der Möglichkeiten. Im dynamischen Raum dazwischen zerfallen bestehende Ordnungsmuster: Chaos, Potenzialentfaltung, Perspektivwechsel entstehen. Spannend ist es, den Fokus auf die Mitte, das «in-between», zu legen. Meistens möchten wir ja durch schnelles (konvergentes) Denken effizient

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und ökonomisch orientiert ans Ziel kommen, so auch Antworten und Bewertungen erhalten. Erst indem wir auf ein langsames (divergentes) Denken setzen, finden wir in komplexen Zeiten zu den wichtigen Fragen, um gute Entscheidungen zu treffen. Das verlangt nach einem Perspektivwechsel. Denn, um es in Anlehnung an den alten Kaiser Marc Aurel zu sagen: Es gibt keine Wahrheit, es gibt lediglich Perspektiven! Dies gilt vor allem für komplexe Zusammenhänge. Edward de Bono gilt als einer der führenden Lehrer dieser Richtung und hat seit den 1960er Jahren eine Vielzahl von Techniken entwickelt, die helfen sollen, neue Ideen zu finden und sich aus eingefahrenen Denkmustern zu lösen. Es gibt inzwischen eine ganze Menge an Kreativitätstechniken. Hier droht die Gefahr, dass Kreativität fast als etwas Mechanisches aufgefasst wird. Nichtsdestotrotz kann Kreativität als eine Art Handwerk verstanden werden, das sich bis zu einem gewissen Grad erlernen lässt. An unseren TRANSIT-Veranstaltungen wurden Szenarien für die Zukunft der Erwachsenenbildung skizziert. Zum Thema Kreativität entstanden drei Szenarien: Slow Learning als Lernen ohne vordefinierte Lernziele und Zertifikate; das Schaffen von Möglichkeitsräumen, in denen experimentiert und Neues ausprobiert werden kann; Lernformate, die von Lehrpersonen und Lernenden in kollaborativer Form gemeinsam entwickelt werden. Sind diese Ideen aus Ihrer Sicht geeignet, um Kreativität in der Erwachsenenbildung zu fördern? GS: Ich denke, dass diese Ansätze sinnvoll sind. Möglichkeitsräume, die Experimente zulassen, Erfahrungen im Tun als kreative Praxis ermöglichen und eigenständiges Denken fördern, tragen dazu bei, Kreativität zu unterstützen. Auch kollaborative Ansätze sind vielversprechend. Ein «besonders kreatives Team» ist eines, das sehr unterschiedliche Menschen zusammenführt. Das breit gefächerte Wissen der Gruppe, der Strauss von Expertisen, Erfahrungen und Kompetenzen und die verschiedenen Denkweisen bilden zusammen eine enorme Ressource. Die Bandbreite des Denkens und der Möglichkeiten nimmt exponenziell zu – wenn es zu einem konstruktiven Austausch kommt. Die unterschiedlichen Menschen mit ihren Eigenarten sind einander dann Irritation und Inspiration zugleich. Denn Harmonie mag angenehm sein, kreativitätsstiftend ist sie nicht. Zu diesem Schluss kam Peter Kruse, mehrfach ausgezeichneter «Querdenker», Psychologe und Unternehmensberater,

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der einen zeitgemässen, innovativen Umgang mit Komplexität und Vernetzung anstrebte. Können Sie das etwas näher ausführen? GS: Kruse untersuchte, welche Rahmenbedingungen es braucht, damit Kreativität erscheinen kann. Seine Erkenntnisse zeigen: Wo nichts stört, besteht keine Veranlassung zu Bewegung oder zu Veränderung, geschweige denn zum Schaffen von Neuem. Instabilität, Störungen, Spannungsverhältnisse und Unterschiedlichkeit sind offenbar wesentliche Voraussetzungen dafür, dass Neues entstehen kann. Wenn uns der Sinn nach neuen Möglichkeiten steht (oder die Not sie erfordert), empfiehlt es sich also, so Kruse, Irritation einzuführen. Reichen solche Szenarien denn aus, um Kreativität in der Bildung zu fördern? PB: Ich empfinde die Szenarien der TRANSIT-Veranstaltung ebenfalls als etwas Sinnvolles wie auch Spannendes. Denn sie wenden sich von etwas Bestehendem ab und etwas Neuem, noch Undefiniertem zu. Die Gefahr besteht aber, dass man neue Trends setzt und ihnen folgt, bis man plötzlich merkt: Hoppla, das taugt vielleicht doch nicht als Ersatz für das bisherige Modell. Und unversehens findet man sich im konventionellen Setting wieder und das schöne Szenario war nur ein kurzlebiger Trend. Statt sich nur vom Alten ab- und dem Neuen zuzuwenden, wäre es allenfalls ratsam, mit Gegenbegriffen und Gegensätzen zu arbeiten. Denn: Jeder Schritt, den wir in einem Szenario machen, ist gleichzeitig ein «Hin zu» etwas und ein «Weg von» etwas. Beides ist immanent, untrennbar verknüpft in einer Bewegung. Ich würde versuchen, einen alchemistischen Prozess in Gang zu setzen, der das Traditionelle und das Progressive mit allen ihren Widersprüchen aufeinandertreffen lässt. Wir suchen in unseren Angeboten auch immer wieder danach, einen Raum zwischen den Gegensätzen zu eröffnen. In einem Seminar kontrastieren wir ein Angst-Muster mit der Erstellung eines Mut-Profils, um Stabilität zu erlangen. Ziel ist hierbei die Sicht aufs Ganze. Die Kreativität in der Erwachsenenbildung ist das eine, das andere ist, wie Teilnehmende in Bildungskontexten zu mehr Kreativität finden. In einem horizontalen Lernen erweitern neue Kompetenzen den persönlichen «Strategie-Werkzeugkasten»; die alten Kompetenzen bleiben, wie sie sind. Uns interessiert stattdessen eine verti-

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kale Veränderung, ein transformatives Lernen: Darin werden «höhere» Kompetenzen verfügbar, eine neue personale Identität emergiert, alte Kompetenzen werden kritisch bewertet und ins neue Bewusstsein eingearbeitet.

