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Ein Engel für Gölä
Otto trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch. Besser gesagt mit dem, was davon übriggeblieben war. Beruflich bediente er eine Metallstanzmaschine, wobei ihm die Finger der linken Hand im Laufe der Jahre scheibchenweise verkürzt worden waren. Das kam daher, dass Otto die Arbeitsvorgänge sehr präzise ausführte, wobei er die Finger mit penibler Genauigkeit knapp neben dem Stanzwerkzeug platzierte. War er nicht ganz bei der Sache, konnte es vorkommen, dass auch ein Stück seines Fingers weggestanzt wurde. Sozusagen ein Flüchtigkeitsfehler, der ihm so alle drei bis vier Jahre einmal unterlief. An und für sich gar keine schlechte Bilanz. Nach einigen Jahrzehnten Berufserfahrung blieben ihm neben dem Daumen halt trotzdem nur noch der kleine Finger und ein paar kümmerliche Stummel.
Otto trommelte, sah nach der Decke, wo er eine Fliege eingehend beobachtete und wartete auf eine Portion Käse. Emmentaler musste es sein. Das wusste man in Oppligen und dieses Wissen gehörte beim Personal im «Schützen» zur Allgemeinbildung. Der Ablauf war immer derselbe. Die Serviertochter trug den Teller auf, Otto begann mit dem Messer am Käse herumzuhantieren und dann folgte sein Spruch: «Nichts als nur Löcher frässe …» Und alle lachten, als hätten sie den Witz zum ersten Mal gehört. Auch das gehörte zur Allgemeinbildung. Diesmal war es anders. Das Lachen von Rosmarie wirkte etwas gezwängt. Sie stand hinter der Theke, mit voluminös hochgestylten, strohblonden Haaren und einem kugelrunden Bauch. Otto spürte, dass sie etwas bedrückte, und er ahnte, dass wohl etwas mit der Schwangerschaft nicht in Ordnung war. So war es auch. Der Geburtstermin war schon seit zwei Wochen überfällig. Gerade heute war sie noch in Thun beim Arzt. Dieser schätzte die Situation nicht richtig ein
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und schickte sie wieder heim. Dann aber schaltete sich Frieda ein, die Schwiegermutter. Sie konnte sich das Ausbleiben der Wehen zwar auch nicht erklären, war sich jedoch sicher, dass die Fruchtblase bereits geplatzt war: «Seid ihr eigentlich wahnsinnig? Das Kind stirbt, wenn jetzt nichts geschieht. Gödu, gang la der Charre a und dann bring Rosmarie sofort nach Oberdiessbach ins Spital!»
Nur wer keine Schwiegermutter hat, könnte dem Irrtum verfallen, dass vor allem Königinnen und Bürokraten keinen Widerspruch tolerieren. Ohne Widerrede beugte sich Godi Friedas Kommando. Der weinrote Kadett Kombi spuckte einige bedrohliche Wolken aus dem Auspuff, bevor das Gefährt getreulich seiner Aufgabe nachkam und sittsam Richtung Oberdiessbach rollte, wo sich Pfeutis kurz danach beim Empfang des Spitals meldeten. Kaum hatte Rosmarie ihr Zimmer bezogen, wurde eine Infusion gesteckt, welche die Geburt einleiten sollte. Erst lief Godi unruhig im Zimmer auf und ab, dann setzte er sich auf einen Stuhl, blätterte flüchtig in einer Zeitschrift, fragte Rosmarie nach ihrem Zustand, stand auf und setzte sich wieder. Ein Arzt trat ins Zimmer. Godi schoss der Gedanke durch den Kopf, dass dieser womöglich noch etwas Wichtiges vergessen hatte. Vielleicht brauchte der Arzt noch eine Information oder einen kleinen Ratschlag. Dieser wimmelte ihn ab und verliess das Zimmer. Godi blickte auf die Türe, durch die der Arzt verschwunden. Draussen hörte man Stimmen. Godi spitzte die Ohren. Ausser ein paar Wortfetzen war nichts zu verstehen. Allerdings glaubte er, in dem Gemurmel das Wort «Totgeburt» gehört zu haben. Der Arzt kam im Geschwindschritt herein, zusammen mit der Hebamme. Godi sprang auf und fragte, ob er in irgendeiner Weise behilflich sein könnte. «Nein», antwortete der Arzt kurzangebunden. Ein seltsam heiserer Unterton lag in seiner Stimme, als ob er etwas verheimlichen wollte. Der Arzt steckte sich die Abhörteile von seinem Stethoskop in die Ohren, welches er stets einsatzbereit um seinen Hals zu tragen pflegte. Er begann, mit der Membrane den Bauch von Rosmarie abzutasten, kehrte zu verschiedenen Stellen
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Familienferien in Tunesien. V. l. n. r.: Schwester Andrea, Vater Godi, Gölä.


Familienweihnacht im «Schützen». V. l. n. r.: Gölä, Grossmutter Johanna Winkelmann, Schwester Andrea, Mutter Rosmarie, Vater Godi. Immer in Bewegung: Gölä.
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mehrmals zurück. Dabei drückte er sein Kinn ernst auf die Brust, so dass ein wulstiges Doppelkinn den Hals unsichtbar machte. Mit einer der Hebamme zugewandten Kopfbewegung gab er dieser zu verstehen, ebenfalls zu einem Stethoskop zu greifen, was sie auch unverzüglich tat. «Hören Sie?», fragte der Doktor, worauf die Hebamme durch Kopfschütteln bekundete, dass sie nichts hörte. Noch bevor Godi etwas fragen konnte, huschte der Arzt wieder aus dem Zimmer. Godi setzte sich. Alles würde gut gehen, versuchte er sich einzureden. Sein Kind würde gesund sein. Gesund und lebhaft. Es würde in die Schule gehen, später vielleicht studieren und, wer weiss, vielleicht sogar Bundesrat werden. Man durfte diese Möglichkeit nicht ganz ausschliessen … Eine Schwester kam herein. Ob es etwas Neues gebe, wollte Godi wissen. Die Angesprochene machte sich nicht einmal die Mühe, eine kultivierte Antwort zu geben. Sie schüttelte den Kopf. Eigentlich schüttelte sie ihn nicht einmal, sondern drehte ihn genervt ab, tippte mit dem Zeigefinger auf die Infusionsflasche, notierte etwas in einen Block und schon war sie wieder weg.
Es wurde eine lange Nacht. Kurz vor dem Morgengrauen setzten bei Rosmarie die Wehen ein. Um 06.30 Uhr kündigte Marco Pfeuti mit einem Schrei seine Ankunft auf der Erde an. Es war Freitag. Otto war am Stanzen. Auch er hatte eine Nachtschicht hinter sich. Im «Schützen» roch es nach Kaffee und Gipfeli. Godi musste los. Zuerst nach Wileroltigen, um Rosmaries Eltern die Neuigkeiten zu melden, danach zur Arbeit.
Wileroltigen, ein paar Tage später: Der Sprössling lag in Windeln gewickelt auf dem Doppelbett seiner Grosseltern, zwecks genauer Begutachtung. Auf dem Gemälde über dem Bett begleitete ein mächtiger Schutzengel ein Kind über eine Brücke. Grossvater Hans warf dem Kleinen mit einem Augenzwinkern ein 10er-Goldvreneli auf den Bauch: «Es söu dir Glück bringe!» Der Engel auf dem Bild schien zu wissen, was er zu tun hatte, und zwinkerte zurück.
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