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Kolumne
Der Spiegel-Spaziergang
Das Stück «Spiegel im Spiegel» von Arvo Pärt, steht in der Musik für extreme Ruhe im 6/4-Takt und wie es sich in Kanada angehört hat.
Doris Wyss Journalistin Ringgenberg
Stellen Sie sich vor, Sie sind in Kanada, «im Land der tausend Seen», dort, wo es mehr Seen als in allen anderen Ländern der Erde gibt. Sie machen mit mir einen Spaziergang auf dem Natursee Lake Louise in der Provinz Alberta, welche in den Rocky Mountains liegt, fünfundfünzig Minuten von meinem kanadischen Zuhause entfernt, bei einer Temperatur von minus 28 Grad Celsius. Dort habe ich die Winterzeit im letzten Jahr verbracht, fünf wunderschöne Wochen lang.
In der Regel bildet sich Eis bei null Grad Celsius. Bei herrlichen minus 28 Grad funktioniert ein Spaziergang auf diesem See also problemlos und man muss kein Heiliger sein, der die Gabe besitzt, «über das Wasser gehen zu können». Wir machen den Spaziergang am frühen Morgen. Es ist menschenleer und wir verspüren die extreme Ruhe, wie sie der Estländer Arvo Pärt in seiner Musik-Komposition «Spiegel im Spiegel» zelebriert.
Wir haben das Glück, dass es noch nicht auf das Eis geschneit hat und wir können uns perfekt im Eis spiegeln. Ich spiegle mich gerne und hier in der einsamen Stille der Natur, auf dem Eissee, habe ich andere Gedanken, als wenn ich mich zu Hause in meinem Spiegel betrachte. Hier auf dem glatten, kalten Eis muss ich gut auf mich aufpassen, dass ich nicht hinfalle. Ich muss mich ganz auf jeden meiner einzelnen kleinen Schritte konzentrieren und kann mich dabei im Eis genau beobachten, was ich auch tue.
Halte ich diese nun ganz auf mich reduzierte Situation aus? Es wäre doch viel einfacher, wenn ich jetzt zu Hause in der Schweiz in meinem Chalet wäre und mich im Korridorspiegel betrachten könnte. Dort gibt
«Einfach ist oft das Schwierigste im Leben».
Doris Wyss es kein Glatteis, kuschelig Wärme ist mir garantiert, ich befinde mich in einer Umgebung, die ich schon sehr viele Jahre kenne. Einfacher? Wirklich? Ich habe mich schon mehr als tausend Mal in meinen Korridorspiegel betrachtet. Mal sehr glücklich, mal traurig, mal nachdenklich, mal kritisch, mal verschmitzt, mal … - so wie das Leben halt ist.



Ich bin gerne mit Ihnen, liebe Leser:innen, auf dem Eissee gewandert. Oft ist es besser, für eine längere Zeit weg zu gehen, sich auf sich selbst konzentrieren zu müssen, nur ich, und die Stille des Lake Louise. So können neue Ideen entstehen und manches im Leben, aus der Distanz betrachtet, ist nicht mehr so schlimm.
Als ich mich in meinen Kindertagen im Spiegel betrachtet habe, meinte mein Vater jeweils: «So, bisch wieder am Aff luege». Wir lachten uns im Spiegelbild an und ich muss sagen, ich bin noch heute gerne ein Affe, den Affen sind kluge und gesellige Tiere. Sie essen auch gerne pflanzliche Nahrung und so gesehen liege ich als Affe total im Food-Trend.
Ich spreche auch manchmal mit den Händen, wie dies Affen auch gerne machen. Heute bin ich fest davon überzeugt, dass mein Vater mich mit seinem Affen-Spruch nur darauf hinweisen wollte, von wem der Mensch abstammt.
Ob ich mich jetzt als Affen oder Mensch ansehe, ist je nach Situation bei mir verschieden. Als Affe kann ich wohl mehr über mich selbst lachen, als Mensch ist das Leben manchmal «zum Davonrennen» und ich wäre dann sehr froh, wenn ich meine «lieben Mitmenschen» abhängen könnte, mit einer gezielten, schnellen Kletteraktion auf den nächsten Baum.
Spiegel im Spiegel, im Spiegel, im Spiegel ... was möchten Sie in Ihren «Spiegel des Lebens» von sich sehen?