Kreativität lässt sich nicht als Eigenschaft oder Fähigkeit begreifen, sondern nur als etwas eminent Dynamisches, als etwas, das sich immer wieder entzieht. Paolo Bianchi

Wie sähe das konkret in Bezug auf die Szenarien aus? PB: Beim Szenario mit den kollaborativen Formaten zum Beispiel würden wir sagen: Den partizipativen Aspekt integrieren wir in den Unterricht, indem wir ein Spielfeld für gemeinschaftliches Experimentieren eröffnen. Wir legen quasi einen Teppich aus, auf dem etwas Neues entstehen kann. Das kooperative Setting würde somit komplementär zum hergebrachten Setting stehen. Wir verwenden die Komplementarität als kreatives Prinzip, indem Verschiedenes und Diverses zusammengefügt wird. Komplementarität wird nicht als deskriptives, sondern als generatives Prinzip verstanden. Beispielsweise sind Selbstbestimmung und Eingebunden-Sein in einen sozialen Kontext komplementär: Wir sind nicht nur für uns und wir sind nicht nur für andere. Komplementär sind auch Wissen und Nichtwissen: Wenn ich weiss, dann weiss ich auch, dass ich nicht weiss, und wenn ich nicht weiss, dann weiss ich auch, dass ich weiss. Die Herausforderung in kollaborativen Formaten besteht darin, nicht eine kollektive Einheit, sondern eine kollektive Vielheit

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zu pflegen. Kreative Kooperationen, getragen von dem Wunsch nach einer geglückten Zusammenarbeit, sollten das ganze Farbenspektrum umfassen. Erinnert sei, dass aus der Mischung der Primärfarben Rot, Blau und Gelb die Farbe Grau resultiert. Angestrebt wird, im Gegenteil, das flirrende Bunt eines Regenbogens. GS: Wenn man Kreativität als Spiel mit paradoxalen Gegensätzen versteht, arbeitet man immer mit einem Sowohl-als-auch; am wichtigsten dabei ist das, was zwischen den Polen passiert. Es geht nicht darum, sich für A, B, C oder D zu entscheiden, sondern um eine Vielfalt an wechselnden Kombinationen zwischen A, B, C und D. Hier geschieht der Sprung von einer bisherigen in eine neue Denkebene. Das ist der eigentliche Geistesblitz. Mit anderen Worten: Indem die alten Räume bestehen bleiben und zu den neuen in Beziehung gesetzt werden, entsteht ein Wirkungsfeld für kreative Entwicklungen. Kreativität wird oft mit divergentem Denken gleichgesetzt. Es braucht aber beides, das konvergente und das divergente Denken, wichtig ist ihr Zusammenspiel, kurzum: das freie Spiel der Gegensätze. — Paolo Bianchi ist Gründungsleiter des CAS Creationship und Dozent im Departement Kulturanalysen und Vermittlung an der ZHdK, Kurator, Kulturpublizist und Kreativitätsforscher. Gabrielle Schmid ist Co-Leiterin CAS Creationship an der ZHdK sowie Coach und Supervisorin. Interview: Irena Sgier

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LITERATUR Paolo Bianchi (Hrsg.) (2017): Ressource Peter Kruse (2017): Kreative Intelligenz Kreativität. Anstiftungen zum Querdenken. – Creator, Owner, Broker, in: P. Bianchi Erschienen als Band 250 von «Kunstforum (Hrsg.): Ressource Kreativität. «KunstfoInternational». Köln rum International», Band 250. Köln: Verlag Kunstforum, S. 168–173 Mihaly Csikszentmihalyi (1997): Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta Robert Ornstein und Paul Ehrlich (2018): New World New Mind. San Jose: Malor Herbert Eberhart und Paolo Knill (2009): Books. Lösungskunst. Lehrbuch der kunst- und ressourcenorientierten Arbeit. Göttingen: Doris Rothauer (2016): Kreativität. Der Vandenhoeck & Ruprecht Schlüssel für eine neue Wirtschaft und Gesellschaft. Wien: Facultas Verlag Norbert Groeben (2013): Kreativität. Originalität diesseits des Genialen. Darmstadt: Peter Truniger (2019): Die Lehrperson als Primus Verlag Coach. Beratung in kreativen und künstlerischen Prozessen. München: kopaed. Bast Kast (2021): Und plötzlich macht es Klick! Das Handwerk der Kreativität. Frankfurt am Main: Fischer Verlag (5. Auflage; Erstauflage 2017)

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Irena Sgier und Ronald Schenkel (Hrsg.) (2022): Zusammenhänge. Zehn Gespräche über das Lernen von Erwachsenen heute und morgen. Zürich: SVEB


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